Mittwoch, 6. Mai 2020

Lloyd deMause (1931 – 2020), ein Nachruf von Christian Lackner


(Mit Einverständnis von Christian Lackner hier veröffentlicht. Vielen Dank dafür!)


Lloyd deMause erzählte mir gerne von seiner Kindheit in Detroit, wo er als Sohn eines Autodesigners  aufwuchs. Aus unseren vielen Gesprächen schließe ich, dass Autos in seinem Leben immer eine gewisse Rolle gespielt haben.

Während seines Studiums der Psychologie an der Columbia University in New York interessierte er sich besonders für psychoanalytische Theorien. Ein Interesse, das seine damaligen Professoren nicht teilten. Nichtsdestotrotz begann er, die Geschichte der Kindheit zu beforschen.

1977 erschien sein erstes großes Werk „Hört ihr die Kinder weinen“ (Im Original: The History of Childhood, 1974). Damit schuf er die Basis für die Erklärung der Wechselwirkungen zwischen der Eltern-Kind-Beziehung und kollektiven Entwicklungen. Dieses Werk erregte großes internationales Aufsehen, wurde in viele Sprachen übersetzt und zum Schlüssel für seine weiteren Forschungsarbeiten, die sich der Erkundung der Ursachen für Fortschritt, oder, wie er es nannte: der psychogenen Evolution, widmete. Lloyd deMause gilt bis heute als die Gründerfigur der Psychohistorie als Wissenschaft. Zahlreiche universitäre Institute auf der ganzen Welt nahmen seine Publikationen gerne auf und übernahmen seine Entdeckungen und Theoriemodelle in ihre Curricula. Unter der Dominanz eines psychologisch-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnisses war es für die Psychohistorie nicht einfach, als Disziplin in der Welt der Wissenschaften wahrgenommen zu werden, legte sie sich doch mit anderen Wissenschaften wie der Geschichte, Anthropologie oder der ökonomiekritisch ausgerichteten Sozialpsychologie an.

In den 70er Jahren gründete Lloyd deMause das Institute of Psychohistory. Die ökonomische Basis dieses Instituts bildete ein Verlag. Als ich ihn 1985 das erste Mal persönlich kennenlernte, trafen wir uns in seinem Büro am Broadway, wo an die 30 Angestellte an einer wöchentlich erscheinenden Anzeigengazette für den Verkauf von Gebrauchtwagen arbeiteten. Die Erlöse des Verlages flossen in seine Forschungsarbeiten, die Gründung der International Psychohistory Association und in die Herausgabe des Journal of Psychohistory. Mit dem Verkauf des Verlages Ende der 80er Jahre konzentrierte er sich ganz auf psychohistorische Grundlagenforschung; auf sein Ziel, eine wissenschaftliche Organisation auf die Beine zu stellen und sich weltweit mit Kolleginnen und Kollegen weiter zu vernetzen. Unter vielen anderen stand er mit Alice Miller und Erich Fromm in Verbindung. Er besuchte Deutschland damals regelmäßig, und aus dem Kreis der an seinen Workshops Teilnehmenden ging die bis heute größte psychohistorische Vereinigung außerhalb der USA hervor.

1984 erschien sein dritter großer Wurf (nach den Foundations of Psychohistory 1982): Reagan’s America, ins Deutsche übersetzt von Klaus Theweleit. Darin versuchte sich deMause in einem einzigartigen simultanhistorischen Experiment, den amerikanischen Präsidenten während dessen Amtszeit zu analysieren und zu interpretieren. Er wandte darin seine Hypothesen auf die damaligen politischen und gesellschaftlichen Ereignisse an – teilweise mit prophetisch anmutenden Methoden, die die Ereignisse in naher Zukunft voraussagten, wie zum Beispiel das Schuss-Attentat auf Ronald Reagan, welches er während einer Lehrveranstaltung durch die Analyse kollektiver Phantasiebilder vorhersagte. Er nannte diese von ihm geschaffene Methode „Fantasy Analysis“: Anhand von medialen Bildern (Cartoons, Titelblätter, Filme) ließen sich politische Ereignisse vorhersagen.

