Mittwoch, 26. Oktober 2016

Extremsport und Kindheit

Ich habe mich schon öfter gefragt, ob es einen signifikanten Zusammenhang zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und Extremsport gibt. Extremsport vor allem verstanden als potentiell lebensgefährlichen Sport und/oder suchtähnlichem Ausüben des Sportes, ohne den mensch sich nicht lebendig fühlen würde. Dazu gibt es wohl kaum Forschungen, insofern bleibt vieles natürlich spekulativ.
Für mich ist eine Annäherung an dieses Thema vor allem auch interessant, weil ich wie angekündigt bald einen Text schreiben möchte, in dem ich klassischer Kritik entgegnen möchte. Die klassische Kritik ist wie folgt: Massen wurden als Kind misshandelt und gedemütigt und wurden nicht zu Mördern, Kriegstreibern oder Terroristen, folglich wird jeglicher Zusammenhang zwischen Kindheit und Gewalt bestritten. Meine Antwort darauf ist u.a., dass sich Folgen von Kindesmisshandlung sehr vielfältig ausdrücken können, Gewaltverhalten ist da nur eine mögliche Ausdrucksform.

Ist nun (lebensgefährlicher) Extremsport vielleicht eine von vielen möglichen „Farben“ der Gewaltfolgen? Und mit Gewalt meine ich nicht rein körperliche Elterngewalt, sondern das ganze Spektrum, inkl. Missachtungen und emotionaler Vernachlässigung, denn Extremsportler buhlen ja oftmals auch um eines: Anerkennung und Aufmerksamkeit.

In der Doku „Attention – A Life in Extremes“ (von Sascha Köllnreitner) – in der ARD wurde diese Doku kürzlich unter dem Titel „Leben am Limit – Extremsportler“ gezeigt - hat am Ende die im Film zuvor bereits häufig als Expertin zitierte ehemalige Weltklasseläuferin und Buchautorin Ines Geipel das Schlusswort: „Dieser Suchtmoment, dass du immer und immer wieder in diese Schneise gehst, psychisch ja, heißt natürlich, dass da etwas danach ruft, angenommen zu sein. eigentlich will jedes Kind befreit werden, es schreit regelrecht danach. Vielleicht sind das am Ende alles Kinderveranstaltungen, extrem.“ (sie lacht) In einer Besprechung der Doku wurde der entsprechende Artikel folgendermaßen betitelt: „Extremsportler - psychisch zwischen Kleinkind und Superheld“  Dass das ganze vielleicht etwas mit Kindheit zu tun haben könnte, fällt also offensichtlich auch anderen Beobachtern auf.

Besonders hellhörig machen mich aber auch Äußerungen wie diese von dem sehr bekannten Extremsportler Chris “Douggs” McDougall in der Doku „Freifall - Eine Liebesgeschichte“: „Wir sind nicht hier, um zu sterben. Aber wir mögen Risikosport, weil wir uns dabei lebendig fühlen.“

Ähnlich formulierte es der Extrembergsteiger Reinhold Messner in seiner Autobiographie „Mein Leben am Limit“. Messner wörtlich: „Mein Krankheitsbild ist umrissen mit: Lebenslust durch Einsatz des Lebens.“ Messner selbst hat über seine Eltern folgendes gesagt:
Mein Vater war sehr streng. Einmal hat er meinen Bruder Günther so verprügelt, dass der sich in die Hundehütte verkroch. (…) Eine Kleinigkeit reichte, und er explodierte vor Wut. (…) Es gab oft Streit, den meine Mutter dann geschlichtet hat. Sonst hätte mein Vater mich halb umgebracht. (…) Die Mutter war das ausgleichende Element zu diesem strengen, unsicheren Vater.“ (focus, 08.08.2011, "Er hätte mich halb umgebracht")

