Freitag, 13. Dezember 2013

Kindheit und Prostitution. Eine "Branche", die auf verschüttete Emotionen und Selbsthass aufbaut

"Eigentlich ist es ganz einfach." schreibt Alice Schwarzer am Ende ihres Textes mit dem Titel "Freiwllig? Es reicht!" (06.12.2013) "Stellen Sie es sich nur einen Moment lang vor: Sie liegen nackt auf einem Bett im "Laufhaus" oder "Studio". Oder sie stehen halbnackt an einen Baum gelehnt im Gebüsch an einer Ausfallstraße. Der Mann wird Ihnen danach einen Schein geben. 50 Euro , wenn es viel ist. 10 Euro, wenn es wenig ist. Er sagt "Na, Schätzchen" zu ihnen. Oder auch "Du alte Fotze". Er kann Sie anfassen. Am ganzen Körper. In Sie eindringen. In jede Öffnung. Das heißt: Anal kostet extra. Ins Gesicht abspritzen auch."

Es ist eigentlich wirklich ganz einfach zu verstehen, dass sich niemand wirklich freiwillig prostituiert. Prostitution ist eine große menschliche Niederlage für alle Beteiligten, für die Prostituierten, aber auch für Freier und Bordellbesitzer/Zuhälter. Und sie kann in meinen Augen nur funktionieren, weil Emotionen ausgeblendet werden, weil entmenschlicht wird, weil verdrängt wird und weil es unglückliche Menschen gibt. Wenn einem dies einmal klar geworden ist, muss Mann fragen, wie es denn eigentlich von Grund auf dazu kommt, dass Menschen Emotionen ausblenden, entmenschlichen und verdrängen können und unglücklich sind? Wer sich mit den Folgen von destruktiven Kindheitserfahrungen befasst, der wird schnell auf einen möglichen Zusammenhang kommen. Die möglichen Folgeschäden von Kindesmisshandlung sind der ideale Nährboden für Prostitution: Fehlendes Selbstbewusstsein/schwammige Identität, Fähigkeit belastende Erfahrungen psychisch abzuspalten, Selbsthass, selbstverletzende Tendenzen, Drogenkonsum, Verlust von Empathie, Fügen in die Opferrolle, schwammiges Bild von eigenen Grenzen, Selbstverleugnung u.a. 

Zu diesem Themengebiet gibt es mittlerweile auch eine Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten, von denen ich die vorstelle, die ich gefunden habe:

854 Prostituierte (die meisten davon Frauen) in 9 Ländern (Kanada, Kolumbien, Deutschland, Mexico, Südafrika, Thailand, Türkei, USA und Sambia) wurden für eine Studie befragt:
Farley, M.; Cotton, A.; Lynne, J.; Zumbeck, S.; Spiwak, F.; Reyes, M. E.; Alvarez, D.; Sezgin, U. (2003): Prostitution and Trafficking in Nine Countries: An Update on Violence and Posttraumatic Stress Disorder. In: Journal of Trauma Practice. 2(3/4): 33-74.

Ergebnisse u.a.:


59 % wurden als Kind körperlich durch Elternfiguren/Pflegepersonen misshandelt bis es zu Verletzungen oder Prellungen kam.

63 % wurden als Kind sexuell missbraucht

68 % erfüllten Kriterien für eine Posttraumatische Belastungsstörung
(Anmerkung: Wobei kindliche Gewalterfahrungen sicherlich eine gewichtige Ursache sind, aber auch Gewalterfahrungen während der Prostitution: 64 % wurden beispielsweise mit einer Waffe in die Prostitution gezwungen, 73 % wurden als Prostituierte körperlich angegriffen und 57 % vergewaltigt, von Letzteren 59 % mehr als fünf mal)

