Montag, 27. Oktober 2008

3.3 Stalin: Ein Diktator, der einst als Kind „zu Stahl geschlagen wurde“

Der Biograph und Historiker Alan Bullock (1993) gibt ein - wenn auch kurzes - Bild davon, was Stalin (echter Name: Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili) als Kind und Jugendlicher an Leid erfuhr. Auch Stalin hatte eine ähnliche Ausgangssituation wie Hitler: Er war das erste überlebende Kind nach zwei Fehlgeburten. Stalins Vater war laut Bullock „ein raubeiniger, gewalttätiger Mann, ein Trinker, der Frau und Kind schlug und kaum den Lebensunterhalt verdiente.“ (Bullock, 1993:, S. 15). Stalins Jugendfreund Iremaschwilli schrieb in seinen Memoiren: „Die ungerechten und schweren Prügel, die er als Knabe bezog, machten ihn so hart und herzlos, wie sein Vater es war. Da er überzeugt war, dass jeder, dem irgend jemand Gehorsam schuldete, seinem Vater gleichen müsse, entwickelte er bald eine tiefe Abneigung gegenüber allen, die ihm übergeordnet waren. Von klein auf wurde die Verwirklichung seiner Rachegelüste zu dem Lebensziel, dem er alles unterordnete.“ (zitiert nach ebd., S. 15)
Auch Neumayr (1995) beschreibt die väterliche Gewalt. Stalins Vater hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, dem kleinen Jossif seinen Eigensinn durch tägliche Prügel, jeweils vor dem Schlafengehen verabreicht, auszutreiben. Ebenso wurde Stalins Mutter häufig Opfer brutaler Prügel durch ihren Mann (vgl. Neumayr, 1995, S. 261) und der junge Josef sicherlich stummer und hilfloser Zeuge dieser Übergriffe.
1890 zerbrach schließlich die Ehe der Eltern. Stalin muss zu diesem Zeitpunkt 11 oder 12 Jahre alt gewesen sein. In diesem Jahr sah der junge Josef seinen Vater zum letzten Mal. Der Vater wurde später zum Landstreicher und verstarb 1909 an Leberzirrhose. (vgl. Kellmann, 2005, S. 9)
Bullock schreibt weiter, dass der junge Stalin durch die „liebevolle Zuneigung“ und „Förderung“ seiner Mutter einen Ausgleich zu den väterlichen Misshandlungen gefunden hätte. Dies würde - trotz der kaum vorstellbaren Verbrechen, die Stalin später begangen hat - der Miller-These vom fehlenden „Helfenden Zeugen“ widersprechen. Bullock selbst bietet Hinweise, die eine andere Sprache sprechen. Stalins Mutter hatte eigene, egoistisch Pläne mit ihrem Sohn. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ihr Sohn Priester werden solle und setzte sich ihm gegenüber – auch entgegen den Vorstellungen des Vaters - eine ganze Zeit durch. Stalin absolvierte letztlich einige Jahre eine Ausbildung zum Priester. Wie einfühlsam und liebevoll ist eine Mutter, die ihren Sohn in einen Beruf zwingt, ohne auf seine Interessen, Bedürfnisse und Wünsche zu hören (und welche Gefühle musste Stalin gegen sie hegen, da er während seiner ungewollten Priesterausbildung erhebliche Verletzungen erlitt - siehe weiter unten)? Aus Bullocks weiteren Schilderungen lässt sich auch schließen, dass Stalin von seiner Mutter stark idealisiert wurde – ähnlich wie bei Hitler – und sie ihm vermittelte, dass er das Zeug für „Großes“ und „Bedeutendes“ hätte. Was für ein realistisches, authentisches Bild von ihrem Kind hat eine Mutter, die selbiges abgöttisch idealisiert? Hirsch (1994) spricht von emotionalem Missbrauch, wenn Eltern ihre Bedürfnisse in den Vordergrund stellen indem sie z.B. das Kind als Substitut des idealen Selbst sehen bzw. dem Kind auferlegen, all die unerfüllten Wünsche und Ideale der Eltern zu verwirklichen. (vgl. Hirsch, 1994: 52ff)

Diese Idealisierung und die Misshandlungen seitens Stalins Vater beschreibt Bullock als prägende Einflüsse, die sich entscheidend auf die Entwicklung von Stalins Persönlichkeit auswirkten. (vgl. Bullock, 1993, S. 17)
Den wesentlichsten Hinweis auf eine gestörte Beziehung zur Mutter bringt Bullock, als er berichtet, dass Stalin nach seiner Revolutionärslaufbahn seine Mutter nur noch wenige Male sah und 1936 nicht einmal zu ihrem Begräbnis erschien. Wie passt dieses Verhalten mit Bullocks Beschreibung einer „liebevollen Mutterbeziehung“ in Stalins Kindheit zusammen? Welche Gefühle musste Stalin gegenüber einer Mutter gehegt haben, die ohnmächtig die Prügel des Vaters duldete (laut Bullock wurde Stalin öfter in Anwesenheit der Mutter verprügelt)?

In einer aktuelleren Biographie über den „jungen Stalin“ weist Montefiore (2007) dagegen deutlich nach, dass Stalin nicht nur von seinem Vater, sondern auch von seiner Mutter häufig misshandelt wurde. (vgl. Montefiore, 2007, S. 66) Als Stalin seine Mutter später mit dieser Gewalt konfrontierte, soll sie nur gesagt haben, dass es ihm ja nicht geschadet hätte.
Auch deMause weist nach, dass Stalin von seiner Mutter geschlagen wurde (und Stalin wiederum seine eigenen Kinder schlug). (vgl. deMause, 2000b, S. 460) Kellmann schreibt einleitend in Stalins Biographie: „Nicht nur der Vater, auch die Mutter schlug ihn. Körperliche Misshandlungen, Jähzorn und Gewalt müssen zu den ersten Wahrnehmungen im Leben jenes Menschen gehört haben, der sich später Stalin nannte.“ (Kellmann, 2005, S. 9) Aber auch ohne diese Informationen hätte Bullock einiges ableiten können, wie oben dargestellt.

Als Biograph eines Diktators ist er (wie auch andere Biographen von Diktatoren) letztlich auch eine Art Gewaltforscher. Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass auch Gewaltforscher „blinde Flecken“ haben können und z.T. dazu neigen, traditionelle Mythen und Geschlechtsrollenvorstellungen (gewalttätiger Mann, friedfertige Frau) zu übernehmen. Ich vermute auch, dass während entsprechender Recherchen die Gefahr groß ist, auf die Vernebelungen und Scheinfassaden destruktiver Elternteile einerseits und die (überlebenswichtigen) Idealisierungen der Eltern durch das misshandelte Kind andererseits hereinzufallen. Destruktive Eltern halten bekanntlich vor sich und vor anderen das Bild aufrecht, sie seien die allerbesten und liebevollsten Eltern und alles, was sie tun, würde zum Wohle des Kindes geschehen (selbst wenn dies Gewalt gegen des Kind bedeutet). Entsprechend könnte dies den genauen Blick des Forschers trüben. Eine zusätzliche Frage ist auch, ob nicht manchmal evtl. eigene destruktive Kindheitserfahrungen der Gewaltforscher selbst einige „blinde Flecken“ ausmachen könnten. Zumindest finde ich es naheliegend, dass sich gerade auch Menschen mit eigenen Gewalterfahrungen an die Gewaltforschung machen. Zusätzlich möchte ich an diese „Forschungskritik“ anknüpfen, dass gerade die Kindesvernachlässigung und psychische Gewalt schwerer zu bestimmen und von Außen zu erkennen ist und von Forschern entsprechend (trotz schwerer Folgen für die Kinder) oftmals erst gar nicht in den engeren Blick kommt.

Um zurück zu Stalin zu kommen: Auch Stalins weiteres Leben als junger Mann in einem Priesterseminar war geprägt von Unterwerfungsritualen gegenüber Autoritäten, von Demütigungen durch die Mönche (z.B. ständiges Ausspionieren, Verfolgen, Anschwärzen und Durchsuchen seiner Privatsachen), von Ohnmacht und Gewalt. Fünf Jahre verbrachte er dort bis kurz vor seinem 20. Geburtstag und Bullock kommentiert diese Zeit u.a. mit dem Wort „Überlebenstraining“. (vgl. Bullock, 1993, S. 29) Stalin bedeutet nebenbei bemerkt übersetzt „Mann aus Stahl“. Welch tiefe Angst vor Hilflosigkeit, schmerzlichen Gefühlen und Ohmacht musste „Stalin“ empfunden haben, um sich so stahlhart und mächtig nach Außen zu präsentieren? Wie wenig Mitgefühl mit sich und somit auch mit anderen Menschen muss ein Mensch wie Stalin gehabt haben? Hier wird deutlich, wie Ohnmachterfahrungen in jungen Jahren das Leben eines Menschen entscheidend prägen können.

Am Rande erwähnen möchte ich noch, dass Josef auf Grund vieler Narben im Gesicht als Folge der Pockenkrankheit als „der Pockennarbige“ verspottet wurde. Und in der Pfarrschule von Gori – in die er erst mit 10 Jahren eintrat, vorher war er eher ein Straßenjunge – „sah sich der schäbig gekleidete Junge (…) den Hänseleien der wohlhabenden Weinhändler- und Bauernsöhne ausgesetzt.“ (Kellmann, 2005, S. 10) Als Kind befiel ihn zudem eine Kinderkrankheit nach der anderen und mehrfach verunglückte er auf der Straße. „Er wurde von Karren überfahren, brach sich die Beine und holte sich eine Blutvergiftung durch offene Wunden, die den linken Arm derartig lähmte, dass der spätere Oberbefehlshaber der Roten Armee auf Dauer wehrdienstuntauglich blieb.“ (ebd.) Ob die vielen Krankheiten und Unfälle bereits etwas mit (unbewusster) Selbstzerstörung als Folge der elterlichen Misshandlungen zu tun hatten, sei dahin gestellt. Weitere Niederlagen waren diese Erfahrungen und die Hänseleien durch andere Kinder alle mal.

Montefiore (2007) kennzeichnet Stalin übrigens mit Blick auf seine jungen Jahre als Kriminellen, der weder vor Bankraub, Schutzgelderpressung und Entführung noch Mord zurückschreckte. Van der Kolk. & Streeck-Fischer (2002) berichten aus einer Studie, dass 82 % der untersuchten Straffälligen als Kind misshandelt wurden (vgl. Kolk. / Streeck-Fischer, 2002, S. 1022ff) und Garbarino & Bradshaw (2002) stellen bzgl. Häufigkeitsstudien fest, dass 72 % bis 93% aller jugendlichen Straftäter körperliche Gewalt in der einen oder anderen Form erlebt haben. (vgl. Garbarino / Bradshaw, 2002 S. 911) Studien über jugendliche Mörder ergaben, dass 90 % nachweislich aus Familien mit gravierender emotionaler, physischer oder sexueller Missbrauchsvergangenheit stammen. (vgl. deMause, 2005, S.113)
Im „Handwörterbuch der Kriminalität“ heißt es: „Die Erfahrung schwerer Gewalttätigkeit im Elternhaus steht in enger Beziehung zu dem Auftreten von sozialabweichendem Verhalten und Kriminalität im Kinds-, Jugend- und Erwachsenenalter.“ (Schneider, 1998, S. 338)
Einen Zusammenhang zwischen selbst erlittener und später selbst ausgeübter Gewalt bzgl. Straftätern zu untersuchen und festzustellen, fällt der Forschung nicht all zu schwer. Solche Ergebnisse dürften auch in der Gesellschaft relativ wenig Aufsehen und Gegenkritik bewirken. Systematische Untersuchungen bzgl. Diktatoren und destruktiven politischen Entscheidungsträgern und Versuche, dergleichen Zusammenhänge auf diese zu übertragen, scheinen dagegen allem Anschein nach bisher in der (Gewalt-)Forschung eher wenig von Interesse zu sein. Mein persönlicher Eindruck ist auch, dass dort, wo vereinzelt auf solche Zusammenhänge hingewiesen wird, im Allgemeinen mit starker Kritik und Verleugnung reagiert wird. Dass ein einfacher Krimineller evtl. auf Grund seiner (Kindheits-)Geschichte so wurde, leuchtet vielen ein, aber einen Diktator (also einem politischen Kriminellen) mit der selben Schablone zu untersuchen, dass sei Schwachsinn und zu vereinfacht. Ist dem wirklich so?



Über Stalins Verbrechen und die Millionen Opfer seiner Diktatur ist viel geschrieben worden. Eine Information möchte ich noch anbringen: Stalin selbst hat seine Kinder geschlagen, so wie er einst geschlagen wurde (wie bereits oben erwähnt). DER SPIEGEL (vgl. Nr. 24, 11.06.2011, S. 65) schreibt, dass Stalins zweite Frau sich das Leben genommen hat, ein Sohn wurde zum Trinker, der andere wollte sich das Leben nehmen. Als das scheiterte, spottete Stalin "Haha, danebengeschossen!" Die Gefühlskälte und die Destruktivität eines politischen Führers wirft eben immer auch ihre Schatten auf das Private und die Familie. Menschen wie Stalin zerstören alles, was sie zerstören können. Da sie nie einen Hauch von Liebe und Zuwendung erfuhren, kennen sie nur die Rache und den Hass, sie kennen keine Gnade und kein Mitgefühl. Ihre Sprache und ihr Handeln ist vergiftet, so wie ihre Kindheit vergiftet war. Was wir in Menschen wie Stalin sehen, ist das Bild eines Menschen, der aber im Grunde wie eine Maschine ist und handelt und alles menschliche, zärtliche, liebevolle, lebendige und emotionale verloren hat.

Natürlich reicht die Psychopathologie der Regierenden nicht aus, um Kriege zu ermöglichen. In den nachfolgenden Kapiteln gehe ich ausführlich auf die Bedeutung von emotionalen Problemen bei Soldaten und im Volk ein. Ein psychisch kranker „Führer“ sagt letztlich viel über das emotionale Leben der Bevölkerung aus bzw. er verkörpert – mit den Worten von deMause - die kollektiven emotionalen Probleme seines Volkes.



