Freitag, 4. September 2015

Weiterentwicklung der (deutschsprachigen) Psychohistorie

(Dieser Text ist als gedankliche und konstruktive Anregung für die deutschsprachige Psychohistorie gedacht und wurde auch von mir an entsprechende Vertreter weitergeleitet.)

Ich fange gleich direkt mit einer Grundannahme an, die sich aus meinen persönlichen Erfahrungen und langjährigen Beobachtung ergibt: Was Psychohistorie ist, ist den meisten Menschen, den Medien und den WissenschaftlerInnen in Deutschland schlicht und einfach nicht bekannt.

Ein Beispiel sei an dieser Stelle angeführt. Gibt man bei Googel-Scholar (dem Suchmaschinenteil, der nur wissenschaftliche Online-Dokumente erfasst - unter https://scholar.google.de) "Das emotionale Leben der Nationen" und „deMause“(jeweils in Anführungszeichen, um die wortgenaue Suche zu ermöglichen) ein, erhält man ganze 26 Ergebnisse (Stand: 20.08.2015) , fast durchweg aus dem psychologischen oder dem deutschsprachigem psychohistorischen Bereich. Bei „Googel Books“ (https://books.google.de), das sämtliche durch Googel digital zugängliche Bücher durchsucht, erhält man ganze 73 Treffer (Stand:20.08.2015), die von Googel auf Grund von fehlender Relevanz noch auf 29 zusammengeschrumpft werden, wenn man sich durch die Trefferliste klickt. Die meisten vorhandenen Online-Dokumente (außerhalb des psychohistorischen Forschungsbereiches) streifen max. in ein zwei Sätzen das Thema und befassen sich kaum mit den Inhalten des psychohistorischen Grundlagenbuches von deMause. Eine Autorin, deren Buch in der Onlineliste auftaucht, führt gleich bevor sie deMause zitiert an, dass dieser die „meisten Konflikte monokausal auf die rigide und gewalttätige Erziehung“ (Szyszkowitz 2008, S. 108) zurückführe, womit das Thema Psychohistorie für sie offensichtlich erledigt ist, obwohl sie sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Trauma und Terror befasst. Gibt man ergänzend bei dem Onlinehändler amazon (www.amazon.de) „Das emotionale Leben der Nationen“ ein, erhält man 14 Bücher (Stand: 20.08.2015), die in ihrer Literaturangabe das genannte Buch aufführen. Die gefundenen Bücher kommen fast alle aus dem psychosozialen Bereich.

Auf der anderen Seite ist es paradox, dass Forschende wie Alice Miller und Arno Gruen Bestseller geschrieben haben, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Beide arbeiten/arbeiteten letztlich psychohistorisch, auch wenn Gruen Kulturkritiker ist und die bahnbrechenden Fortschritte der Kindererziehung in Europa meiner Ansicht nach leider nicht wirklich anerkennt (und somit im Prinzip auch der zentralen psychohistorischen These von der stetigen Evolution von Kindheit  widerspricht) Zig tausendfach wurden ihre Bücher gelesen, Gruen bekam sogar den Geschwister-Scholl-Preis. In den Medien und in der Wissenschaft sind ihre wichtigen Ansätze aber immer noch nicht wirklich angekommen.
Ich selbst habe mich beginnend ca. im Jahr 2002 - als damaliger Student der Soziologie - intensiv mit unzähligen Facharbeiten und Büchern über das Thema Kindesmisshandlung und den entsprechenden Folgen befasst. Bald schon las ich auch Bücher von Arno Gruen und Alice Miller. Ich las auch das von lloyd deMause (1992) herausgegebene Buch „Hört ihr die Kinder weinen: Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit“. Letzteres damals aber vor allem mit Interesse an der Geschichte der Kindheit, die psychogene Theorie habe ich damals nicht als solche wahrgenommen. Dass es so etwas wie „Psychohistorie“ gibt, die sogar weltweit organisiert ist und sich auch als eigene Wissenschaft versteht, wurde mir erst ab ca. Ende 2007 bewusst, als ich „Das emotionale Leben der Nationen“ von deMause (2005) in die Hände bekam. Wie konnte das sein, dass selbst jemand, der sich so intensiv auf das Grundthema stürzt, im deutschsprachigen Raum nicht deutlich auf die Psychohistorie stößt?

