Montag, 28. Oktober 2013

US-Drohnenkämpfer und der "Zombie-Modus"

Bei jedem Einsatz schaltet der Drohnenpilot Brandon Bryant auf „Zombie-Modus“ um, wie er sagte.
Die Berichte über schwer belastete bis hin zu traumatisierten Drohnenkämpfern häufen sich. Bryant hat 1.626 Menschen getötet, mehr als ein normaler Frontkämpfer je töten könnte...

Ich habe schon Berichte über diese Drohnenkämpfer gelesen, die deutlich machen, dass diese Art des Krieges den Feind nicht unsichtbarer und ferner macht, sondern diese Piloten ihnen manchmal näher kommen, als dies ein Kämpfer je könnte. Manchmal werden die „Ziele“ wochenlang beobachtet, die Drohnenkämpfer lernen sie kennen, sehen ihre Gewohnheiten, ihre Besuche, ihren Tagesrhythmus und dann kommt der Befehl zum Abschuss… Das besonders verrückte dabei ist zudem, dass diese Kämpfer tagsüber aus ihrem zivilen Leben heraus zu ihrem „Job“ gehen, dort töten und anschließend zu Hause gemeinsam mit Kind und Frau zu Abend essen. Dies kann in der Tat (wie letztlich auch jede andere Art von gezieltem Tötungsakt) nur funktionieren, wenn diese Menschen auf innerliche abgespaltene  Elemente zurückgreifen oder gar in eine andere Persönlichkeit wechseln können. Auf „Zombie-Modus“ umschalten nannte dies Bryant. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass dieser Soldat als Kind elterliche Gewalt erfahren hat, wahrscheinlich sogar in schwerer Form. Gesund aufgewachsene, als Kind geliebte Menschen haben keinen „Zombie-Modus“ auf den sie zurückgreifen können.

Samstag, 19. Oktober 2013

Martin Miller: Das wahre "Drama des begabten Kindes". Eine kritische Besprechung

Ich habe jetzt das Buch „Das wahre `Drama des begabten Kindes`. Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken“ von ihrem Sohn Martin Miller veröffentlich 2013 im Kreuz Verlag gelesen. Der Hauptgrund für mich, das Buch zu lesen, war letztlich der Untertitel und einige Interviews, die Martin Miller gab. Der Untertitel macht bereits die Sicht des Sohnes deutlich (was er auch in Interviews wiederholte). Er sieht Alice Miller und deren destruktiven Umgang mit ihm vor allem vor dem Hintergrund ihrer Traumatisierungen im Krieg. Diese Konzentration auf diesen Punkt sehe ich hingegen kritisch. Aber dazu im Textverlauf mehr. Ein weiterer Grund für mich, das Buch durchzusehen, war, dass die Gefahr besteht, dass das Buch dahingehend missbraucht wird, Alice Millers Bücher und ihre Thesen grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Nach dem Motto: Einer die derart bösartig mit ihren Kindern umging, kann mensch doch eh nichts glauben, schon gar nicht, wenn sie über Kindheit und Kinderschutz schreibt.

Martin Miller bringt mit einem Satz sein ganzes Anliegen auf den Punkt: „Es war nicht schön, der Sohn von Alice Miller zu sein. Im Gegenteil. Und trotzdem war meine Mutter eine große Kindheitsforscherin.“ (S. 25) Ihm geht es vor allem um seine ganz persönliche Geschichte, darum, die Schweigemauer darum abzubrechen und endlich öffentlich zu machen, wie schlimm es ihn als Kind mit dieser hoch verehrten Frau erging. Dazu hat er das volle Recht. Gleichzeitig betont er, dass das Werk seiner Mutter von enormer Bedeutung ist (auch für seine eigene Arbeit als Psychotherapeut). Wer Millers Werk auf Grund dieses Buches nun grundsätzlich ablehnt, der hat weder den Wahrheitsgehalt ihrer Thesen noch das Anliegen ihres Sohnes verstanden.

Ich möchte nur kurz skizzieren, was Martin Miller als Kind erlitten hat, da es mir vordergründig darum geht, den Untertitel des Buches zu kritisieren. Um es zusammenzufassen: Martin Millers Kindheit war ein Albtraum. Sein Vater war ihm gegenüber verachtend, cholerisch, autoritär und misshandelte ihn körperlich. Zudem fühlt sich Martin durch seinen Vater in sehr verschleierter Weise auch sexuell missbraucht.  Alice Miller schützte ihren Sohn nicht vor den Quälereien durch den Vater. Zwischen den Eltern herrschte zudem fast immer Streit bzw. geradezu ein Ehekrieg. Alice scheint als Mutter oft abwesend, sehr beschäftigt, vernachlässigend und herzlos gewesen zu sein. Am ersten Schultag ihres Sohnes kam sie nicht auf die Idee, ihn zu begleiten, was er ihr später vorwarf. Die Eltern sprachen miteinander nur polnisch, was Martin nicht verstand, er  hatte nur (Schweizer-)Deutsch gelernt, was seine Isolation noch verstärkte.
Seine Mutter gab Martin sofort nach der Geburt zu einer Bekannten zur Pflege. Nach zwei Wochen holte seine Tante ihn zu sich, da Martin sich in einem sehr schlechten Zustand befand;  rückblickend sagte eine Verwandte: „Wenn wir dich nicht geholt hätten, wärest du gestorben.“ (S. 117) Dort blieb er ca. ein halbes Jahr, seine Eltern blieben Fremde für ihn. Mit ca. 6 Jahren wurde Martin für zwei Jahre in ein Kinderheim gegeben, nachdem seine Schwester mit einem Downsyndrom geboren worden war und die Familie daraufhin förmlich explodierte, wie Martin schreibt. (S. 72). Auch als Martin erwachsen war, verfolgte ihn seine Mutter weiter. „Sie gab mir tatsächlich das Gefühl, ein Monster zu sein, das sie vernichten wollte.“ (S. 24) Alice Miller hatte ihren erwachsenen Sohn später zudem in eine Therapie gedrängt. Sie bekam Tonbandaufnahmen der Therapiestunden geschickt und versuchte auf deren Grundlage wiederum ihren Sohn zu manipulieren. Ein ungeheuerlicher Verrat. Nachdem der Konflikt mit seiner Mutter weiter eskalierte, stand Martin schließlich kurz vor dem Suizid.

Alice Miller war als Mutter eine Katastrophe und hat total versagt, was sie in späteren Briefen an ihren Sohn auch zugestand. Der Sohn betrachtet all die Familienprobleme vor allem vor dem Hintergrund des Holocaust (Alice Miller war Jüdin und wurde in Polen verfolgt. Ihr Vater starb im Getto) und ihrer Traumatisierung im Krieg. Daher auch der Untertitel des Buches. Ich sehe dies kritisch. Mehr noch, ich fühle mich geradezu verpflichtet, etwas dazu zu schreiben, weil Martin Miller als Sohn von Alice Miller durch diese Tendenz in seinem Buch etwas ausblendet, worüber seine Mutter ihr Leben lang geforscht und geschrieben hat: Die ungemein destruktiven Folgen von elterlicher Destruktivität.

Das Buch beginnt mit einem Brief von Alice Miller an ihren Sohn im Jahr 1987. Sie schrieb:
Warum brauchte ich 30 Jahre, um die Augen zu öffnen? Warum brauchte ich 60 Jahre, um zu sehen, wie grausam, zerstörerisch, ausbeuterisch, durch und durch verlogen und lieblos meine Mutter war? Dass sie systematisch die Liebe und das Leben in mir zerstörte und später das Gleiche mit meiner Schwester und meinem Neffen tat? Weil die Verdrängung der Schmerzen aus der Kindheit so unheimlich stark + weil ich, um sie aufrechtzuerhalten, lernen musste, nichts zu merken, nicht zu fühlen + den verlogenen Versicherungen, sie würden mich `lieben`, zu glauben. (…) Meine Mutter war ein grausamer Mensch, sie hat das Leben ihrer beiden Kinder ohne eine Spur des schlechten Gewissens zerstört und hielt sich für liebend und sorgend. “ (S. 10, 11) Nur wenige Seiten weiter schreibt ihr Sohn Martin: „Heute bin ich davon überzeugt, dass die Unfähigkeit Alice Millers, für mich eine liebende Mutter zu sein, in dem fest abgekapselten Trauma der Verfolgungsjahre von 1939 bis 1945 begründet liegt.“ (S. 22) Ab Seite 31 geht er dann auf ihre Familie und Kindheit etwas vertiefend ein und bleibt dabei zunächst auf der Ebene, die seine Mutter ihn immer vermittelte. Die streng religiöse jüdische Erziehung, die von Alice Miller als autoritär und stumpf erlebt wurden, beschreibt auch der Sohn. Und er schreibt, wie bei ihm Wut und Verbitterung ankam, wenn seine Mutter darüber berichtete. (vgl. S. 32) Erst ab Seite 42 kommt Martin etwas mehr auf den Punkt, dass seine Mutter als Kind einsam war, ihre Eltern als schlimm empfand und Züchtigungen (was auch immer das genau an Gewalt bedeutet haben mag) der Mutter ausgeliefert war.  Gleich danach beginnt das Kapitel „Verleugnetes Trauma- die Überlebende“ (S. 47ff), in dem es um die Holocaust-Erfahrungen seiner Mutter geht. 
Und auch im restlichen Teil des Buches nimmt die schlimme Kindheit von Alice Miller kaum oder eigentlich gar keinen Platz mehr ein. Und das, obwohl er erneut einen Brief seiner Mutter abdruckt, der deutlicher nicht sein könnte und, in dem sie u.a. schreibt: 
Ich habe mich in viele Menschen einfühlen können, nur in meinen Sohn konnte ich es nicht . (…) Hätte ich mich in seine Lage einfühlen können, dann hätte ich mich so erkennen müssen, wie ich zu ihm war: ahnungslos, kalt, hart, kritisierend, korrigierend, erzieherisch (…). Ich musste sehen, dass ich mit meinem ersten Kind fast genauso war wie meine Mutter mit mir. Trotz meiner Ausbildung ist es mir nicht gelungen, diesem Schicksal zu entgehen.“ (S. 132) Martin kommentiert dies nicht, sondern eröffnet gleich auf der nächsten Seite 133 das Kapitel „Der Sohn als Verfolger – die Macht des Kriegstraumas“  (Auf der Buchrückseite hat der Verlag übrigens die Inhaltsangabe mit dem groß gedruckten Satz "Im Schatten des Krieges" kommentiert; eigentlich hätte es heißen müssen: Im Schatten der Eltern und des Krieges.) Das Buch endet schließlich nach weiteren diversen Ausführungen mit einem Nachwort des Traumatherapeuten Oliver Schubbe, der sich getreu der Aufmachung des Buches auf die Nachwirkungen kriegsbedingter Traumatisierungen auf die nächste Generation konzentriert und nur allgemein auf Kinderschutz und die entsprechenden Mahnungen von Alice Miller hinweist. 

Es ist zusammenfassend absolut erstaunlich und geradezu nachlässig, dass nun gerade der Sohn von Alice Miller die destruktive Kindheit seiner Mutter nicht nur nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern sie an die Seite schiebt, zugunsten ihrer Kriegstraumatisierungen. (Auf Seite 65  + 66 fragt sich Martin auch, warum sein Vater ihm Gewalt antat und fügt an, dass dieser wohl die Spannungen in der Beziehung zu seiner Mutter auf diese Art an ihm ausagierte. Er kommt gar nicht auf die Frage, ob sein Vater als Kind auch misshandelt worden ist, was mehr als wahrscheinlich ist.) Komplett fehlt auch ein verknüpfender Hinweis oder Gedanke. Die Frage, wie sich kindliche Traumatisierungen im Elternhaus UND Kriegstraumatisierungen miteinander zu einer gefährlichen Masse verknüpfen können, taucht gar nicht auf. Alice Miller erlebte den Holocaust ab ihrem 16. Lebensjahr. Ihre Psyche und ihr Gehirn waren in sofern schon sehr weit entwickelt. Der Holocaust traf allerdings auf einen Menschen, der als Kind ungeliebt war. Alice Miller muss das  Leben und die Welt als einen einzig dunklen und grausamen Ort erfahren haben. Kaum ein Forschender, der sich mit den Folgen von Kriegstraumatisierungen befasst, stellt die Frage, wie als Kind geliebte Menschen traumatische Erfahrungen wie Krieg verarbeiten. Ich persönlich vermute sehr stark, dass es deutliche Unterschiede bzgl. den Menschen gibt, die als Kind durch Eltern ungeliebt waren.  Wer als Kind elterliche Liebe, Geborgenheit und Glück und keine elterliche Gewalt erfahren hat, besitzt einen unschätzbaren Schatz und ein Gefühlsleben, an das sich auch nach z.B. Kriegserfahrungen wieder erinnert werden bzw. auf das  erneut aufgebaut werden kann. Hätte eine als Kind geliebte Alice Miller, die allerdings zum Holocaust-Opfer wurde, ihren Sohn genauso destruktiv behandelt? Meine Vermutung; Nein, das hätte sie nicht. Erst der Misch aus beiden traumatischen Erfahrungen tötete ihr Gefühlsleben in so weit ab, dass sie ihren Sohn derart psychisch misshandeln konnte und sein Leiden nicht sah, nicht nachfühlen konnte.

Abschließend möchte ich noch schreiben, dass Alice Miller und ihr Verhalten gegenüber ihren Kindern  ein weiteres Lehrstück dafür ist, wie aus Opfern TäterInnen werden können. Dass eine so bedeutsame Kindheitsforscherin ihre eigene Geschichte an ihren Kindern wiederaufführte, zeigt die ungeheure destruktive Kraft von Lieblosigkeitserfahrungen. Alice Miller und das Zeugnis ihres Sohnes haben in tragischer Weise die Thesen belegt (Entwicklung vom Opfer zum Täter), die Miller ihr Leben lang bearbeitet und veröffentlicht hat. Das Buch ihres Sohnes ist wiederum bzgl. dem starken Einfluß von Kindheitserfahrungen auf eine Weise blind geblieben.