Dies ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich. Zunächst das Trauma der Gewalt, aber auch eine ausgleichende Mutter, die er in seiner o.g. Autobiographie noch ausführlicher und sehr positiv beschreibt. Massenmörder und Terroristen hatten grundsätzlich niemanden, der ihnen im Angesicht von Gewalt und Demütigungen zur Seite stand, so die These von Alice Miller. Reinhold Messner ist ganz sicher durch diese schwere Gewalt seitens des Vaters traumatisiert, aber er ist ganz offensichtlich kein Gewalttäter, sondern hat seinen ganz eigenen, für ihn kreativen Weg gefunden, bedingt auch wiederum durch die Welt, in die er hineinwuchs und einen Vater, der zusammen mit Reinhold als dieser gerade mal fünf Jahre alt war, einen Dreitausender bestieg. (Umgekehrt ist die provokante aber vielleicht auch an sich schon erkenntnisreiche Frage spannend, ob z.B. ein Terrorist XY mit einem entsprechend destruktiven Kindheitshintergrund vielleicht kein Terrorist geworden wäre, hätte er seit jungen Jahren das Extrembergsteigen entdeckt und sich dadurch lebendig gefühlt. Denn Umwelt und Rahmen bestimmen natürlich immer auch den Weg eines Menschen, wie auch seine Ausdrucksweise oder Pseudoverarbeitung von Kindheitsleid. Dies als gedankliche Anregung, nicht als Werbung für Extremsport  gedacht.)

Messners Weg will und kann ich gar nicht beurteilen. Ich selbst wundere mich einfach über Extremsportler, kann ihnen ihr Tun aber auch lassen. Sie handeln nicht vorsätzlich verletzend oder aggressiv gegen andere Menschen, sondern bringen max. sich selbst in Gefahr. In der o.g. Doku „Freifall - Eine Liebesgeschichte“ kamen allerdings zwei Dinge zu Tage: das unermessliche Leid der Hinterbliebenen, wenn solche Sportler tödlich verunglücken und das beständige Bangen und die Ängste von nahen Angehörigen wie Ehefrau und Kindern bzgl. dem Mann/Vater, wenn er wieder „auf Tour“ geht.

10 Kommentare:

Michael Kumpmann hat gesagt…

Überleben, Rein um des Überlebens willens, ist eine Krankheit der Moderne. Wenn Ich die Wahl hätte zwischen einem langen Leben wie jetzt, und einem Leben, wo ich endlich eine Frau hätte, meinen Traumberuf ausüben dürfte und ein berühmt wäre, aber innerhalb von 4 Jahren tot wäre, ich würde mich für Letzteres entscheiden.

Wie Nietzsche sagte: Leben allein des Lebens willens und dabei jedes Risiko zu vermeiden, ist selber Lebensfeindlich. Und die Menschheit ist nur so weit gekommen, weil Leute ihr Leben riskiert hatten.

Michael Kumpmann hat gesagt…

Zu:

" kamen allerdings zwei Dinge zu Tage: das unermessliche Leid der Hinterbliebenen, wenn solche Sportler tödlich verunglücken und das beständige Bangen und die Ängste von nahen Angehörigen wie Ehefrau und Kindern bzgl. dem Mann/Vater, wenn er wieder „auf Tour“ geht."

Na ja. Es ist halteben so, dass Frauen keine "Waschlappen" wollen, sondern Alphamänner, die zeigen, dass sie auch Jagen und gegebenenfalls den Tiger erledigen können.

Deshalb dürfte es so sein, dass die betreffenden Ehefrauen zwar Angst haben, wenn ihre Männer sich in Lebensgefahr bringen. Würden diese Männer das aber nicht tun, hätten die betreffenden Frauen sie aber erst gar nicht erst geheiratet.

Sven Fuchs hat gesagt…

Nun Nietzsche war ja selbst jemand, der eine schwierige Kindheit hatte. Alice Miller hat ihn einmal analysiert...

Sich lebendig und glücklich fühlen "einfach so", ohne Todesnähe ist für mich gesund.