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Sonntag, 26. Oktober 2008

4. Die Soldaten: Gewalt und Gehorsamsforderung in der Familie ist das Fundament für das Militär und kriegerische Ziele

Um Krieg führen und Terror verbreiten zu können braucht es Menschen, die bereit sind, andere Menschen direkt zu töten und zu quälen. In welchem Zusammenhang steht jetzt diese Bereitschaft zu Krieg bzw. blindem Gehorsam (ggf. trotz inneren Widerwillens) mit eigenen Kindheitserfahrungen?
Es gibt dazu einige sehr anschauliche Beispiele. Z.B. wurden die Securitas-Truppen des damaligen rumänischen Diktators Ceausescus, die grausam gegen das rumänische Volk vorgingen, aus ehemaligen Waisenhäusern rekrutiert. Gezielt wurden diese Kinder, deren Leben von Liebesentzug und Hoffnungslosigkeit geprägt war und deren Überleben von der erfolgreichen Unterdrückung ihres Schmerzes abhing, zum Töten erzogen. (vgl. Gruen, 2002b, S. 12)
Gezielt Waisenkinder für Gewaltakte zu trainieren, ist offenbar kein Einzelfall. In Sri Lanka wurden z.B. seit Mitte der 80er Jahre junge tamilische Mädchen, oftmals Waisen, systematisch von den oppositionellen "Befreiungstigern für Tamil Eelam" rekrutiert. Als "Birds of freedom" bezeichnet, wurden sie als Selbstmordattentäterinnen trainiert, weil sie die Sicherheitsmaßnahmen der Regierung besser unterlaufen konnten. (Globaler Bericht über Kindersoldaten, 2001)
Auch bzgl. Kindersoldaten gibt es solche Beispiele, wo Kinder gekidnappt, vergewaltigt und schließlich dazu gebracht wurden, wie Roboter andere Menschen zu ermorden. Dieser Sozialisierungsprozess auf Grundlage von Gehorsam und Terror zeigt deutlich, wie sehr die Auslöschung von Angst, Verletzlichkeit und Scham beim Kind durch Bestrafung zum Werkzeug des Unterdrückers werden kann. (vgl. Gruen, 2002b, S. 13)
Ein Bericht enthüllt, wie während der Ausbildung zum Elitesoldat von den Ausbildern gezielt Männer herausgesucht werden, um diese zu Folterern „weiterzuqualifizieren“. „Ein hohes Destruktionspotential, große Gehorsamsbereitschaft und ausgeprägte Selbstwertprobleme scheinen hierfür eine gute Voraussetzung zu sein. Der Aufwand, einen jungen Mann mit stabilen psychischen Voraussetzungen zum Folterer auszubilden, ist viel zu hoch. Insofern ist es einfacher und billiger, Personen auszuwählen, die bereits gewisse Auffälligkeiten in ihrer Persönlichkeit aufweisen. Solche jungen Männer kommen häufig aus ländlichen Gebieten und haben keine gute Ausbildung genossen. In ihrer Kindheit haben sie meist schon Erziehungsmaßnahmen erfahren, die ihr Selbstwertgefühl schwer geschädigt haben, was sie für die geforderten Grausamkeiten prädestiniert.“ (Heckl & Boppel, 1998)
Untersuchungen der Psychiaterin Isabel Cuadros ergaben, dass 60% der kolumbianischen Guerilleros in ihrer Kindheit körperlich misshandelt wurden. (vgl. BRENNPUNKT LATEINAMERIKA, 2005, S. 39) Diese und weitere Informationen über die weit verbreitete familiäre Gewalt und den Kindesmissbrauch in Kolumbien bringen sie zu folgender Schlussfolgerung: „Der Krieg ist nicht, wie häufig behauptet, die Ursache, sondern das Resultat der familiären Gewalt“ (ebd. S. 38) Kolumbien führt seit langem weltweit die Gewaltstatistiken an.
Der NS-Staat und seine Erziehungsideale in Familie und Schule/Jugend sind ein weiteres Lehrstück dafür, wie Kinder und Jugendliche für kriegerische Ansichten und Handlungen gezielt sozialisiert werden können („Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“): Bedingungslose Gefolgschaft, unentwegte Begeisterung, blinder Glaube an die Autorität, Zucht, Opferbereitschaft, Unterwerfung, Vaterlandliebe, Aufgabe der eigenverantwortlichen Identität und weicher (weil schwacher) Gefühle waren die Ideale des Regimes und seiner Anhänger. (vgl. Benz, 1992a) „Jedes Kind ist eine Schlacht.“, so Hitler wörtlich 1934 in einer Rede vor der NS-Frauenschaft. (zit. n. Gruen, 2002a, S. 20) Langendorf (2006) schreibt zur Instrumentalisierung der Kindheit während dieser Zeit: „Die Erziehung sollte die Kinder für den Krieg gebrauchsfertig machen, andererseits wurde der Krieg als Mittel der Erziehung gebraucht.“ (Langendorf, 2006, S. 273) Das nationalsozialistische Erziehungssystem „(...) ist systematisch darauf angelegt, die Bindung zwischen Mutter und Kind zu verhindern und zu einem Machtkampf werden zu lassen, der mit der Selbstaufgabe des Kindes enden muss, das von seinen Grundbedürfnissen abgeschnitten von früh zur Fühllosigkeit erzogen wird. (...) Kinder, die mit solchen Defiziten aufwachsen, sind durch die Ersatzangebote des Staates umso leichter zu manipulieren. Das ungeborgene Kind kann eine sekundäre Geborgenheit darin suchen, dass es dem Führer „gehört“, nicht den Eltern, nicht sich selbst.“ (ebd., S. 278) Ein derart bösartiges und destruktives System, wie es das NS-System war, weiß natürlich auch, wie man Gewalt und Empathielosigkeit erzeugt. Dies sollte gerade auch im Gesamtkontext dieses Textes zu denken geben...

Eine englische Studie von Henry V. Dicks weist auch auf den möglichen Zusammenhang von (sozialisierter) Persönlichkeitsstruktur und politischer NS-Ideologie hin. 1000 deutsche kriegsgefangene Soldaten wurden dabei in den Jahren 1942-1944 befragt. 36 % der Befragten waren Nazis (11 % „aktive“ und 25 % Nazis „mit Vorbehalt“), 40 % waren unpolitisch, 15 % passive und 9 % aktive Anti-Nazis. Die ersten 36 % zeigten eine signifikante Ablehnung von Zärtlichkeit und Muster einer großen Identifikation mit autoritären, bestrafenden und auf Gehorsam bedachten Vätern, ohne dass sie Zweifel oder Kritik an diesen äußerten. Die Gefangenen dagegen, die sich durch eine gute Beziehung zu einer liebenden Mutter auszeichneten, waren auch am wenigsten der Nazi-Ideologie verfallen, während die Männer mit hohen „Nazi-Werten“ keine liebevolle Beziehung zur Mutter oder zu Frauen im allgemeinen hatten. (vgl. Gruen, 2002a, S. 123ff)
Wirth (2006) weist bzgl. des Balkankrieges in den 90er Jahren darauf hin, dass die Massenvergewaltigungen und die besondere Brutalität der serbischen Soldaten eng mit den (durch verschiedene Studien nachgewiesenen) hohen Raten von Inzest, sexuellem Missbrauch und der massiven Gewalt gegen Kinder in der serbischen Gesellschaft verknüpft sind. (vgl. Wirth, 2006, S. 327ff) Traditionell war und ist die häusliche Atmosphäre in vielen Familien der Balkanländer durch ein hohes Maß an Brutalität gegen Kinder und Frauen gekennzeichnet bzw. ist die Familienstruktur patriarchal-autoritär ausgerichtet. Die Rolle des Vaters – und damit auch die der Söhne – ist durch eine unduldsame und aggressive „männliche“ Haltung definiert. Die Erziehung der Söhne steht in der Tradition eines „männlich-aggressiven, kämpferischen Volkes“ und hat zum Ziel, aus den Knaben „mutige Krieger“ zu formen, deren „Clan-Gewissen“ durch die Auffassung charakterisiert ist, nur ein Soldat sei ein richtiger Mann. „Mannesehre und Heldentum bilden die Grundpfeiler des Normen- und Wertesystems bei den Kulturen des Balkan.“ (ebd., S. 326)
Puhar (2000a) beschreibt ausführlich die Geschichte der Kindheit und deren weiteres Nachwirken im ehemaligen Jugoslawien: „Meine Arbeit enthüllte eine Welt, in der Babys straff gewickelt wurden und die von Magie und Aberglauben regiert wurde, dominiert von bösen Geistern, welche Projektionen der elterlichen Böswilligkeit darstellten. Babys konnten nur "gerettet" werden vor diesen projizierten dämonischen Gefühlen, indem auf sie gespuckt wurde, oder indem man sie an einem Fuß, kopfunter, über ein offenes Feuer hielt oder für eine kurze Zeit in den Ofen schob. Wie bei Kindern im Mittelalter wurde an den Brustwarzen der Babies so oft gesogen und herumgezogen, dass sie sich bald entzündeten, blutig und gangränös wurden. Als die Kinder aufwuchsen, wurden sie den üblichen mittelalterlichen Bestrafungen unterworfen: sie wurden zusammengeschlagen, mussten Urin trinken, wurden mit brühend heißem Wasser begossen, und so weiter. Diese unangenehmen Tatsachen der Kindheit waren Realität im Slowenien des neunzehnten Jahrhunderts, aber sie sind immer noch Realität in großen Teilen des übrigen Jugoslawien im zwanzigsten Jahrhundert.“ (Puhar, 2000a, S. 108) Puhar schildert (im historischen Rückblick, aber mit aktuellen Bezügen) die Lebenswirklichkeit im ehemaligen Jugoslawien als ein Leben der Grausamkeit und Destruktivität, voll von Hass und Misshandlung. Die Folge wäre „eine Haltung fatalistischer, würdevoller Resignation, kombiniert mit militanter Aggressivität und gefühlloser Brutalität.“ (ebd., S.135; siehe ausführlich zur familiären Gewalt auf dem Balkan auch Puhar 2000b)
Interessant ist auch, dass Puhar die (offiziellen) Säuglingssterblichkeitsraten (als grobe Indizes des Standes der Sorge um die Kinder) von 1989 zur Analyse für politisches Verhalten bzw. zur Differenzierung heranzieht. Säuglingssterblichkeitsraten auf 1000 Einwohner: Slowenien (8,5), Kroatien (12,7), Montenegro (15), Bosnien (19,9), Serbien einschließlich Kosovo (20,2), Mazedonien (37,9), und Kosovo (50,7). Entsprechend verliefen die kriegerischen Auseinandersetzungen entlang dieser Linie, mit den geringstem Gewaltaufkommen in Slowenien („nur“ 10 Tage Kampf), mit einer erheblichen Steigerung in Kroatien, mit einer Explosion der Gewalt in Bosnien bis zu einem „völlig selbstmörderischen“ Krieg der Serben. (vgl. ebd., S. 110ff)

Bzgl. Slowenien – das Land mit dem niedrigsten Gewaltaufkommen während des Bürgerkrieges – fällt insbesondere auch auf, dass in diesem Teil Jugoslawiens nie die kommunalen oder Gemeinschafts-Familien (bekannt als Zadrug), vorherrschend waren. Dieser Familientyp „(...) bedeutete ein Leben der konstanten Kriegführung“ (vgl. Puhar, 2000b, S. 144; siehe ausführlich zur Zadrug auch Puhar, 2000a) „Während zur Jahrhundertwende die Eltern in den meisten Teilen Europas auf Disziplin, Ordnung, Sauberkeit und Leistungswillen insistierten (und diese Ziele nach und nach mit immer weniger strengen Methoden erreichten), galt für das einfache Leben in den sogenannten Zadrugas des Balkan das Gegenteil.“ Puhar, 2000b, S. 144) Kurz gesagt: In Slowenien entwickelten sich – im Gegensatz zum restlichen Jugoslawien - fortschrittlichere Erziehungspraktiken und es ist naheliegend hier Zusammenhänge zur verminderten Gewaltbereitschaft während des Balkankrieges zu sehen.

In neueren Zeiten ist der internationale Terrorismus eine große Bedrohungen für den Frieden. Wirth (2006) weist dazu auf den Zusammenhang von frühen und häufigen Traumatisierungen und Terrorismus hin. „Wir wissen einiges über die Selbstmordattentäter unter den Palästinensern. Vor allem die Jugendlichen, die sich für die Selbstmordattentate zur Verfügung stellen, sind von Kindesbeinen an einer permanenten Traumatisierung ausgesetzt. Sie erfahren ihr ganzes Leben lang extreme Formen von Gewalt, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Das hat sie abstumpfen lasen.“ (ebd., S. 376) Dazu kommt laut Wirth auf Grund des enormen Ausmaßes der Gewalt auch eine kollektive Traumatisierung der kollektiven Identität der Gruppe. Dies treibt viele zum Fanatismus und in entsprechende terroristische Ausbildungslager. Die künftigen Selbstmordattentäter werden dort systematisch extremen psychischen und körperlichen Belastungen ausgesetzt, „die an Methoden der Gehirnwäsche, der Folter und der „künstlichen“ Traumatisierung erinnern. (...) Unter solchen Exrembelastungen kommt es zu einer Traumatisierung bzw. Retraumatisierung, die mit intensiven Gefühlen der Angst, der Scham, der narzisstischen Entwertung, der Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden ist. Als Ausweg bietet sich nun die vorbehaltlose Identifikation mit der Gruppe, dem Führer und der Gruppen-Ideologie an. Ergebnis ist ein fanatischer Anhänger, ein heiliger Krieger, der alles „Gute“ ausschließlich in der Sekten-Ideologie findet und alles „Böse“ und Hassenswerte auf den Feind abgespalten hat.“ (ebd., S.378ff; siehe dazu auch 4.1)
Auch deMause hat eindringlich auf die „extrem missbrauchenden Familien der Terroristen“ hingewiesen. (vgl. deMause, 2005, S. 39ff) Kinder, die heranwachsen, um islamische Terroristen zu werden, sind laut deMause Produkte der innerfamiliären Gewalt und eines frauenfeindlichen, fundamentalistischen Systems. „Von Kindheit an ist den islamischen Terroristen beigebracht worden, jenen Teil in sich selbst umzubringen – und in weiterer Übertragung auch bei anderen -, der selbstsüchtig ist und gerne persönliches Vergnügen und Freiheiten hätte. Bereits in ihren von Gewalt und Schrecken beherrschten Elternhäusern –und nicht erst später in den terroristischen Trainingscamps – lernen sie von Anfang an, Märtyrer zu sein und für Allah zu sterben.“ (ebd., S. 42ff)

Am deutlichsten wird o.g. These - „Gewalt und Gehorsamsforderung in der Familie ist das Fundament für das Militär und kriegerische Ziele“ – allerdings durch zwei (qualitative) Studien belegt: Mantell (1978) und weiter unten nachfolgend Roeder (1977).
Mantell kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Erziehungsstile im Elternhaus zwischen den von ihm untersuchten Kriegsdienstverweigerern und Kriegsfreiwilligen (US-Spezialeinheit: Green Berets) signifikant unterscheiden. (vgl. Mantell, 1978) Das Familienleben der Kriegsdienstverweigerer wurde von den Befragten als überwiegend ruhig, freundlich, entspannt und sanft, ebenso wie stabil und sicher geschildert. Jedem Familienmitglied wurde große Bewegungsfreiheit und Ausdrucksfähigkeit zugestanden. Keiner der Befragten wurde körperlich schwer bestraft. Der Großteil wurde selten oder nie geschlagen. Zudem wurde in der Familie allgemein die „humanitäre Sozialethik“ und individuelle soziale Verantwortung betont und gleichzeitig auch gelebt.