Samstag, 12. Oktober 2013

Eine Kritik an Volker Ullrichs Biografie über Adolf Hitler

Der Publizist Volker Ullrich hat eine große Hitler Biografie (mit über 1000 Seiten) vorgelegt, die aktuell in vielen Medien besprochen wird: „Adolf Hitler: Die Jahre des Aufstiegs 1889 – 1939“ erschienen 2013 im Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

Hinweis vorweg: Da ich das Buch als E-Book durchgesehen habe und bei meiner Ausgabe keine Möglichkeit der Seitenanzeige vorliegt, zitiere ich nachfolgend leider ohne genaue Seitenangabe...

Wesentliches Ziel dieser Biografie ist erklärter Maßen, die Leere um Hitlers Leben/Privatleben und seine privaten Eigenschaften zu füllen. Ullrich beschreibt zunächst, wie viele Autoren die Person Hitler als eine Art leere Hülle beschreiben, als einen Menschen, der privat nicht greifbar zu sein scheint. „In diesem Buch soll nun versucht werden, dieses Bild zu korrigieren. Es bemüht sich um den Nachweis, dass die behauptete Leere von Hitlers Existenz jenseits seiner politischen Aktivitäten ein Trugschluss ist.“, schreibt er.
Ich folge bekanntlich den Gedanken von Arno Gruen (in seinem Buch "Der Fremde in uns"), der Hitler als eine „Nicht-Identität“ sieht, als einen Menschen, der in der Tat innerlich absolut leer ist und der als Kind keinen empathischen Kern herausbilden konnte. Insofern sind die grundsätzlichen Beobachtungen und Einschätzungen anderer Biografen im Kern (sie erkennen die menschliche Leere aber nicht die Ursachen dafür) absolut richtig: Jemand, der im Grunde keine ganze und eigene Identität besitzt, der wird auch nicht greifbar. Menschen ohne Identität sind zudem oftmals gute Rollenspieler (was Hitler in Perfektion betrieb), weil sie ihr innere leeres Blatt je nach Belieben und Situation „bemalen“ können. Ullrich sieht dies offensichtlich anders. Und es verwundert insofern auch nicht, dass er sehr bemüht ist, Hitlers Kindheit als durchaus normal und als nicht sonderlich traumatisch zu beschreiben. Er braucht einen möglichst normalen, nicht persönlichkeitsgestörten Hitler, um ihm ein privates, menschliches Leben einzuhauchen (etwas, dass Hitler in meinen Augen nie besessen hat)

Ullrich befasst sich entsprechend nur kurz (in Kapitel 1 „Der junge Hitler“) mit der gewaltvollen Familienatmosphäre bei den Hitlers. Das ist das eine. Aber mehr noch, er interpretiert die Gewalterfahrungen klein. „Im Kreis seiner Familie wirkte Alois Hitler als strenger, leicht aufbrausender Hausvater. Von seinen Kindern forderte er unbedingten Respekt und Gehorsam und Griff, wenn sie ihm nicht entgegengebracht wurden, gern zum Rohrstock.“, schreibt Ullrich zunächst.
 Vor allem der älteste Sohn hatte unter dem Jähzorn zu leiden, so der Autor weiter, „aber auch der sieben Jahre jüngere Adolf scheint gelegentlich geschlagen worden zu sein. Dass er `jeden Tag eine richtige Tracht Prügel` bekommen habe, wie seine Schwester Paula bei einem Verhör im Mai 1946 berichtete, dürfte indes eine Übertreibung sein.“ Warum er dies als „Übertreibung“ interpretiert, erklärt er gleich im nächsten Satz; nämlich, weil Hitlers Vater sich „im Grunde wenig um die Erziehung der Kinder“ kümmerte und sich nach seiner Arbeit lieber mit anderen Dingen außerhalb der Familie befasste. Aha. Ein oft abwesender Vater ist also gleich auch ein Vater, der seine Kinder nicht täglich misshandeln kann? Dieser Gedankengang scheint mir wenig logisch. Faktisch wohnte und schlief Hitler Vater zu Hause. Wenn er seine Kinder misshandeln wollte, dann reichten dafür auch täglich 15 Minuten. Zudem schreibt Bavendamm (2009, S. 100) dass sich Alois sen. (Hitlers Vater) 1895 pensionieren ließ und dadurch „die innerfamilären Spannungen eskalierten“, da er sich jetzt auch tagsüber zeitweise zu Hause aufhielt. Adolf war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt!

Grundsätzlich finde ich aber auch die Zweifel an der Aussage von Hitlers Schwester unangebracht.
Erstens: Warum sollte sie bei so etwas lügen? Ich sehe da kein Motiv. Außerdem sei angemerkt, dass sie in einem späteren Zeitungsartikel ihrer Mutter und deren Erziehung die Schuld an Adolf Hitlers Werdegang zuschob. „Wenn ich ehrlich sein soll, dann ist mein Bruder vor allem durch unsere Mutter verdorben worden.“ (Zdral 2005, S. 201) Paula machte die Schuld der Mutter darin aus, dass in ihrer Erziehung eine „festere Hand“ und „ein paar kräftige Ohrfeigen“ gegenüber Adolf gefehlt hätten.  (ebd., 201+202) Stattdessen habe die Mutter in Adolf immer nur den Stärksten und Größten von allen gesehen. Paula war also selbst stark mit dem Aggressor identifiziert (wie so Viele ihrer Zeit) und sah in Schlägen gegen Kinder eine Möglichkeit, diese von bösem Verhalten abzubringen. Dazu passt auch, was Paula vor dem o.g. Auszug über tägliche Prügel sagte: „Mein Bruder Adolf forderte meinen Vater zu extremer Strenge heraus und erhielt dafür jeden Tag eine richtige Tracht Prügel.“ (ebd., S. 39) Die Schuld für die Prügel liegen dieser Aussage nach also im Verhalten des Kindes Adolf, dass dazu „herausforderte“. Paula hatte offensichtlich kein Problem mit der Erziehung durch Schläge. Nochmal: Warum sollte sie bei so etwas also lügen? Warum sollte sie eine schwere Misshandlungsgeschichte als „Übertreibung“, wie Ulrich schreibt,  den Interviewern auftischen?
Zweitens: Es gibt hinreichend andere Belege für die väterliche Gewalt. (siehe z.B. online ausführlich hier, wobei es schon erstaunlich oder auch bezeichnend ist, dass dieser quellenbasierte und in sich logische Text in einem nur halb-seriösen Verlag wie Kopp erscheinen musste und nicht woanders.) Ullrich selbst fügt den o.g. Zweifeln die Fußnote 79 an. Er zitiert darin Kubizek – einen Freund Hitlers-, der  berichtete, Hitler hätte gesagt, dass Auseinandersetzungen mit seinem Vater „oftmals“ mit Prügeln endeten. Ullrich zitiert in der selben Fußnote auch die Aussage einer Hitler Sekretärin (die ich ebenfalls hier ausführlich zitiert habe), die Hitlers Erzählung von 32 väterlichen Schlägen in einer Misshandlungssituation wiedergab. Dann fügt Ullrich noch den Autor Bavendamm als "relativierende" Quelle an und verweist auf Seite 114f.

Schaut man sich diese relativierende Quelle genau an, kommt man vom einen Erstaunen zum nächsten. Der Historiker Bavendamm beginnt seine Schilderungen damit, dass er von „angeblich reichlichen und harten Körperstrafen“ spricht. (Bavendamm 2009, S. 114) Wohlgemerkt, er schreibt „angeblich“. Die Zweifel des Autors rühren her von sich widersprechenden Aussagen – wie er schreibt - von Adolfs Stiefgeschwistern, seiner Schwester Paula und dem späteren Vormund Adolfs Josef Mayrhofer. Letzterer hat geäußert, dass er nicht daran glaube, dass die Kinder durch Alois sen. geschlagen worden seien. Der Zeitzeuge bestätigt aber im selben Satz, dass oft geschimpft, gepoltert und mit Schlägen gedroht wurde. „Aber Sie wissen ja selber, bellende Hunde beißen nicht.“, fügte er dann noch an. (ebd.).  Die Vermutung dieses Zeugen, dass nicht geschlagen wurde, obwohl er selber Hinweise für sehr bedrohliche Situationen gab, wird von Bavendamm als Indiz für weniger handfeste Misshandlungen genommen. Das finde ich mehr als fragwürdig. Zudem, selbst in der damaligen Zeit war es unangebracht, Schläge – dabei auch gerade schwere Misshandlungen - in der Gegenwart von Gästen zu verabreichen. Diese erfolgten, wenn die Familie wieder unter sich war. Was Familienmitglieder berichteten fügt der Zweifler Bavendamm gleich im Anschluss an:
Adolfs Halbschwester Angela Hammitzsch berichtete 1945, ihr Vater habe seinen Sohn Adolf „zwei- bis dreimal pro Woche verhauen“. (ebd.) Paula berichtete, wie schon oben erwähnt, von täglichen  Prügel, auch dies wird hier vom Autor zitiert. William Patrick Hitler sprach davon, dass Adolf „oft von seinem Vater verprügelt“ wurde, allerdings nicht so oft und heftig, wie der Bruder Alois Hitler jr. (ebd.) Danach zitiert Bravendamm noch Hitlers Sekretärin, die von den schon oben erwähnten 32 Schlägen und davon berichtete, dass Hitler zufolge sein Vater ihn bei „jeder sich bietenden Gelegenheit“ geschlagen habe. (ebd.) Abschließend schreibt der Autor. „Angesichts all dieser Aussagen fällt es schwer, Dauer und Gewicht der körperlichen Misshandlungen, die Adolf durch seinen Vater erlitten hat, richtig einzuschätzen und zuverlässige Aussagen darüber zu machen, welche psychischen Folgen diese Züchtigungen für den Bub möglicherweise gehabt haben.“ (ebd., S. 115)
Ich weiß nicht wie es anderen LeserInnen geht, aber mir kommen diese Schilderungen so vor, als ab ein Sehender sich blind stellt. Aus Aussagen wie „zwei- bis dreimal pro Woche“, „täglich“, „oft“ und „bei jeder Gelegenheit“ bis hin zu 32 Schlägen und einmal „ich glaube nicht“ von einem Nicht-Familienmitglied wird sich „widersprechende Aussagen“, die Grund zu Zweifeln lassen. Das verstehe wer will, ich verstehe es nicht. Alle o.g. Quellen bzw. Zeugenaussagen von Familienmitgliedern belegen den Tatbestand der nicht seltenen sondern häufigen Misshandlung. Ob dies nun täglich oder wöchentlich war, oder manchmal  einige Wochen täglich und einige nur einige Tage pro Woche, spielt dabei keine all zu wesentliche Rolle. Häufige Misshandlungen haben immer schwere Schäden für das Kind zur Folge. Bavendamm schreibt zwei Seiten weiter auch: „Ein oder zweimal kam es wohl auch zu echten Gewaltexzessen.“ (ebd., S. 116) und „Als Adolf von seinem Vater dabei erwischt wurde, wie er sich für seinen Fluchtversuch zusammen mit zwei Freunden ein Floß baute, wurde er so schlimm zusammengeschlagen, dass man wohl befürchten musste, er sei getötet worden.“ (ebd., S. 117) Letztere Aussage stammte wiederum von William Patrick Hitler, der an anderer und oben zitierter Stelle sagte, Adolf sei nicht so hart geschlagen worden, wie Alois jun. Immerhin relativiert sich Havenmann an einer Stelle selbst. "Narzisstische Kränkungen (...) und hin und wieder auch eine heftige Tracht Prügel musste Adolf gewiss einstecken, das raue Klima, das Alois zu Hause um sich verbreitete, soll nicht grundsätzlich in Abrede gestellt werden." (ebd., S. 117) Ja was denn nun? Also war Adolf  doch ein schwer misshandeltes Kind, wenn auch nur durch eine Quelle belegt täglich geprügelt? Streiten wir jetzt um tägliche oder wöchentliche Prügel?

Um hier abzuschließen und wieder auf den eigentlichen zu kritisiernden Autor Volker Ullrich zurückzukommen: Eine so merkwürdige Fußnote wie die Nr. 79 ist mir noch nie untergekommen. Sie unterstützt zunächst die These, dass Hitler ein schwer misshandeltes Kind ist, obwohl sie Zweifeln bzgl. der Schwere und Häufigkeit der Misshandlungen im Text angefügt ist. Diese Fußnote hätte Sinn gemacht, wenn nur der Autor Bavendamm genannt worden wäre, da dieser die Zweifel teilt. Eine genaue Durchsicht der Argumente Bavendamms wiederum bringt mich zu den gleichen Fragezeichen, die sich schon bei Ullrich auftaten. Insofern muss ich mich gleich wieder verbessern: Auch der Hinweis auf den Autor Bavendamm macht kaum Sinn, um Zweifel an der Misshandlungsgeschichte Hitlers zu stützen.  