Extremsport bringt zudem keine kulturellen Errungenschaften hervor. Aber trotzdem muss ich zugeben, dass mich auch die Frage umtreibt, ob manche Entwicklung in der Menschheitsgeschichte nicht auch vorangetrieben wurde, weil Menschen sich derart "ausgeschaltet" haben bzw. waren, dass sie nur noch im Focus auf ein Ziel lebten und dadurch teils Erstaunliches erreichten.

Sven Fuchs hat gesagt…

Bzgl. der Ehefrau im Film kann ich sagen, dass sie ihren Mann "verantwortungslos" nannte und sich wünschte, er würde endlich mit diesem Risiko aufhören. Ich persönlich empfand diese Frau derart belastet, dass ich mir vorstellen kann, dass sie ihn irgendwann verlässt, einfach um wieder ruhig schlafen zu können....

Michael Kumpmann hat gesagt…

Ja. Was Alice Miller über Nietzsche schrieb, kenne Ich. Hab ich noch dieses Jahr mehrfach gelesen. (Trotzdem hat es mir nicht weitergeholfen, zu kapieren, warum Ich das selbe beschissene Liebesleben haben muss, wie der und Sören Kierkegaard.)

Zum Thema, dass diese eine Ehefrau ihren Mann verlassen würde. Stimmt. Das kann und wird wahrscheinlich sein. Die Frage ist dann aber, mit welcher Art Mann sie den ersetzen würde. (Das ist mir sehr oft bei getrennten Frauen aufgefallen, dass die immer denselben Typus Mann nehmen, bei dem es nie klappt. )

Anonym hat gesagt…

Die Folgen von Kindesmisshandlung können sein:

Kindesmisshandlung, Essstörungen, Drogensucht, Alkoholismus, Prostitution, psychische Krankheiten, Suizid, Kriegstreiberei, Herstellung von Masssenvernichtungswaffen, Terrorismus, Kriminalität, destruktive Politik, Tyrannei, Völkermord, Tierversuche, Naturzerstörung, Religion ("Gott", also den Eltern, Kirchen und Tempel erbauen und ihnen huldigen), in der Medizin mit Blindheit geschlagen sein (nicht merken wollen) und alle Symptome bekämpfen und vernichten wollen, statt sie zu verstehen, die Grenzen des Gewachsenen nicht annehmen wollen (die Bestimmung für das Dasein) usw. usf.

Sehr entscheidend dafür, welche Richtung ein misshandeltes Kind später einschlägt, ist, ob es neben den Misshandlungen auch noch in irgendeiner Form von anderen Menschen, während des Aufwachsens, Liebe, Zuneigung, Beistand, Verständnis für seine Not, seine Situation, erfahren hat oder nichts dergleichen.

Gruss
Mario

Anonym hat gesagt…

Vor einiger Zeit schon habe ich auf 3Sat eine Doku gesehen mit dem Titel "Die Basejumper von Lauterbrunnen mit dem Untertitel "Sportler, Spinner, Süchtige". Einige Aussagen von diesen Süchtigen nach dem freien Fall (und eine von einem Arzt) habe ich mir damals notiert und hier sind sie:

„Ich fühle mich lebendig, wenn ich Basejumpe. Ich finde das normale Leben, den normalen Arbeitsalltag völlig langweilig. Ich brauche einen „Kick“. Ich kann nicht anders. Basejumping hält mich am Leben (!). Es ist wie eine Droge. Das normale Leben langweilt mich völlig.“ Violetta

„In der Medizin spricht man von einem Stresshormon, dem Adrenalin, und von einem Glückshormon, dem Endorphin. Beim Basejumping fährt zunächst das Adrenalin ein, bis sich der Schirm öffnet..., es steigt der Blutdruck, es öffnen sich die Sinne und so kann man sich gute Energie reinholen/reinziehen.“
Bruno Durrer, Arzt