Ich wiederhole meine einleitenden Worte: Die Psychohistorie wird schlicht und einfach ignoriert. Das gilt natürlich vor allem für die klassische Sozialwissenschaft, Geschichtswissenschaft,  auch für große Teile der  Psychologie, die Medien und letztlich für die Menschen des Alltags.  Vereinzelt werden sich von anderen wissenschaftlichen Disziplinen „Filetstücke“ herausgepickt, z.B. wenn Arbeiten zur Geschichte der Kindheit zitiert werden oder einzelne Erkenntnisse von PsychohistorikerInnen. Das Ganze, die Theorie als solche , wird aber nicht besprochen und es wird nicht auf sie verwiesen.

Für dieses Ignorieren gibt es meiner Ansicht nach zwei wesentliche Gründe, einen unabhängigen und einen hausgemachten:

1. Das unabhängige Problem

Da in den meisten Ländern immer noch auf die eine oder andere Weise die Mehrheit der Menschen von Gewalt-, Vernachlässigungs- und Ohnmachtserfahrungen in der Kindheit betroffen sind, betrifft sie das Thema an sich in ihrem tiefsten Inneren. Es betrifft sie emotional; es konfrontiert sie mit möglichen eigenen Täteranteilen als Folge der Opfererfahrungen, mit destruktiven Folgen für das eigene Leben, mit Sprachlosigkeit gegenüber dem Erlebten; mit verdrängter Wut auf die TäterInnen usw. usf. Dazu kommt das gesellschaftliche Tabu, über Kindesmisshandlung öffentlich zu sprechen oder gar die eigenen Eltern anzuklagen (was in Europa allerdings meiner Auffassung nach deutlich am bröckeln ist). Unter diesen Bedingungen ist es schwer, rational über politische/gesellschaftliche Folgen von destruktiven Kindheitserfahrungen zu sprechen.  Ich habe in unzähligen Diskussionsversuchen immer wieder erlebt, wie Menschen ausweichen, wütend werden, das Thema abwürgen, teils irrationale, absurde Argumente hervorbringen usw. oder auch einfach gar nicht reagieren, einfach schweigen.

Es gibt aber auch einen großen Lichtblick:  Die Kinderziehungspraxis in Europa (vor allem auch im Norden und speziell auch in Deutschland) hat sich rasant entwickelt. Wie eine aktuelle große Studie des (KFN) Kriminologischen Instituts Niedersachen (Hellmann 2014), für die 11.428 Menschen repräsentativ befragt wurden, nachweisen konnte, erlebten z.B. 61,7 % der  Geburtsjahrgänge ca. 1991 – 1995 in Deutschland nicht ein einziges Mal körperliche Elterngewalt. (Hellmann 2014, S. 82+83) Und die, die Gewalt erlebten, erlitten dies mehrheitlich selten/manchmal und in leichteren Formen. Ebenso ist der sexuelle Missbrauch (mit Körperkontakt) der Studie folgend stark rückläufig . Die Betroffenenrate beläuft sich für die vorgenannten Geburtsjahrgänge auf 3 % für Frauen und 0,9 % für Männer ( Hellmann 2014, S. 104); der meines Wissens nach niedrigste je in deutschen Dunkelfeldstudien gemessene Wert. 1.586 Befragte lebten mit Kindern (eigenes, Pflegekinder etc.) unter 18 Jahren in einem Haushalt und beantworteten ergänzend Fragen zu eigenem Gewaltverhalten gegen die Kinder. Sie waren im Schnitt bei der Befragung ca. 33 Jahre alt (Geburtsdatum im Schnitt ca. 1978) Ca. 78 % dieser  Elterngeneration sind ihre Kinder bis zum Zeitpunkt der Befragung nicht ein einziges Mal körperlich angegangen (Hellmann 2014, S. 157); ein bahnbrechender Wert, demzufolge man postulieren kann, dass wir in Deutschland bzgl. körperlicher Elterngewalt auf eine gewaltfreie Gesellschaft zusteuern.