Nach Volker Ullrichs Besprechung der Vater-Sohn-Beziehung folgt in seinem Buch dann die Darstellung, dass Hitlers Mutter liebevoll war und sie ihm einen Ausgleich zu der Strenge des Vaters bot. Ich verweise dabei erneut auf Arno Gruen ("Der Fremde in uns"), der diese Mutter-Kind-Beziehung als deutlich gestört analysiert hat. Schließlich wird Ullrich nochmal überdeutlich in seiner Ablehnung von zu viel Kindheitseinflüssen auf die Entwicklung von Menschen wie Hitler. Er schreibt:
Die ersten Lebensjahre  gelten nach den Annahmen der Psychoanalyse als entscheidend für die Entwicklung der Persönlichkeit. Nur wenige Historiker, Psychohistoriker zumal, haben daher der Versuchung widerstanden, im jungen Hitler bereits Züge des späteren Monsters entdecken zu wollen. So hat man etwa die Gewalterfahrung, der das Kind durch den Vater ausgesetzt gewesen sei (Persönliche Anmerkung: Er schreibt hier nicht „ist“, zweifelt also erneut), als eine der Ursachen für die mörderische Politik des Diktators interpretiert. „ (Persönliche Anmerkung: Diesem Satz schließt er die Fußnote 85 an und verweist u.a. auf Alice Millers „Am Anfang war Erziehung“ und Christa Mulacks „Klara Hitler“. ) Doch sollten sich Biographen hüten, zu weitreichende Schlüsse aus frühen Kindheitserlebnissen zu ziehen. Körperliche Züchtigung war damals als Erziehungsmittel durchaus noch an der Tagesordnung. Ein autoritär-repressiver Vater und eine liebevoll-ausgleichende Mutter – diese Konstellation war in Mittelstandsfamilien um die Jahrhundertwende keineswegs ungewöhnlich. Nach allem, was wir wissen, scheint Hitler eine ziemlich normale Kindheit verbracht zu haben. Jedenfalls gibt es keine gesicherten Hinweise auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung, aus der sich die späteren Verbrechen ableiten ließen. Wenn es ein Problem gab, dann war es wohl nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an mütterlicher Zuwendung und Nachsicht. (…)“
Diesen Abschnitt muss man erst einmal sacken lassen. Irgendwie scheint Ullrich ja doch deutlich anzuerkennen, dass Adolf Hitler einen autoritären, gewaltvollen Vater hatte, die besondere Schwere der Gewalt zweifelt er allerdings wie oben beschrieben an. Und da Gewalt gegen Kinder und eine autoritäre Erziehung damals „normal“ waren, war also auch Hitler „normal“, ein ganz „normal“ misshandeltes Kind eben. Ja, so war das damals.
Ullrich hat Millers „Am Anfang war Erziehung“ gelesen. Insofern trifft doch die Feststellung über die Normalität der Gewalt gegen Kinder um 1900 genau eben die Thesen von Alice Miller.  Denn Hitler konnte nur Erfolg haben, weil auch die Massen keine liebevolle, sondern eher eine gewaltvolle und lieblose Kindheit erlitten hatten. Ullrich scheint dies hier auszublenden. Weil fast alle Menschen damals Gewalt erlebten, waren alle normal, sprich der Norm entsprechend. Also sprechen wir bitteschön nicht weiter über die Kindheitseinflüsse auf politisches Verhalten. Und außerdem waren da ja noch die ganz „normalen“ Mütter um 1900, die „liebevoll-ausgleichend“ agierten. Dem entgegen stehen psychohistorische Forschungen von deMause (2005, S.212-255), die belegen, dass Frauen die gesamte Geschichte hindurch brutal und grausam zu Kindern waren. In diesem Blog habe ich etliche Zahlen zusammengestellt, die deutlich zeigen, dass Mütter in vielen Ländern sogar häufiger Gewalt gegen Kinder anwenden, als Väter. Und dies ist nicht ein moderner Trend, sondern letztlich ein deutlicher Ausläufer der Geschichte, denn Kinder waren historisch diejenigen, über die Frauen routinemäßig viel Macht hatten.

Abschließend möchte ich meinen Eindruck wiederholen, dass Ullrich (genau wie der Historiker Bravendamm) sich obwohl er sehen kann, blind stellt. Ich habe bisher viele Bücher von Historikern gelesen, die sich mit Diktatoren und ähnlichen Akteuren befassen und die entweder Berichte über eine gewaltvolle Kindheit ganz auslassen oder sie kurz erwähnen ohne diesen besondere Bedeutung zukommen zu lassen oder die Gewalt erwähnen, aber sie im Sinne der Zeit als wohlgemeinte Erziehung umdeuten. Ich habe noch nie Bücher wie die vonn Ullrich und Bravendamm in den Händen gehabt, in denen die Autoren verhältnismäßig ausführlich auf kindliche Gewalterfahrungen eingehen und diese dann mit Zweifeln und Geringwertung überschütten. Beides sind zudem aktuelle Bücher. Beide Autoren hätten heute die Möglichkeiten gehabt, sich mit den gut erforschten Folgen der Kindesmisshandlung auseinanderzusetzen. Das solche Biografien auch heute noch in dieser Art Kindheitseinflüsse gering reden, ist niederschmetternd. Zu hoffen ist, dass die jüngere Historikergeneration dies zuzkünftig anders händelt (Bavendamm ist Jahrgang 1938 und Ullrich 1943).



Ergänzend verwendete Quelle: 

Bavendamm, Dirk (2009): Der junge Hitler. Korrekturen einer Biographie 1889-1914. Ares Verlag, Graz.

Restlichen siehe Links und Hinweise im Text

Dienstag, 17. September 2013

Alice Miller - eine destruktive Mutter

Martin Miller – der Sohn von Alice Miller – hat kürzlich das Buch „Das wahre ,Drama des begabten Kindes’, Untertitel: "Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken.“ veröffentlicht. Die ZEIT berichtet ausführlich darüber.

Es entsteht das Bild, dass Alice Miller selbst eine sehr destruktive Mutter war, die ihren Sohn u.a. mehrfach abschob. Dies ändert nichts an dem Wahrheitsgehalt ihrer Bücher (was ihr Sohn auch betont).

Für mich ist dies nicht verwunderlich. Ich wäre selbst auch ungern z.B. das Kind von Sigmund Freud gewesen, den ich persönlich als sehr psychisch krank empfinde. Ich selbst habe in meinem Leben einige psychiatrische Mitarbeiter und Therapeuten kennengelernt (privat oder auch während meiner Zivi-Zeit) und mein Eindruck ist: Es ist nur logisch, dass sich in diesem Bereich vermehrt Menschen tummeln, die ihren Weg auf Grund eigener destruktiver Kindheitserfahrungen eingeschlagen haben und die beruflich vielleicht gut sein können (oder manches mal auch eher nicht), aber privat sehr beschädigt sind, sofern dies nicht ausreichend aufgearbeitet wurde.

Im ZEIT Artikel wurde am Schluss eindrücklich formuliert:
Die Vermutung drängt sich auf, dass gerade die motiviertesten Anwälte der Kinder aus ihrer eigenen Kindheit extreme Traumata mit sich herumtragen – Erfahrungen, die sie zu ihrer Arbeit besonders befähigen, die sie aber zugleich als Übergepäck "abladen", vor allem bei denen, die sie am meisten mit dem Eigenen identifizieren: den eigenen Kindern, Schülern, Schützlingen.“ Dem ist nichts weiter hinzuzufügen.

Ergänzend:  http://kriegsursachen.blogspot.de/2010/06/alice-millers-sohn-martin-uber-eine.html

Donnerstag, 29. August 2013

Deutscher Bundestag nimmt meinen Text in seine Bibliothek auf

Wie ich gerade durch Zufall beim googeln entdeckt habe, hat der Deutsche Bundestag mein Arbeitspapier "Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an" im Juli diesen Jahres in seine Bibliothek (Neuerwerb, unter "Gesellschaft - Bevölkerung" Seite 26) aufgenommen. Das freut mich natürlich sehr! Ob der Text denn auch teilweise gelesen wird, steht auf einem anderen Blatt; aber zumindest besteht eine Wahrscheinlichkeit dafür (oder die Abgeordneten geben u.a. einfach mal das Wort "kriegsursachen" bei googel ein und sehen sich den ersten Treffer an).

Dienstag, 27. August 2013

Geplanter Angriff auf Syrien scheint wenig rational.

Merkwürdiges geht derzeit vor. Seit Wochen werden die USA medial an die Wand gedrückt, da ihre Spähprogramme öffentlich wurden. Am 21.08. gab es einen Giftgasangriff in Syrien, für den Assad verantwortlich gemacht wird (und es kursieren Bilder von getöteten Kindern) . Zwei Tage später veröffentlicht die UN Zahlen bzgl. syrischer Kinder, die auf der Flucht sind und zwar ganze 3 Millionen. Am 26.08. wurde nun bekannt, dass Obama einen Militärschlag gegen Syrien erwägt. Mittlerweile berichten Medien, dass nur kurze Militärschläge im Rahmen von ca. zwei Tagen geplant sind.

Erstaunlich finde ich, dass das Zögern Obamas bzgl. Syrien als Schwäche ausgelegt wird.
Seit Wochen wird Barack Obama in Washington verhöhnt. Während die einen Obama als "lahme Ente" bezeichnen, verunglimpfen ihn die anderen als neuen "Oblomow", als einen Berufszauderer, der "rote Linien" zieht, um sie – wenn sie überschritten sind – wegzuradieren und einige Hundert Meter weiter erneut einzuzeichnen.“ schreibt Jacques Schuster aktuell für die Welt in einem Artikel, auf den ich gleich noch zurückkommen werde. Im Internet findet man unzählige Kommentare die Obama als „Wimp“ (Weichei/Warmduscher) bezeichnen, weil er Assad keine militärische Lektion erteilt. Zudem finden sich unzählige Karikaturen, die sich mit Obamas „roter Linie“ befassen. (Z.B. hier, hier oder hier)

Die aktuellen militärischen Überlegungen erfüllen im Grunde hauptsächlich emotionale Zwecke: Es geht um die Abwendung von Gesichtsverlust; der Angst davor, als schwach dazustehen, weil man nicht militärisch reagiert und um das Bedürfnis, Assad zu bestrafen. Real werden Angriffe auf irgendwelche militärischen Ziele in Syrien (und wer entscheidet überhaupt, dass dort "die Richtigen" getroffen werden?) keine positiven Wendungen bewirken, schon gar nicht für die Zivilbevölkerung.

In dem o.g. Welt Artikel stellt der Autor als erste von vielen Fragen folgende auf:
Aus welchem Grund sollte Syriens Präsident Baschar al-Assad gerade in diesen Tagen Chemiewaffen einsetzen? Die meisten Sicherheitsexperten gehen seit Wochen davon aus, dass der Diktator von Damaskus im Begriff ist, den Bürgerkrieg zu gewinnen.“ Assad selbst kommentierte die Vermutung, er hätte chemische Waffen eingesetzt, damit, dass solche Äußerungen "eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes" und "Unsinn" seien. (welt, 26.08.2013 )
Neues Deutschland“ (die ich bisher noch nie zitiert habe) berichtete bereits am 23.08., dass nach russischen Erkenntnissen eine Giftgasrakete von syrischen Rebellen abgefeuert worden sei (selbige wären im Falle eines US-Angriffes als Strafaktion auch die Nutznießer einer solchen Aktion). Fakt scheint: Wir wissen bis heute nicht eindeutig, wer für den Giftgasanschlag verantwortlich ist.

Ich glaube, dass die Rationalität von Politik überschätzt wird. Derzeitige Militärplanungen seitens der USA. Frankreichs und Englands ( übrigens alles Ländern, in denen es kein elterliches Gewaltverbotgesetz gibt und wo hohe Gewaltraten gegen Kinder festzustellen sind.) können auch als „aus dem Bauch heraus“ gedeutet werden. Böses Verhalten gehört abgestraft, so lernten es viele bereits als Kind. In Konfliktsituationen wird auf diese einfache und wenig rationale Sicht auf die Dinge zurückgegriffen, auch in der Politik. Mir scheint, dass diese emotionalen Prozesse derzeit - vor allem in den USA - die politischen Diskussionen lenken. Deutschland erweist sich dagegen seitens der Politik als realistisch und sachlich. Man hat hierzulande erkannt, dass eine solche Militärakton in Syrien keinen Sinn macht (obwohl es auch hierzulande so einige Medienbeiträge gibt, die dies der deutschen Politik als Schwäche auslegen.)

Donnerstag, 22. August 2013

Ägypten. Weitere Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder

Ägypten läßt mich derzeit nicht los. Ich habe weitere Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder gefunden und zwar hier: National Council for Childhood and Motherhood & UNICEF Egypt Country Office & Social Research Center, American University in Cairo (2006): Towards Policies for Child Protection. A Field Study to Assess Child Abuse in Deprived Communities in Cairo and Alexandria.

Die Studie wurde mit Kindern und deren Eltern, Lehrern, Sozialarbeitern etc.  in Kairo und Alexandria durchgeführt und ist explizit nicht repräsentativ für das ganze Land. Kinder in 1.200 Haushalten wurden erfasst, ebenso 1.200 Schulkinder.Die Studie ist also nicht gerade klein und hat sicherlich eine deutliche Aussagekraft bzgl. den Kindheiten in ägyptischen Großstädten (wobei allgemein viele Studien zeigen, dass im ländlichen Raum i.d.R. höhere Werte an Kindesmisshandlung zu finden sind, wodurch diese Studie wiederum auch nahelegt, dass es im ägyptischen ländlichen Raum zumindest ähnlich aussehen wird, wie hier unten im Text gezeigt).

Ergebnisse: Ca. 81 % der Kinder wurden zu Hause und 91 % in der Schule geschlagen. 27 % der Kinder, die arbeiten mussten, berichteten auch dort geschlagen worden zu sein. 90 % der Kinder erlebten emotionale Bestrafungen/Gewalt zu Hause und 70 % in der Schule, ebenso 50 % der arbeitenden Kinder an ihrem Arbeitsplatz. 40 % der Schulkinder zeigten Anzeichen für eine Entfremdung von ihren Familien. (S. 5-6)

Details:
51 % der Pflegepersonen (Haushaltsbefragung) berichteten, dass die Kinder in der Woche vor der Befragung geschlagen worden sind, 76 % berichteten von Schlägen innerhalb eines Monats vor der Befragung und 81 % von Schlägen innerhalb eines Jahres. (Dies bestätigt die Ergebnisse aus einer Befragung von ägyptischen Müttern, wo ebenfalls fast die Hälfte der Kinder mind. wöchentlich geschlagen wurden.) 16,5 % der Kinder wurden innerhalb eines Monats vor der Befragung mit zwei verschiedene Arten körperlicher Gewalt bestraft, 12 % mit drei und 19 % mit mindestens vier Arten.
Schaut man gesondert auf die Altersstufe der 5-8Jährigen, dann werden ganze 94,7 % in irgendeiner Form körperlich bestraft/geschlagen (also deutlich mehr als der Durchschnittswert von 81 %).
51 % dieser Altersgruppe wird mit einem harten Gegenstand wie Gürtel oder Stock geschlagen. 46,5 % wird ins Gesicht geschlagen, 21,3 % werden niedergeschlagen. 7,2 % mit einem Messer verletzt, 5,9 % verbrannt u.a. (S. 24-27)

Die Schulkinder berichteten über etwas weniger Gewalt in ihren Familien (was zeigt, dass kleinere Kinder mehr Gewalt erleben). 90,1 % der Jungen und 73,6 % der Mädchen berichteten über irgendeine Form körperlicher Elterngewalt. Und 82,4 % der Jungen und 81 % der Mädchen aus weiterführenden Schulen berichteten über  irgendeine Form von körperlicher Elterngewalt.