Der Erziehungsstil bei den Kriegsfreiwilligen war dagegen autoritär, kalt und brutal. Mit der Ausübung körperlicher Strafen wurde in den jeweiligen Situationen meist gnadenlos – teilweise sogar verstärkt - fortgefahren, selbst wenn die Kinder schon offen ihr Leid zeigten. Es gab zudem wenig Raum für eigene Gefühle und Meinungen. Feinfühligkeit und Zärtlichkeit wurde in diesen Familien vor allem für Jungen/Männer als Zeichen der Schwäche gesehen und unterbunden. Äußerlich waren diese Familien intakt, gefestigt und sozial akzeptiert, was der inneren Wirklichkeit allerdings nicht entsprach. (vgl. ebd., S. 38ff+73)
Während ihrer Kindheit kamen diese Kriegsfreiwilligen mit einem Wert- und Erziehungssystem in Berührung, das mit dem (späteren) Militärleben gut zu vereinbaren war. Interessant ist auch, dass die überwiegende Mehrheit der Freiweilligen der Meinung war, ihre Eltern hätten sie „gut erzogen“, der Grossteil hielt die Eltern sogar für „immer gerecht“. Dieser Idealisierung stehen die geschilderten Erfahrungen gegenüber. Außerdem hatte kein einziger der erwachsenen Befragten eine enge Beziehung auch nur zu einem Elternteil. Die Gefühle ihren Eltern gegenüber reichten vom einem vagen Gefühl bis zu völliger Distanz. (vgl. ebd., 128ff) Die Idealisierung der Eltern diente offensichtlich der Abwehr schmerzhafter Gefühle. Die Beziehungen der Freiwilligen zu anderen Menschen war auch allgemein oberflächlich, ungebunden und utilitaristisch. Sie interessierten sich selten für die Gefühle anderer, so wie sich früher niemand für ihre Gefühle interessiert hatte. Ihnen fehlte offensichtlich die Fähigkeit zu Mitgefühl. Dementsprechend sahen sie sich auch als „gemietete Gewehre“, als bezahlte Killer, die sich keinen Gedanken darüber machten, für wen sie arbeiten und wen sie eliminieren. (vgl. ebd., S. 164 + 265)
Nachfolgend möchte ich im Kontext von Familie und Militär/Krieg ein etwas längeres, eindrucksvolles Zitat von Mantell anbringen, das wie kein anderer Text meiner Recherchen zum Ausdruck bringt, wie sehr die Ausschaltung des Mitgefühls vom Militär gewollt ist, damit Krieg überhaupt funktionieren kann und wie die Familie den Grund und Boden dafür liefert. (Mantell wurde von einem Oberst des entsprechenden Militärstützpunktes gebeten, die psychologische Situation der Soldaten zu erläutern):
„Mantell: Der Soldat in den Special Forces war seit früher Kindheit an sehr harte, strenge und willkürliche Disziplin gewöhnt (...) in Form von Peitschenhieben, Einschüchterungen, Schlägen (...) In Ihren Familien gab es wenig bis keine Wärme (...) Strafen nahmen gewalttätige Formen an (...) Da gab es Waffen in der Familie (...) Sie sind seit früher Kindheit an die Verwendung von Waffen gewöhnt (...) Sie haben gejagt und die Waffen verwendet, um zu töten (...) Sie hatten keine starke Bindung an irgend etwas außerhalb der Familie (...) Die Familien waren isolierte Einheiten (...) Es gab keine positiven emotionalen Bindungen innerhalb der Familie, die zum Ausdruck gebracht wurden (...) Obwohl sie während der Jugendzeit häufig Geschlechtsverkehr hatten, hatten sie keine emotionalen Bindungen an diese Mädchen (...) Sie gaben nicht an, tiefe Freundschaften mit irgend jemandem gehabt zu haben (...) Der Armeedienst macht ihnen Spass (...) Sie respektieren alle Zweige der Exekutive und wissen deutlich, was ihnen passieren kann, wenn sie etwas Kriminelles tun (...) Sie haben viele Menschen getötet, Männer, Frauen und Kinder in Vietnam und haben keine Schuldgefühle oder Alpträume (...)

Oberst X: Wissen Sie, Sie haben den Amerikanismus in seiner besten Form beschrieben. Aber irgendwie haben Sie ihn verdreht, so dass es fast abschätzig klingt. Wir sind so stolz, diese Art von Individuum in den Special Forces zu haben, es ist unglaublich.“ (ebd., S. 302)

Die bundesdeutsche Untersuchung von Roeder (1977), in der 49 Soldaten und 52 Verweigerer mehrstündig befragt wurden, ergab ein sehr ähnliches Ergebnis, das ich ebenfalls relativ ausführlich darstellen möchte. In der Untersuchung wird deutlich, in welchem hohen Maße die Familie und die jeweiligen Erziehungsstile die spätere Einstellung zur Gesellschaft und insbesondere auch zur Bundeswehr bestimmen können.
Die untersuchten Freiwilligen sahen sich als Kind mit strengen Verhaltensrichtlinien und Gehorsamsforderungen durch ihre Eltern konfrontiert. Selbstständiges Verhalten und Denken der Kinder war nicht erwünscht. Es gab körperliche Strafen (die Eltern betrachteten körperliche Züchtigungen als normales Erziehungsmittel) und vor allem auch sparsame Zuwendungen, um die Anpassung des Kindes an ihre persönlichen Bedürfnisse zu erreichen. In einem Fallbeispiel - Günter L. – kam die Bedeutung psychischer Gewalt anschaulich zur Sprache. G.L.: „Das Schlimmste war immer, mein Vater hat an sich wenig geschlagen, aber das Schlimmste war immer, wenn meine Eltern dann nicht mit mir geredet haben, das war für mich das Schlimmste.“ (Roeder, 1977, S. 91) Der Vater hat nach G.L.`s Aussage bis zu einer Woche (!) lang nicht oder kaum mit ihm gesprochen, um eine Unterwerfung zu erreichen. Hier wird zum Einen deutlich, wie extrem verletzend psychische Gewalt wirken kann. Zum Anderen werden mögliche Forschungsfehler aufgezeigt. Günter L. ist nach eigener Aussage relativ wenig geschlagen worden. Da bei wissenschaftlichen Befragungen i.d.R. die psychische Gewalt nicht oder kaum abgefragt wird, wäre er bei anderen Untersuchungen als der von Roeder evtl. als „selten misshandelt“ eingestuft worden. Dies hätte zu Verwässerungen im Ergebnis geführt.

Oftmals berichteten die Freiwilligen, dass innerhalb der Familie generell wenig miteinander gesprochen wurde. In keiner Familie der Freiwilligen gab es flexible, demokratische Konfliktlösungen, Widersprüche wurden verleugnet oder bagatellisiert und ihre Austragung durch autoritative Anweisungen oder stillschweigende Manipulation unterdrückt. Die Freiwilligen lassen sich als selbstunsicher charakterisieren, die, da spontanes, innerlich selbstständiges Verhalten innerhalb ihrer Familien nie erprobt wurde, stark abhängig waren von Normen- und Handlungsrahmen. Entsprechend schreibt Roeder: „Es lässt sich sagen, dass bei dem Entschluss, Zeitoffizier oder Berufssoldat zu werden, der strukturelle Aspekt der Bundeswehr dort die größte Rolle spielte, wo in der Herkunftsfamilie ein starres Rollenschema bestand, das dem einzelnen nur geringen Handlungsspielraum gab und wenig Möglichkeiten zur Selbstentfaltung ließ.“ (ebd., S. 88)
Die Freiwilligen erfuhren von ihren Vätern auch mehr oder weniger Gleichgültigkeit und Ablehnung. Auffallend war hier, dass die Freiwilligen trotz weniger positiver Erfahrungen mit ihren Vätern immer wieder versuchten, die Beziehung zu diesen zu beschönigen, ähnliches ergab auch Mantells Untersuchung (Stichwort: „Identifikation mit dem Aggressor“). Roeder schreibt: „Da die Eltern von niemanden in Frage gestellt oder kritisiert wurden, identifizierten sich die Freiwilligen bald mit deren Befehlsgewalt, was unter anderem darin zum Ausdruck kam, dass sie erlittene Strafmaßnahmen billigten, sie als „gesund“ bezeichneten und unter Hinweis auf deren Effektivität rechtfertigten.“ (ebd., S. 100) Die Soldaten nahmen väterliche Gewaltausbrüche letztlich als selbstverständlich hin, diese galt es nicht zu hinterfragen. Entsprechend glaubten die Freiwilligen auch in ihrem späteren Leben, dass es kaum Sinn machen würde, sich sozial oder politisch zu engagieren oder einzumischen. „Die politische Apathie war von der persönlichen Erfahrung geprägt, dass es kaum Möglichkeiten gibt, auf die Umstände der eigenen Existenz grundlegend einzuwirken. Die bevormundende Erziehung (…) schuf hier einen Fatalismus, der alles Gegebene passiv hinnimmt und Wandel nur von Wundern erwartet.“ (ebd., S. 103)
Ähnlich wie in der Untersuchung von Mantell, hatten auch in dieser Untersuchung die Freiwilligen Beziehungsprobleme mit Frauen; eine tiefere, liebevolle Beziehung glückte ihnen kaum. Sie respektierten während ihres Dienstes die Autorität ihrer Vorgesetzten und schwiegen, auch wenn sie Anlass zu Kritik sahen (ähnlich, wie sie in ihren Familien immer alles hingenommen hatten.). Bei destruktiven Handlungen war es den Freiwilligen wichtig, dass diese formell nicht anfechtbar waren, nach anerkannten Regeln verliefen oder sogar juristisch abgedeckt waren. „Ohne Zweifel lag für sie eine der Attraktionen der Bundeswehr in deren Legitimation von direkter und indirekter Gewalt.“ (ebd., S. 102) Generell ließen sich die Freiwilligen kaum durch das Schicksal anderer Menschen beeindrucken, sie zeigten allgemein wenig Mitgefühl.
Von den Familien, in denen die untersuchten Kriegsdienstverweigerer aufwuchsen, lässt sich ein anderes Bild malen. Hier gab es lebhafte, vielseitige und gefühlsbetonte Kommunikation. Dabei wurde keine Harmonisierung der Beziehungen angestrebt, vielmehr wurde in auffallendem Maße Nichtübereinstimmung bei entscheidenden Fragen der Lebensführung und –einstellung akzeptiert und verbalisiert. In fast jeder Familie gab es ein Vorbild für Zivilcourage und nonkonformistische Entscheidungen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl in diesen Familien war allgemein sehr stark. Eine unanfechtbare Machtposition nahm – im Gegensatz zu den Freiwilligen - keiner der Väter in den Familien der Verweigerer ein. Auffallend ist, dass die Verweigerer sich insbesondere auch mit weiblichen Vorbildern in ihren Familien (Mutter, Großmutter) identifizierten, was eine Distanz zu traditionellen männlichen Verhaltensmustern, bei denen körperliche Kraft und Aggressivität eine Rolle spielt, schuf. Die Verweigerer erlernte relativ früh Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Ihre Gefühlbindungen zu anderen Menschen waren häufig tief. Ihre Grundeinstellung ließe sich am Besten als Solidarität mit den Beherrschten statt Loyalität gegenüber den Herrschenden kennzeichnen. Die Verweigerer zeigten allgemein auch großes Einfühlungsvermögen. Roeder schreibt: „Die Fähigkeit, sich die Folgen eines Krieges in ihrer Bedeutung für die Betroffenen intensiv vorzustellen, war ein entscheidendes Kriterium für die Kriegsdienstverweigerung.“ (ebd., S. 99) und „Es lässt sich sagen, dass die Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung grundsätzlich gefühlsbetont war.“ (ebd., S. 107)
In Einzelfällen - Fallbeispiel „Albert D.“ S. 93ff - kam auch in den Familien der Verweigerer körperliche Gewalt durch den Vater vor. Interessant dabei ist, dass diese Gewalt eher die Ausnahme war und von – in Alice Millers Worten – einem „Helfenden Zeugen“ (i.d.R. der Mutter) offen abgelehnt wurde. Dazu kam in dem Beispiel von Albert D., dass der Vater seinem Sohn von seiner politischen Verfolgung und KZ-Haft berichtet hatte, auf Grund dessen er verbittert sei. Der Sohn verurteilte zwar die selten Schläge durch seinen Vater, brachte diese allerdings auch mit dessen Geschichte in Verbindung. Der Sohn verstand durch diesen offenen Umgang also, dass die Schläge nichts mit seiner Person zu tun hatten (Im Gegensatz dazu lautet erfahrungsgemäß in destruktiven, misshandelnden Familien die offene Botschaft gegen das Kind oftmals „Du bist schlecht und selbst schuld, wenn wir dich misshandeln!“, was i.d.R. erhebliche schädliche Folgen für die entsprechen Kinder hat und eine spätere Aufarbeitung erschwert), sondern mit der Geschichte seines Vaters und dessen Not zusammenhingen.
An diesem Fallbeispiel werden also drei Kernpunkte exemplarisch dargestellt, die für die Folgen und Verarbeitung von erlittener Gewalt meiner Auffassung nach wesentliche Bedeutung haben:
1. Intensität und Häufigkeit der Gewalt gegen Kinder niedrig oder hoch
2. An- oder Abwesenheit eines „Helfenden Zeugen“
3. Offenes Reden über evtl. bedeutende, destruktive Erlebnisse der Eltern oder Verdrängung/„Mauer des Schweigens“ (siehe dazu auch Kapitel
8.4)
Ich meine, dass diese drei Punkte gerade innerhalb der Gewaltforschung größerer Aufmerksamkeit bedürfen. Nach meinem Eindruck werden vor allem Punkt 2. und 3. oftmals übersehen bzw. übergangen.

Beide genannten Untersuchung sind auf Grund der relativ geringen Fallzahlen nicht verallgemeinerbar, können aber explorativ gesehen werden und zeigen einen deutlichen Zusammenhang zwischen Erziehungsstil und späterem Leben und Wirken.
Wenn man sich hineinversetzt in die Situation eines Soldaten in der Ausbildung, dann kommt mir als erstes der Gedanke auf, dass man als Mensch eine solch demütigende Behandlung eigentlich nicht gewohnt sein sollte und dass man diese freiwillig nicht mitmachen würde. Jedem, der einem im Alltag herumkommandieren möchte, demütigt und beleidigt sagt man, dass er oder sie bitteschön doch seinen Tonfall ändern mögen und man lässt solche Menschen einfach links liegen. In der Grundausbildung tun sich tausende Soldaten Tag für Tag und zwar weltweit eine solche Demütigung an, lassen sich Befehle gefallen und sich zum Befehlsempfänger machen.[1] Die Vermutung liegt nahe, dass diese Soldaten eben nicht sagen können: „Ich bin einen solchen Umgang mit mir als Mensch nicht gewohnt!“ und dies vermutlich auf Grundlage von bereits in der Kindheit eingetretenen Grenzen und der Verletzung ihrer Würde. So dass man den Satz im Extrem so umschreiben könnte: „Ich bin es gewohnt, gedemütigt und misshandelt zu werden, dies scheint die Normalität zu sein!“ Finden Soldaten in der Armee also ein „zu Hause“, wie sie es von früher kennen?