Dies ist nur ein Trend von vielen positiven bzgl. Kindheit in Deutschland. Martin Dornes (2012)  hat in seinem Buch mit dem prägnanten Titel „Die Modernisierung der Seele“ etliche Daten und Studien zu allen erdenklichen Themenfeldern rund um Kindheit besprochen. Es steht demnach sehr gut um die Kinder in Deutschland, so gut wie nie zuvor in unserer Geschichte. U.a.  hätten sich die Eltern-Kind-Beziehungen, so Dornes, stark demokratisiert (gekennzeichnet durch stabile Verbundenheit, elterliche Wärme, zugewandtes, aber auch grenzensetzendes Erziehungserhalten – Dornes 2012, S. 315), was wiederum eine neue Psychostruktur - er spricht von „postheroischer Persönlichkeit“ - hervorgebracht hätte (Dornes 2012, S. 320), die sehr autonom und bestens gerüstet sei für eine sich ständig wandelnde und entwickelnde Gesellschaft.
Diese junge Generation (bezogen auf die Geburtsjahrgänge ca. 1991 – 1995 aus der KFN Studie) stürmt derzeit die Universitäten oder gestaltet ihr Berufsleben. In ca. 10 Jahren werden sie höherer Positionen erreichen, Politik machen, Medien und Wirtschaft gestalten usw. Aber auch meine Generation (die Ende der 1970er Jahre geborenen) wurde bereits deutlich moderner und friedlicher erzogen. Ich bin daher fest davon überzeugt, dass die Widerstände bzgl. psychohistorischer Thesen aktuell und erst recht langfristig gesehen bröckeln, einfach weil die Menschen hierzulande viel weniger emotional involviert sind und weniger abwehren müssen. Die offene mediale, großflächige Diskussion über das Thema sexueller Missbrauch und auch Heimkinder in jüngster Zeit deutet dies bereits an. PsychohistorikerInnen sollten demnach verstärkt Versuche unternehmen, öffentlich Gehör zu finden, Fachbeiträge außerhalb ihrer Kreise unterzubringen, Medien und Fachleute anzuschreiben, Online in Medien zu kommentieren, Diskussionen anzustoßen. Die Chancen waren – aus o.g. Gründen heraus - noch nie so gut wie heute, dass sie hier und da (vor allem bei den jüngeren Jahrgängen und weniger bei der Nachkriegsgeneration) ernst genommen werden.

Und noch ein Gedanke: Das großflächige psychotherapeutische Angebot in Deutschland tut meiner Auffassung nach sein weiteres zum Abbau von Scheuklappen. Ich habe in der Vergangenheit oft erlebt, dass Menschen, die einst gedemütigte Kinder waren, offen für psychohistorische Thesen sein können. Diese Menschen hatten meist erfolgreich jahrelange Therapien hinter sich und konnten nun auch offen auf die politischen Folgen von Kindesmisshandlung schauen, weil sie die Folgen, die das Kindheitsleid in ihrem eigenen Leben hinterlassen hatte, emotional aufgearbeitet hatten.

Abschließend an dieser Stelle möchte ich – das ist im Grunde ein eigene wichtige Anregung - behaupten, dass sich die Psychohistorie speziell in Deutschland zukünftig auch mit einer ganz neuen Fragestellung befassen muss: Welche Folgen hat die Demokratisierung der Kindererziehung, die nicht mehr nur eine Minderheit betrifft, sondern Mehrheiten zu erfassen scheint? Was bedeutet die „Modernisierung der Seele“ für unsere Zukunft?