Entsprechend der real ausgeführten Gewalt wurden sehr vielen Kindern auch Gewalt angedroht (z.B. 93,4 % der 5-8Jährigen) Aber auch andere Formen der emotionalen Gewalt wie Verfluchen/Fluchen (78,5 % der o.g. Altersgruppe), Anschreien (93,1 % der o.g. Altersgruppe) oder Beleidigen/kränkende Worte benutzen (72,4 % der o.g. Altersgruppe) sind laut den Haushaltsbefragungen weit verbreitet. (S. 29)

Mütter sind die Hauptstrafenden  (nämlich zu 76 % bei den Mädchen und zu 68 % bei den Jungen). Erst bei den über 13 Jahre alten Kindern tauchen Väter als Strafende etwas gewichtiger auf (34 %).

 Ergänzend: Ägypten. Die Ursachen der gescheiterten Revolution liegen im Verborgenen


Samstag, 17. August 2013

Ägypten. "Wir sind alle wie gehirngewaschen"

"Wir sind alle wie gehirngewaschen, ich erkenne mein Land nicht wieder", sagte laut ZEIT eine junge ägyptische Frau zu den aktuellen Ereignissen, "eine seltene Stimme dieser Tage, die ihren Namen dann auch nicht nennen will." schreibt die ZEIT weiter.

Deutlicher kann frau die Dinge nicht auf den Punkt bringen. Ägypten hat derzeit vor allem ein psychisches Problem...

Ergänzend: Ägypten. Die Ursachen der gescheiterten Revolution liegen im Verborgenen

Freitag, 16. August 2013

Diagramme der menschlichen Destruktivität

Die amerikanische Kaiser Permanente Krankenversicherung hat zwischen 1995 und 1997 eine einzigartige Studie mit Daten von 17.421 Versicherten bzgl. dem Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, kurz ACEs) und dem Gesundheitszustand durchgeführt. Die Ergebnisse wurden z.T. online hier  und hier  vorgestellt.

 Unter belastenden Kindheitserfahrungen (ACEs) wurde verstanden:
Emotionale Misshandlung, Körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, emotionale Vernachlässigung, körperliche Vernachlässigung, Zeuge von Gewalt gegen die Mutter, Alkohol und Drogenmissbrauch in der Familie, Aufwachsen in einer Familie mit einem psychisch kranken oder chronisch depressiven oder suizidgefährdeten Familienmitglied, Verlust eines Elternteils durch Trennung oder Scheidung, Aufwachsen in einer Familie, in der eine Person im Gefängnis sitzt.

Je mehr belastende Kindheitserfahrungen erlebt wurden, desto deutlicher wurden die Zusammenhänge zu diversen Gesundheitsproblemen wie Alkoholismus, Drogenkonsum, Depressionen, Herzkrankheiten, Rauchen, Übergewicht, Selbstmordversuchen, Lungenerkrankungen (COPD), Fehlgeburten/ Tod des Fötus usw. aber auch bzgl. dem Erleben von Partnergewalt oder Promiskuität.

Unten habe ich drei Diagramme aus dem Text The Relationship of Adverse Childhood Experiences to Adult Health:  Turning gold into lead von Vincent J. Felitti aus dem Jahr 2002 entnommen, die bildlich sehr gut darstellen, wie mit jeder weiteren Belastungsart (ACE) die Wahrscheinlichkeiten für diverse (sowohl individuell als auch gesellschaftlich bedeutsame) Probleme (in diesem Beitrag ausgewählt: Selbstmordversuche, Drogenkonsum und Rauchen) ansteigen.

 




Diese wirklich eindrucksvollen Diagramme möchte ich um ein weiteres ergänzen, dass ich der Studie “BAIER, D., PFEIFFER, C., SIMONSON, J. & RABOLD, S. (2009): Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt .Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN (KFN-Forschungsbericht; Nr.: 107). Hannover: KFN." auf Seite 80 entnommen habe. Für die Studie wurden 44.610 SchülerInnen in Deutschland befragt. Da die Grafik hier nicht ganz deutlich zu lesen ist siehe einige Anmerkungen unter dem Bild oder Originalquelle! Die Balken ganz links mit den niedrigsten Täterwerten  treffen auf die Gruppe zu, die keine körperliche Elterngewalt erlebt hat. Die weiteren Balken zeigen eindrucksvoll auf, dass mit jedem Anstieg bzgl. Häufigkeit und Schwere der Gewalt auch die Täterwerte ansteigen. Die höchsten Täterwerte finden sich somit ganz rechts bei der Gruppe derer, die schwere oder häufig leichte Gewalt in Kindheit UND Jugend erlebt haben. 


KFN-Diagramm: Gewalttäterraten nach erlebter körperlichen Elterngewalt in Kindheit und Jugend
Erläuterungen da Grafik undeutlich:
Leicht graue Balken zeigen an, ob innerhalb von 12 Monaten ein Gewaltdelikt begangen wurde
Die dunkelgrauen Balken
zeigen die Mehrfachtäterschaft (mind. 5 Taten) an.
Balkengruppierung von links nach rechts: "keine Gewalt in der Kindheit"; "selten leichte Gewalt nur in Kindheit"; "selten leichte Gewalt in Kindheit und Jugend"; "schwere oder häufig leichte Gewalt nur in Kindheit"; "schwere oder häufig leichte Gewalt in Kindheit und Jugend"




Ich fasse zusammen:

Beide Studien und die ausgewählten Diagramme machen deutlich, dass destruktive Kindheitserfahrungen große destruktive Auswirkungen auf  Menschen haben können. Die ACE Studie hat besonders herausgestellt, dass eine Kombination verschiedener Belastungserfahrungen auch die schwersten Folgen hat. Die größten Gesundheitsprobleme hatten diejenigen, die von fast allen Belastungsfaktoren betroffen waren. Die KFN Studie und das gezeigte Diagramm machen deutlich, dass auch innerhalb eines Belastungsfaktors (in diesem Fall körperliche Elterngewalt) die verschiedenen Abstufungen Folgen haben. Je schwerer und je häufiger Elterngewalt erlebt wurde, desto höher war die Wahrscheinlichkeit für eine eigene Täterschaft.  Letztlich bin ich sicher, dass eine große Studie, die alle ACE Werte erfassen und in Zusammenhang mit eigenem Gewaltverhalten bringen würde, ein ähnliches Diagramm hervorbringen würde, wie oben gesehen. Zusätzlich könnte man dann noch innerhalb der einzelnen Belastungsfaktoren Abstufungen vornehmen (so wie beim KFN) und entsprechend ins Verhältnis zum eigenen Gewaltverhalten setzen. Kleinere Studien wie die von Pincus und Gilligan haben bereits gezeigt, dass grausame Mörder die denkbar schlimmsten Kindheiten hatten, die man sich vorstellen kann. Sie haben – um hier im Kontext dieses Beitrages zu bleiben – ACE Werte von wohl mindesten 5 und auch innerhalb der Belastungsfaktoren wie z.B. bei der körperlichen und emotionalen Misshandlung die denkbar schwersten Formen erlebt.
Im historischen Rückblick lassen sich schließlich und gedanklich ähnliche Diagramme zeichnen, wenn man sich Arbeiten von Lloyd deMause (zur Evolution der Kindheit u.a. hier und zum Rückgang menschlicher Gewalt hier ganz unten im Text) und auch von Steven Pinker anschaut. Beide stellen historisch einen stetigen Rückgang der Gewalt gegen Kinder (mit besonders rasanten Entwicklungen im 20. Jahrhundert) fest. Parallel dazu nahm menschliche Gewalt ab.

Montag, 5. August 2013

Aktualisierung des Beitrages "Kindheit in den USA"

Ich habe kürzlich den Beitrag „Kindheit in den USA“ etwas ergänzt.  Und zwar um Daten aus der sogenannten ACE-Studie, Zahlen aus Befragungen - surveyusa - zur Akzeptanz von Gewalt gegen Kinder und um Zahlen aus der Studie „International Variations in Harsh Child Discipline“.

Besonders erwähnen möchte ich die Zahlen zur Akzeptanz der Gewalt (siehe Quelle hier):
Im Jahr 2005 wurden in allen 50 US-Bundesstaaten jeweils 600 Erwachsene befragt (surveyusa, Disciplining a Child). Im Schnitt sagten 72 % aller Befragten, dass es in Ordnung sei, ein Kind zu schlagen (um es zu disziplinieren). (In Alabama gab es dabei die höchste Zustimmung mit 87 %, die niedrigste mit 55 % in Vermont)
31 % meinten, dass es in Ordnung sei, den Mund eines Kindes mit Seife "auszuwaschen". (Etwas, dass in den USA als Bestrafungsform für z.B. das Benutzen von Schimpfwörtern benutzt wird. Auf Wikipedia gibt es sogar einen eigenen Artikel dazu.) Und 23 % meinten, dass es in Ordnung für einen Lehrer sei, Schüler körperlich zu bestrafen. Schaut man sich die Ergebnisse für alle Bundesstaten einzelnd an, stellt man ein starkes Gefälle fest. Die Gewaltbereitschaft gegen Kinder ist offensichtlich am höchsten in den südlichen Staaten. (dies zeigt auch eine Grafik auf Wikipedia; die rot gekennzeichneten Staaten sind die, in denen neben dem elterlichen Züchtigungsrecht auch noch Gewalt gegen Schüler erlaubt ist.) Interessant an den Ergebnissen der Umfrage ist u.a. auch, dass auch noch mal kenntlich gemacht wurde, in welchen Staaten 2004 für Bush oder für Kerry gestimmt wurden. Auf Grund der vorliegenden Zahlen könnte man auch formulieren, dass in den Staaten, in denen für Bush und damit seine kriegerische Politik gestimmt wurde, auch die höchste Akzeptanz von Gewalt gegen Kinder zu finden ist. Ich denke, dass diese oberflächlichen Daten ein Wink dahingehend sind, dass Erziehungsverhalten sich auch in politischen Neigungen wiederfindet.

Um so manche destruktive Entwicklungen in den USA von Grund auf verstehen zu können, muss mensch um die Kindheiten vor Ort wissen. Die irrationale Angst, die Amerika lähmt und u.a. dazu gebracht hat, die ganze Welt auszuspähen, könnte hier ihren Ursprung haben.

Freitag, 2. August 2013

Eine kritische Betrachtung der aktuellen UNICEF Initiative "End Violence"

UNICEF startet aktuell gemeinsam mit dem Schauspieler Liam Neeson eine weltweite Initiative gegen Gewalt gegen Kinder (Initiative „End Violence“).

Ich persönlich habe die Initiative mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Grundsätzlich finde ich natürlich alles gut, was sich öffentlichkeitswirksam gegen die Gewalt gegen Kinder richtet. Nach meinem Empfinden trifft das, was ich bisher gesehen und gelesen habe, allerdings nicht wirklich den Nerv.

UNICEF appelliert an die Menschen, hinzusehen und sich gegen Gewalt einzusetzen.
Das Problem dabei ist, dass in den meisten Ländern dieser Welt die Mehrheit der Erziehungspersonen Gewalt gegen Kinder anwendet und dies auch nicht als Problem ansieht (auch in westlichen Ländern wie den USA oder in Frankreich). Das bedeutet, dass sich der UNICEF Appell (speziell bzgl. der Gewalt in Familien) letztlich nur an eine Minderheit wendet, die überhaupt potentiell gegen Gewalt an Kindern ist. Diese Minderheit ist, sofern sie emotional und auch im Handeln Gewalt gegen Kinder ablehnt, eh schon gegen diese Gewalt.  Insofern sehe ich hier nicht wirklich mögliche Effekte. Es sei denn, es würde gelingen, diese Minderheit zu vernetzen und gezielt zu Bündnissen und Aktionen zu gewinnen.

Das zweite Problem der Initiative sind die fehlenden Zahlen. UNICEF Deutschland schreibt z.B. aktuell zum Anlass der Initiative: „Gerade weil Gewalt gegen Kinder häufig nicht gesehen und nicht angezeigt wird, gibt es keine Zahlen über das genaue Ausmaß des Problems. Trotzdem geben vorsichtige Schätzungen von UNICEF und anderen Organisationen großen Anlass zur Sorge:  Laut UNICEF-Haushaltsbefragungen erleben in Jemen oder Togo mehr als 90 Prozent der Kinder körperliche oder seelische Gewalt, in Weißrussland sind es 84 Prozent und in Vietnam 74 Prozent.“
Dass es keine klaren Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Familien und Schule gibt, ist einfach nicht wahr. (UNICEF selbst hat u.a. 2009 im „Progress for Children. A Report Card on Child Protection“ auf Seite 8 etliche Daten vorgelegt, die aus Befragungen von Erziehungspersonen stammen.) Es gibt viele Zahlen (vor allem aus Studien der letzten 10 Jahre), so viele, dass ich mich hier seit Jahren schwer damit tue, sie auszugsweise zusammenzustellen. Die Initiative endallcorporalpunishment hat etliche Zahlen unter „research“ aufgeführt und dabei längst nicht alle erfasst. (Hier fehlt letztlich eine gut ausgestattete Initiative, die mal wirklich ALLES systematisch zusammenfasst und die weltweit auch nur die kleinsten Studien auswertet.)  Natürlich sind nicht alle Studien gleich aufgebaut, aber man sollte als Kinderhilfsorganisation schon mal den Mut fassen und klar sagen, was die aller meisten vorliegenden Studien zeigen: Gewalt in der Familie ist das, was die Mehrheit aller Kinder in den meisten Ländern auf der Welt erlebt haben und weiterhin  erleben.  Dieser Satz ist es letztendlich, der ins öffentliche Bewusstsein gehört! Die aktuelle Initiative ist da nicht gerade auf dem Weg, für mehr Bewusstsein zu sorgen. Ihr Kernslogan "Mach das Unsichtbare sichtbar!" verläuft im Sand, weil der Initiative keine weitreichenden Daten und Zahlen angehängt wurden, die von den Medien hätten aufgegriffen werden können.

Auf den englischsprachigen Hauptseiten (siehe Link ganz am Anfang) fehlt unter „Facts“ gar komplett das Hauptthema der meisten Kinder: Gewalt in den Familien. Es werden Zahlen zum sexuellen Missbrauch genannt, kurz einige Formen der Gewalt vorgestellt, es wird auf Sklaverei, Kinderprostitution, Gewalt gegen SchülerInnen und Mord hingewiesen ebenso wie auf die Akzeptanz von Gewalt zwischen Partner bzw. auf häusliche Gewalt. Zum Thema Kindesmisshandlung in Familien? Keine einzige Zahl!! UNICEF Deutschland hat ja auch beschrieben warum, weil es angeblich keine genauen Zahlen gibt.