Zu seinen bedeutenden wissenschaftlichen Errungenschaften gehört das von ihm kreierte Modell der Psychoklassen, das den Fortgang der Menschheit in rhythmischen Aufeinanderfolgen derselben beschreibt. Die Grundlage bilden die sechsstufigen Kindererziehungsmodi, wobei jeder Modus eine Psychoklasse hervorbringt – innovativ oder rückschreitend.

Die Arbeiten von deMause waren stets transdisziplinär; er verband historische, anthropologische, psychoanalytische, politologische und neuropsychologische Erkenntnisse aus der Pränatalforschung, erstellte logische Zusammenhänge zwischen religiösen, fantasierten und pragmatischen historischen Entwicklungen, schilderte die fatalen Folgen der Gewalt an Kindern als Ursache kriegerischer Auseinandersetzungen – und er startete Projekte, die seine Theorie empirisch untermauerten, wie z.B. die Errichtung von Elternschulen in Boulder, Colorado, mit langfristiger Evaluation der sozialen und ökonomischen Folgen.

Mit seinem vorletzten großen Werk – einer Summa – Das emotionale Leben der Nationen – legte Lloyd im Jahre 2002 sein Lebenswerk der Öffentlichkeit vor. Es ist ein Opus von symphonischer Qualität, ein flüssig lesbarer Erklärungszusammenhang menschlicher Entwicklung, der geradezu herausfordert, kritisch diskutiert zu werden. Es war sein letztes Buch. The Childhood Origins of War konnte er nicht mehr in Buchform herausgeben. Eine Alzheimer Erkrankung verhinderte dies.

Die Arbeiten und Publikationen von Lloyd deMause machten ihn in der wissenschaftlichen Community zur bedeutenden Persönlichkeit und lösten dort Kontroversen aus. Ein zentraler Konflikt bestand in der rigorosen Ablehnung von deMause gegenüber ökonomischen Theorien von kapitalistischer Ausbeutung als Ursache für Gewalt. Die Ökonomie wäre immer nur so gewalttätig wie die darin Agierenden, während jedoch die Politik sich gar nicht ökonomisch vernünftig verhalte,
wenn sie Kriege anzettle, die deutlich mehr kosteten, als sie bringen würden. Demütigung und Rache, frühkindlich induziert, stellen das Problem psychogener Evolution dar, so deMauses Erkenntnis aus seinen Studien.

Die Bedeutung der Arbeiten und Theoriemodelle von Lloyd deMause werden sich noch über Generationen auswirken. Sein Grundgedanke hat sich sowohl legislativ als auch in konkreten Fortschritten in vielen westlichen Ländern niedergeschlagen, zum Beispiel in Form von Gesetzen, die Gewaltausübung gegen Kindern unter Strafe stellen. Er beurteilte den psychogenen Zustand eines Kollektivs gerne anhand – sofern vorhanden – der Statistiken über Kindesmissbrauch. Er verblüffte mich oft mit harschen Antworten auf meine Fragen, wie etwa die, ob es vernünftig sei, die Türkei in die EU aufzunehmen. Er meinte, das wäre noch viel zu früh; und es würde noch mindestens drei Generationen brauchen, bis man so etwas auch nur in Erwägung ziehen sollte.