Nun ist der Militärdienst nicht in allen Ländern der Welt freiwillig bzw. kann diesem durch Alternativen wie z.B. dem Zivildienst entgangen werden. Doch selbst in totalitären Staaten wie der ehemaligen DDR gab es immer Menschen, die den Dienst an der Waffe trotz zu erwartender Repressalien durch das Regime verweigert haben, entweder durch Totalverweigerung oder durch den Dienstgrad „Bausoldat“. Trotz Geheimhaltung dieses „Dienstgrads“ gab es in der DDR jedes Jahr bis zu 400 „Bau- oder auch Spatensoldaten“, die durch diese Entscheidung ihre Zukunft in diesem Land verwirkt hatten. (vgl. Dokumentation „Dienen bei der NVA – Spatensoldaten“ auf Phoenix, 23.06.07) Für die Kriegsursachenforschung wäre es sicherlich aufschlussreich, solche Menschen, ihre Beweggründe und vor allem auch ihre Erfahrungen in ihren Herkunftsfamilien weiter zu untersuchen. (In o.g. Bericht wurde zumindest erwähnt, dass die „Bausoldaten“ meist christlich und überdurchschnittlich intelligent waren.)



[1] Seit Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht haben in Deutschland mehr als 8,1 Millionen junge Männer Grundwehrdienst geleistet. (Zeitraum 1957 – 2005) (vgl. www.bundeswehr.de / Geschichte der Wehrpflicht)



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5. Die „offizielle“ Traumatisierung durch die militärische Ausbildung ähnelt der häuslichen Traumatisierung von Kindern

Die Ausschaltung des Mitgefühls und die Unterwerfung unter eine Autorität ist ein wesentliches Ziel der militärischen Ausbildung, die „bestenfalls“ auf die Vorerfahrungen in der Familie aufbaut, wie oben aufgezeigt.
Militärische Erziehung schließt immer rigide Demütigungen erwachsener junger Menschen ein, die Würde der Person gerät gänzlich aus dem Gesichtsfeld. Die Armee als „Erziehungsanstalt der Nation“ soll zur angemessen Zeit eine harte Schule für junge Männer sein, um selbst hart zu werden, gehorchen und befehlen zu lernen und Männlichkeitsvorstellungen zu erfüllen. Das militärisch eingepasste, harte Individuum muss schließlich die Ehrfurcht vor seinesgleichen zurückstellen, da es Lehrgänge absolviert, die die Fertigkeit vermitteln, Menschen umzubringen. (vgl. Gamm, 1986, S. 103ff)
Die griechische Folterschule der Militärjunta (1968-74) ist ein anschauliches Beispiel dafür. In ihr wurden neu rekrutierte Auszubildende zunächst drei Monate lang systematisch „wie der letzte Dreck behandelt und gequält“. Nach Beendigung dieser erniedrigenden „Ausbildung“ wurde ihnen aber in einer feierlichen Übergabe ihrer neuen Uniform zugesichert, dass sie nunmehr ganz vorne stehen und die Elite der Nation darstellen sollen. (vgl. Mentzos, 1995, S. 80)
Einem Bericht aus dem Jahr 2001 ist zu entnehmen, dass unter 18-jährige Rekruten in der Britischen Armee schwer schikaniert und erniedrigt wurden, dies schloss Scheinhinrichtungen, Simulation von Vergewaltigungen, "Regimentsbäder" in Erbrochenem und Urin und das erzwungene Essen von Schlamm ein. (Globaler Bericht über Kindersoldaten, 2001) Ein anderen Bericht über die Schikanierung von britischen Marine-Rekruten enthüllte Fußtritte, bis ein Rekrut das Bewusstsein verlor, Elektroschocks an Genitalien und den Zwang, nackt durch dorniges Buschwerk zu robben. Die Misshandlungen galten als heimliche Initiationsriten. (vgl. SPIEGEL-Online, 27.11.2005)
Bzgl. der militärischen Ausbildung in den USA möchte ich den Kriegsfilm „Full Metal Jacket“ (1987) anführen, der wie kein Zweiter ein Abbild der militärischen Realität liefert. Die Rekruten im Film sollen durch physische und vor allem auch psychische Gewalt einer Gehirnwäsche unterzogen und zu Killermaschinen umgeformt werden. Ihnen wird ihr Status als Männer und als Menschen abgesprochen. Ihre alte Persönlichkeit wird ausgelöscht. Einziges Ziel: Aus Menschen sollen Waffen werden und Befehle sollen sie wie Maschinen ausführen. „Es steht zu fürchten, dass Kubrick (Anmerk. der Regisseur) in seinem Film gar nicht mal zu sehr übertreiben musste. Bekanntlich war Lee Ermey, der Darsteller Hartmans (Anmerk. der Ausbilder im Film) früher tatsächlich Marineausbilder und war ursprünglich nur als eine Art Berater engagiert worden. Da er bei seinen Demonstrationen jedoch so authentisch wirkte, ließ Kubrick ihn schließlich die Rolle seines Lebens spielen. Daraus ergibt sich, dass die Darstellung in „Full Metal Jacket“ weniger Satire denn Abbildung einer absurden Realität ist. Eine Abbildung, die nicht wirklich übertreibt sondern nur die Sache auf die Spitze treibt.“ (Filmkritik von Siegfried König siehe http://www.filmzentrale.com/rezis/fullmetaljacketsk.htm)

Dass die o.g. filmische Darstellung durchaus realitätsnah ist, zeigt z.B. auch ein Medienbericht zur Ausbildung auf Parris Island, dem Bootcamp des „United States Marines Corps". Der Bericht schildert das Kahlrasieren bei der Ankunft, das Stigmatisieren von Schwächeren und Übergewichtigen, Einschüchterungen, das permanente Anschreien, strikten Drill, sinnlose Befehle und die ständige Erzeugung von Stress. Die Kommandierenden verbaten den Reportern Interviews mit den jungen Soldaten. Man wollte nicht, dass plötzlich jemand in normalem Ton zu dem Rekruten spricht, der dann vielleicht noch „Ich" sagt. „Ich" und „Du" gibt es während der Grundausbildung nicht, man darf nur „dieser Rekrut" oder „jener Rekrut" sagen. Das soll das Individuum ausschalten (vgl. diepresse.com, 19.04.2008)

Auch in Russland gilt der Wehrdienst als „Lehranstalt der Männlichkeit“. Jeder zwanzigste Einberufene hat darüber hinaus bereits eine kriminelle Vergangenheit hinter sich. „Die Streitkräfte ziehen die Aggressivität der Gesellschaft ein und geben sie später wie aus einem Gewaltkraftwerk potenziert wieder ab.“ (Die Zeit, 2004) An diesem Punkt wird erneut deutlich, dass Armeen sich gezielt Rekruten bedienen (bzw. diese anziehen), die bereits eine problematische Sozialisation hinter sich haben.
Die russische Armee hat - nach diesem ZEIT-Bericht - sogar in ihrer Dienstsatzung festgeschrieben, dass der Wehrdienstleistende standhaft Belastungen und Entbehrungen zu dulden habe. Schmerz zu ertragen gehört danach zum Inbegriff des Soldatentums und dient der Abhärtung für den Kampf. Die informelle Hierarchie wird dort allgemein „Großväterherrschaft“ genannt. (Dass sich diese Gewalt-Hierarchie namentlich auf Großväter bezieht, könnte ein Hinweis auf Gewalt in russischen Familien sein)
Die zweijährige Dienstzeit teilt sich in vier Halbjahre: „Während der ersten beiden ist der »Geist«, »Schildkröte«, »Elefant« oder »Schnürsenkel« genannte Rekrut zur Demütigung und Folter freigegeben. Wenn die Dienstälteren das zivile Wertesystem aus ihm herausgeprügelt haben, kommt er in den letzten beiden Halbjahren selbst in den Genuss des Peinigens. Er heißt dann »Fasan« oder »Großvater«.“ (ebd.)
Die „Großväterherrschaft“ sieht u.a. wie folgt aus: Schläge mit Stiefeln auf die Brust, mit Gürtel und Gürtelschnalle auf die Schienbeine, mit Stöcken auf die Nieren und dem Hocker auf den Kopf. „Rekruten müssen mit bloßen Händen die Toiletten putzen, Zigaretten essen und Chlorkalklösung trinken. Sie werden gezwungen, sich über das untere Doppelbett zu hängen, bis die Kräfte nachlassen. Sobald sie fallen, werden sie verprügelt. Die Übung heißt »das Krokodil trocknen«. Um die Nerven besonders zu kitzeln, stellen die Peiniger manchmal einen Dolch ins untere Bettzeug. Sollte der Rekrut hineinfallen, findet sich später der Vermerk »unvorsichtiger Umgang mit Waffen« im Untersuchungsbericht.“ (ebd.)
Laut einem Bericht von amnesty international aus dem Jahr 2005 starben 16 russische Soldaten an diesen brutalen Einführungsritualen. 276 Soldaten begingen Selbstmord, mindestens die Hälfte von ihnen brachte sich wegen Erniedrigung durch Vorgesetzte um. (vgl. amnesty, 2007) Ein ehemaliger Rekrut berichtet rückblickend auf diese Ausbildung und bzgl. der Folgen für sein Leben in der Zivilgesellschaft: „Uns haben sie damals die Bremsen gelöst, und jetzt baut uns keiner neue ein“ (Die Zeit, 2004)
Kümmel / Klein (2002) merken an, dass das Beispiel des russischen Militärs keinesfalls als Einzelfall dasteht. „Der Kollaps militärischer Disziplin und die Aufweichung eines militärischen Ehrenkodexes mit der Folge gravierender Verfehlungen von Soldaten gegen Kameraden sind nicht auf die Streitkräfte autoritärer oder totalitärer politischer Systeme oder auf Zeiten massiver gesellschaftlicher Transformation, gesellschaftlicher Krisen und sozialer Anomie beschränkt. Entsprechende Berichte finden sich für Streitkräfte aus allen Teilen der Welt.“ (Kümmel / Klein, 2002, S. 218)

Mein Eindruck nach meinen Recherchen ist, dass die Brutalität und gezielte Gewalt gegenüber Rekruten gerade in den Armeen hoch bzw. noch systematischer zu sein scheint (z.B. Russland oder USA), die auch stets mit realen Kampfeinsätzen rechnen oder zu tun haben. Vielleicht ist es also auch kein Zufall, dass ein deutscher Misshandlungsskandal in der Bundeswehr gerade von zwei Zugführern ausging, die nach ihren Auslandseinsätzen in Afghanistan und im Kosovo die Idee hatten, auch mit 163 Rekruten Geiselnahmen zu üben. Die Scheingeiselnahmen im Sommer 2004 in Coesfeld arteten offensichtlich in sadistische Exzesse aus: Den Rekruten wurden die Augen verbunden, sie bekamen Fußtritte, Schläge und demütigende Worte, ihnen wurde Wasser in die Hose gespritzt und Sand nachgeschüttet, andere wurden mit Stromstößen eines Feldfernsprechers traktiert. Die Rekruten schwiegen über die Vorfälle. Sie hatten die simulierten Geiselnahmen offensichtlich als Ausbildung empfunden und/oder Angst, als Schwächling dazustehen. (vgl. DER SPIEGEL, 20.03.2007)
Aufschlussreich bzgl. der Gewalt in der deutschen Armee ist auch die Studie „Gewalt gegen Männer“. In der Befragung zeigte sich, dass viele erlebte Gewaltakte in der Wehrdienstzeit von den Männern als „selbstverständlich“ angesehen werden. Daher gab es häufig eine Übereinkunft von Interviewer und Befragten, nur über solche Erfahrungen zu reden, die „über das normale Maß“ hinausgehen. Trotz dieser Einschränkung ergaben sich folgende Ergebnisse: Drei von fünf Männern, die Wehrdienst geleistet haben, berichten, schikaniert, unterdrückt, schwer beleidigt oder gedemütigt worden zu sein (63 von 107). Ein Drittel (31 von 107) gibt an, gezwungen worden zu sein, etwas zu sagen oder zu tun, was sie absolut nicht wollten. Jeder Sechste (17 von 107) ist eingesperrt, gefesselt oder anderweitig in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt worden. In den offenen Nennungen berichten die Befragten zusätzlich von ungerechter Behandlung und Ausnutzen einer Machtposition durch Vorgesetzte. Außerdem wird von sinnlosen und demütigenden Tätigkeiten erzählt, zu denen sie gezwungen wurden. Zwischen den Soldaten wird über Rituale berichtet, „bei denen man sich unterwerfen muss“. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004b)