Als jemand, der sich viel mit den Zahlen befasst, kann ich sagen, dass es natürlich keine ganz genauen Zahlen für alle Länder geben wird. Dies wäre nur möglich, wenn in jedem Land gleichzeitig mit der gleichen "Schablone" Befragungen durchgeführt werden. Aber: Es gibt ganz viele Einzelstudien. in diesen werden teils unterschiedliche Bewertungen bzgl. dem, was als Misshandlung/schwere Gewalt angesehen wird, vorgenommen. Bei macnhen werden Eltern befragt, bei manchen Kinder, bei manchen Erwachsene bzgl. ihrer Kindheitserinerungen. Aber alle Gewaltstudien haben doch gemein, dass sie Gewalthandeln abfragen. Körperliche Schläge sind einfach zu definieren und die Ergebnisse zeigen alle in die Richtung, dass Mehrheiten von körperlicher Gewalt betroffen sind. Ähnliche Problemlagen bzgl. Studien wird UNICEF übrigens auch bei anderer Gewaltformen haben, vor allem dem sexuellem Missbrauch. Aber bzgl. dieser Gewaltform hat man sich auf der englischsprachigen Hauptseite getraut, Zahlen zu nennen. Schade, dass dies nicht für elterliche Gewaltformen gegen Kinder galt.



- Ergänzend:  Neue UNICEF Vergleichsstudie - Gewalt gegen Kinder wurde ausgeblendet

Freitag, 19. Juli 2013

"Eine lieblose Kindheit haben viele erlebt und werden trotzdem nicht zu Mördern."

Woher kommt das Böse?“ fragte EMMA-Online am 06.05.2013 mit Blick auf die angeklagte Beate Zschäpe. Und führte weiter aus: „Eine Flut von Publikationen hat bereits versucht zu ergründen, wie das Böse in die desorientierte, revoltierte junge Frau aus dem Osten hineingekommen ist. Eine lieblose und vaterlose Kindheit – aber die haben viele und werden dennoch keine MenschenhasserInnen und RassistInnen.

Solche Sätze sind keine Seltenheit sondern begegnen mir andauernd.

Der Evolutionspsychologe Steven Pinker schrieb z.B. in einem ähnlichen Sinne in seinem Buch „Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2011): „Serienmörder kommen nicht durch eine erkennbare Veränderung, eine Schädigung des Gehirns oder Kindheitserlebnisse zu ihrer Nebenbeschäftigung. (Sie sind zwar in ihrer Kindheit häufig Opfer von sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung geworden, aber das gilt auch für Millionen andere Menschen, die nicht zu Serienmördern heranwachsen)“ (S. 813)

Lieblosigkeit, Missbrauchs- und Gewalterfahrungen, ja dies wird bei „bösen“ Menschen oft festgestellt, aber weil dies ja auch unzählige andere Menschen erlebt haben, die nicht losziehen, um andere zu quälen, wäre dies nicht relevant und würde die Frage nach den Ursachen der Gewalt nicht klären. (Dabei wird auch vergessen, dass es eine große Bandbreite an Gewalterfahrungen gibt und grausame Mörder erfahrungsgemäß die denkbar schlimmsten Kindheiten hatten. Siehe dazu z.B. Pincus,Gilligan und Harbort)

Da ich seit Jahren EMMA Leser bin, kenne ich mich mit der sonstigen Arbeit dieser Zeitschrift gut aus. EMMA berichtet in Abständen immer wieder über die Kindheitsleidensgeschichten (oft Missbrauchserfahrungen) von Prostituierten und die entsprechenden Einflüsse und Zusammenhänge bzgl. ihres „Berufes“. Und sie hat Recht damit, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen. (1)

Doch würde irgendjemand oder gerade auch die EMMA jemals in Anbetracht schwerster Missbrauchs- und/oder Misshandlungserfahrungen eines Fallbeispiels bzgl. einer Prostituierten kommentieren: 
Eine lieblose Kindheit und häufige Missbrauchserfahrungen – aber dies haben viele erlebt und werden dennoch nicht zu Prostituierten“.  Und Pinker würde dann entsprechend nachhängen: „Ja, Prostituierte sind sehr häufig Opfer von Misshandlungen in der Kindheit,  aber das gilt auch für Millionen andere Menschen, die nicht zu Prostituierten  heranwachsen.“

Emma berichtete in der Ausgabe 3/13 über die schweren Misshandlungserfahrungen von „Kirsten“ bzw. veröffentlichte ihren Erfahrungsbericht. Kirsten hat schwerste elterliche Folter erlebt in allen erdenklichen Formen durch beide Elternteile. Sie berichtete auch über die Folgen: U.a. Arbeitssucht, psychische und körperliche Krankheiten und spätere Arbeitsunfähigkeit.
Wenn jemand wie „Kirsten“ psychisch krank wird, arbeitsunfähig, chronische Krankheiten entwickelt oder sich gar selbst verletzt usw., dann würde niemand schreiben: „Eine lieblose und vaterlose Kindheit – aber die haben viele und werden dennoch nicht psychisch krank und arbeitsunfähig.“ Der Zusammenhang zwischen ihren schweren Gewalterfahrungen und ihren Problemen ist einfach zu offensichtlich.

Ich denke, dass diese Gedankenspiele den Nebel etwas lichten können. Letztlich geht es darum, dass wir nicht das Opfer in den Tätern sehen wollen.  Wir würden uns trauen, das Opfer in psychisch Kranken oder Prostituierten zu sehen (wenn wir denn direkt darauf hingewiesen werden), aber bei Tätern hört die Offenheit auf. Dass nicht alle ehemals gequälten Kinder später zu Gewalttätern werden zeigt, dass es viele Einflüsse auf menschliches Verhalten gibt und dass sich auch die Folgeschäden der Gewalt entsprechend des individuellen  und unterschiedlichen Gewalterlebens von Mensch zu Mensch unterscheiden. Das heißt aber nicht, dass die Kindheitshintergründe von Mördern keine Rolle spielen. Und es wird auch ausgeblendet, dass mensch keine grausamen Mörder finden wird, die als Kind Liebe und Gewaltfreiheit erlebt haben.


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(1) Ergänzende Hinweise:

Studien zu Missbrauchs-/Misshandlungserfahrungen in der Kindheit von Prostituierten

Zumbeck (2001)
54 weibliche Prostituierte
Interviews
65 % als Kind körperlich misshandelt)
50 % sexuell missbraucht (vor dem 13. Lebensjahr)

Farley & Barkan (1998) USA
130 Straßenprostituierte (75 % Frauen, 13 % Männer, 12 % transgender)
Fragebogen
57 % sexuell missbraucht
49 % körperlich misshandelt

Bagley (1991)
Ehemalige Prostituierte im Alter von 18 – 36
73 % schwerer sexueller Missbrauch

Perkins (1991) Australien
Fragebogen
128 Prostituierte verschiedener "Arbeitsfelder"
30,1 % sexueller Missbrauch

Yates, Macenzie, Pennbridge & Swofford (1991) USA
153 Jugendliche, die sich prostituierten (68 % Mädchen, 32 % Jungen)
Interviews
55,6 % sexueller Missbrauch
24,6 % körperliche Misshandlung

Quelle für alle o.g. Daten: Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation bei Prostituierten: eine explorative Studie. Dr. Kovac, Hamburg.
 


Donnerstag, 18. Juli 2013

Nelson Mandela. Seine helle und seine dunkle Seite

Nelson Mandela ist für viele Menschen u.a. ein Symbol  für Freiheitskampf und den Sieg der Unterdrückten, aber auch für Versöhnung zwischen den Menschen in Südafrika und das auch zu Recht. Ich selbst habe seinen Weg und die Entwicklungen in Südafrika nicht wirklich intensiv verfolgt. Ich fand es einfach nur großartig, dass das Apartheitsregime in sich zusammenstürzte und Mandela 1994 der erste schwarze Präsident des Landes wurde. Außerdem fand ich es eindrucksvoll, dass die neue Regierungsmehrheit der Schwarzafrikaner nicht in Racheakte gegenüber den Weißen verfiel, sondern ein demokratisches Miteinander zum Ziel hatte.  Vor einiger Zeit habe ich etwas in seinem Buch „Mandela, N. (1994): Der lange Weg zur Freiheit. Autobiographie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.„ gelesen.

Mein Eindruck über diesen Menschen ist nach der Lektüre, dass Mandela vielschichtiger betrachtet werden muss. Der Ruhm, die Erfolge, die Aussöhnung, der Friedensnobelpreis, all dies hängt ihm aktuell nach und steht im Vordergrund. Man sollte aber im Rückblick auch seine dunkle Seite betrachten, von der er selbst offen berichtet.

Mandela sprach sich früher nach organisierten Streiks („Stay-at-Home“ Aktionen), die wenig ergiebig verliefen und  eine enorm große militärische Machtdemonstration des Staates auslösten, engagiert für ein Ende des gewaltlosen Widerstandes aus, entgegen anderen hochrangigen ANC Mitgliedern. Mandela erklärte gegenüber der Presse – ohne vorherige Absprache mit der Exekutive seiner Organisation - aus dem Untergrund: „Wenn die Reaktion der Regierung darin besteht, mit nackter Gewalt unseren gewaltlosen Kampf zu zermalen, so werden wir unsere Taktik zu überdenken haben. Nach meiner Vorstellung schließen wir ein Kapitel über die Frage einer gewaltlosen Politik ab.“ (S. 364) Mandela berichtet, wie er sich auch in nachfolgenden Diskussionen stark für die Abkehr von der Gewaltfreiheit einsetzte. (S. 365ff) Später wurde er bevollmächtigt, eine neue militärische, vom ANC losgelöste Organisation zu bilden.
Die Politik des ANC würde nach wie vor die der Gewaltlosigkeit sein. Ich wurde autorisiert, mit jedem zusammenzuarbeiten, mit dem ich wollte oder den ich brauchte, um eine Organisation zu schaffen, und ich würde nicht der unmittelbaren Kontrolle der Mutterorganisation unterstehen.“ (S. 369) Mandela informierte sich in der Folge über Guerillakriegsführung, auch über Werke von und über Che Guevara, Mao-Tse-tung und Fidel Castro. . (S. 370) (Auch in seinem späteren politischen Leben bekundete er offen Sympathie für Fidel Castro, Muammar al-Gaddafi und  Jassir Arafat, was ich persönlich kritisch sehe) Außerdem las er u.a. „Vom Kriege“ von Carl von Clausewitz. „Clausewitz´ zentrale These, dass der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, entsprach meinen eigenen Neigungen.„ (S.372) Mitte des Jahres 1962 schickte Mandela aus dem Untergrund einen Brief an südafrikanische Zeitungen. Er schrieb u.a.: „Ich werde gegen diese Regierung kämpfen, Seite an Seite mit euch, Meter für Meter und Meile für Meile, bis der Sieg errungen ist. Was werdet ihr tun? (…) Ich für meinen Teil habe meine Entscheidung getroffen. Weder werde ich Südafrika verlassen noch werde ich kapitulieren. Nur durch Leiden, Opfer und militante Tat kann Freiheit erreicht werden. (Hervorhebung durch mich) Der Kampf ist mein Leben. Ich werde bis zum Ende meiner Tage für die Freiheit kämpfen.“ (S. 372)

Bei der Planung von Richtung und Form der MK zogen wir vier Typen von Gewaltaktionen in Betracht: Sabotage, Guerillakrieg, Terrorismus und offene Revolution.“ schrieb er weiter. Man entschied sich dann für die Sabotage, um den Verlust von Menschenleben zu vermeiden. Mandela schrieb aber auch:  „Sollte die Sabotage nicht die gewünschten Resultate erbringen, so waren wir bereit, zur nächsten Phase überzugehen: Guerillakrieg und Terrorismus.“ (S. 381) Mandela ließ sich später auch  militärisch im Gebrauch von Waffen, Sprengstoff etc. ausbilden. „Ich fühlte, wie ich zu einem Soldaten geformt wurde, und begann zu denken wie ein Soldat – himmelweit anders als die Art, wie ein Politiker denkt.“ (S. 409) Die Ausbildung war ursprünglich auf sechs Monate angesetzt. Doch nach acht Wochen erhielt Mandela ein Telegramm vom ANC. Er wurde aufgefordert zurückzukehren, da der bewaffnete Kampf in Südafrika eskalierte. Nach seiner Rückkehr wurde er dann verhaftet und wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.

Zu der Eskalation der Gewalt und dem ersten Autobombenangriff des MK im Mai 1983, bei dem 19 Menschen starben und 200 verletzt wurden, schreibt Mandela: „Der Tod der Zivilisten war ein tragischer Unfall, und ich war zutiefst entsetzt über die Todesopfer. Doch so sehr sie mich auch verstörten, ich wusste, dass solche Unfälle die unvermeidliche Konsequenz der Entscheidung waren, einen militärischen Kampf aufzunehmen. Menschliche Fehlbarkeit ist vom Krieg nicht zu trennen, und der Preis dafür ist immer hoch. Gerade weil wir wussten, dass es zu solchen Vorfällen kommen würde, hatten wir die Entscheidung, zu den Waffen zu greifen, nur so schwer und widerstrebend getroffen. Doch wie Oliver zur Zeit der Bombenexplosion sagte, wurde uns der bewaffnete Kampf von der Gewalttätigkeit des Apartheidsregimes aufgezwungen.“ (S. 694)

Ich denke, dass an Hand dieser Auszüge deutlich wird, dass Mandela in der Lage war, sein Mitgefühl beiseitezuschieben und den Tod von Menschen (was er „Unfälle“ nennt; man bedenke, dass sein Buch 1994 veröffentlicht wurde und dieser Sprachgebrauch nicht aus früheren Zeiten stammt.) in Kauf zu nehmen. Er verbrachte ja weitgehend – 27 Jahre – seines Lebens im Gefängnis. Insofern wissen wir heute auch gar nicht, wie seine persönliche Entwicklung draußen gewesen wäre. Hätte er weiter im kriegsbereiten Untergrund agiert? Für wie viele Todesopfer wäre er mit-verantwortlich gewesen?  Dies bleibt Spekulation. Ich habe Gott sei dank nie in einer ähnlichen Situation leben müssen, wie die Schwarzafrikaner damals zur Zeit der Apartheid. Ihr Widerstand und ihr Streben nach Freiheit waren absolut legitim. Aus meiner Weltsicht heraus hört der berechtigte Freiheitskampf allerdings da auf, wo andere Menschen gezielt verletzt und sogar getötet werden.  In seiner Rechtfertigung der Opfer gleicht er anderen politischen Gewalttätern: Es gab Opfer, ja, aber der Kampf wurde ja von der Gegenseite angefangen und einem aufgezwungen. Schuld am Tod von Menschen wird somit auf die jeweils andere Seite geschoben, um sich selbst zu entlasten.