Von den vier Gewalttypen: Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung in Kindheit, Vergewaltigung als Prostituierte und körperlicher Angriff als Prostituierte erlebte nur 13 % aller Befragten keine einzige Gewaltform. (S. 45) Leider wurde nicht dargestellt, wie viel Prozent keine körperliche Misshandlung und/oder sexuellen Missbrauch erlitten haben. Auf jeden Fall ja diese 13 %. 25 % erlebten alle vier Gewaltformen, 26 % drei Formen, 20 % zwei und 16 % eine.
Interessant ist, dass in den drei westlichen Ländern sehr viel weniger Prostituierte über keine einzige erlebte Gewaltform berichteten (Kanada 2 %, Deutschland 6 %, USA 6 %). Dies lässt zwei gegensätzliche Dinge vermuten: 1. Vermutlich gibt es in anderen Regionen der Welt viel öfter existenzbedrohende Armut, so dass dieser Faktor mehr Gewicht hat, während im Westen Gewalterfahrungen in der Kindheit eine größere Rolle auf dem Weg in die Prostitution spielen 2. In anderen Regionen der Welt herrscht ein weit aus größeres Tabu über kindliche Gewalterfahrungen zu sprechen – dabei vor allem auch der sexuelle Missbrauch – als in Ländern wie Kanada, den USA und Deutschland, so dass diese Gewalt evtl. z.T. verschwiegen wurde und das Ergebnis verwässert wird.

In Deutschland wurden für diese Studie 54 Prostituierte befragt. 48 % wurden als Kind sexuell missbraucht und ebenfalls 48 % körperlich misshandelt.  (S. 43)

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110 Prostituierte wurden für eine deutsche Studie befragt:
Schröttle, M. ; Müller, U. (2004): II. Teilpopulationen – Erhebung bei Prostituierten.  „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (Hrsg.), S. 78-81.
 (Besonders aufschlussreich ist, dass diese gesonderten  Ergebnisse mit denen der größeren BMFSFJ- Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ verglichen wurden bzw. die Studie bzgl. Prostituierten war  ein Teil der größeren Studie. Die Ergebnisse der Hauptuntersuchung – die repräsentativ für die deutsche Frauenbevölkerung sind - sind zum Vergleich in Klammern angegeben. )

56 % hatten in ihrer Kindheit körperliche Übergriffe zwischen den Eltern/Pflegeeltern  miterlebt. (18 % bei den Befragten der Hauptuntersuchung)

73 % erlebten körperliche Züchtigungen  durch Eltern/Pflegepersonen, 52 % sogar häufig oder gelegentlich. (63 % bei den Befragten der Hauptuntersuchung; 20 % häufig oder gelegentlich)

36% gaben an, sie seien häufig oder gelegentlich von den Erziehungspersonen lächerlich gemacht oder gedemütigt worden (8% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

52%, sie seien häufig oder gelegentlich so behandelt worden, dass es seelisch verletzend war (10% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

55%, sie seien häufig oder gelegentlich niedergebrüllt worden (11% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

37%, sie seien häufig oder gelegentlich leicht geohrfeigt worden (17% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

30%, sie hätten häufig oder gelegentlich schallende Ohrfeigen mit sichtbaren Striemen bekommen (6% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

39%, sie hätten häufig/gelegentlich einen strafenden Klaps auf den Po bekommen (20% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

40%, sie hätten häufig/gelegentlich mit der Hand kräftig den Po versohlt bekommen (10% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

20%, sie seien häufig/gelegentlich mit einem Gegenstand auf den Finger geschlagen worden (3% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

34%, sie seien häufig/gelegentlich mit einem Gegenstand kräftig auf den Po geschlagen worden (6% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

37%, sie hätten häufig/gelegentlich heftige Prügel bekommen (5% bei den Befragten der Hauptuntersuchung)

Insgesamt berichteten 43 % über mindestens eine Form der nachstehend genannten Varianten von sexuellem Missbrauch.
39% in ihrer Kindheit und Jugend durch eine erwachsene Person sexuell berührt oder an intimen Körperstellen angefasst worden (Hauptuntersuchung 8%),

16% gezwungen worden, die erwachsene Person an intimen Körperstellen zu berühren (Hauptuntersuchung 3%),

7% gezwungen worden, sich selbst an intimen Körperstellen zu berühren (Hauptuntersuchung 1%),

13% zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden (Hauptuntersuchung 2%) und 13% zu anderen sexuellen Handlungen gedrängt oder gezwungen worden (Hauptuntersuchung 2%).


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In Hamburg wurde eine weitere Studie durchgeführt:
Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation bei Prostituierten: eine explorative Studie. Dr. Kovac, Hamburg. Ergebnis.‘

54 weibliche Prostituierte
Interviews
65 % als Kind körperlich misshandelt mit Verletzungsfolgen)
50 % sexuell missbraucht (vor dem 13. Lebensjahr)
Als Selbsteinschätzung nannten 83% der Befragten, in ihrer Kindheit traumatisiert worden
zu sein. 