Die militärische Ausbildung macht Rekruten - wie oben dargestellt - gezielt zu Opfern, die real traumatisiert werden und dies nach Wolf (1993) im „psychopathischen Stil“ durch eine Spaltung verarbeiten und integrieren bzw. pseudoverarbeitet und pseudointegrieren. Bei den Rekruten wird quasi eine „paranoide Kampfhaltung“ herangezüchtet, die neben der Normalpersönlichkeit besteht und in der Pararealität „Krieg“ aktiviert werden kann. Eine solche Persönlichkeit erinnert nach Wolf an die posttraumatische Belastungsstörung bzw. die traumatisierte Persönlichkeit. Die gespaltene Persönlichkeitsstruktur wird von der Realität entsprechender Kampfsituationen geradezu als notwendige Überlebenstechnik gefordert bzw. neben der Ausbildung durch eben diese erlebte Kampfrealität (durch erneute Traumatisierung) reproduziert und verstärkt. Wolf greift in diesem Zusammenhang auch auf das Konzept der Borderline-Persönlichkeitsstörung zurück.(Für ein tieferes Verständnis dieser Störung siehe Dulz & Scheider (2001) ) Bei dieser Störung steht u.a. die Spaltung in „gut“ und „böse“ – mit entsprechenden Gefühlsdispositionen - im Vordergrund. (vgl. Wolf, 1993, S. 85ff)
Auf Soldaten bezogen ist dies natürlich geradezu „ideal“. Die idealisierte Armee und der Präsident sind dann z.B. ausschließlich „gut“, der geortete Feind absolut „böse“. Die traumatischen Erlebnisse mit den verbundenen Gefühlsanteilen wie z.B. Hass, Wut, Rachegefühle, Ekel usw. – die sonst, abgespalten im Alltagsleben nicht unbedingt eine Rolle spielen müssen – können dann in Kampfsituationen aktiviert bzw. reinszeniert werden und zur Projektion bzw. Externalisierung auf den Feind herhalten, um schnell, funktional und (mit-)gefühllos handeln bzw. töten zu können.
Ich habe dies so ausführlich dargestellt, weil Persönlichkeitsstörungen leider auch all zu oft Folgen des „Lebens selbst“ sind. Kindesmisshandlung, starke Vernachlässigung, psychische Gewalt und Missbrauch führen unter bestimmten Umständen zu entsprechenden Störungen und Abspaltungen. Etwas überspitzt könnte man sagen: Was die Armee gezielt bei ihren Rekruten durch eine traumatisierende Ausbildung bewirken will, um sie zu mitleidlosen „Kriegern“ zu erziehen, gehörte und gehört für viele Kinder bereits zu ihren Alltagserfahrung speziell innerhalb ihrer Familie. Dieses destruktive, schlummernde Potential stellt unter verstärkenden und bestimmten sozialen Umständen (und wenn es zusätzlich nicht individuell aufgearbeitet bzw. therapeutisch bearbeitet wird) eine Gefahr dar, wie ich weiter unten herausstellen werde.
Die Parallelen zwischen „misshandelnder Familie“ und „Armee“ sind übrigens offensichtlich: Beide – destruktive Eltern und die Armee – fordern Gehorsam und eine Aufgabe des Selbst ein. Das Kind und auch der Soldat soll sich anpassen, unterwerfen, so sein und handeln, wie sie es haben wollen, um zu einem „guten Kind“ bzw. einem „gutem Soldaten“/“richtigen Mann“ zu werden. Die Identifikationen, die in beiden Systemen stattfinden, folgen dem Muster einer „Identifikation mit dem Aggressor“.
Peter Boppel schreibt dazu:„Das Ich der Soldaten regrediert unter körperlichen Misshandlungen und schwersten Kränkungen - ähnlich wie die Opfer von Folter - in die Nähe der Gefahr totaler psychischer Zerstörung mit extremer Abhängigkeit und Angstentwicklung auf eine frühe narzisstische Abwehrstufe, die borderline- und psychosenahe ist. In dem geschilderten regressiven Zustand kaserniert und dem Gruppendruck ausgesetzt, gelingt dem Rekruten weder Flucht noch Kampf. Wie Kinder und Frauen beim sexuellen Missbrauch durch Angehörige oder Initianden bei den Torturen durch Stammesälteste sind Täter und Retter das selbe Objekt, e i n e Person, von der man auf Gedeih und Verderb abhängig ist. Nur sie könnte den grässlichen Zustand beenden! (...) Um den Ausbilder als "gutes" Objekt erhalten zu können, müssen Schmerzen wie Wut an dieser Stelle von ihrem biographischen Inhalt abgetrennt werden, was mit Hilfe von Dissoziation, bzw. Verdrängung vom psychischen Apparat bewerkstelligt wird.“ (Boppel, 1999, S. 23ff) und „Unter dem Ausmaß einer traumatisierenden Ausbildung, wie sie von Spezial(Elite)soldaten oder noch ausgeprägter von zukünftigen Folterern durchzumachen ist, kommt es zu einem "Verbinden" von Ich und Du, Selbst und Objekt, zur Verschmelzung von Selbst und Fremdrepräsentanzen: Der andere (Ausbilder) ersetzt mich (Rekrut) durch sich, wird ein Teil meines Selbstbildes, steuert mich unbewusst wie eine sonst in langer Sozialisierung erworbene Elterninstanz.“ (Boppel, 2005, S. 197) Die Ähnlichkeiten zur Form und Wirkung von Kindesmisshandlung sind hier derart offensichtlich, dass man bei o.g. Schilderungen von Boppel das Wort „Ausbilder“ durch „Eltern“ und „Solodaten/Rekrut“ durch „Kind“ ersetzen und die Sätze dann fast wortgleich in ein Fachbuch über Kindesmisshandlung aufnehmen könnte.
Bei einer Umfrage des Corps-Magazins „Marines", was die Rekruten im US-Marine-Bootcamp am meisten vermissten, stand an erster Stelle das Verbot, ich oder du zu sagen. An zweiter Stelle: „Keinen Teddy-Bären." (vgl. diepresse.com, 19.04.2008) Bzgl. der zweiten Antwort dachte ich erst an einen Scherz. Wenn man sich aber die o.g. Ausführungen vor Augen führt und sich klar wird, dass die Rekruten unter diesen extremen Belastungen regredieren (also in kindliche psychische Ebenen und Verhaltensmuster zurückfallen; vgl. dazu auch Boppel, 2005), wird deutlich, dass dies durchaus ernst zu nehmen und wirklich nicht allzu weit weg vom Thema Familie, Kindheit und Kindesmisshandlung ist.

In beiden Systemen besteht zudem ein deutliches Machtungleichgewicht, sowohl in der Eltern-Kind-Beziehung als auch in der Armeeführung-Soldaten-Beziehung. Die Methoden der destruktiven Eltern sind dabei u.a. Liebesentzug, böse Blicke, ignorieren, drohen, schlagen, prügeln, demütigen, einsperren, verachten, missbrauchen usw. Die Methoden der Armee zeigen auch hier deutliche Parallelen, wie weiter oben ausgeführt. Und – das fällt besonders auf – in beiden Systemen herrscht ein absolutes Schweigegebot nach Außen bzgl. erlittener Verletzungen. Kinder werden zum Schweigen gebracht, indem man ihnen u.a. androht, sie würden ins Heim kommen, keiner würde ihnen glauben oder man würde einen geliebten Menschen oder das Haustier umbringen usw. Die Drohung, die über dem Soldaten schwebt, ist der Ausschluss aus der Kameradengemeinschaft und die Darstellung als „Weichei“ bzw. als einem „Nicht-Mann“. Das Kind (und auch der Soldat) kann in einer solchen Situation nur (seelisch) überleben, wenn es sich anpasst und das erfahrene Leid verdrängt oder abspaltet und sich schließlich mit dem Aggressor identifiziert. Der „Lohn“ für die Aufgabe des eigenen Selbst ist die „Liebe“ und (scheinbare) Anerkennung der Eltern. Und der „Lohn“ der Soldaten fürs Durchhalten und für das Ertragen der ganzen Schmerzen ist, dass sie nun „echte Männer“ sind, „Helden der Nation“. „Ihr seid nur etwas wert, wenn ihr Euch so verhaltet, wie wir es wollen!“ und „Ohne uns seid ihr nichts!“, so die Botschaft der Armeeführung gegenüber ihren Soldaten und der destruktiven Eltern gegenüber ihren Kindern. Doch bei beiden scheint die Bindung brüchig und nicht wirklich echt.
Berichte über Kriegsveteranen (z.B. aus Großbritannien vgl. ARD-Weltspiegel vom 23.09.07 und ZDF-Auslandsjournal vom 13.12.07 oder auch aus Deutschland vgl. ZDF Magazin „Mona Lisa“ vom 18.11.2007) zeigen exemplarisch, wie austauschbar Soldaten sind, wie wenig der Führung an ihren Soldaten liegt, und wie wenig sie diese später (nach physischen und psychischen Kriegsverletzungen oder im Todesfall gegenüber den Familien) finanziell, sozial und psychologisch betreut.
Im „Mona Lisa“ Bericht „Von der Bundeswehr alleingelassen? Nach Einsatz traumatisiert“ heißt es bzgl. einem deutschen traumatisierten Kriegsheimkehrer, dass die Diagnose "Posttraumatischen Belastungsstörung" nichts mit dem Einsatz bei "Enduring Freedom" zu tun habe, so Gutachten der Bundeswehr, sondern diese sei „persönlichkeitsbedingt“. Ein Soldat, der Kriegseinsätze psychisch nicht durchsteht, ist also selbst schuld, so könnte man diese Aussage übersetzen. Das Bundesverteidigungsministerium lehnte ein Interview mit "Mona Lisa" ab und teilte telefonisch mit: zuständig seien die Versorgungsämter. Man habe nach Entlassung der Soldaten nichts mehr damit zu tun. (zu diesem Fall siehe unter Punkt 7.1 mehr) "Wir sind gut darin, uns an unsere Siege zu erinnern und an die Toten. Aber wir sind auch gut darin, die Lebenden zu vergessen - und unsere Soldaten, die den Preis des Überlebens bezahlen. Mit physischen und psychischen Wunden.", so ein britischer Kriegsveteran im o.g. ZDF-Auslandsjournal.

Abschließend möchte ich noch einmal die Grundthesen zum Militär zusammenfassen, die sich aus den beiden vorherigen Kapiteln erschließen:
Der Verlust des Mitgefühls wird durch die militärische Ausbildung gezielt verstärkt. Dieser Verlust muss aber grundsätzlich schon vorher bei den einzelnen Menschen eine Rolle gespielt haben. Denn wirklich empathische Menschen wären nicht zum Militär gegangen.


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6. Das einst misshandelte Volk identifiziert sich mit dem Aggressor

Albert Speer – ehemaliger NS-Rüstungsminister, Lieblingsarchitekt und Vertrauter von Adolf Hitler – sagte in einem Interview in der ZEIT im Jahr 1979 mit dem Hitler Biografen Alan Bullock:
„Ich bin auch der Meinung, dass er (Anmerk.: gemeint ist Adolf Hitler) nicht einfach uns getrieben hat, sondern dass ihn etwas getrieben hat. Unerklärlich ist für mich immer noch der Einfluss, den Hitler auf die Menschen ausüben konnte. Ich rege immer wieder an, dass doch irgendwann einmal ein guter Psychoanalytiker dieses Problem durch die ganze Geschichte hindurch verfolgt, um einmal dem nahezukommen, was da eigentlich vor sich geht, (…) an all den vielen Erscheinungen in der Geschichte, einschließlich Hitler. Dieses Phänomen wird von der Geschichtsschreibung, soviel ich weiß, zwar berührt, aber es wird nicht als ein Kardinalspunkt betrachtet.“ (Michalka, 1980)
Was Hitler getrieben hat, habe ich versucht im Kapitel 3.2 an Hand der Beschreibung dessen traumatischer Kindheit darzustellen. Doch was hat das Volk getrieben, diesem Schlächter bedingungslos zu folgen?
Benz (1992b) geht von einer „Disposition zur Radikalität“ aus, die, wenn ungünstige individuelle und soziale Bedingungen zusammentreffen, von gesellschaftlichen Kräften instrumentalisiert werden kann. (vgl. Benz, 1992b, S. 28) Um gegen Kränkungen und Verletzungen[1] unempfindlich zu werden, machen sich Kinder immun gegen die eigenen Gefühle und vernachlässigen auf diese Weise ihr emotionales Empfinden auch gegenüber Dritten. Solche Kinder haben am eigenen Leibe gelernt, Schmerzen grundsätzlich zu ignorieren und überschreiten somit auch leichter die Schmerzgrenzen anderer. Die Fähigkeit zu Mitgefühl geht verloren.[2] Dazu kommt, dass für diese Kinder z.B. physische Stärke als Garant der ersehnten Überlegenheit und Unversehrtheit übermäßige Bedeutung bekommen kann bzw. sie sich auf die Seite des Starken und Mächtigen fantasieren und träumen können, hin zum Sieg über alle – Eltern, Erwachsene oder Kameraden -, die Anlass zu Enttäuschung, Verwirrung oder Kränkung boten.[3] Diese Kinder haben schlechte oder keine Voraussetzungen für die Überwindung ihrer radikalen Disposition. Kinder, die dagegen selbst Zugang zu eigenen Gefühlen haben (dürfen) und ggf. einzelnen Verletzungen ein positives Kräftereservoirs entgegenstellen können, statt entsprechende Gefühle verleugnen/verdrängen und abspalten zu müssen, sind grundsätzlich fähig, sich in die Lage anderer einzufühlen und bereit, gewisse Grenzen einzuhalten und ggf. radikales Freund-Feind-Denken zu modifizieren. Sie haben aus der erworbenen Fähigkeit, sich an eigenen Gefühlen zu orientieren, gute innere Voraussetzungen dafür, für radikale Ziele weniger oder nicht empfänglich zu sein. (vgl. ebd., S. 26ff)
Wie oben aufgezeigt wurden Kinder in der Vergangenheit – Ute Benz betont in ihrem Text vor allem die Wilhelminische und Weimarer Zeit, sowie den Nationalsozialismus - vor allem zur Härte gegen sich und andere erzogen (Jungen noch mehr, als Mädchen). Dabei geht es nicht nur um erfahrene rohe, körperliche Gewalt, sondern allgemein um die Erfahrung des Kindes, wie mit seiner Hilflosigkeit und Abhängigkeit, seiner Macht oder Ohnmacht und mit seiner Würde umgegangen wurde – gewalttätig, feindselig oder liebevoll und freundlich. In der NS-Zeit war das ideale Kind das ruhige, pflegeleichte Kind, das ggf. stundenlang sich selbst überlassen war, gleich ob es schrie oder still war und das vor allem sauber, ordentlich, tapfer, schmerzunempfindlich und absolut Gehorsam sein musste. So erlernten Kinder den spaltenden Umgang mit sich und der Welt als einzig dauerhafte Lösung, um sich zu retten bzw. zu überleben.
„Beim angepassten, pflegeleichten Kind vermutet später niemand die treibenden Kräfte aus abgespaltenen, vernichtenden Wutgefühlen und mörderischem Zorn, die gleichwohl ihren Niederschlag im sozialen und politischen Verhalten finden. Kinder, deren individuelle Impulse gehäuft übergangen werden, die nicht essen dürfen, wenn sie hungrig sind, und nicht weinen dürfen, wenn sie traurig sind, oder die nicht zornig werden dürfen, wenn sie sich geärgert haben, begreifen, längst ehe sie sich dessen bewusst werden, dass es aussichtslos ist, sich mit anderen als den erlaubten Bedürfnissen und Gefühlen zu zeigen. Sie sind beständig zur Vermeidung ihrer Empfindungen genötigt und vielfach zu rigoroser Abspaltung abweichender Bedürfnisse und unerwünschter Gefühle gezwungen. Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst wird jedoch unvermeidlich auch im Umgang mit anderen Menschen zur Grundhaltung. Wo Anpassungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft verfrüht durch Unterdrückung individueller Bedürfnisse entwickelt werden muss, gewinnt Zukunft eine besondere, politisch ausnutzbare Bedeutung: als Sammelbecken der Hoffnung auf Lohn für das Aushalten der gegenwärtigen Misere und der Hoffnung auf Gewinn von eigener Macht“ (ebd., S. 34)

