Freitag, 19. Juli 2013

"Eine lieblose Kindheit haben viele erlebt und werden trotzdem nicht zu Mördern."

Woher kommt das Böse?“ fragte EMMA-Online am 06.05.2013 mit Blick auf die angeklagte Beate Zschäpe. Und führte weiter aus: „Eine Flut von Publikationen hat bereits versucht zu ergründen, wie das Böse in die desorientierte, revoltierte junge Frau aus dem Osten hineingekommen ist. Eine lieblose und vaterlose Kindheit – aber die haben viele und werden dennoch keine MenschenhasserInnen und RassistInnen.

Solche Sätze sind keine Seltenheit sondern begegnen mir andauernd.

Der Evolutionspsychologe Steven Pinker schrieb z.B. in einem ähnlichen Sinne in seinem Buch „Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2011): „Serienmörder kommen nicht durch eine erkennbare Veränderung, eine Schädigung des Gehirns oder Kindheitserlebnisse zu ihrer Nebenbeschäftigung. (Sie sind zwar in ihrer Kindheit häufig Opfer von sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung geworden, aber das gilt auch für Millionen andere Menschen, die nicht zu Serienmördern heranwachsen)“ (S. 813)

Lieblosigkeit, Missbrauchs- und Gewalterfahrungen, ja dies wird bei „bösen“ Menschen oft festgestellt, aber weil dies ja auch unzählige andere Menschen erlebt haben, die nicht losziehen, um andere zu quälen, wäre dies nicht relevant und würde die Frage nach den Ursachen der Gewalt nicht klären. (Dabei wird auch vergessen, dass es eine große Bandbreite an Gewalterfahrungen gibt und grausame Mörder erfahrungsgemäß die denkbar schlimmsten Kindheiten hatten. Siehe dazu z.B. Pincus,Gilligan und Harbort)

Da ich seit Jahren EMMA Leser bin, kenne ich mich mit der sonstigen Arbeit dieser Zeitschrift gut aus. EMMA berichtet in Abständen immer wieder über die Kindheitsleidensgeschichten (oft Missbrauchserfahrungen) von Prostituierten und die entsprechenden Einflüsse und Zusammenhänge bzgl. ihres „Berufes“. Und sie hat Recht damit, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen. (1)

Doch würde irgendjemand oder gerade auch die EMMA jemals in Anbetracht schwerster Missbrauchs- und/oder Misshandlungserfahrungen eines Fallbeispiels bzgl. einer Prostituierten kommentieren: 
Eine lieblose Kindheit und häufige Missbrauchserfahrungen – aber dies haben viele erlebt und werden dennoch nicht zu Prostituierten“.  Und Pinker würde dann entsprechend nachhängen: „Ja, Prostituierte sind sehr häufig Opfer von Misshandlungen in der Kindheit,  aber das gilt auch für Millionen andere Menschen, die nicht zu Prostituierten  heranwachsen.“

Emma berichtete in der Ausgabe 3/13 über die schweren Misshandlungserfahrungen von „Kirsten“ bzw. veröffentlichte ihren Erfahrungsbericht. Kirsten hat schwerste elterliche Folter erlebt in allen erdenklichen Formen durch beide Elternteile. Sie berichtete auch über die Folgen: U.a. Arbeitssucht, psychische und körperliche Krankheiten und spätere Arbeitsunfähigkeit.
Wenn jemand wie „Kirsten“ psychisch krank wird, arbeitsunfähig, chronische Krankheiten entwickelt oder sich gar selbst verletzt usw., dann würde niemand schreiben: „Eine lieblose und vaterlose Kindheit – aber die haben viele und werden dennoch nicht psychisch krank und arbeitsunfähig.“ Der Zusammenhang zwischen ihren schweren Gewalterfahrungen und ihren Problemen ist einfach zu offensichtlich.

Ich denke, dass diese Gedankenspiele den Nebel etwas lichten können. Letztlich geht es darum, dass wir nicht das Opfer in den Tätern sehen wollen.  Wir würden uns trauen, das Opfer in psychisch Kranken oder Prostituierten zu sehen (wenn wir denn direkt darauf hingewiesen werden), aber bei Tätern hört die Offenheit auf. Dass nicht alle ehemals gequälten Kinder später zu Gewalttätern werden zeigt, dass es viele Einflüsse auf menschliches Verhalten gibt und dass sich auch die Folgeschäden der Gewalt entsprechend des individuellen  und unterschiedlichen Gewalterlebens von Mensch zu Mensch unterscheiden. Das heißt aber nicht, dass die Kindheitshintergründe von Mördern keine Rolle spielen. Und es wird auch ausgeblendet, dass mensch keine grausamen Mörder finden wird, die als Kind Liebe und Gewaltfreiheit erlebt haben.


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(1) Ergänzende Hinweise:

Studien zu Missbrauchs-/Misshandlungserfahrungen in der Kindheit von Prostituierten

Zumbeck (2001)
54 weibliche Prostituierte
Interviews
65 % als Kind körperlich misshandelt)
50 % sexuell missbraucht (vor dem 13. Lebensjahr)

Farley & Barkan (1998) USA
130 Straßenprostituierte (75 % Frauen, 13 % Männer, 12 % transgender)
Fragebogen
57 % sexuell missbraucht
49 % körperlich misshandelt

Bagley (1991)
Ehemalige Prostituierte im Alter von 18 – 36
73 % schwerer sexueller Missbrauch

Perkins (1991) Australien
Fragebogen
128 Prostituierte verschiedener "Arbeitsfelder"
30,1 % sexueller Missbrauch

Yates, Macenzie, Pennbridge & Swofford (1991) USA
153 Jugendliche, die sich prostituierten (68 % Mädchen, 32 % Jungen)
Interviews
55,6 % sexueller Missbrauch
24,6 % körperliche Misshandlung

Quelle für alle o.g. Daten: Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation bei Prostituierten: eine explorative Studie. Dr. Kovac, Hamburg.
 