2. Das „hausgemachte“ Problem. 

Die deutschsprachige Psychohistorie ist nach meinem Eindruck stark auf die emotionale Entwicklung des Fötus und dem Geburtserleben („Fötales Drama“) fixiert. So wichtig solche Arbeit auch sein mag, sie wird in dieser Form keine breitere Zuhörerschaft finden. Das Thema ist innerhalb eines eh schon speziellen, sensiblen Themenfeldes wiederum noch einmal zu besonders, zu wenig greifbar und zudem  schwieriger empirisch zu belegen (außer z.B. durch erhobene Daten zum Rauchen und Alkoholkonsum oder Gewalterfahrungen während der Schwangerschaft u.ä.). Ebenso problematisch finde ich es, wenn bildliche und emotionale Darstellungen in den Medien zu sehr im Fokus stehen. Die Besprechung von Cartoons/Karikaturen und ähnlichem (vor allem auch eine zu große Gewichtung auf dieses Thema) lädt geradezu dazu ein, wieder ausgeladen zu werden, Türen zu schließen. Ich bin gegen Denkverbote und finde beide vorgenannten Bereiche wertvoll, weil sie mir vieles verdeutlicht haben. Es ist nur einfach die Frage, ob man weiter am Rand stehen will oder den Kern der Psychohistorie (und der bedeutet für mich die Aufklärung über die möglichen politischen, sozialen und ökonomischen Folgen von destruktiven Kindheiten, das Verstehen von historischen Entwicklungen der Menschheit und das Werben für demokratische, liebevolle und gewaltfreie Kindheiten) weiter verbreiten und auch weiterentwickeln möchte.

Ich finde es beispielsweise ungeschickt, dass in dem Flaggschiff-Text von Winfried Kurth mit dem Titel „Die psychogene Theorie von Lloyd deMause - Plädoyer für eine konstruktive Weiterentwicklung“ auf der Homepage der GPPP (www.psychohistorie.de), der als Diskussionsgrundlage über die Psychohistorie benannt wird, u.a. der Schul-Amoklauf von Winnenden (aber auch andere Ereignisse) unter Bezugnahme auf einzelne Karikaturen in den Medien, die kurz vor der Tat veröffentlicht wurden, sehr ausführlich analysiert wird.
„Die theoretische Erklärung für diese Koinzidenzen könnte sein“, schreibt Kurth, „dass die unterschwellig rezipierten, aggressiven Medienbotschaften Ausdruck einer destruktiven Gruppenfantasie sind, die (manchmal) dann von labilen Einzelpersonen in Form einer kriminellen Gewalttat ausagiert wird.“ (Kurth 2009, S. 187)
Ich stelle mir vor, dass ein forschender Politologe oder ein Journalist erstmalig zum Thema Psychohistorie im deutschsprachigen Raum recherchiert und dann auf diesen Text trifft. Ohne Vorwissen, ohne das Kennen der Arbeit von deMause usw. wird eine solche Darstellung und eingehende Besprechung von Cartoons mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass dieser Interessierte das Thema wieder in die Schublade versenkt. Ein „Flaggschiff-Text“ auf den Online-Seiten der deutschen Vertretung der Psychohistorie sollte eine Werbung dafür sein, sich dem Thema zu nähern. Er sollte keine zentralen psychohistorischen Thesen verleugnen, aber die Darstellung müsste an ein allgemeines Publikum gerichtet sein.