DeMause (2005) meint: „(...) wenn man festhält, dass die deutsche Kindheit um 1900 ein Alptraum von Mord, Vernachlässigung, prügeln und Folter von unschuldigen, hilflosen menschlichen Wesen war, dann ist die Wiederaufführung dieses Alptraums vier Jahrzehnte später im Holocaust und im Zweiten Weltkrieg letztlich zu verstehen.“ (deMause, 2005, S. 140) Er weist an Hand einer Fülle von Datenmaterial auch nach, dass die Gewalt und Vernachlässigung von Kindern im Deutschland um die Jahrhundertwende im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten um einiges erheblicher war. Das Motto deutscher Eltern gegen Ende des 19..Jahrhunderts wäre simpel gewesen: „Kinder können nie genug geschlagen werden.“ Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Deutschland 89 % aller Kinder geschlagen, über die Hälfte mit Ruten, Peitschen oder Stöcken (vgl. ebd., S. 146ff) Die deutschen Kinder waren persönliche Sklaven ihrer Eltern. „Die strafende Atmosphäre deutscher Haushalte war so umfassend, dass man mit Überzeugung sagen kann, der Totalitarismus in den Familien führte zum Totalitarismus in der Politik.“ (ebd., S. 148) DeMause spricht in Folge dieser Gewalterfahrungen von abgespaltenen „Alter Egos“ (mehrere andere Ichs), diese sind letztlich wie (explosive) Koffer, in die die Menschen ihre traumatischen, abgespaltenen und urerträglichen Ängste und ihren Ärger packen. „Mit Ausnahme einiger Psychopathen und Psychotiker bewahren die meisten von uns ihre Koffer im Schrank hinter verschlossener Tür auf, scheinbar abseits unseres täglichen Lebens – aber dann verleihen wir die Schlüssel an emotional Delegierte, von denen wir abhängig sind, um die Inhalte ausagieren zu können und die es uns möglich machen, die Identifikation mit den Handlungen zu verleugnen.“ (ebd., S. 79) Hier sind einige interessante Aspekte benannt. Die sogenannten Verrückten sind demnach näher an ihrer echten psychischen Realität und Verzweiflung dran, sie haben - so man will - ihre Koffer ausgepackt. Dadurch können sie im Alltag nicht mehr so funktionieren, wie die ganz „normalen“ Menschen. (Arno Gruen beschreibt dies auch sehr anschaulich und ausführlich in seinem Buch „Der Wahnsinn der Normalität“ (1990), in dem – wie der Titel schon sagt – auch deutlich wird, dass diese „Koffer“ nicht wirklich verschlossen sind, sondern aus ihnen heraus beständige Destruktivität in den normalen Alltag wirkt.) Wenn allerdings die Umstände und vor allem emotional Delegierte (die Führer) das massenhafte Auspacken der Koffer legitimieren und ein Feind gefunden wird, kommt es zur Wiederaufführung des Traumas und letztlich zum Krieg. Dann werden plötzlich unzählige scheinbar ganz normalen Menschen zu offenen Wahnsinnigen.
Sozialpsychologische Experimente wie die Klassiker „Stanford-Prison-Experiment“ (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Stanford-Prison-Experiment) und das „Milgram-Experiment“ (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Milgram-Experiment) werden mit diesem Wissen verstehbar. Durchschnittlich ausgewählte VersuchsteilnehmerInnen, ohne besondere Auffälligkeiten, werden zu sadistischen Taten und bedingungslosem Gehorsam fähig, wenn durch den Versuchsaufbau ein Wechsel in ihr abgespaltenes Selbst ermöglicht wird. „Diejenigen, die damit fortfahren, Milgrams Experiment zu replizieren, und die immer noch darüber verblüfft sind, warum “banalste und oberflächlichste Erklärungen ausreichen, bei Menschen destruktives Verhalten auszulösen“, unterschätzen ganz einfach die Menge an Traumata, die die meisten Menschen erlebt haben, und die Effektivität von sozialer Trance, die es ihnen erlaubt, diese Schmerzen wiederaufzuführen.“ (deMause, 2005, S.84ff)[4]

Gruen ( 2002a) beschreibt die weiter oben bereits angedeuteten spaltenden Prozess als Folge destruktiver Erziehung sehr anschaulich und erweiternd. Kein Kind kann in dem Bewusstsein existieren, dass die Menschen, auf die es physisch und psychisch existentiell angewiesen ist (die Eltern), seinen Bedürfnissen kalt und gleichgültig oder gar grausam und unterdrückend gegenüberstehen. Diese Angst wäre, so Gruen, unerträglich, ja sogar tödlich. Ein Kind, das von seinen Eltern angegriffen wird und dessen Bedürfnisse frustriert werden, muss sich, um zu überleben, mit den Eltern arrangieren. Dazu wird das Eigene (vor allem eigene Empfindungen, Sicht und Empathie) als etwas Fremdes abgespalten, denn das Kind kann die Eltern nur unter der Voraussetzung als liebevoll erleben, wenn es ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes Wesen interpretiert – die Eltern sind grundsätzlich gut; wenn sie einmal schlecht sind, dann ist dies die eigene Schuld des Kindes und der Angriff geschieht zu dessen „Wohle“.[5] Alles, was dem Kind eigen ist, wird somit abgelehnt und entwickelt sich zur potentiellen Quelle eines inneren Terrors (das Eigene wird gehasst). Die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und die eigene Wahrnehmung werden zu einer existentiellen Bedrohung, weil sie die Eltern veranlassen könnten, dem Kind die lebensnotwendige Fürsorge zu entziehen. Die Folge ist die Identifikation mit den Eltern (bzw. den Aggressoren), das Übernehmen deren Werte, die Unterwerfung unter deren Erwartungen und eine schwammige, ungefestigte und unsichere Identität, die durch das Fremde, nicht das Eigene bestimmt ist. Unsere Menschlichkeit wird so letztlich zum Feind, sagt Gruen, der unsere Existenz bedroht und der überall – in uns selbst wie auch in anderen – bekämpft und vernichtet werden muss. (vgl. Gruen, 2002a, S. 14ff)
Gruen vertritt die These, dass es die Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten sind, die Menschen dazu bringen, einander zu bekämpfen, nicht die Unterschiede. Das Eigene musste einst als fremd von sich gewiesen werden, dies wird zum Auslöser für die Notwendigkeit, Feinde zu finden und sie zu bekämpfen.[6] Alles, was beim Anderen/dem Feind an das verleugnete (abgespaltene) Eigene erinnert und die damit verbundene Scham, die Schmerzen, die Not oder kurz gesagt das eigene Opfersein, muss zerstört werden. Dagegen benötigt laut Gruen ein Selbst, das auf inneren Identitätsbezügen ruht und aus einer liebenden Beziehung zwischen Eltern und Kind entsteht, keine Feindbilder, um sich aufrechtzuerhalten. (ebd., S. 30+72)
Gleiches wie oben erwähnt gilt für erduldeten Schmerz, den man sich nicht zugestehen, den man nicht ausdrücken und fühlen durfte (der aber trotzdem nicht verloren geht). Dieser muss externalisiert und in Anderen gesucht werden (oder er wird nach Innen gerichtet; man tut sich selbst etwas an, verletzt sich selbst, wird krank, depressiv, verstrickt sich in Unfälle usw.). Hier liegt nach Gruen die wesentliche Ursache für den beeindruckenden Erfolg von Hitler. Das wahre Opfersein ihrer individuellen Geschichte konnten (oder wollten) Millionen Menschen nicht wahrhaben; sie waren aber bereit, sich als Opfer Anderer (als den Eltern) zu sehen und zu inszenieren. Diese Menschen konnten nur über den vermeintlichen Schmerz „schreien“, der ihnen angeblich von den „Fremden“, den Feinden angetan wurde. „Menschen bleiben solange für einen Hitler anfällig, wie sie nicht über ihren wahren Schmerz schreien konnten.“ (ebd., S. 30)
Der Mythos Hitler, ist – nach Gruen - nur durch das Bedürfnis der Vielen nach einem solchen Mythos und nach Erlösung von ihrem Opfersein zu erklären.
„Die Identifikation mit dem Aggressor führt dazu, dass Menschen (...) sich von dem Erlösung erhoffen, der sie zum Leiden brachte. Sie suchen jedoch nicht einen wirklich starken Führer, sondern eine Fiktion von Stärke. Diese war ja auch der Vater, auch der Mutter eigen, als sie das Kind unterdrückten, um sich selbst stark und bedeutsam zu fühlen. Deshalb hoffen solche Menschen, Erlösung bei dem zu finden, der Stärke verspricht, sie jedoch nicht besitzt. Was sie suchen, ist der grausame König oder die grausame Königin.“ (ebd., S. 106)

Miller (1983) spricht davon, dass man einen „unerlaubten Hass“ in sich trägt und begierig darauf ist, ihn zu legitimieren. Ein Hitler verstand es wie kein Zweiter, dem seit Kindheit aufgestauten Hass der Menschen ein Ventil zu bieten bzw. diesen zu legitimieren. Der „Fremde“ und Feind – in NS-Zeit vor allem der Jude - wurde dann schuld an allem, und die wirklichen ehemaligen Verfolger, die eigenen, oft wirklich tyrannischen Eltern, konnten in Ehren geschützt und idealisiert bleiben. (vgl. Miller, 1983, S. 196ff) In einem Artikel findet Miller weitere deutliche Wort zu diesem Themenkomplex: “Millionen einst gekränkter, gedemütigter Kinder, die sich nie bei ihren Eltern gegen die Zerstörung, gegen die Verletzungen ihrer Integrität wehren durften, werden durch den Krieg an die mehr oder weniger gut abgewehrte Geschichte ihrer eigenen Bedrohung erinnert. Sie fühlen sich aufgewühlt und verwirrt. Da ihnen aber die frühen Erinnerungen meistens und die dazugehörenden Gefühle immer fehlen, fehlt ihnen der Durchblick. Sie greifen, auf ihrer Flucht von der eigenen schmerzhaften Geschichte, zu den einzigen Mitteln, die sie als Kinder gelernt haben: zerstören oder sich quälen lassen, aber um jeden Preis blind bleiben. Blind fliehen sie vor etwas, das längst geschehen ist.“ (Miller, 1991)
Sehr deutlich wird die Identifikation mit dem Aggressor und die Suche nach äußeren Feinden (anstatt die eigenen Eltern anzuklagen) auch am Beispiel Balkankrieg. Wie im Kapitel 4. kurz dargestellt, waren und sind die Menschen im ehemaligen Jugoslawien als Kinder oftmals massiver Gewalt durch Eltern und Verwandte ausgesetzt. Slobodan Milosevic, selbst schwer traumatisiert wie schon beschrieben, wurde nun 1987 der große Führer der Serben, als er eine politische Rede hielt, in der er einen großen Aufschwung versprach: "Niemand hat das Recht, meine Leute zu schlagen! Ich verspreche Euch, mich darum zu kümmern: Niemand wird noch einmal geschlagen!" (Puhar, 2000b, S. 170) Es verwundert kaum, dass diese Botschaft bei den einst real geschlagen Menschen deutlich ankam und die Suche nach angeblichen äußeren Feinden gerade in dieser Region seine verheerende Wirkung fand. Puhar schreibt: „Diese markige Botschaft machte ihn im Nu zum Helden, zum charismatischen Führer, zum Kreuzfahrer, der versprach, zurückzuschlagen — und seine Leute liebten und bewunderten ihn dafür. Innerhalb weniger Monate war Serbien buchstäblich mit seinen Bildern bedeckt, Tausende von Leuten skandierten seinen Namen, begrüßten ihn als ihren Retter und versprachen ihm, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen.“ (ebd.) Puhar beschreibt, wie dies ein perfektes Beispiel für wechselseitige Hypnose sei: der Führer verzauberte die Menschen, die Menschen verzauberten ihren Führer. In der weiteren Folge inszenierten sich die Serben insbesondere als Opfer; Opfer der Slowenen, der Kroaten, der Albaner, des Westens usw. usf. Der weitere Verlauf ist bekannt....

Richter (1996) beschreibt weitere psychischen Entlastungsmomente auf der kollektiven Ebene. Feindeshass entlastet nicht nur von persönlichen, sondern auch von nationalen Selbstwertkonflikten und Niederlagen. Kränkungen, die ein Kollektiv erlitten hat, addieren sich zu den spezifischen individuellen Niederlagen und Minderwertigkeitserlebnissen und überformen den Projektionsvorgang. Richter macht dies u.a. am Beispiel der Niederlage der USA in Vietnam fest. Der spätere sowjetische Afghanistan-Überfall bot die Gelegenheit, die kränkenden nationalen Selbstzweifel und Verletzungen zu tilgen und „das Böse“ erneut im Außen festzumachen und dort zu bekämpfen. (vgl. Richter, 1996, S. 116ff)
Der ursprüngliche „Feind“ im Inneren des Menschen und der Gesellschaft soll durch den äußeren Feind vergessen gemacht werden. Mentzos (1995) spricht in diesem Zusammenhang von Pseudostabilisierung des Ich und von Gruppen. Seit dem „11. September“ wiederholte sich dies erneut, indem der amerikanische Präsident George W. Bush ungezügelt den erwähnten, gefährlichen Abwehrmechanismus vornahm: Die Spaltung der Welt in „gut“ und „böse“.
(Diese Spaltung der Umwelt ist auf der individuellen Ebene übrigens u.a. eine typische Folge von Kindesvernachlässigung und natürlich allen anderen Misshandlungsformen. - vgl. Motzkau, 2002, S. 715 - )
Ich möchte an dieser Stelle noch einen weiteren Aspekt ansprechen, der auch auf gesamtgesellschaftliche Weise Bedeutung hat. Menschen wurden in der Vergangenheit (und werden auch heute noch) wie oben bereits dargelegt zum Still-Halten und Stil-Schweigen bzw. zum Gehorsam erzogen. Selbst offensichtlichem Unrecht (gegen Andere oder sich selbst) wird dann mit dem Erziehungsmotto: „Nur nichts beanstanden“, „kritiklos Bestehendes gutheißen“ oder „Immer ruhig sein und schweigen“ entgegnet. Die Realität wird somit letztlich verleugnet, was in einer potentiell bedrohlichen individuellen wie auch gesellschaftlichen Situation eine erhebliche Gefahr darstellt, da keine (rechtszeitige) Gegenwehr/-maßnahme erfolgt.( vgl. Bassyouni, 1990, S. 151) Eine typische Folge der Gewalt gegen Kinder ist der Verlust des Vertrauens in die eigene Wahrnehmung. Wird dieses Vertrauen (später) nicht wieder aufgebaut, werden diese Menschen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch in ihrem weiteren Leben als Erwachsene Probleme damit haben, Realitäten richtig einzuschätzen bzw. einfach sich selbst und den eigenen Gefühlen zu vertrauen. Dies wurde von destruktiven Machtmenschen stets ausgenutzt (und wird es auch weiterhin, sowohl in individuellen Beziehungen[7] als auch auf gesellschaftlicher Ebene, wie ich meine). Deren destruktiven Ziele und Persönlichkeit wird von Menschen mit einer gestörten (Selbst-)Wahrnehmung) nicht (rechtzeitig) wahrgenommen.
Dazu kommt, dass Menschen, deren Grenzen oft überschritten wurden, laut Kraemer (2003) auch zu „chronischen Opfern“ werden können, indem sie sich mit der Opferrolle abfinden. Gesunde Aggressionen werden dann gänzlich nicht genutzt, dem Leben wird aus einer Haltung der Angst, Unsicherheit und Unzulänglichkeit heraus begegnet und eigene Grenzen werden nicht verteidigt bzw. der traumatisierte Mensch ist nicht in der Lage zu sehen, wer neue oder zusätzliche Grenzverletzungen begeht. Traumatisierte Menschen, die sich mit der Opferrolle arrangiert haben, werden sich in bedrohlichen Situationen tendenziell erneut als ohnmächtig erleben und Gegenwehrpotentiale nicht nutzen können. Sie erleben die Machtausübung und Grenzüberschreitung durch Andere (schlimmstenfalls) als „normal“, gerade wenn sie schon früh und häufig Machtmissbrauch erlitten haben. Menschen mit Ohnmachterfahrungen sind besonders anfällig, willkürlich operierenden Machtmenschen ausgeliefert zu sein. (vgl. Kraemer, 2003; S. 169ff) Insofern erklärt sich hieraus evtl. auch das massenhafte, stillschweigende Mitläufertum aus der NS-Zeit.
Somit ist hier im Kontext von Verletzungen im Kindesalter und Krieg neben den Täterpotentialen die zweite Seite angesprochen. Mit dem Aggressor identifiziert sein bedeutet entweder eine Entwicklung hin zum Täter oder ein resigniertes Verharren in der Opferrolle (die Grenzen zwischen beiden Polen können in der Realität natürlich auch fließend sein).
Diepold (1998) beschreibt diese zwei Grundmuster als Reaktion auf frühkindliche, schwere Traumatisierungen bzgl. Kindern wie folgt:
1. Aggressives-destruktives Verhalten: Das Aggressionspotential ist in ständiger Aktionsbereitschaft. Die Kinder sind auf Kampf eingestellt und greifen an, bevor sie selbst verletzt werden können.
2. Erstarrung, Depression und anklammerndes Verhalten: Vorherrschend ist z.B. eine eingefrorene Gestik und Mimik. Bei diesen Kindern ist das reiche Gefühlsleben mit den angeborenen Affekten erstarrt. Sie haben den emotionalen Dialog mit äußeren Objekten abgebrochen. (vgl. Diepold, 1998, S. 134ff)