Nach unseren Begegnungen in den 80er Jahren verloren wir uns aus den Augen, bis Jerrold Atlas, ein Weggefährte von deMause, dem ich eine Gastprofessur an der AlpenAdria Universität Klagenfurt verschaffte, 2003 mit dem Wunsch an mich herantrat, „The Emotional Life of Nations“ auf Deutsch herauszugeben; was in einer Übersetzungsarbeit mündete, die ich an die Bedingung knüpfte, dass Lloyd zur Buchpräsentation 2005 nach Österreich käme, was er nur widerwillig tat, es dann letztlich doch auch sehr genoss. Danach trafen wir uns 2006 in London wieder. Er war zu einem Vortrag in der Winnicott Clinic eingeladen worden. Sein Vortrag wurde zum Skandal, weil er behauptete, dass Österreich und Deutschland an Ländern wie Amerika und Großbritannien in Bezug auf moderne Kindererziehung vorbei gezogen wären.

In seiner Wohnung in Manhattan, wo ich des öfteren übernachtete, lernte ich ihn und seine Familie kennen, und einen Mann so voller aufrichtiger Herzlichkeit und Wärme, wie es sie nur selten gibt. Bei unserer letzten Begegnung 2013 in NYC umarmten wir uns, um im nächsten Moment Fremde zu sein. Aufgrund seiner damals beginnenden Alzheimer Erkrankung erkannte er mich nicht mehr.

Christian Lackner, Klagenfurt, am 29. April 2020, im Auftrag des Vorstandes der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie, GPPP

1 Kommentar:

Michael Thomas Kumpmann hat gesagt…

Was ich persönlich gut an de Mause fand, war einmal, dass er die Idee des linearen Fortschritts, wie ihn Kant und Hegel vertraten, in seiner Theorie in Frage stellte, und stattdessen eher zu einem zyklischen Modell kam, wie es in der Antike vorgeherrscht hat.

Ich ziehe seine Ideen zum Thema Wachtumspanik zwar mitlerweile in Zweifel und halte die r/K Theorie für plausibler (die quasi besagt, dass es zuerst wenig gibt und sich die Leute zusammen reißen müssen, um eine gute Gesellschaft zu bauen, dies zu einem Überfluss führt, aber weil Egoismus so auch nicht mehr "absolut tödlich" ist, schleicht sich in der Gesellschaft eine Mentalität von "Hauptsache, Spaß/Konsum/Genießen, egal was die Anderen dacvon haben" ein und diese sorgt dafür, dass die Resourcen und alles Gute in der Gesellschaft langsam erodieren, bis wieder alles zerstört ist), aber ich denke, es ist auch wichtig, psychische Bedingungen bei Zeittheorien zu beachten, so wie es de Mause getan hatte.

Und was ich bei de Mause definitiv schätze ist seine Einstellung, dass psychische Störungen Ursache eines realen Problems sind, und dass dieses reale Problem nicht unwichtig für die Heilung der Störung ist. Das gefällt mir deutlich besser als die Kognitionspsychologie, die einem ständig erzählen will, dass das eigentliche Problem nicht sei, dass die Realität schlecht ist, sondern dass man mit der falschen Einstellung an die Realität geht.

Ich sag es mal so, wenn die eigene Hand unter einer Kreissäge landet, dann hilft es nicht besonders viel, wenn man sich einredet, dass das so ganz schön sei.

Zur Aussage "Die Ursache von Hass ist Selbsthass". In gewisser Weise stimme ich dem jetzt extrem zu. Ich hab nachgelesen über neurologische Theorien zu Meditation etc. Dort stand, dass das menschliche Ego in Wahrheit eigentlich nicht das Wissen ist, was wir sind, sondern die permanente Erinnerung an das, was wir gerne wären, aber nicht sein können.(Und im BUddhismus sind die 3 Grundeigenschaften des Egos Gier, Hass und Verblendung.) Interessanterweise hat man festgestellt, dass Leute mit Depression und krampfhafter Wut deutlich häufiger als normal die Worte Mein, Ich etc. verwenden.

Um es ganz böse auszudrücken ist mein EIndruck, das menschliche Ego ist hauptsächlich das Streben, sich an der Welt dafür zu rächen, dass sie einem nicht erlaubt, das zu sein, was man gerne wäre.