Interessant ist jetzt ein Blick auf seine Kindheit:

Meine Mutter war in Qunu für drei Hütten verantwortlich, die, soweit ich mich erinnern kann, immer voller Babys und Kinder meiner Verwandten waren. In der Tat kann ich mich kaum an irgendeinen Augenblick erinnern, wo ich alleine war. In der afrikanischen Kultur gelten die Söhne und Töchter der Tanten und Onkel als Brüder und Schwestern, nicht als Cousins und Cousinen. Wir machen, was unsere Verwandtschaft betrifft, nicht die gleichen Unterschiede wie die Weißen. Wir haben keine Halbbrüder. Die Schwester meiner Mutter ist meine Mutter; der Sohn meines Onkels ist mein Bruder, der Sohn meines Bruders ist mein Sohn.“ (S. 18)
Diese klassische afrikanische Kindheit wird sicher auch bedeutet haben, dass seine Mutter nicht wirklich viel Zeit für diesen Sohn aufbringen konnte. Zunächst möchte ich aber den Vater beleuchten. Mandela schreibt über ihn kurz und knapp:  „Mein Vater war sehr streng, und zur Züchtigung seiner Kinder benutzte er kräftig die Rute.“ (S. 14) Sein Vater war Häuptling und besaß nach Mandelas Angaben eine „stolze Aufsässigkeit, einen unbeugsamen Sinn für Fairness, die ich an mir selbst wiedererkenne.“ (S. 15+16) Mandelas Vater war pro Monat ca. eine Woche zu Hause und somit war vor allem die Mutter der Mittelpunkt seiner Existenz, wie er selbst schreibt. (S. 26) Im Alter von ca. neun Jahren stirbt der Vater und Mandela erinnert sich nicht daran, große Trauer empfunden zu haben (was kaum verwundert, in Anbetracht der häufigen Abwesenheit und der Gewalt), sondern eher an ein Gefühl des Abgeschnittenseins . (ebd.) Einige Zeit später sollte Mandela seinen Heimatort und seine Familie verlassen, um unter die Vormundschaft des Regenten Jongintaba zu treten, der ihn genauso behandelte sollte, wie sein eigenes Kind. (Mandela wurde also von klein auf zu einer Führungsperson geformt)
Über den Abschied von seiner Mutter berichtet er: „Wir schieden ohne Umstände voneinander. Sie hielt keine predigt, bot keine weisen Worte, keine Küsse. Vermutlich wollte sie nicht, dass ich mich nach ihrem Fortgehen irgendwie verwaist fühlte, und verhielt sich deshalb so sachlich nüchtern. Ich wusste, dass ich, dem Wunsch meines Vaters gemäß, eine gute Erziehung erhalten sollte, als Vorbereitung auf eine weite Welt; und das war in Qunu nicht möglich. Ihr zärtlicher Blick enthielt all die Zuwendung und den Zuspruch, die ich brauchte, und als sie davon ging, drehte sie sich noch einmal um und sagte: „Halt die Ohren steif, mein Junge!“(…) Während sich meine liebe Mutter und meine beste Freundin auf dem Heimweg befand, schwirrte mir der Kopf von den Freuden meines neuen Lebens. Ohren steif? Ich hätte den Kopf kaum höher tragen können.“ (S. 29+30)

Nelson Mandela erwähnt seine Mutter im Gegensatz zu seinem Vater noch einige Male in seinem Buch.  Er berichtet nichts Schlechtes über sie, aber führt auch keine positiven Erlebnisse aus oder beschreibt ihren Erziehungsstil. Das letzte Zitat ist letztlich die einzige Quelle bzgl. der Mutter-Sohn-Beziehung. Er erwartete Küsse zum Abschied ( ohne allerdings welche zu bekommen). Insofern scheint es zumindest vorher zärtliche Situationen gegeben zu haben. Er bezeichnet sie auch  als „liebe Mutter“ und „beste Freundin“ und einen zugewandten Blick. Insofern vermute ich schon, dass Mandela durch seine Mutter eine gewisse Zuneigung erfahren hat, die der Gewalt des Vaters etwas ausgleichend entgegenstand. Wenn dem so war, würde sich erklären, warum Mandela zwischen den Welten wandern konnte.  Er konnte kalt und berechnend sein und Menschenleben „opfern“.  Daran hatte er- das glaube ich ihm – im Gegensatz zu anderen Gewalttätern keinen Spaß oder persönliche Befriedigung. Er agierte auch ohne offenen Hass, ohne die Gegenseite wiederum wortgewaltig zu entmenschlichen und ging nach dem Ende der Apartheid einen echten Weg der Versöhnung und Demokratie.  In Mandela sehen wir einen Menschen, der zu beiden Seiten fähig ist, der dunklen und der hellen. Ich persönlich glaube nicht, dass er zum bewaffneten Widerstand fähig gewesen wäre, wenn er ohne elterliche Gewalterfahrungen aufgewachsen wäre. Für seinen späteren gewaltlosen, versöhnlichen und demokratischen Weg jedoch verdient er Respekt.

Freitag, 12. Juli 2013

Ägypten. Neue Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder

Ich habe eine weitere Studie (ergänzend zu den bereits vorgelegten Zahlen) zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Ägypten gefunden:

Mostafa A Abolfotouh, Mohamed D El-Bourgy, Amira G Seif El Din, Azza A Mehanna (2009): Corporal punishment: mother's disciplinary behavior and child's psychological profile in Alexandria, Egypt. Journal of Forensic Nursing 01/2009; 5(1):5-17

400 Schulkinder und deren Mütter wurden befragt. Dabei ging es um das Strafverhalten rein der Mütter gegenüber ihren Kindern, die Gewalt der Väter wurde also nicht erfasst. Insgesamt werden 76,3 % der Kinder körperlich bestraft; dabei Jungen mit  85,4% gegenüber Mädchen mit 71,9 % deutlich mehr.

Besonders aufschlussreich an dieser Studie ist, dass die Häufigkeit des Gewalthandelns abgefragt wurde. Die Ergebnisse zeigen ein erschreckendes Bild:
Insgesamt werden 2,8 % der Kinder mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, 3,5% einmal täglich und 39 % ein oder zweimal die Woche. Insgesamt werden also fast die Hälfte der Kinder (45,5 %) regelmäßig und oft geschlagen. Dabei fällt erneut auf, dass Jungen besonders häufig von Gewalt betroffen sind. 5,4 % der Jungen werden mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, dagegen 1,5 % der Mädchen; 4,6 % der Jungen werden einmal täglich geschlagen, dagegen 3 % der Mädchen;  55,4 % der Jungen werden ein oder zweimal die Woche geschlagen, dagegen 31,1 % der Mädchen.

Deutliche Spuren/Verletzungen als Folge der Gewalt waren bei 3 % aller Kinder sichtbar (2,3 %  bei den Jungen und 3,3 % bei den Mädchen). Leichte Spuren/Verletzungen waren bei 11,3 % aller Kinder sichtbar (16,2  %  bei den Jungen und 8,9 % bei den Mädchen).
Diese Zahlen müssen kritisch hinterfragt werden. Aussagefreudig waren die Mütter ganz offensichtlich bzgl. ihres Gewaltverhaltens. Das verwundert nicht, da in Ägypten Gewalt gegen Kinder nicht gesetzlich verboten ist und auch ansonsten gesellschaftlich toleriert zu sein scheint. Alle Erfahrungen mit misshandelnden Eltern zeigen i.d.R. eines: Sie deuten die Gewalt nicht als Gewalt, sondern meinen, diese zum Wohle des Kindes anzuwenden. Entsprechend blind sind diese destruktiven Eltern oftmals gegenüber den Folgen der Gewalt. Würden sie die Folgen emotional an sich heran lassen, könnten sie weder sich selbst noch ihr Handeln ertragen. Insofern glaube ich, dass die Mütter hier nicht ganz die Wahrheit bzgl. den direkten Folgen sagen. Laut einer von der WHO zitierten Studie, in der die Kinder direkt befragt wurden, berichteten 26 % über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung aufgrund der Misshandlungen. (vgl. WHO, 2002, S. 62) Dies stützt meine Vermutung, dass die Folgen hier nicht wahrheitsgemäß angegeben wurden.

Die psychischen Folgen sind dabei noch viel bedeutsamer. Jeder Schlag ist eine Demütigung, eine Herabsetzung des Kindes, eine Ohnmachtserfahrung und soll die absolute Macht der Eltern untermauern. Gehen wir einfach mal davon aus, dass die Kinder zwischen dem 2. und 14. Lebensjahr körperlich bestraft werden. Das wären 10 Jahre. 2,8 % werden öfter als einmal pro Tag geschlagen. Bei 365 Tagen ergibt dies 7.300 Schläge bei zwei Schlägen pro Tag! 3,5 % der Kinder werden dieser Rechnung folgend also 3.650 Schläge einstecken müssen. Und 39 %  aller Kinder  erleben zwischen 520 und 1.040 mütterliche Schläge. Ich denke, dass jedem klar wird, dass Kinder in Ägypten in einem ganz besonders starken Maße von Gewalt betroffen sind.

Gerade jetzt, in den Zeiten, wo Ägypten nach Identität und Halt sucht, ziellos hin- und hertaumelt, ist die Gefahr besonders groß, dass das Opfer in den Menschen erwacht. Dieses „Opfer“ handelt emotional reduziert, weil damals – als Kind - die Reduzierung der inneren Gefühlswelt das Überleben sicherte. Schwarz-/Weißdenken und Freund-Feindschemata werden in der Folge reaktiviert.
Medienberichte wie diese – SPIEGEL  und ZEIT - bereiten mir große Sorgen. Beide Artikel machen deutlich, dass es vielen Akteuren in Ägypten an Empathie, an Sinn für das Gemeinwohl und an fehlender inneren Stabilität mangelt. Und dass alle irgendwie auf der Suche nach Feinden sind. Wer um das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in diesem Land weiß, der wird leider zu einer wenig optimistischen Zukunftsprognose für dieses Land kommen.

Samstag, 29. Juni 2013

Kindheit und Gewalt in Liberia

Ein Team um Shane Smith vom VICE-Magazine brachte 2009 die Dokumentation “The Cannibal Warlords of Liberia” heraus. Der Film, der auch auf youtube  zu sehen ist, hat mich geradezu umgehauen. Die Zustände in den gezeigten liberianischen Regionen sind unvorstellbar. Ich persönlich dachte auch, dass es so ähnlich im europäischen Mittelalter ausgesehen haben muss. Überall Dreck, Gewalt, Gewalt, Gewalt, Hunger, Krankheiten, Hoffnungslosigkeit, resignierte und schwer traumatisierte Menschen.

Der Filmemacher wollte u.a. auch nachweisen, dass Kannibalismus während des Krieges oft vorkam. Und in der Tat berichten ihm Warlords, wie die jungen Soldaten vor der Schlacht zunächst unschuldige Kinder töteten, um dann ihr Herz zu essen oder ihr Blut zu trinken, um für die Schlacht Kräfte zu tanken und unverwundbar zu werden, wie sie glaubten.

In der Doku wurde gesagt, dass 70-85% aller dortigen Frauen vergewaltigt worden sind.  92% dieser Frauen waren dabei unter 18 Jahre alt.

Auf der Homepage der initiative endcorporalpunishment fand ich weitere Zahlen. Eine große Studie der Organisation „Cherish the Kids“ aus dem Jahr 1999, für die 18.000 Eltern in Liberia befragt wurden, ergab, dass 85 % ihre Kinder schlagen. 46 % gaben auch zu, besonders schwere Formen von Gewalt anzuwenden. Eine andere zitierte Studie ergab, dass 81 % der befragten 24.000 Kinder angaben, durch ihre Eltern körperliche Gewalt zu erleben oder schwer ausgepeitscht zu werden.

Es ist nur logisch, dass sich in einem solchen Land auch im sozialen Nahbereich und in der Kindererziehung überall Gewalt und besonders auch schwere Gewalt nachweisen lässt. Ich bin mir sicher, dass man, würden die grausamen Täter und „Kannibalensoldaten“ befragt werden, bei allen eine unglaublich traumatische Kindheit vorfinden würde. Die in der Doku gezeigten Lebensbedingungen – vor allem auch für die Kinder – sind an sich schon traumatisch und können nur überlebt werden, wenn Gefühle abstumpfen. Dies dürfte allen klar sein. Wenn dann auch noch die Eltern draufschlagen, demütigen und missbrauchen (etwas, das schon seltener besprochen wird, wenn es um die Analyse von Gewalt und Destruktivität in solchen Ländern geht) , dann ist alles verloren, dann gibt es keinen Glauben mehr an das Leben und an Menschlichkeit.

Übrigens: Charles Taylor persönlich - Kriegsverbrecher und bis 2003 Präsident von Liberia -  peitschte seine 13 Jahre alte Tochter Edena 2001 vor ihrer Klasse mit 10 Hieben aus, um ihr Fehlverhalten in der Schule öffentlich zu bestrafen und um sich zum Vorbild für sein Land zu machen, in dem Ungehorsam nicht geduldet wird. Sein Handeln spricht Bände.

Mittwoch, 26. Juni 2013

Kindererziehung und Politik in Frankreich

Frankreich plant derzeit oder liefert bereits (zusammen mit Großbritannien und den USA) Waffen an die syrischen „Rebellen“. Carsten Luther hat für die ZEIT  sehr schön argumentiert, wie sinnlos ein solches Vorhaben ist. Mehr noch: Wie viele Risiken es birgt. Und im Grunde muss man auch kein Experte sein, um zu verstehen, dass Waffen nur noch mehr Tote bringen und dass die feindlichen Lager in Syrien nicht in die „Bösen dort“ und die „Guten“ hier zu unterteilen sind, sondern die Dinge und der Wahnsinn dort komplexer sind. Hat sich der Präsident Frankreichs eigentlich einmal Fotos von den Rebellen angeschaut? Es reichen da 5-6 Bilder und man würde sehr schnell merken: Denen gebe ich lieber nicht noch mehr Waffen. Der Waffenlieferungsplan erscheint mir derart unlogisch, dass emotionale Beweggründe hier eine Rolle spielen müssen.