Zumbeck (2001) hat in ihrer Arbeit (S. 34-36) auch Ergebnisse diverser Studien (meist aus den USA) zusammengetragen, die ich hier ebenfalls kurz wiedergebe:

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Silbert & Pines (1981) USA
200 Prostituierte und ehemalige Prostituierte
Interviews
60 % sexuell missbraucht (vor dem 16. Lebensjahr); davon 47 % durch die Gewalt schwer verletzt.
50 % körperlich misshandelt
70 % emotional misshandelt
48 % erlebten Alkoholismus der Eltern
54 % erlebten häufig Streit zwischen den Eltern


Diana (1985) USA
Interviews
487 Prostituierte verschiedener Arbeitsfelder
38 % sexuell missbraucht


Earls &  David (1990) USA
Interviews
50 jugendliche Straßenprostituierte
26 % sexuell missbraucht
46 % körperlich misshandelt



Farley & Barkan (1998) USA
130 Straßenprostituierte (75 % Frauen, 13 % Männer, 12 % transgender)
Fragebogen
57 % sexuell missbraucht
49 % körperlich misshandelt



Bagley (1991) Kanada
Interviews
45 Ehemalige Prostituierte im Alter von 18 – 36
73 % schwerer sexueller Missbrauch

Perkins (1991) Australien
Fragebogen
128 Prostituierte verschiedener "Arbeitsfelder"
30,1 % sexueller Missbrauch

Yates, Macenzie, Pennbridge & Swofford (1991) USA
153 Jugendliche, die sich prostituierten (68 % Mädchen, 32 % Jungen)
Interviews
55,6 % sexueller Missbrauch
24,6 % körperliche Misshandlung


Quelle für alle o.g. Daten: Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation bei Prostituierten: eine explorative Studie. Dr. Kovac, Hamburg.

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Eine weitere deutsche Studie (Brückner, M. &  Oppenheimer:, C. (2006):  Lebenssituation Prostitution. Sicherheit, Gesundheit und soziale Hilfen. Königstein: Helmer.) liegt mir nicht direkt vor. Ich habe in diesem Fall auf die entsprechende Forschungsprojektbeschreibung der Autorinnen und auf eine Rezension zurückgegriffen.

Im Zentrum der Studie stand die Befragung von 72 Prostituierten.

53 % wurden als Kind sexuell missbraucht
74% der Befragten hatten bis zu ihrem 16. Lebensjahr Gewalt erlebt, sei es als selbst erlittener Übergriff oder zwischen den erwachsenen Bezugspersonen.



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Zusammenfassende Besprechung


Zunächst einmal fällt auf, dass sich die Wissenschaft mit den Kindheitserfahrungen von Prostituierten umfassend befasst. Es wird zu Recht ein Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen in der Kindheit und dem Weg in die Prostitution vermutet. Die Forschenden drücken sich bei der Besprechung der Ergebnisse meist vorsichtig aus. Ich persönlich bin da etwas weniger zurückhaltend. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Sexueller Missbrauch wurde meist signifikant häufiger berichtet, als dies für die Allgemeinbevölkerung gilt. Das gleiche gilt für die körperliche Misshandlung (Man bedenke, dass „Misshandlung“ die schwersten Formen von körperlicher Gewalt meint.) Eine repräsentative deutsche Studie für die Normalbevölkerung zeigte, dass u.a. 12  % über körperlichen Missbrauch bzw. Misshandlung und 12,6 % über sexuellen Missbrauch berichteten. Die vier oben besprochenen deutschen Studien bzgl. Prostituierten zeigen deutlich höhere Zahlen. (zwischen 43 % und 53 % sexuell missbraucht und 48 % bis 65 % körperlich misshandelt, bzgl. letzteren Zahlen ohne Daten von Brückner &  Oppenheimer (2006), die mir nicht komplett vorliegen.) Leider wurde in den meisten Studien zu wenig auf die Gebiete Vernachlässigung, emotionale Misshandlung, Drogen/Alkoholkonsum in der Familie und Gewalt zwischen den Eltern oder gegen Geschwister eingegangen. Um ein umfassendes Bild zu bekommen, müssten alle möglichen belastenden Kindheitserfahrungen einbezogen werden. Nur die Studie Silbert & Pines (1981) aus den USA und die deutsche Studie vom BMFSFJ (2004) fragten etwas breiter ab. Beide Studien zeigten, dass Prostituierte erheblich von verschiedenen Formen von Gewalt in der Kindheit belastet sind.  Dieser „Gewaltmix“ wirkt sich erwiesener Maßen besonders destruktiv auf die Entwicklung von Menschen aus.