Beide Seiten können letztlich unter gewissen Umständen gewalttätige bzw. kriegerische Entwicklungen und Machtmissbrauch bedingen. An dieser Stelle sei auch an das Kapitel 2. erinnert: Gewalt gegen Kinder ist keine Ausnahme, sie war und ist eher die Regel.
Diepold beschreibt bildlich und wahrlich erschreckend die innere Welt schwer traumatisierter Kinder. „Die innere Welt traumatisierter Kinder ist so, wie Hieronymus Bosch sie gemalt und Dante sie in seinem „Inferno“ beschrieben hat, oder der Mythos der Medusa sie erzählt: Gespenster und Geister, brennendes Feuer, Eiseskälte, Leichenstarre, von Kopf bis Fuss gespaltene Menschen, deren Fragmente sich zu ganzen Menschen zusammensetzen, Menschenleere und Einsamkeit, Spiele mit Leichenteilen, Unfälle und mörderische Aggressivität“ (ebd., S. 136)
Vielleicht liegt hier ein wesentlicher Teil der Antwort auf die im Zusammenhang von Krieg und Terror oft gestellte Frage, wie aus (scheinbar) ganz normalen Menschen aller sozialer Schichten, aus Nachbarn und Freunden in Kriegszeiten ganz plötzlich und über Nacht wahre menschliche Monster werden können. Und vielleicht sah auch die innere Welt des Kindes Adolf Hitler so aus. Hellhörig macht jedenfalls, dass über Hitler berichtete wird, er hätte das Bild der Medusa an seinen Wänden hängen gehabt und gesagt: „Diese Augen! Es sind die Augen meiner Mutter!“ (deMause, 2005, S. 154) Und wir wissen natürlich, dass Hitler als Erwachsener mit aller Gewalt die äußere Welt (mit Hilfe anderer Menschen) letztlich so formte, wie in Diepolds schrecklicher bildlicher Darstellung geschildert. Wenn man das „Phänomen Hitler“ (das ja nur ein Paradebeispiel für so viele andere ist) an Hand dessen traumatischer Kindheit erklärt, dann wird erfahrungsgemäß abwehrend geantwortet: „Das ist zu vereinfacht. Viele andere Menschen haben ja als Kind ähnliches erlebt, damit kann man Hitler also nicht erklären.“ Ich sage dann: „Eben, so viele haben ähnliches erlebt, genau das erklärt das „Phänomen Hitler“!

In Anbetracht dieser möglichen Folgen bzgl. schwer traumatisierter Kinder sollte dabei nicht vergessen werden, dass es in der Bevölkerung eine große Bandbreite von mehr oder weniger traumatischen Erfahrungen gibt (deren Auswirkung zusätzlich von vielen Faktoren wie z.B. Alter, Häufigkeit der Verletzungen, Nähe zum Täter/Täterin usw. abhängen). Es geht um „alltägliche Formen“ der Gewalt gegen Kinder bis hin zu Formen der Gewalt, die wir ohne weiteres als Folter und Terror bezeichnen können. Entsprechend unterschiedlich sind die Folgen. Arno Gruen spricht bzgl. der „Identifikation mit dem Aggressor“ stets davon, dass wir Menschen alle „mehr oder weniger“ von diesem psychischen Phänomen betroffen sind. Es geht mir in diesem Text hier nicht um die Stigmatisierung von schwer traumatisierten Menschen! Wir sitzen alle im gleichen Boot. Und wir Menschen sind durch diese Erkenntnisse aufgefordert, individuell entsprechende innere Prozesse und Blockaden zu bearbeiten und aufzudecken. (der „individuelle Gewinn“ kann dabei mit Verlaub ein Mehr an innerer Freiheit, Authentizität und Gefühlsleben sein) In unserer Gesellschaft geschieht dies i.d.R. mit Hilfe einer Psychotherapie. Die Politik wäre zusätzlich gefordert, diese „individuellen Prozesse“ in jeglicher Form zu fördern und zu unterstützen. Eine Streichung der Gelder für Beratungsstellen, soziale und psychologische Dienste usw. usf. ist nicht nur für den Einzelnen ein Fiasko, sondern kommt der Gesellschaft langfristig u.U. sehr teuer zu stehen.
„Was für ein Glück für die Regierenden, dass die Menschen nicht denken“, so Adolf Hitler wörtlich. Ich möchte diesen Diktator mit meinen Worten als Abschluss dieses Kapitels verbessern: „Was für ein Unglück für die Welt, dass viele Menschen nichts fühlen.“


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[1] Hier geht es weniger um einmalige Verletzungen, sondern vor allem um eine Fülle von verletzenden Erfahrungen in den alltäglichen Beziehungen zur Umwelt. Ob schmerzliche Erfahrungen als vorübergehend und erträglich erlebt werden, hängt zusätzlich vom Reifegrad des Kindes und vor allem davon ab, ob dem Kind hinreichend angenehme Erfahrungen (besonders seitens der Eltern) als positives Kräftereservoir zur Verfügung stehen.

[2] Dazu ergänzend: „Empathie, normalerweise eine Facette der emotionalen Entwicklung des Kindes, wird in der emotional kargen Landschaft der vernachlässigenden Familie nicht vermittelt. Kinder entwickeln Empathie, indem sie dem Beispiel ihrer Eltern folgen. Sie werden Mitgefühl und Verständnis ausbilden, wenn ihre eigenen Bedürfnisse nach Mitgefühl und Verständnis befriedigt worden sind. Ohne Empathie können Kinder keinerlei dauerhafte Bindungen eingehen, und als Eltern tragen sie ein hohes Risiko, die eigenen Kinder zu vernachlässigen oder zu misshandeln.“ (Cantwell, 2002, S. 542) Oder eben u.a. auch kriegerisch zu handeln.

[3] „Wenn ich selbst ganz mächtig und böse bin, kannst du mir nicht schaden! Dann musst du vor mir Angst haben!“ Dies ist u.a. die Reaktion in der Fantasie des Kindes auf die Erfahrung lebensbedrohlicher Gewalt durch die Eltern. (vgl. Bassyouni, 1990, S. 44)

[4] Groß ist allgemein die Überraschung darüber, dass z.B. die NS-Täter oftmals ganz normale Menschen waren, manches mal sogar hoch gebildet wie z.B. die Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamt (RSHA) – eine Behörde, die den Judenmord maßgeblich organisierte. "Keine Alterskohorte, kein soziales und ethnisches Herkunftsmilieu, keine Konfession, keine Bildungsschicht erwies sich gegenüber der terroristischen Versuchung als resistent", resümiert der Täterforscher Gerhard Paul im SPIEGEL 11/2008 zur NS-Zeit. Nur wenn verstanden wird, dass Kindesmisshandlung in allen Schichten der Gesellschaft in erheblichem Umfang vorkommt, wird auch verstanden werden, warum auch TäterInnen aus allen Schichten stammen. Der SPIEGEL hat sich in seinem Titelthema über „Die Täter“ übrigens mit keinem Wort mit der Psychologie und destruktiver Erziehung befasst und das Feld mal wieder den HistorikerInnen überlassen.

[5] Destruktive Eltern stützen diesen Prozess i.d.R., in dem sie dem Kind direkt vermitteln, dass es selbst schuld sei, wenn es gedemütigt, misshandelt oder missbraucht wird oder das dies aus Liebe zu ihm geschehe. Schon in der Bibel steht: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er, wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat.“ (Spr 3,12) Die Forderung nach bedingungslosem Gehorsam ist zusätzlich eng mit diesem Prozess verknüpft. Der Gehorsam gegenüber der (elterlichen) Autorität macht es fast unmöglich, die Wahrheit des ganzen Vorgangs (auch im späteren) Leben zu erkennen.

[6] Sehr anschaulich wird dieser Prozess auch von Bassyouni (1990) beschrieben; sie spricht u.a. von einem „Ur-Hass gegen einen gnadenlosen Feind“, der in Kindern durch Strafe, Unterwerfungs- und Gehorsamsforderung schon früh (in den ersten drei Lebensjahren) verankert wird. (vgl. Bassyouni, 1990, 35ff)[7] Die von Mantell (1978) untersuchten Kriegsfreiwilligen machen dies anschaulich. Die überwiegende Mehrheit idealisierte ihre Eltern, hielten sie sogar für „immer gerecht“. Im Krieg konnten sie dagegen ihre Hass- und Rachegefühle frei und „legal“ ausleben.

[7] Im „Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland“ wird z.B. berichtet, dass Frauen, die in ihrer Kindheit und Jugend körperliche Auseinandersetzungen zwischen den Eltern miterlebt haben, später mehr als doppelt so häufig selbst Gewalt durch (Ex-)Partner erlitten wie Frauen ohne solche Erlebnisse. Frauen, die in Kindheit und Jugend selbst häufig oder gelegentlich Opfer von körperlicher Gewalt durch Erziehungspersonen wurden, waren dreimal so häufig wie andere Frauen später von Gewalt durch Partner betroffen. Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch vor dem 16. Lebensjahr geworden waren, wurden in ihrem Erwachsenenleben doppelt so häufig wie andere Frauen Opfer von häuslicher Gewalt durch Partner und viermal so häufig Opfer von sexueller Gewalt. (vgl. Deutsches Jugendinstitut e.V., 2005, S. 659)



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7. Das Gesicht des Krieges ist männlich, aber der Frieden ist nicht weiblich

Um die wesentliche Bedeutung von Kindheitserfahrungen herauszustellen, habe ich sozusagen als Exkurs das Thema Geschlecht hier mit einbezogen.
Krieg war in der Geschichte stets männlich geprägt.[1] Das verwundert kaum, denn das kriegerische Heldentum war und ist in patriarchalen Gesellschaften ein männliches Ideal. Männer werden während ihrer Sozialisation idealtypisch zu Härte, Dominanz, Tapferkeit, Unempfindlichkeit, Konkurrenzdenken, Rationalität usw. erzogen und letztlich „kriegstauglich“ gemacht.[2] Gefühlsäußerungen sind für einen „richtigen“ Mann, wenn schon die „weiblichen“ Gefühle tabuisiert sind, zumindest in aggressiver und (schlimmstenfalls) kriegerischer Form erlaubt. Kompensatorische Lösungsstrategien bzgl. innerer Konflikte und Ängste bieten Angebote aus dem (patriarchalen) kulturellen System, in dem der Konflikt Außen durch Aggressivität, Dominanz und Machtstreben „gelöst“ wird.
Arno Gruens Ausführungen (siehe oben) über das „Fremde in uns“ passen auch hier. Eigene, grundlegend menschliche Gefühle und Anteile müssen verleugnet werden. Bedürftigkeit, Hilflosigkeit, Unsicherheit, Abhängigkeit, Schwäche usw. werden als „unmännlich“, fremd und verachtenswert von sich gewiesen und schlimmstenfalls aktiv auch bei Anderen bekämpft. Jungen und Männer leben eine Art Selbstbehinderung, die einer Verarmung, Blockade und Hemmung der emotionalen und sozialen Entwicklung gleichkommt. Stoklossa (2001) spricht in diesem Zusammenhang von einer Art „Krankheit Männlichkeit“ oder „patriarchalischem Syndrom“, in das Jungen hineinwachsen und durch das sie natürlich auch Mädchen, Frauen und Schwächere benachteiligen und abwehren, weil sie das sogenannte mädchenhafte in sich selbst zu verleugnen versuchen müssen. (vgl. Stoklossa, 2001, S. 39)
Der Zusammenhang zwischen Männlichkeit und (kriegerischer) Gewalt ist in der Literatur letztlich von vielen AutorInnen bereits ausführlich und nachvollziehbar dargestellt worden. (nur einige Beispiele: siehe z.B. Roß, 2002; Stoklossa, 2001; Schmölzer, 1996)
Die Frage ist nun dagegen, ob der Frieden weiblich ist? Mentzos (2002) meint, dass Frauen auf Grund der ihnen zugewiesenen Rolle ihre prosozialen Tendenzen, ihr emotionales Potential und ihre menschenfreundlichen Tendenzen weniger verdrängen brauchen und ihr Verhalten somit einen Pro-Frieden-Faktor darstellt. Die Frage ist aber auch, ob Frauen ein solcher „Faktor“ wären, wenn sie die Herrschaft ausüben würden. (vgl. Mentzos, 2002, S. 185)

Die weibliche Sozialisation fördert idealtypisch und tendenziell Eigenschaften wie Aufopferungsbereitschaft, Fürsorglichkeit, Rücksichtnahme, Weichheit, Nachgiebigkeit, Bedürftigkeit, Emotionalität, Passivität usw. und Frauen wird eher ein depressiv-autoaggressiver oder kommunikativer Umgang mit Frustrationen und Konflikten „angetragen“. Wenn Frauen destruktiv-aggressiv, gar kriegerisch handeln dann verhalten sie sich entgegen ihrer Sozialisation und entgegen dem klassischen Rollenbild in der Gesellschaft (Für Männer gilt der Umkehrschluss).
Es gibt allerdings viele Belege dafür, dass Frauen durchaus dazu in der Lage sind destruktiv-aggressiv und im wahrsten Sine kriegerisch zu handeln bzw. dies auch tun, wenn sie über entsprechende Möglichkeiten bzw. Macht verfügen. Die bekannte Feministin Alice Schwarzer schrieb auf ihrer alten Homepage passend: „Ich glaube nicht daran, dass Frauen das bessere Geschlecht sind (und Männer das schlechtere). Es sind einfach die (Macht)Verhältnisse, die den einen mehr Gelegenheiten zu Übergriffen geben als den anderen.“ (http://www.aliceschwarzer.de/124.html) (Seit 2010 hat sie den Text leicht verändert. Dort steht jetzt: "Ich glaube nicht, dass Frauen von Natur aus das bessere Geschlecht sind und Männer das destruktivere. Es ist die Macht bzw. die Ohnmacht, die die Menschen verformt.")