4 Kommentare:

Psi17 hat gesagt…

Ich glaube dass ein Vergleich: Prostituierte-Mörder etwas gewagt ist. Erstens tut eine Prostituierte niemandem etwas. Zweitens - und da beziehe ich mich auf einen Artikel den ich vor kurzem zufällig gelesen habe (ich kann ihn leider nicht mehr finden) - "arbeiten" die meisten Prostituierten nicht aus Vergnügen, sondern weil sie entweder dazu gezwungen werden, oder weil sie Geld brauchen, also aus reiner Not, oder weil sie nichts anderes können. Wenn jemand als Kind vergewaltigt wird, geschlagen, usw. wird dieses Kind dann vielleicht auch in der Schule schlecht sein und schlechte Berufsaussichten haben.


Anders ist es bei einem Mörder und auch da muss man wohl unterscheiden zu welchem Mörder jemand wird. Es gibt Mörder die sagen, ein Mord ist für sie wie das Schlachten eines Tieres. Hat man einmal die Hemmung überwunden, geht es ganz leicht. Nicht umsonst wird Mord streng bestraft. Es ist im Menschen angelegt, zu morden. Der Unterschied zwischen dem Töten eines Tieres und einem Menschen ist sehr gering. Ein Jäger wird vermutlich einen Menschen fast genauso leicht töten können wie ein Tier. Im Krieg töten alle und finden das sei ganz normal. Nur im Frieden, innerhalb einer Gesellschaft wird es zur schrecklichen Handlung erklärt. Nicht umsonst wird Mord streng bestraft. Man bestraft was Menschen normalerweise tun würden, aber nicht tun sollen.

Viele Mörder töten im Zorn, spontan. Die werden angeblich auch nur selten rückfällig. Solche Mörder haben nicht unbedingt eine schreckliche Kindheit gehabt.

Es gibt aber natürlich auch Mörder die aus reiner Lust töten. Nicht aus persönlichen Gründen, sondern weil sie Sadisten sind. Etwa die von ihnen erwähnten Serienmörder. Sie fangen mit Tieren an und sie quälen, denn morden alleine genügt ihnen nicht. Ich denke die Wissenschaftler die Tierversuche machen sind alle verkappte sadistische Mörder, die nur zu intelligent sind sich einsperren zu lassen und deshalb einen legalen Weg gehen, ihre Neigung auszuleben. Aber ich kann mir nicht vorstellen dass alle diese Leute eine schreckliche Kindheit hatten.

Kinder werden aggressiver wenn sie verprügelt werden, das stimmt offenbar. Eine amerikanische Studie hat das bewiesen. http://www.psychotherapiepraxis.at/pt-blog/zuechtigung-schaeden/

Aber aggressiv sein und morden ist nicht unbedingt dasselbe.

Eine Prostituierte ist vermutlich meistens ein Opfer, ein Mörder aber nicht unbedingt.

Sven Fuchs hat gesagt…

Hallo Maria,

Prostituierte tun durch ihren "Job" keinem anderen Menschen etwas an, allerdings verletzen sie sich dadurch selbst, vergraben sich tief im Selbsthass, geben sich erneuten Traumatisierungen hin. Der (Selbst-)Hass dieser (meist) Frauen folgt den selben psychischen Dynamiken anderer Hasser, nur richtet er sich gegen die eigene Person.

Das Druck, Zwang und Erniedrigungen eine Rolle spielen bezweifelt keiner. Allerdings gibt es einen Weg in die prostitution und viele Warnsignale, die vorher inerlich ausgeschaltete werden müssen. prostituierte müssen Meister im Ausschalten eigener Gefühle, eigener Wahrnehmung und von Fluchtreflexen sein, um in ihrem "Job" handeln zu können. Traumatische Kndheitserlebnisse scheinen da das Fundament zu sein, auf dem sich der rest aufbaut.

Ich habe heute den Text oben auch noch um einige Zahlen über prostituierte ergänzt (ganz unten im Text)

Anonym hat gesagt…

Hallo

In der Schweiz hat die Stadt Zürich das Problem mit dem Strassenstrich auf ihre Weise "gelöst", sie baut für x-Millionen sog. Verrichtungsboxen in einem extra Areal, inkl. Anfahrtswege etc., anstatt den Frauen Hilfe anzubieten und ihnen einen Weg aus ihrem demütigenden Leben zu zeigen...

Die Wahrheit darf eben nicht ans Licht!

http://www.blick.ch/news/schweiz/zuerich/so-regelt-zuerich-den-verkehr-am-strichplatz-id2296856.html

Gruss
Mario

Anonym hat gesagt…

Nicht alle Gewaltopfer werden zu Vergewaltigern. Das ist wichtig, und das muss man anerkennen, eben um die Prostituierten nicht herabzuwürdigen. Denn die hätten ja ihr Kindheitstrauma auch durch Gewalttaten "aufarbeiten" können. Haben sie aber nicht. Gewalttäter tragen also immer noch Schuld. Daran lässt sich nicht rütteln.

Schuld tragen aber auch die Männer, die Jungen einreden, sie hätten ein Recht, Frauen zu benutzen um sich selbst besser zu fühlen - was immer auch die Ursache ihres Schlechtfühlens sein mag. Sind ja oft genug dieselben Männer, die die Jungen schlagen ...

Zudem: Gewalt muss irgendwo angefangen haben. Da hat Maria Sand ganz Recht: Es muss auch Mörder geben die von sich aus morden. Irgendwer muss den ersten Mord begangen haben, zum ersten Mal ein Kind verprügelt haben, etc.