Was in der Diskussion um Kindheitseinflüsse bzgl. Prostituierten auffällt ist, dass sich viele Berichte (vor allem in den Medien)  rein auf den sexuellen Missbrauch konzentrieren und den erwähnten „Gewaltmix“ außen vor lassen. Zudem ist mir keine Untersuchung bekannt, die die Kindheiten von (männlichen) Zuhältern, Bordellbetreibern,  Menschenhändler und auch von Freiern* unter die Lupe nimmt.  Dabei ist diese Gruppe ebenfalls von Interesse und auch die entsprechenden Kindheiten sind vermutlich alles andere als liebevoll verlaufen.

Insgesamt betrachtet komme ich zu dem Schluss, dass Kinderschutz und Förderung von Familien gewichtige Maßnahmen sind, um nachhaltig und langfristig gesehen etwas gegen Prostitution zu unternehmen. 



* Nachtrag:
Indirekt wurde in einer großen Studie, für die über 10.000 asiatische Männer befragt wurden und die im Kern eigentlich das Verbrechen Vergewaltigung erforschen wollte, ein Zusammenhang zwischen gewaltvollen Kindheiten von Männern und deren Gang zu Prostituierten festgestellt. 64 % der Vergewaltiger und 77 % der Gruppenvergewaltiger waren Freier, dagegen nur 30,8 % der Nicht-Vergewaltiger. Die Nicht-Vergewaltiger hatten allerdings auch die im Vergleich zu den Vergewaltigern deutlich gewaltfreieren Kindheiten. Beispielsweise hatten als Kind 58,7 % der Vergewaltiger und 60,5 % der Gruppenvergewaltiger körperliche Misshandlungen (also schwere Gewalt gegen das Kind) erlebt, dagegen "nur" 31,4 % der Nicht-Vergewaltiger. Ähnliche Zahlenverhältnisse zeigten sich beim Sexuellen Missbrauch, emotionaler Misshandlung/Vernachlässigung und dem Beobachten von körperlicher Gewalt in der Familie. (siehe ausführlich zu dieser Studie hier)

18 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hallo Sven
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf das Buch von Florence Rush aufmerksam machen. Es trägt den Titel "Das bestgehütete Geheimnis: sexueller Kindesmissbrauch". F. Rush zeigt darin den sexuellen Missbrauch im historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang auf und verweist darin auch auf diverse Studien.
Beste Grüsse
Mario

Anonym hat gesagt…

Es gibt so viele Studien, die alle widersprüchlich sind. Eines ist schon mal total falsch: Wenn eine Prostituierte keinen Bock auf "abspritzen" ins Gesicht hat, dann kannst Du es nicht machen, denn es ist in der Regel ein Service, der extra bezahlt werden muss und den auch nicht jede macht. Auch liegen die Prostituierten nicht hilflos nackt auf Betten herum. Alice mag das Drama, aber das Drama ist leider nicht die Wirklichkeit. Es ist derzeit schick Frauen, die Sex verkaufen als Missbrauchsopfer darzustellen, als ob eine "nicht mißbrauchte" Frau nicht Sex mit vielen Männern haben wollte, sondern in der Regel Jungfrau bis zu Ehe bleiben möchte. Ihre Studien können Sie in die Tonne treten, denn es gibt so viele Studien, die das Gegenteil beweisen.

Sven Fuchs hat gesagt…

Gerne schaue ich mir die Ihnen bekannten Studien an, die andere Zahlen ergeben, wenn sie mir diese nennen. Ich selbst konnte vor allem in Deutschland keine anderen finden, als die genannten.

Anonym hat gesagt…

@Anonym2: Ich glaube nicht, dass die erste Motivation zur Prostitution ist, Sex mit vielen Männern haben zu wollen. Während die Freier zum Vergnügen kommen und Geld bezahlen, leisten die Prostituierten harte Arbeit auf Kosten ihrer seelischen und körperlichen Gesundheit. Es sieht sich wohl auch keine Frau ernsthaft vor der Wahl sich entweder zu prostituieren oder Jungfrau bis zur Ehe zu bleiben.