Frankreich fiel vor nicht all zu langer Zeit auch durch seine Kriegslust im Libyen-Konflikt auf. Man wollte Gaddafi unbedingt wegbomben bzw. ihn „Staub fressen lassen“, wie Nicolas Sarkozy es formulierte.  (Über die möglichen destruktiven Folgen des Einsatzes, die sich heute immer mehr abzeichnen, dachte wohl keiner nach)

Ach ja, der NATO Einsatz in Libyen befeuerte nach Medienangaben  in der Folge die kriegerischen Auseinandersetzungen im Norden Malis. „Die nomadisch lebenden Tuareg, von denen viele in den neunziger Jahren bei Gaddafi als Söldner angeheuert hatten, kehrten nach dessen Sturz 2011 mit den Waffen des Diktators ausgerüstet in ihre Heimatländer zurück. Eines davon ist Mali. Anders als in den Nachbarländern, sind die Tuareg hier nicht entwaffnet worden. So liefen viele der Milizionäre mit starker Ausrüstung zu den Islamisten über.“, schreibt die ZEIT.  Und Frankreich reagierte wiederum mit Militärgewalt und marschierte mit seinen Truppen im Norden Malis ein.

Im aktuellen „World Peace Index“ belegt Frankreich entsprechend Platz 53 von 162 Ländern, eine nicht wirklich vorzeigbare Platzierung für ein westeuropäisches Land.

Wer es „verdient“, wer als „böse“ geortet wird, der wird militärisch bestraft, so erscheint mir aktuell die Außenpolitik Frankreichs. Aber auch nach dem Ersten Weltkrieg war Frankreich in einige Kriege und militärische Auseinandersetzungen verwickelt. Der größte und verlustreichste Krieg (auch mit den meisten Kriegsverbrechen) war der in Algerien, der bis 1962 andauerte.

Ich bin kein Frankreich-Kenner. Welche weiteren politischen Probleme das Land durchmacht und durchgemacht hat, habe ich nicht wirklich verfolgt (was ich wahrgenommen habe ist, dass so manche Stadtbezirke in Frankreich sich in Ghettos verwandelt haben und dass Frankreich wohl ein deutliches Problem mit Schülergewalt gegen andere Schüler und auch Lehrkräfte hat. Zudem passt Frankreichs berühmter Zentralismus gut zur verbreiteten Kindererziehungspraxis: Die zentrale Autorität bestimmt, wo es lang geht, ohne Widerspruch zu dulden). Wahrscheinlich würde sich hier bei einer genauen Analyse einiges finden lassen, dass legen zumindest Zahlen über die weite Verbreitung von Elterngewalt gegen Kinder nahe, denn diese hat Folgen.

Frankreich weist im (west/nord-)europäischen Vergleich die höchsten Gewaltraten gegen Kinder innerhalb der Familie auf und führt fast durchweg auch bei den schwereren Gewaltformen die Rangliste an. Ausgesuchte Zahlen (Befragung von 1000 französischen Eltern im Jahr 2007): 87,2 % schlagen ihre Kinder auf den Po, 50,5 % verabreichen eine Tracht Prügel (schwerere Gewalt) auf die selbe Stelle, 71,5 % schlagen leicht ins Gesicht, 32,3 % wenden schallende Ohrfeigen an, 4,5 % schlagen mit Gegenständen und 11,6 % misshandeln ihre Kinder schwer. (Bussmann, K.-D., Erthal, C., & Schroth, A. (2009). The Effect of Banning Corporal Punishment in Europe: A Five-Nation Comparison. Halle-Wittenberg: Martin-Luther-Universität. S. 6) Auch nach einer im SPIEGEL zitierten Umfrage  der "Organisation des Familles en Europe" gaben 87 Prozent der französischen Eltern an, eine Tracht Prügel gehöre zu ihren Praktiken. Und 53 Prozent sprachen sich gegen ein Prügelverbot aus.
Wer zudem etwas über Frankreichs Krippensystem recherchiert, wird herausfinden, dass dort sehr viele Eltern kein Problem damit haben, wenige Monate alte Säuglinge einige Stunden fremd unterzubringen. Auch dies wird Folgen haben.

Laut Europarat gibt es in Frankreich auch kein ausdrückliches Verbot der körperlichen Bestrafung in Einrichtungen für Kinder.  Ob und in wie weit Kinder in schulischen Einrichtungen durch Lehrkräfte geschlagen werden, ist mir nicht bekannt.

Auch Tagesmütter und Babysitter haben in Frankreich - neben den Eltern - das Recht, Kinder körperlich zu züchtigen (wie es so "schön" heißt). Dies steht u.a. in einer Klageschrift der „Association for the Protection of All Children“, die seit Februar 2013 vor dem „European Committee of Social Rights“ Frankreich auf Grund des unzureichenden Schutzes von französischen Kinder vor Gewalt verklagt (und damit hoffentlich Erfolg hat). Außerdem wurden in der Klageschrift Zahlen genannt, die ich hier bereits vorgestellt habe.

Über Frankreichs führende politischen Köpfe habe ich im Internet nicht all zu viel finden können. Aber vielleicht sind folgende Infos doch etwas erhellend:
Es gibt ein Kapitel, über das Hollande wenig spricht: seine Kindheit.“, schreibt der SPIEGEL in einem Artikel. „1954 in Rouen geboren, litt er laut seinem Biografen Serge Raffy unter seinem autoritären Vater, einem Arzt, der sich bei Lokalwahlen für rechtsextreme Listen aufstellen ließ und vor dem er sich ducken musste. Sein Lächeln, seine Witze hätten ihm schon damals geholfen, Konflikten aus dem Weg zu gehen, sagt Raffy.

Der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy scheint ebenfalls eine belastete Kindheit gehabt zu haben.
„ (…) der Vater sollte sich als Lebemann erweisen, der die Mutter sitzenließ und sich nur sporadisch für die Söhne interessierte. Die Scheidung wurde vollzogen, als Nicolas fünf Jahre alt war. Seine Kindheit sei keine "wirklich glückliche Zeit" gewesen, sagte Sarkozy einmal zum Entsetzen seiner Mutter.“ (FAZ, 15.09.2004)

Der Vater diente außerdem als Fremdenlegionär für Frankreich, wie der SPIEGELberichtet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein so militärisch getrimmter Mensch (der als Söldner arbeitete) nicht wirklich herzlich und emotional zu Kindern sein konnte.

Erwähnt werden muss auch noch Dominique Strauss-Kahn, der mit hoher Wahrscheinlichkeit die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewonnen hätte. Diverse bewiesene und nicht-bewiesene Vorwürfe gegen ihn zeigen ein Bild von meinem Mann, der alles andere als empathisch und rücksichtsvoll ist und der vor allem ein sehr gestörtes Verhältnis Frauen gegenüber zu haben scheint. Über seine Kindheit habe ich nichts gefunden, die Vermutung liegt aber nahe, dass es in dieser auch einige weite Schatten gab.

Abschließend noch der Hinweis, dass die o.g. Studie von Bussmann auch einen stetigen Rückgang der Gewalt gegen Kinder in Frankreich nachwies. In der Studie wurden außerdem nicht die Häufigkeit des Gewalthandelns und die direkten körperlichen Folgen erfasst. Ich vermute stark, dass sich hier starke Unterschiede im Vergleich zu z.B. afrikanischen oder arabischen Ländern finden lassen, in denen ebenfalls häufig um die 90 % der Kinder körperliche Gewalt erleben, dies aber auch häufiger und schwerwiegender.

Freitag, 14. Juni 2013

Warum Männer gewalttätiger sind als Frauen

(aktualisiert am 28.04.2017)

Ich muss gleich zu Beginn den Titel korrigieren. Die Frage muss im Grunde lauten:

Warum sind Männer, die als Kind Gewalt-/Vernachlässigung- und Ohnmachtserfahrungen gemacht haben, gewalttätiger als Frauen, die als Kind Gewalt erfahren haben? 

Meine Grundthese ist bekanntlich, dass Menschen, die Gewalt (wobei ich hier mit „Gewalt“ immer einigermaßen erhebliche Formen sowohl psychischer als auch körperlicher Art und auch die nicht seltene Anwendung meine und Selbstverteidigung auf Grund einer persönlichen Notsituation natürlich auch ausschließe; vor allem zu Letzterer ist jeder Mensch grundsätzlich fähig, da wir von Natur aus das lebenswichtige Potential haben, auf direkte Angriffe mit Aggressionen zu reagieren.) anwenden,  in ihrer Kindheit irgendeine Form (oder auch mehrere) von Gewalt – meist durch Eltern und Elternfiguren – erlebt haben müssen bzw., dass wirklich geliebte Kinder emotional nicht dazu in der Lage sind, anderen Menschen gezielt Gewalt anzutun (außer im Fall der akuten Selbstverteidigung), einfach, weil sie im vollen Besitz ihrer Gefühle sind und ihr Mitgefühl nicht abspalten/ausschalten können.

Dies ist genau der Ansatz, der in den meisten feministischen Ansätzen oder auch allgemein in der Geschlechterforschung meist gar nicht mit einbezogen wird. Die Gewalt, die Männer in Kindheit und Jugend erlebt haben, wird stattdessen hinter Begriffen wie „Männliche Sozialisation“ versteckt, anstatt diese offen beim Namen zu nennen. Belastende Erfahrungen im Elternhaus werden dabei meist ausgeblendet oder hinter Sätzen versteckt wie z.B. „Jungen bekommen weniger Zuwendung, wenn sie Hilfe/Trost/Fürsorge brauchen bzw. danach verlangen, weil Jungen stark sein und ihre Probleme und Bedürfnisse selbst regeln sollen.“ Letzteres ist, um es beim Namen zu nennen, eine Form von Kindesvernachlässigung mit Tendenzen in Richtung psychische Gewalt, je nachdem wie auf Bedürfnisse von Jungen reagiert wird. Die Beispiele ließen sich fortführen.

Typische Themen der Geschlechterforschung sind Wettbewerb zwischen Jungen und Konkurrenzdenken, (mediale) Männlichkeitsbilder/Vorbilder, Peergroupsozialisation, militärische Sozialisation, öffentlicher männlich dominierter Raum, Abgrenzungsrituale vom „Weiblichen“, patriarchale Machtstrukturen, Dominanzkultur usw. usf. Wörter wie „sexueller Missbrauch“, „Kindesvernachlässigung“ und „Kindesmisshandlung“ findet mann dagegen seltener in entsprechenden Texten, die meist sozialwissenschaftlich orientiert sind.

Männer sind faktisch das gewalttätigere Geschlecht, das gilt mittlerweile als Allgemeinwissen. Zwei wesentliche Fakten werden allerdings  in der Geschlechterforschung und in der Öffentlichkeit oft übersehen: „Weniger bekannt hingegen ist, dass sich die mehrheitlich von Männern ausgeübte Gewalt auch überwiegend gegen Männer selbst richtet. Mit der Ausnahme von Sexualstraftaten sind Männer als Opfer bei allen Delikten in der Überzahl.  Bei Mord und Totschlag, Raub und insbesondere bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung überwiegen männliche Opfer." (Hans-Joachim Lenz, 17.12.2004,“Männer als Opfer von Gewalt“) Beispielsweise zeigte eine große Studie, dass im Jahr 2008, zwar über 85 % aller Morde durch Männer verübt wurden, aber auch weltweit 82 % aller Mordopfer männlich waren. (United Nations Office on Drugs and Crime (2011): 2011 - Global Study On Homicide. Vienna. S. 63)
Auch innerhalb von Dunkelfeld-Befragungen lassen sich diese Unterschiede feststellen. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat innerhalb einer repräsentativen Schülerbefragung (insgesamt 44.610 Befragte) festgehalten, dass innerhalb von 12 Monaten 20,2 % der Jungen Opfer von verschiedenen Gewaltdelikten wurden, dagegen wurden 13 % der Mädchen Opfer (inkl. sexueller Gewalt, dem einzigen Gewaltdelikt, wo Mädchen öfter als Jungen Opfer waren). (Baier, D., Pfeiffer, C., Simonson, J., & Rabold, S. (2009): Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt: Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN. KFN-Forschungsberichte No. 107. KFN, Hannover, S. 39) Auch beim Mobbing oder Gewalterleben durch SchülerInnen, wie auch Mobbing und Gewalt durch Lehrkräfte sind Jungen bei 9 von 10 abgefragten Items (nur beim Items "nicht beachtet werden" waren Mädchen häufiger Opfer) häufiger Opfer, als Mädchen. Im Text hießt es beispielhaft: "Das Risiko des mehrfachen Erlebens körperlicher Gewalt durch andere Schüler ist für Jungen deutlich höher: Hier übersteigt die Wahrscheinlichkeit der Jungen, mehrfach Opfer zu werden, die der Mädchen um den Faktor 4,8. Die Wahrscheinlichkeit, mehrmalig zu erleben, dass eigene Sachen zerstört werden, ist für Jungen 3,8-mal so hoch wie für Mädchen." (Ebd., S. 58)

Ähnliches gilt für den Bereich Gewalt gegen Kinder. Ich habe bisher noch keine Studie gefunden, die nachwies, dass Jungen deutlich weniger körperliche Gewalt in der Familie erleben, als Mädchen. Mit Ausnahme der sexuellen Gewalt überwiegen sogar bei vielen Studien männliche Opfer, mindestens aber erleben Jungen genauso viel Gewalt, wie Mädchen.  