Ich bin sehr sozialwissenschaftlich geprägt. Insofern fällt mir auch auf, dass empirische Studien (vor allem klare Zahlen und Daten) in psychohistorischen Arbeiten oft vernachlässigt werden. Die Psychohistorie steht nämlich im Grunde auf einem ganz dicken empirischen Fundament, denn das enorm hohe Ausmaß vielfältiger Gewalt gegen Kinder ist – vermehrt auch in den letzten Jahren – durch unzählige Studien (u.a. UNICEF 2014,  Akmatov 2011 oder siehe auch ausführliche auf Studien basierende Daten  für diverse Länder online auf den Seiten der „Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children“ unter http://www.endcorporalpunishment.org/research/prevalence-research) belegt, ebenso die destruktiven Folgen der Gewalt. Wenn in einer Gesellschaft eine große Mehrheit als Kind nachweisbar Gewalt, oft auch schwere Gewalt erleidet und dies erwiesener Maßen negative Folgen hat, dann muss man diese beiden Bereiche nur ausführlich zusammenbringen und erhält im Ergebnis Erklärungen auch zu politischen und sozialen Schieflagen. Wenn man dies streng wissenschaftlich angeht, Daten ausführlich aneinanderhängt, dann findet man eher Gehör, als (ich überspitze jetzt etwas) wenn man sich auf den Fötus und Cartoons fokussiert oder in einem zu psychoanalytischen Stil schreibt.

Selbst für die anschauliche Darstellung bzgl. historischer Kindererziehungspraktiken und Persönlichkeiten und die Einteilung in 6 verschiedene Modi (deMause, 2005, S. 278ff + S. 183ff) - das idealtypische Grundmodell, auf das sich fast alle PsychohistorikerInnen beziehen - hat deMause zum Beleg rein auf fünf psychohistorische Studien und auf über 100 Artikel im Journal of Psychohistory verwiesen. Er bewegte sich damit bzgl. der Quellen nicht aus seinem psychohistorischen Kreis heraus (an anderen Stellen tut er dies sehr wohl, aber bei einem solch zentralen Modell aus mir unbegreiflichen Gründen nicht). Dabei haben Fachleute aus dem Kinderschutz, Psychiatrie und der Traumatologie längst wissenschaftlich festgehalten, dass die Schwere der Folgen von Kindesmisshandlung maßgeblich vom Schweregrad, der Häufigkeit, der Nähe zum Täter und dem Gewaltmix (zusammenkommen diverser Gewaltformen) abhängen. Wenn von deMause historisch festgestellt wird: „ Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto mehr sinkt das Niveau der Kindererziehung“ (deMause 2005, S. 269), dann macht auf Grund des anerkannten Forschungsstandes (außerhalb der Psychohistorie) das Modell von deMause Sinn, weil es letztlich einfach festhält: Je schlimmer die Kindheiten in der Geschichte, desto schwerwiegender die Folgen (logischer Weise auch für Gesellschaften). DeMause hätte zur Untermauerung seines Modells deutlich aus den allgemein anerkannten Erkenntnissen über die Folgen von Kindesmisshandlung zitieren müssen.

Auch eine Alice Miller hat  meines Wissens nach nie wirklich Studien zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in ihren Büchern oder auf Ihrer Homepage Raum gegeben. Arno Gruen kommt in vielen seiner Arbeiten (u.a. Gruen 2002, S. 123–125, 158) immer wieder auf eine in den 1940er-Jahren durchgeführte Studie von Henry Dicks zu sprechen, für die über 1.000 kriegsgefangene deutsche Soldaten befragt  hatte. Gruen nimmt diese Studie zur Grundlage für eine Dreiteilung der Gesellschaft in extrem destruktiv Erzogene, in der Mitte stehende ambivalent Erzogene und eher liebevoll Erzogene. Die erste Gruppe zeigte in Dicks Studie auch die größte Identifikation mit den „Werten“ der Nazis. Arno Gruen ist in seinen Arbeiten – meines Wissen nach – nie über diese weit zurückliegende Studie hinausgekommen, aktuellere Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder und bzgl. destruktiver Erziehung findet man bei ihm im Grunde nicht. (Trotzdem waren die Arbeiten von Miller und Gruen für mich bahnbrechend und ohne diese würde ich heute wohl kaum in diesem Bereich forschen.)