Sven Fuchs hat gesagt…

Eines der besten Interviews mit einer Ex-Prostituierten, das ich bisher gelesen habe: http://www.welt.de/vermischtes/article124005103/Prostitution-und-Sklaverei-sind-dasselbe.html

Angelika hat gesagt…


Ich schätze, dass sich in der Prostitution Menschen begegnen, die viel gemeinsam haben. Vermutlich mehr, als sie sich das selbst eingestehen wollen. Ein Mann, der psychosozial normal kompetent ist, muss genauso wenig für sexuelle Aktivitäten mit einem anderen Menschen zahlen, wie eine Frau oder ein Mädchen sich das Überschreiten intimer Grenzen honorieren lassen muss. Es sei denn, sie ist in irgendeiner Form biografisch lädiert.

Natürlich ist sexuelle Gewalt, Übergriffigkeit, Primitivität, Ausbeutung ein weit verbreiteter Teil unserer Sexualkultur. Sie wurzelt in Traditionen, die in früheren Zeiten durchaus mal Sinn hatten und dazu dienten, die menschliche Fortpflanzung unaufwändig zu gestalten. Aber wir leben nicht mehr am Übergang von der Steinzeit zum Altertum, sondern im Jahre 2016. Es ist Zeit mit überkommenen Gewohnheiten, die nur noch destruktiv wirken zu brechen. Gut dass mittlerweile offener darüber gesprochen wird als noch vor wenigen Jahren.

Insbesondere wünsche ich das den vielen sexuell ausgebeuteten und versklavten Kindern, die mitten in unserer Gesellschaft leben. Nächste Woche sendet die ARD zwei Themenabende:

http://www.daserste.de/unterhaltung/film/themenabend-kinderhandel-und-missbrauch/film/index.html
http://www.daserste.de/unterhaltung/talk/maischberger/sendung/wird-prostitution-menschlicher-112.html

Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von 9 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden

Michael Kumpmann hat gesagt…

Zum Thema "Prostitution abschaffen", "alte Gewohnheiten ändern" etc. Nur soviel:

Das ist nicht mal Ansatzweise realistisch. Schonmal was von Marktlogik gehört? Wenn es ein Bedürfnis gibt und nicht jeder Automatisch dieses Bedürfnis befriedigen kann, wird fast automatisch ein Markt geschaffen, um dieses Bedürfnis zu befriedigen.

Und Liebe, Sexualität und Zärtlichkeit sind kein Gut, was von Natur aus "für Alle" da ist. Unsere ganze Evolution basiert auf dem Prinzip, dass gewisse Menschen keine praktische Ausübung ihrer Sexualität haben sollten. (Um es mal salopp zu sagen, Behinderte und "Missgebildete".)

Das Schlimme ist, unsere Gene sind so grausam, dass Menschen mit schlechten Genen in den meisten Fällen trotzdem auch mit einem Sexualtrieb geboren werden.

Ich kenne zwar Autoren wie Gillmartin, die "unfreiwillige Jungfräulichkeit" von Menschen (also Leute, die einfach keinen Partner abkriegen) mit Misshandlungserfahrungen und Traumata erklären. Allerdings ist der Einfluss der Gene sehr stark und "ein lieber Mensch" sein kann es nicht ausgleichen, "genetisch Missgebildet" zu sein.

Und neben "komplett Perversen", "Sexsüchtigen" und Leuten, deren Partner nicht auf ihre Wünsche eingehen, wird es wahrscheinlich eine große Menge an Personen geben, die zu Prostituierten gehen, weil sich nie im Leben andere Menschen sexuell für sie interessieren würden.

Und einfach auf den Sexualtrieb verzichten kommt für die meisten Menschen nur mit extremer Angstrengung und extrem schmerzlichen seelischen Folgen in Frage. Deshalb scheitern auch diese ganzen "Abstinence Only" Kampagnen, die evangelikale Christen bei Teenagern durchführen. Und deshalb werden auch alle feministischen Versuche scheitern, Leute zur Abstinenz zu zwingen. (Sorry, nichts gegen Feministinnen, aber ich hab von denen sehr viele Texte gelesen und das läuft oft auf einen Kampf gegen den bloßen Wunsch und Gedanken nach Sex hinaus.)