Für eine große UNICEF Studie wurden beispielsweise Daten zum Gewalterleben (körperliche und psychische Gewalt) aus 33 Ländern (Osteuropa, Asien, Afrika, arabischer Raum und Südamerika) erhoben. In 16 Ländern erlebten Jungen signifikant mehr Gewalt als Mädchen (dem Diagramm folgend je nach Land ca. 4 -11 % mehr), in den anderen Ländern gab es keine signifikanten Unterschiede.  Schaut man sich allerdings die Daten für alle 33 Länder im Detail an, dann fällt auf, dass bei allen Gewaltarten (unterteilt in psychische Gewalt, körperliche Gewalt und nochmal extra erfasst schwere Formen von körperlicher Gewalt) Jungen fast durchweg einige Prozentpunkte mehr Gewalt erleben, als Mädchen. Bei der psychischen Gewalt erleben nur in 10 Ländern Jungen gleich viel oder 1-2 Prozentpunkte weniger Gewalt. Körperliche Gewalt wird nur in 2 Ländern (Sierra Leone und Togo) von beiden Geschlechtern gleich viel erlebt. In einem Land wird körperliche Gewalt einen  Prozentpunkt mehr von Jungen erlebt, als von Mädchen. Die weiteren Zahlenverhältnisse sehen wie folgt aus (Prozentangaben jeweils das Mehr an Gewalterleben bei Jungen): 5 Länder = 2 %; 3 Länder = 3 %; 4 Länder  = 4 %; 7 Länder = 5 %,3 Länder 6 %;  4 Länder = 7 %; 3 Länder = 9 %; 1 Land = 13 %. In nur 4 Ländern erleben Mädchen und Jungen jeweils gleich viel schwere Formen von körperlicher Gewalt. In 4 Ländern erleben Mädchen jeweils einen Prozentpunkt mehr schwere körperliche Gewalt, als Jungen. In 25 Ländern erleben Jungen mehr schwere körperliche Gewalt, als Mädchen. (UNICEF 2010, "Child Disciplinary Practices at Home", S. 36)

Für eine Studie (siehe ausführlich hier) in Ägypten wurden Mütter nach ihrem Gewaltverhalten gegen Kinder befragt. 85,4% der Jungen wurden gegenüber 71,9 % der Mädchen körperlich bestraft. In der Studie wurde auch festgestellt, dass Jungen nicht nur insgesamt sondern auch bzgl. der Häufigkeit des Gewalthandelns mehr von Gewalt betroffen sind, als Mädchen. 5,4 % der ägyptischen Jungen werden mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, dagegen 1,5 % der Mädchen; 4,6 % der Jungen werden einmal täglich geschlagen, dagegen 3 % der Mädchen;  55,4 % der Jungen werden ein oder zweimal die Woche geschlagen, dagegen 31,1 % der Mädchen.

Auf eine hier im Blog besprochene repräsentative Studie, die Gewalterfahrungen der Menschen in El Salvador und Guatemala erfasst hat, möchte ich ebenfalls noch hinweisen.
Keinerlei Art von elterlichen Bestrafungen in der Kindheit und Jugend erlebten in Guatemala: 20,7 % der befragten Frauen und 7 % der Männer; in El Salvador: 44,3 % der Frauen und 23,9 % der Männer. Misshandlungen/Schläge erlebten in Guatemala: 35,3 % der Frauen und 45,7 % der Männer. Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel erlebten in  El Salvador: 41,8 % der Frauen und 61,9 % der Männer.

Auch bzgl. Deutschland liegen aussagekräftige Studien vor. Erstere wurde Anfang der 50er Jahre durchgeführt. (Die Studie habe ich hier im Blog bereits ausführlich besprochen). Ergebnis: „Schwere körperliche Züchtigungen“ im Elternhaus erlebten Jungen deutlich mehr, nämlich ca. 85 % während Mädchen zu ca. 62 % betroffen waren. Bei der „leichten körperlichen Züchtigung“ waren Mädchen etwas mehr betroffen, als Jungen. Jungen erlebten demnach nicht nur insgesamt häufiger körperliche Gewalt, sondern auch schwerer Formen deutlich häufiger, als Mädchen.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine repräsentative Befragung aus den 90er Jahren. (vgl. Wetzels, P. 1997: Gewalterfahrungen in der Kindheit - Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und deren langfristige Konsequenzen. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, S. 147+148) 77,9 % der Männer erlebten körperliche Elterngewalt, Frauen dagegen mit 71,9 % signifikant weniger. Interessant ist dabei auch, wenn man sich die Frequenz der Gewalt anschaut. 35 % der Männer und 37,1 % der Frauen erlebten selten körperliche Züchtigungen. Mit 43 % ist bei den Männern die Rate der häufiger als selten körperlich gezüchtigten deutlich höher als bei den Frauen mit 34,8 %. Auch bei der schwersten Gewaltform – der Misshandlung – liegen die Männer mit 11,8 % etwas über den Frauen mit 9,9 %.
Für den ostdeutschen Raum wurden zwei repräsentative Jugendstudien verglichen ("Partner 3" mit "Partner 4"). Nach der Befragung im Jahr 1990 ("Partner 3") erlebten demnach 39 % der Mädchen körperliche Gewalt in der Familie, Jungen waren dagegen zu 56 % von Gewalt betroffen. Bei der Befragung 2013 ("Partner 4") ergaben sich folgende Zahlen: 20 % der Mädchen erlebten Gewalt und 25 % der Jungen.
(Weller, Konrad (Hrsg.) (2013). PARTNER 4. Sexualität & Partnerschaft ostdeutscher Jugendlicher im historischen Vergleich. Merseburg. Tabelle 2)

Für eine repräsentative Befragung wurden 2.524 Männer und Frauen in Deutschland befragt. Gefragt nach eigens erlebtem "Erziehungsverhalten" berichteten die Männer fast durchweg von mehr Gewalterfahrungen als Frauen. Z.B. hatten 22,4 % der Männer "schallende Ohrfeigen" erlebt, dagegen 16,7 % der Frauen. 7,4 % der Männer wurden mit Gegenständen geschlagen, dagegen 5,7 % der Frauen. 4,4 % der Männer erlebten eine Tracht Prügel mit Blutergüssen, dagegen 2,9 % der Frauen. Auch bei psychischen Strafen waren Männer stark betroffen. 13,4 % der Männer wurden niedergebrüllt, dagegen 12,5 % der Frauen. Taschengeldkürzungen erlebten 31,4 % der Männer, dagegen 22,3 % der Frauen. Nur bei dem Item "Nicht mehr mit ihnen reden" waren Frauen mit 18,6 % deutlich häufiger betroffen als die Männer mit 14,2 %.
(Plener, P. L.; Rodens, K. P.; Fegert, J. M. (2016). „Ein Klaps auf den  Hintern hat noch niemandem geschadet“: Einstellungen zu Körperstrafen und Erziehung in der deutschen Allgemeinbevölkerung.  Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V., vol. Themenheft, S. 20-25.)


Mir ist sehr wohl klar, dass Mädchen/Frauen, sofern man zusätzlich sexuelle Gewalterfahrungen und auch diverse Formen der geschlechtsspezifischen Unterdrückung, Unterwerfung und Diskriminierung mit einbezieht, enorm belastet sind. Mir geht es an dieser Stelle allerdings darum, festzuhalten, dass es männlichen Menschen nicht an Gewalterfahrungen – sowohl in Kindheit, Jugend als auch als Erwachsene – mangelt und dass sie in so manchen Bereichen sogar mehr von Gewalt betroffen sind, als Mädchen/Frauen. Dabei sind vor allem die kindlichen Gewalterfahrungen das Fundament für später eigenes Gewaltverhalten und auch sonstiges destruktive Agieren.

Nichts desto Trotz sind Männer das gewalttätiger Geschlecht, obwohl Frauen ebenfalls als Kind sehr häufig Gewalt erfahren und insofern „emotional bewaffnet“ sind. Hier liegt nun die Schnittstelle zu sozialwissenschaftlichen Thesen und Forschungen, deren Nutzen und Bedeutsamkeit ich gar nicht bestreiten möchte.

Männer haben historisch wie auch aktuell vor allem sehr viel mehr Machtmöglichkeiten, um Gewalt anzuwenden, als Frauen. Ohne Macht kann frau keine Gewalt anwenden. Und Männer wurden und werden zudem mit einem ganz anderen Rollenbild und mit männlichen Vorbildern konfrontiert. Für mich ergibt sich gedanklich vor allem ein Bild, das vieles deutlicher macht. Letztlich gleicht die Mannwerdung idealtypisch (und somit etwas vereinfacht dargestellt) und vor allem auch, je weiter man historisch zurückschaut, der militärischen Ausbildung: „Erst brechen wir Dich und hinterher bauen wir Dich wieder auf, hinterher bist Du potentiell ein Held der Nation, ein ganzer Kerl, hinterher bekommst du Macht und wir sind stolz auf Dich.“ (Und falls der Mann ganz unten steht und kaum Macht hat, unter ihm bleibt immer noch Frau und Kind gegenüber denen er sich mächtig fühlen darf.) Frauen werden dagegen als Mädchen gebrochen und die gesellschaftliche Botschaft, die dann an sie herangetragen wird, lautet (und die ebenfalls umso deutlich wird, je weiter man historisch zurückschaut): „Du bist nicht viel wert, an Haus, Küche, Mann und Kinder gebunden, der öffentliche und politische Raum ist nicht der Deine, Deine Rolle ist die, ohnmächtig zu sein und zu bleiben, Du brauchst keine Macht und selbst wenn Du sie wolltest, Du wirst keine Macht erhalten.“ Das sind zwei – wenn auch sehr vereinfacht dargestellt – komplett andere Welten und Rollenbilder, die sich hierzulande in den letzten Jahrzehnten natürlich auch immer mehr aufgelöst und starkt verwässert haben, trotzdem aber noch nachwirken.

Man könnte es auch in einer einfachen Formel aufschreiben: „Männliche Ohnmachtserfahrungen treffen auf eine männlich dominierte Gesellschaft und auf Machtmöglichkeiten / weibliche Ohnmachtserfahrungen treffen auf eine männliche dominierte Gesellschaft und auf sehr begrenzte oder auch gar keine Machtmöglichkeiten.“ Diese Formel macht meiner Auffassung nach weitgehend den Unterschied im Gewaltverhalten. Die Mutter von Rudolf Heß – Klara Heß - schrieb einst nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges: „Wäre ich ein Mann in der Blüte der Jahre, ich würde auch mit Begeisterung für mein Vaterland kämpfen. Ich will versuchen, wenn auch nicht als Soldat, so doch für das Wohl der Zurückgebliebenen meine Kraft mit zu verwenden.“ (Pätzold, Kurt und Weißbecker, Manfred (2007): Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite. Leibzig. Militzke Verlag, S.22) Sie brachte mit diesen Worten die Situation von Frauen auf den Punkt. Grundsätzlich war sie bereit zu töten, zu hassen und Krieg zu führen. Als Frau aber war ihr damals einfach der Weg in den Kampf versperrt.

Keine Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen, sondern echte Liebe und Geborgenheit im Elternhaus  machen es dagegen, so meine bereits erwähnte These, unmöglich, andere Menschen gezielt zu quälen, zu missbrauchen, zu vergewaltigen, zu ermorden, zu misshandeln usw. Dies gilt für beide Geschlechter. Ein als Kind geliebter Mann wird demnach trotz der Welt, der Machtstrukturen und der Männlichkeitsbilder auf die er trifft kein Gewalttäter werden.

Die o.g. Formel bedeutet weitergedacht und wie bereits angedeutet auch, dass Frauen, soweit sie Ohnmachts- und Gewalterfahrungen (vor allem als Kind) erlebt haben und später Macht erhalten, zu allen erdenklichen Formen von Gewalt und Grausamkeiten grundsätzlich fähig sind (wobei auch hier tendenziell wie bei den Männern gilt: Je grausamer die Taten, desto grausamer die entsprechenden Kindheiten). Dies zeigen einige Daten, die ich bereits kurz zusammengefasst habe. Vor allem gilt dies in Bezug zu Kindern, über die Frauen traditionell sehr viel Macht haben. Empirisch lässt sich nachweisen, dass Frauen als Mütter sogar häufiger Gewalt gegen ihre Kinder anwenden, als Väter.

Wir befinden uns nun hierzulande in einer Phase, in der Frauen immer mehr Macht und Machtpositionen einnehmen. Zudem verändern sich die Rollenbilder stetig. Wird es jetzt zu deutlich mehr Gewalt kommen, die durch Frauen ausgeübt wird? Nein, wird es nicht. Ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozess, der Frauen immer mehr Freiheiten, Macht und Mitbestimmungen ermöglicht und sie immer mehr von der Rolle als Sündenböcke und Giftcontainer befreit, deutet bereits auf einen tiefen emotionalen Wandel und mehr emotionaler Reife hin, was seinen Ursprung wiederum nicht unwesentlich in der stetigen Befriedung der Kindheiten, der Abnahme von Gewalt gegen Kinder und der Zunahme an Kinderschutz und Liebe hat.  Daher wird Gewalt und auch sonstiges destruktives Agieren hierzulande zukünftig weiter abnehmen.

Auf einen wichtigen Punkt möchte ich abschließend noch hinweisen. Traditionelle Männlichkeitsvorstellungen erschweren es Männern routinemäßig, sich mit ihrem Opfersein auseinanderzusetzen. Schon für viele Frauen sind Opfererfahrungen (gerade in der Kindheit) etwas, das vergessen und verdrängt bleiben will, das oftmals todgeschwiegen wird. Für Männer wird es – so mein Eindruck - sogar noch schwerer, sich das eigene Opfersein einzugestehen, da dies mit Schwäche, Ohnmachtsgefühlen, Ängsten und Hilflosigkeit bzw. Hilfsbedürftigkeit (was als „unmännlich“ gilt) zusammenhängt. Insofern erleichtert der gesellschaftliche Wandel und der Wandel der Rollenbilder es Männern,  nach Hilfe zu suchen  (zum Beispiel in Therapie und Selbsthilfe) und sie erhalten eine Chance, sich emotional zu “entwaffnen“.

Der ideale Weg, um Männergewalt zu verhindern, ist als aller Erstes Kinderschutz und als Zweites gesellschaftliche Botschaften und Angebote, die Jungen und Männern aufzeigen, dass sie Gefühle haben und sie auch haben und zeigen dürfen. Ich denke, dass wir da in Deutschland schon auf einem guten Weg sind.

Gesamtfazit: Geschlechterforschung muss, wenn sie nach den Ursachen von Gewalt fragt, mehr als bisher nach der Ohnmacht fragen, als nach der Macht (der Männer).

Siehe unbedingt ergänzend Kapitel 3 "Why Males Are More Violent" des Online-Buches "The Origins of War in Child Abuse" von Lloyd deMause.