Heyne (1993) hat die Gewalt von Frauen eindrücklich dokumentiert. Frauen beteiligten sich in der Geschichte, wenn starre Geschlechtsrollen durchlässiger wurden und/oder staatliche Ideologie dies erlaubte, aktiv an Kämpfen. In Titos Nationaler Befreiungsarmee schlugen sich z.B. zwischen 1941 und 1944 mehr als 100.000 Partisaninnen, 2.000 Frauen kämpften im Offiziersrang und 20 % der Jugendkampfbrigaden bestanden aus Frauen. Soldatinnen im moderneren Sinne gab es am häufigsten in der Sowjetunion. Während des 2. Weltkrieges wurde dort die militärische Ausbildung für Frauen zur Pflicht erhoben und es gab selbstständige Fraueneinheiten. Die Gesamtzahl der Frauen, die für die Sowjetunion an der Front, im Hinterland und bei den Partisaninnen kämpften betrug mehr als eine Million. (vgl. Heyne, 1993, S. 129)
Auch der „lange Marsch“ der roten Armee Mao Tse Tungs in China wurde zwar mehrheitlich von männlichen Soldaten getragen, unter diesen waren allerdings auch ca. 2.000 Frauen. (vgl. Dokumentation „Feed Unbound – Der lange Marsch“ zitiert nach 3Sat „Kulturzeit“-Magazin, Sendung vom 09.10.2007) Was für das damalige, sehr traditionelle China, in dem Frauen die Füße im wahrsten Sinne gebunden wurden, schon eine recht hohe Zahl darstellt.
Sobald sich ein gesellschaftlich gewollter Rahmen (Israel ist auf Grund historischer Entwicklungen sehr offen für Frauen im Militär) für „Frauen an der Waffe“ ergibt, greifen diese auch zu, was das aktuelle Beispiel der israelischen Armee zeigt: 31% aller Rekruten sind weiblich, gleichzeitig sind 26 % aller Offizierstellen mit Frauen besetzt. (vgl. Deutsch-Israelische Gesellschaft e.V., http://www.deutsch-israelische-gesellschaft.de/arbeitsgruppen/frauen_in_der_israelischen_armee%20.htm)
Am Beispiel des Nationalsozialismus zeigt Heyne auch auf, dass viele Frauen durchaus an Machtpositionen und an der Formulierung und Umsetzung von NS-Ideen interessiert waren (und somit auch stärker als Täterinnen aufgefallen wären), dies allerdings nur selten erreichen konnte, weil ihnen einfach der Zugang dazu verstellt war. (vgl. Heyne, 1993, S. 149ff+154)[3]
Bewegten sich Frauen in einem Handlungsfeld, in dem die Ausübung offener Gewalt nicht nur möglich war, sondern von ihnen erwartet wurde - z.B. bzgl. am Euthanasie-Programm beteiligte Krankenschwestern und KZ-Aufseherinnen -, so waren sie zu jeder nur vorstellbaren Form der Gewalthandlung fähig. (ebd., S. 240)[4] Außerdem bedienten sich Frauen entsprechend ihrer Rolle „leiseren“, delegierenden Formen der Gewaltausübung, wie z.B. dem Denunziantentum in der NS-Zeit, das für den Denunzierten tödlich enden konnte (ebd.) oder sie fungierten z.B. während des Völkermordes in Ruanda als „Cheerleader des Genozids“ in dem sie massenweise die (vorwiegend männlichen) Mörder mit Gesang und Geschrei zu zerstörerischen Aktionen antrieben (vgl. Zdunnek, 2002. S. 150)
Auch bzgl. des islamischen Fundamentalismus tauchen Frauen aktiv auf, was folgendes Zitat aus dem „al-Qaida-Frauenmagazin“ al-Khansa deutlich macht: „Wir werden uns am Kampf beteiligen, bedeckt mit unseren Schleiern und umhüllt von unseren langen Gewändern, Waffen in der Hand, unsere Kinder im Schoss, wobei der Koran und die Lehre des Propheten Allahs uns den richtigen Weg weisen werden. Das Blut unserer Ehemänner und die Körperteile unserer Kinder sind die Opfer, mit denen wir uns Allah annähern. Mit unserer Hilfe wird Allah dafür sorgen, dass das Märtyrertum zu seinem Ruhm ein Erfolg wird.“ (EMMA, 09./10. 2007, S. 46)
Ein Einzelbeispiel bzgl. politischer, destruktiver Einstellungen möchte ich auch aus der demokratischen, westlichen Welt nennen, das für sich spricht: Als Madeleine Albright (erste Frau im Amt der Außenministerin in den USA 1997-2001) am 20.05.1996 gefragt wurde, ob der Tod der vielen irakischen Kinder (Seit Bestehen des Embargos gegen den Irak kamen damals je nach Schätzung ca. eine halbe bis eine Million Kinder (!) ums Leben) durch die Sanktionen, die eigentlich Saddam Hussein schwächen sollten, nötig wäre, antwortete sie: „Ich denke, es ist eine sehr schwere Wahl, aber der Preis, wir denken, es ist den Preis wert.“ (zit. nach deMause, 2005, S. 38)

Am anschaulichsten wird der Einfluss von Macht auf das Gewalthandeln am Beispiel der Kindesmisshandlung. Frauen haben als Mütter traditionell ein hohes Maß an Macht gegenüber ihren Kindern. In der Literatur schwanken die Zahlen über den Anteil der Täterinnen bei der körperlichen Kindesmisshandlung entsprechend zwischen 40 % und 70 %. (vgl. Heyne, 1993, S. 257) Eine andere Quelle nennt Zahlen zwischen 50 % und 60 % weiblicher Täterinnen. (vgl. Kantonale Fachkommission für Gleichstellungsfragen, 2006, S. 23) Im "Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland" steht: "Die meisten Studien der Familiengewaltforschung kommen zu dem Ergebnis, dass Mütter in gleich hohem oder höherem wie Väter Ausmaß elterliche körperliche Gewalt gegenüber ihren Kindern ausüben. Auch eine geschlechtsspezifische Auswertung von Bussmann (2002) zeigt für Deutschland ein durchweg leicht höheres Sanktionsniveau auf Seiten der Mütter auf; bei schwereren Gewaltformen gleichen sich die Erziehungsstile zwischen den Geschlechtern allerdings an." (Deutsche Jugendinstitut e.V., 2005, S. 656) Beim sogenannten Hellfeld zeigt sich, dass bei Misshandlung von Kindern mehr als zwei von fünf Tatverdächtigen (43,1 %) weiblich sind. (vgl. Bundeskriminalamt, 2007, S. 149)
Bzgl. des sexuellen Missbrauchs beträgt der Anteil der Täterinnen ca. 10-25 % (wenn man von Dunkelfelduntersuchungen ausgeht), auch in diesem Bereich sind Frauen durchaus zu äußerst sadistischen Taten fähig. (vgl. Enders, 2001, S. 106)
Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch, dass Frauen vermutlich auf Grund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisationen und auf Grund struktureller Gegebenheiten häufig Formen der Gewalt gegen Kinder anwenden, die weniger offensichtlich sind und weniger aktenkundig werden. Ich denke dabei an psychische Gewalt, narzisstischen Missbrauch, Kindesvernachlässigung oder auch das Münchhausen-by-Proxy. (Diese Themengebiete ausführlich zu behandeln, würde hier den Rahmen sprengen)

Neuere Forschungsansätze bringen außerdem immer mehr Licht ins Dunkel der häuslichen Gewalt und beschäftigen sich u.a. mit dem Tabuthema „Frauengewalt gegen Männer“ (vgl. ausführlich Kantonale Fachkommission für Gleichstellungsfragen, 2006)
Auch der Blick in die Geschichte zeigt, dass Frauen im erheblichen Umfang Kinder als „Giftcontainer“ für ihre Gefühle benutzten. DeMause hat darauf hingewiesen, dass bis zur Moderne vor allem Frauen (als Mütter, Großmütter, Tanten, Ammen, weibliche Dienerschaft, Hebammen usw.) für Kinder verantwortlich waren und Männer beim Heranziehen der Kinder meist gar keine Rolle spielten.[5] Der Psychohistoriker zeigt an Hand einer Fülle von Beispielen auf, wie Frauen in der Geschichte routinemäßig ihre Kinder getötet, vernachlässigt, missbraucht und misshandelt haben. Diese Gewalt gegen die Kinder stand wiederum im engen Verhältnis zu eigenen, erheblichen Gewalterfahrungen der Frauen. (vgl. deMause, 2005, S.212ff)

Die hohen o.g. Zahlen bei den Frauen als Täterinnen bzgl. der körperlichen Gewalt begründen Forschende übrigens unter anderem damit, dass Frauen mehr mit den Kindern zusammen sind und mehr Verantwortung für deren Erziehung tragen als die Väter. Demnach dürfe man das Ausmass von Gewaltausübung durch Väter bzw. Mütter nur vergleichen, wenn beide zu gleichen Teilen Zeit und Verantwortung für ihre Kinder investieren, was derzeit kaum der Fall ist. (vgl. Kantonale Fachkommission für Gleichstellungsfragen, 2006, S. 23) Ich finde es fragwürdig, wenn in vielen Analysen zum Patriarchat auf die erhebliche Macht von Männern/Vätern in ihren Familien hingewiesen wird und dann, wenn es um schlagende Mütter geht, diese Analysen plötzlich vergessen werden. Nachdem könnte man genau so gut auch sagen, dass Männer bzgl. kriegerischer Gewalt nur so häufig als Täter auftauchen, weil sie den Großteil der Soldaten und der Politiker stellen und man somit geschlechtsspezifisch erst etwas eindeutiges rückschließen könnte, wenn Frauen in diesen Bereichen auch zur Hälfte mit agieren würden... (Wobei ich davon ausgehe, dass eine Gesellschaft, in der Frauen partnerschaftlich zur Hälfte an der Macht beteiligt wären - was ich für wünschenswert halte -, bereits so weit emotional entwickelt wäre, dass man in einer solchen Gesellschaft auch insgesamt weniger kriegerische Gewalt beobachten würde. Die Ursache für das friedlichere Miteinander wäre dann also nicht die Beteiligung von Frauen an der Macht, sondern der allgemeine emotionale Fortschritt.) Insofern ist hier der Knackpunkt beschrieben, um den es mir geht. Kindliche Gewalterfahrungen finden ihren Ausdruck auf der gesellschaftlichen Bühne oder auch im Privaten. Wie diese Bühne oder die Form und Farbe der Gewalt aussieht, das scheint von gesellschaftlichen Strukturen gelenkt zu werden. Die gesellschaftlichen Strukturen sind demnach aber im Grunde nicht der Hauptgrund für das beobachtete Auftreten von Gewalt. (siehe dazu auch Kapitel 9.)

Sieht man sich die hier kurz skizzierten Daten und Beispiele an, scheint die traditionelle weibliche Sozialisation und Rollenerwartung nicht der entscheidende Faktor für einen friedvollen, mitfühlenden und gewaltlosen Umgang miteinander zu sein (und auch nicht das biologische Geschlecht). Der Frieden ist also auch nicht „weiblich“. Entscheidender scheint die Disposition zu Radikalität und Gewalt zu sein, die sich wie oben aufgezeigt wesentlich aus destruktiven Kindheitserfahrung (der „Wurzel des Übels“) ergibt und die in Kombination mit Macht (und ggf. zusätzlich verstärkend unter sozial ungünstigen Bedingungen wie z.B. in der NS-Zeit) die Gefahr destruktiv-aggressiven und kriegerischen Handelns erhöht.
Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Menschlichkeit sich wesentlich auf Grundlage von Einfühlungsvermögen und Mitgefühl definiert, so scheint der Frieden eben menschlich (also mitfühlend) zu sein. Dort wo das Mitgefühl für sich und andere auf Grund von destruktiven Kindheitserfahrungen verloren geht, erhöht sich somit die Gefahr hin zu Destruktivität und Krieg.

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[1] Man könnte zumindest sagen: Das offene „Gesicht des Krieges“ war männlich. Im Hintergrund gestalten Frauen aktiv als Helfende, (Soldaten-)Mütter, Ehefrauen, Arbeiterinnen, Handeltreibende usw. den Krieg gemäß ihrem Rollenbild. Denn Krieg als gesellschaftliche Institution und kollektives Handlungsmuster kann nur funktionieren, wenn Männer und Frauen entsprechend ihren Rollenvorgaben handeln. Siehe dazu ausführlicher Wasmuht (2002), Mathis (2002) und auch Zdunnek (2002) Sehr deutlich wird das komplementäre Zusammenwirken beider Geschlechter u.a. am Slogan der Vaterländischen Frauenvereine des 19. Jahrhunderts: „Er mit der Waffe, sie mit Herz und Hand.“ (de Visser, 1997. S. 76), die ihren Soldatenmännern „vorbildlich“ zur Seite standen.

[2] Stoklossa (2001) hat dies ausführlich in seinem Buch mit dem passenden Titel „Wut im Bauch. Wider der Zurichtung des Jungen zum Krieger“ dargestellt. Ich selbst betrachte die traditionelle männliche Sozialisation mit ihrer unterdrückerischen Ausformung und mit ihren Anforderungen bereits als verdeckte Gewalt, die den Menschen spaltet. Insofern kumulieren sich diese Erfahrungen mit Opfererfahrungen aus der Kindheit und steigern das destruktive Potential bei Männern.

[3] Frauen beteiligten sich allerdings in der NS-Zeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten in NS-Frauenorganisationen (6-8 Millionen Frauen) und in der NS-Frauenschaft (2 Millionen). (vgl. Hyne, 1993, S. 152)

[4] siehe auch Kretzer (2002)

[5] Die Vernachlässigung von Kindern durch ihre Väter war also Alltag.


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