Ich finde Prostitution schlecht, weil da Menschen genau auf das Tierische, Körperliche reduziert sind und der Geist und die Kultur wegfallen, aber Drogen sind auch schlecht und der Kampf gegen die Drogen funktioniert auch nicht.

Ein Prostitutionsverbot hätte nur Erfolg, wenn man umfangreiche Eugenikprogramme durchführen würde und/oder genetisch unpassenden Menschen den Sexualtrieb mit Hirn OP oder Psychopharmaka entfernen würde. Ansonsten wird es leider immer einen Markt geben, für sämtliche Bedürfnisse der Menschen. Egal, wie widerlich diese sind.

So traurig ist die Realität leider.

Michael Kumpmann hat gesagt…

Es wäre gut, wenn Prostitution, Pornographie etc. verschwinden würden, weil solche Dinge Primitiv und Abartig und eher Schädlich für den Geist sind. (Es sollte ja um eine Bindung gehen und nicht um primitive körperliche Lustbefriedigung. Und Prostitution, Pornographie und Masturbation bieten keine Bindung, sondern nur primitivste Bedürfnisbefriedigung. Und die letzten beiden Dinge sind nur eine Illusion und eine Fantasie von etwas, was nicht existiert.) Aber so lange es ein Bedürfnis gibt, was nicht jeder erfüllen kann, wird es automatisch einen Markt dafür geben.

Wenn jeder Liebe und Zuneigung bekommen könnte, hätten Liebe und Sex keinen Preis und es gäbe keinen Markt. Da es aber einen Preis gibt, gibt es auch einen Markt.

(Wahrscheinlich ist das aktuelle Prostitutionsproblem aber auch ein modernes Problem, obwohl das ja bekanntlich das älteste Gewerbe der Welt ist. Gleichzeitig mit der Übersexualisierung der Welt, die einem dieses Bedürfnis wirklich ständig vor die Nase hält, ist die Bedeutung der Familien gesunken. Früher im Mittelalter haben Eltern sich mit darum gekümmert, dass ihre Kinder "unter die Haube kommen". Heute sind Individuen dafür allein verantwortlich und jeder, der es nicht schafft, hat "halteben Pech gehabt". Vielleicht brauchen viele Leute aber bei der Partnerwahl Hilfe. Und wenn die Leute nach dem 2000 Versuch keinen Partner fanden, suchen sich viele von denen kurzfristigere, einfachere Abhilfe bei Prostituierten, weil das zwar eine beschissene Lösung ist, aber eine deutlich simplere Lösung. Es ist halteben einfacher, Reich zu werden, als attraktiv zu werden.)

Michael Kumpmann hat gesagt…

Um es mal mit einem Gleichnis zu verdeutlichen:

Leute, welche Hunger leiden, würden auch Verbrechern, Ausbeutern und Tyrannen Essen abkaufen. Wenn sie nicht sogar das Essen stehlen würden. Und Hunger leidende würden eher die Moralisten erschlagen als diese Verbrecher.

Viele Leute würden körperliche Zuneigung und "Liebe" zwar als unnötigen Luxus bezeichnen, weil der Mensch auch wenn er von keinem Geliebt wird, überleben kann. Der Mensch braucht allerdings auch geistige Dinge, um überleben zu können.

Natürlich sind Diebe und Unterstützer von Verbrechern unmoralisch und verachtenswürdig, aber die werden nicht verschwinden. So ist das Leben leider. Man kann nur selbst moralisch leben und sich vor den Unmoralischen schützen, aber man kann die Unmoral nicht ausmerzen. Es wird mindestens einen schachen Menschen geben, der sich unmoralisch verhalten wird, um seine Bedürfnisse zu befriedigen.

Deshalb ist es illusorisch, Prostitution und Pornographie gesetzlich komplett eliminieren zu wollen. (Und Pornographie und Prostitution sind immer noch ein klein wenig weniger schlimm, als jemanden Beispielsweise zu vergewaltigen. )

Michael Kumpmann hat gesagt…

Und nochmal zur Klarstellung, falls das unklar rüber kommt. Ich verteidige hier keine Freier oder Prostitution. Die Welt wäre deutlich besser, wenn es das Rotlichtgewerbe nicht existieren würde.

Ich denke nur, elementare Marktgesetze sorgen dafür, dass man Prostitution leider nicht per Gesetz verhindern kann.