Diese vorgenannten Beispiele zeigen sehr gut, worum es mir geht. Die Psychohistorie sollte sich mehr denn je bemühen, wissenschaftlich anerkannte Quellen außerhalb ihres Kreises zu zitieren und zu verwenden. Die Psychohistorie sollte viel mehr ernst nehmen, dass sie kaum ernst genommen wird, dies breit diskutieren und darauf reagieren. Oder anders ausgedrückt: Die Psychohistorie sollte mögliche Abwehrmechanismen, die sachlich begründet oder auch emotional bedingt oder auch beides sein können, voraussehen und sich entsprechend darauf einstellen. Dies vielleicht nicht unbedingt in ihren „internen Veröffentlichungen“, die rein von einem psychohistorisch aufgeklärten Publikum gelesen werden, sondern bezogen auf Arbeiten, die auch gezielt von anderen Kreisen gelesen werden oder vielleicht sogar Resonanz in den Medien finden sollen.

DeMause beginnt seine Kritik gegenüber den Sozialwissenschaften – die er in einem eigenen Abschnitt behandelt - mit dem Satz: „Sozialwissenschaftler waren selten an Psychologie interessiert.“ (DeMause 2005, S. 69) SozialwissenschaftlerInnen arbeiten und denken anders als z.B. PsychoanalytikerInnen. Statt die Sozialwissenschaft  einfach nur zu kritisieren, sollten PsychohistorikerInnen viel mehr Überlegungen anstellen, wie man die Sprache und Inhalte von Texten (die man verbreitet sehen will) anpassen kann, damit sie auch in anderen Disziplinen verstanden werden und vor allem auch dort zitierfähig werden.  Ein Schlüssel dazu ist u.a. meiner Ansicht nach das Arbeiten mit sozialwissenschaftlichen Studien über Kindesmisshandlung. Ich selbst habe dies in meinem Arbeitspapier „Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an“  (Fuchs 2012) versucht und trotz Platzmangel sehr ausführlich Studien zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder besprochen. Das Papier ist am Lehrstuhl Internationale Politik der Universität Köln erschienen. Ich möchte meinen Text nicht zum Maß der Dinge erklären (er ist darüber hinaus auch der einzige in Wissenschaftskreisen von mir veröffentlichte, da ich ansonsten rein in meinem Blog www.kriegsursachen.blogspot.de „hobbymäßig“ schreibe). Ich selbst habe von Psychoanalyse (ich habe z.B. bis heute nicht einen Text von Freud gelesen und habe es auch nicht vor) und Psychiatrie so wenig Ahnung, dass ich gar nicht erst in die Verlegenheit kommen würde, mich textlich zu sehr in das Thema zu vertiefen. Mein Arbeitspapier ist aber ein gutes Beispiel dafür, wie man es schaffen kann, in einem Institut für Politikwissenschaften Gehör zu finden und anzuregen, über psychohistorische Thesen und entsprechende Verknüpfungsmöglichkeiten nachzudenken.

Kein einigermaßen empathischer Mensch kommt heute mehr darum herum, erschüttert und betroffen zu sein im Angesicht der vorliegenden aktuellen Daten zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der Welt. Dieses Ausmaß zu besprechen und das Bewusstsein dafür muss das vorderste Ziel sein! Erst danach werden die Menschen auch offen sein, auf die Geschichte der Kindheit zu blicken und diese einzuordnen. Es reicht dabei nicht aus in einem oder zwei Sätzen Prozentangaben zu machen und auf ein bis zwei Studien zu verweisen. Denn man muss im Hinterkopf haben, dass die Menschen aus emotionalen Gründen heraus abwehren wollen (wie oben im Text beschrieben). Diese Abwehr kann in der Wissenschaft und Öffentlichkeit nur durchbrochen werden, wenn man das aktuelle Ausmaß der Gewalt und des Leids lange UND besonders gewichtet UND beständig bespricht, als Grundlage für alle weiteren und  vertiefenden Diskussionen.