„Wenn du nicht bereit bist, für’s Basejumping zu sterben, solltest du es nicht tun! „Fliegen“ ist für mich der Sinn des Lebens! Und ich bin bereit, dafür zu sterben. Darüber bin ich mir zu 100% sicher.“
Jeb Corliss

„Nach dem Exit (dem Ausstieg, dem Absprung) fühle ich mich zuerst komplett leer. Das ist dann die Leere. Da hat man keine Probleme, keine Sorgen, einfach nichts. Und dann kommt der Grund (der Erdboden) auf einen zu und dann kommt das Adrenalin. Das sind die zwei Höhepunkte eines Sprunges und darum mache ich das immer wieder, um diese Leere zu finden und dann das Adrenalin zu spüren.“
Christian, junger Basejumper

„Ich will fliegen, fliegen wie ein Vogel.“ –
„Beim Basejumping zeigt sich, wer Verantwortung für das, was er tut, übernehmen kann und das ist viel wert in einer Welt, wo alle Verantwortung abgeben wollen.“

Ueli Gegenschatz

Grüsse
Mario



Sven Fuchs hat gesagt…

Danke Kai und Mario für die Infos!

Mario, Du hast es gut erfasst. Letztlich zeigt jedes Fachbuch über Kindesmisshandlung die diversen Folgeschäden auf. Dass dies bei Massenmördern etc. ausgeblendet wird mit dem Verweis auf die Millionen Misshandelter, die nicht zu Massenmördern würden, zeugt von enormer Unwissenheit. Denn dies impliziert ja auch: Diese Millionen wären quasi ungeschädigt, was nicht Realität ist, sie drücken die Folgeschäden nur anders aus.

Sven Fuchs hat gesagt…

Interessante Studie, die ich demnächst auszugsweise in den obigen text einfließen lassen werde: "Prävalenz von Suchtverhalten unter Extremsportlern" Dissertation von Andreas Jung (2014) http://epub.uni-regensburg.de/31895/1/Pr%C3%A4valenz%20von%20Suchtverhalten%20unter%20Extremsportlern%20sine%20CV.pdf

Anonym hat gesagt…

„Stell dir vor, das Baby möchte geboren werden. Alle Zellen in ihm sind auf den Geburtsvorgang vorbereitet. Es „weiss“, wie es geht. Plötzlich wird es aus dem Bauch herausgenommen und kann den Geburtsprozess nicht zu Ende bringen. Eine wesentliche Erfahrung seines Lebens wird ihm genommen. Es kann das, was es angefangen hatte, nicht zu Ende bringen, es hat sich nicht durchgesetzt. Oftmals wird dieses Schema bei Kaiserschnittkindern in ihrem späteren Leben fortgeführt. Sie fangen etwas an, bringen es aber nicht zu Ende.

Ausserdem fehlt ihnen das Erleben des sehr engen Geburtskanals. Kaiserschnittkinder haben in ihrem weiteren Leben häufig Probleme, ihren Körper zu spüren und neigen zu EXTREMSPORTARTEN oder anderen extremen Körpererfahrungen, um sich überhaupt fühlen zu können. Diese Kinder sind auffallend häufiger krank als andere, natürlich geborene Kinder. Da es sich ja um eine Operation handelt, muss das Kind direkt danach von der Mutter getrennt und untersucht werden. Es bekommt also nicht die Nähe, die es jetzt braucht. Was für ein Schock für dieses kleine, verletzliche und hilflose Wesen.“

Aus dem Artikel „Zurück zur Natürlichkeit“ von Randi Hausmann. Erschienen bei „Kent-Depesche“, im Sammelheft „Gesunde Schwangerschaft – natürlich Geburt“.

In Deutschland werden aktuell etwa 32 % aller Babys per Kaiserschnitt entbunden. Nur ein ganz kleiner Bruchteil wäre im Grunde wirklich not-wendig.

Gruss
Mario