Wenn man das nicht mehr legal machen kann, werden die Kriminellen das Illegal betreiben, da das ein Bedürfnis befriedigt, was man nicht loswerden kann.

Angelika hat gesagt…



Lieber Herr Fuchs,

in einem Faden der unter tazgezwitscher läuft, wird von einem Account aus, der vorgibt, die Interessen von so genannten SexarbeiterInnen zu vertreten, die Güte der Forschung angezweifelt, auf die Sie oben in Ihrem Artikel hingewiesen haben. Dazu https://twitter.com/InfoOetken/status/939948330578272256

Viele Grüße von
Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

Angelika hat gesagt…


"Unsere ganze Evolution basiert auf dem Prinzip, dass gewisse Menschen keine praktische Ausübung ihrer Sexualität haben sollten. (Um es mal salopp zu sagen, Behinderte und "Missgebildete".)"

Letztlich bringt es der Sexualakt mit sich, dass wir, während wir ihn ausführen, nicht unbedingt dem entsprechen, was als würdig und ansehnlich gilt. Wer in der Öffentlichkeit Sexualhandlungen ausführt, macht sich sogar strafbar.

Die Frau, die hier interviewt wird http://www.taz.de/!5191687/ bringt wunderbar auf den Punkt, warum Menschen, die in der Prostitution arbeiten, eigentlich eine viel höhere Entschädigung dafür verdient hätten, als ihnen für gewöhnlich gewährt wird

Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

Sven Fuchs hat gesagt…

Liebe Angelika,

ich persönlich würde solche Diskussionen vermeiden. So weit ich sehen konnte, diskutieren Sie mit einer Prostituierten, die sich zudem politisch stark engagiert. Interessant ist, wie schnell die Dame eine Quelle nennen kann, die die Wissenschaftlichkeit von einigen der genannten Studien anzweifelt. In dem Fall bezieht sie sich auf: RONALD WEITZER.

Ich habe derzeit keine Zeit dazu zu recherchieren. Was allerdings schnell zu finden ist: Weitzer befasste sich stark mit der legalen Prostitution. Auch hier müsste man kritisch sein und fragen, was der Mann so veröffentlicht hat und ob er einen politischen Standpunkt zum Thema Prostitution vertritt. Letztendlich sind alle Wissenschaftler auch nur Menschen und Fehler oder fehlende Neutralität kommen häufig vor, auf allen Seiten.

Was die Kritik mit der Vergleichsgruppe angeht: Das ist insofern Schwachsinn, weil es etliche repräsentative Studien gibt, die belastende Kindheitserfahrungen in der Allgemeinbevölkerung abgefragt haben. Auch wenn die Definitionen teils leicht unterschiedlich sind, muss mensch sich schon sehr blind stellen, um nicht zu erkennen, dass Prostituierte bzgl. belastenden Kindheitserfahrungen stark von der Norm abweichen und deutlich belasteter sind. Nebenbei bemerkt habe ich oben im Text ja auch die große Stduei zur Frauengesundheit vorgestellt. Die Methodik und Definitionen in der Studie sind bzgl. der Allgemeinfrauenbevölkerung wie auch bzgl. der Prostituierten exakt gleich. Insofern haben wir hier eine direkte Vergleichsgruppe. Die Prostituierten waren in allen Bereichen deutlich stärker in der Kindheit belastet.

Wie aber schon gesagt: Solche Diskussionen, die Sie führen, bringen meiner Meinung nach nichts. Die Zahlen gehören eher in die Medien und sollten dort verbreitet werden.

Angelika hat gesagt…


Vielen Dank für Ihre Rückmeldung lieber Sven.

Fabienne Freymandl ist im Vorstand eines Verbundes, der vorgibt, die Interessen von Menschen zu vertreten, die als SexarbeiterInnen bezeichnet werden. Ihr Verband wurde auch auf einer geschlossenen Veranstaltung gehört, zu der Staatssekretärin Ferner, BMFSFJ im Jahre 2014 eingeladen hatte https://www.bmfsfj.de/blob/83062/fc71831b5cefe03d9589135483036b4d/anhoerung-regulierung-prostitution-stellungnahme-panel-2-data.pdf

Wessen Anliegen diese Verbände auch immer verfolgen mögen, sie scheinen finanziell und logistisch gut aufgestellt zu sein. Es ist nicht so einfach, zu solchen ministeriellen Anhörungen eingeladen zu werden.

Bei dem entsprechenden Twitterfaden fiel mir der Widerspruch zwischen dem formulierten und vollkommen berechtigten Anliegen, Prostituierte entstigmatisieren zu wollen und dem schnoddrigen und teilweise sogar unverschämten Auftritt via Twitter auf. Aber dabei kann es sich auch um einen Teil der Strategie handeln, mit dem die Agenda umgesetzt wird.

Im Feld der Missbrauchskriminalität gibt es Kreise von TäterInnen, die ganz gezielt solche Betroffene in die Öffentlichkeit pushen, welche dem Opferklischee nicht nur entsprechen, sondern es sogar toppen. Mit dem Ziel, Opfer und Mitbetroffene generell zu diskreditieren. Diese Art der Täterlobby fürchtet nichts so sehr wie eine souveräne Opfervertretung.

Viele Grüße von Angelika Oetken, Berlin-Köpenick

Sven Fuchs hat gesagt…

Überlegen Sie sich, mit wem sie diskutieren, Angelika.

Über Freymadl:
"Als Domina allerdings ist die Vielseitige schon strenger. Sie ist spezialisiert im Schmerzzufügen („Dein Leid lässt meine Augen glänzen.“). Ihre Spezialität ist ein „Straflager mit authentischem Ambiente“. Da können ihre Kunden sich der „Lagerordnung“ unterwerfen, werden verhört, angekettet und gequält, mindestens zwölf Stunden lang oder auch länger. Vielleicht sollten einige Damen und Herren PolitikerInnen aus der Hauptstadt dort mal eine Ortsbesichtigung machen?
Führend bei den Lobbyistinnen sind deutsche Dominas. Sicher, es mag manchen Damen ja durchaus Spaß machen, Männer zu quälen. Sowas nennt man normalerweise schlicht Männerhass."
https://www.emma.de/artikel/prostitution-von-wem-laesst-die-politik-sich-da-beraten-317675

Angelika hat gesagt…

Die Postings, die Frau Freymadl in dem Twitterfaden hinterlassen hat, kann ich nicht als Beiträge zu einer Diskussion werten lieber Sven. Die Absicht ist deutlich: provozieren, Streit schüren. Vor welchem Hintergrund Frau Freymadl das so praktiziert, ist eine interessante Frage. Inwieweit sie oder andere sich öffentlich als InteressenvertreterInnen einer SexarbeiterInnenlobby generierende Personen selbst überhaupt noch als Prostituierte tätig sind, kann ich schwer beurteilen. Ich habe da meine Zweifel. Aber man mag im Zuge seiner früheren Tätigkeit Kontakte zu Personen geschlossen haben, die sich an Schlüsselpositionen befinden und so Türen ins Ministerium öffnen halfen. Zu Sadomasochismus: http://www.seele-und-gesundheit.de/diagnosen/sadomasochismus.html Vom eigentlichen Zweck her betrachtet für VerantwortungsträgerInnen durchaus eine attraktive Variante, unter inszenierter Rollenumkehr sexuelle Bedürfnisse auszuleben, ohne wirklich sexuell aktiv sein zu müssen.

Die Diskrepanz zwischen dem Agieren einer Fabienne Freymadl und der Art wie die leider vor ein paar Jahren verstorbene Ellen Templin die Lage der innerhalb der Prostitution arbeitenden Menschen beschrieb, empfinde ich als bezeichnend http://abolition2014.blogspot.de/2014/05/interview-mit-einer-domina.html

Sven Fuchs hat gesagt…

Gerade gefunden:
"Children in Prostitution: A study of young women in the rehabilitation centres in Malaysia"
By Lukman Z. Mohamad
"The findings suggest that the vast majority of prostituted young women in this sample are likely to: have experienced family dysfunction, family breakdown or domestic violence; be emotionally and physically abused during childhood; suffer from family problems and poor relationship with the family; leave school and home at an early age; and be sexually abused or exploited before they were drawn into prostitution."
https://core.ac.uk/display/6116187

Sven Fuchs hat gesagt…

Neue Studie:

Beaten but not down! Exploring resilience among female sex workers (FSWs) in Nairobi, Kenya

"We found that ACEs such as sexual abuse, physical assault, emotional and physical neglect were a precursor for entry into sex work"

https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-022-13387-3