DeMause hat z.B. in dem Kapitel „Der Golfkrieg als emotionale Störung“ (deMause 2005, S. 19-38)  zwar für mich nachvollziehbar die emotionale Situation der USA, die Kindheiten von US-Präsidenten und den Weg in den Krieg analysiert, er hätte aber mindestens eine komplette Seite darauf verwenden sollen, empirisch und in Zahlenangaben nachzuweisen, wie belastet die Kindheiten in den  USA sind (es gibt dazu so einige Studien). Seine Analyse wäre dadurch weiter untermauert worden. Mehr noch: Wenn das aktuelle, sehr hohe Ausmaß von Gewalt gegen Kinder bewusst wahrgenommen wird, dann wird jedem klar sein, dass die schockierenden Schilderungen von deMause über die historischen Kindheiten nicht irgendwelchen Fokussierungen oder eindimensionalem Denken geschuldet sind, sondern dass sie real sind.  Es macht keinen Sinn anzuzweifeln, dass z.B. im Mittelalter Kindheit durchweg traumatisch war, wenn nachweisbar auch heute noch in vielen Regionen der Welt die Mehrheit der Kinder geschlagen und gedemütigt werden und das trotz aller Fortschritte in staatlichem Aufbau, Gesetzgebung und Kinderschutz.

Manchmal habe ich auch einfach das Gefühl, dass die psychohistorisch Forschenden sehr viel Grundwissen voraussetzen und sich somit weitere Erklärungen oder Quellenangaben aussparen. Das macht sicher Sinn, wenn das Zielpublikum in der Tat schon über Vorwissen verfügt. Aber so besteht halt weiter die Gefahr, dass die wichtigen psychohistorischen Gedanken und Thesen kein breiteres Publikum finden.

Ich komme zu einem weiteren Punkt, der mir immer wieder auffällt. Im Grunde gibt/gab es viel mehr (Fach-)Menschen, die quasi psychohistorisch denken, als man glaubt. Sofern man mit psychohistorisch etwas aufgeweicht  meint, dass die Folgen von destruktiven oder auch besonders positiven Kindheiten eine besondere Gewichtung erfahren, auch mir Blick auf politische Prozesse.
Bereits Astrid Lindgrens Rede „Niemals Gewalt!“ (Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1978) – die online weiterhin zu lesen ist - anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1978  war im Grunde psychohistorisch und in meinen Augen bereits bahnbrechend für die damalige Zeit. Lindgren hat alleine auf Grund von Empathie für das Kind die Dinge erfasst und auf den Punkt gebracht.
Der Wissenschaftsjournalist Jörg Zittlau (2010) hat das Buch „Sie meinten's herzlich gut: Berühmte Leute und ihre schrecklichen Eltern.“ veröffentlicht, das quasi psychohistorisch ist. Er beschreibt darin die Kindheiten von diversen Persönlichkeiten aus Politik, Sport, Kultur, Kunst und Wissenschaft und macht auch den Versuch, das jeweilige Verhalten der Erwachsenen ursächlich mit den entsprechenden Kindheiten zu verknüpfen .
Der verstorbene ehemalige Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf Prof. Dr. med. Peter Riedesser hielt bei der Verleihung des Kinderschutzpreises am 29. Oktober 2001 in Hamburg eine aufweckende Grundsatzrede (Riedesser 2001), die quasi psychohistorisch ist und auf die Dringlichkeit von Kinderschutz hinweist, um Kriminalität, Militarismus und Terrorismus präventiv zu begegnen und auch den friedlichen ökonomischen und kulturellen Austausch zu gewährleisten, wie er sagte.

Der Soziologe Dr. Jürgen Haberleithner (2004) hat in einem Arbeitspapier (Haberleithner 2004) anlässlich der politikwissenschaftlichen Untersuchung „Sozialpsychologische Ansätze in den Internationalen Beziehungen“ an der Universität Wien ausführlich die Thesen von Arno Gruen besprochen und deutlich angeregt, diese in makro-politische bzw. soziologische Gedankenmodelle mit einzubeziehen, vor allem auch wenn es um die Analyse von Kriegen und staatlichen Krisen (er bezieht sich z.B. auf die Konflikte in Israel und Palästina) geht. Er ist zwar der einzige mir bisher bekannte Soziologe, der dies öffentlich so deutlich formuliert hat, aber solche Arbeiten machen Hoffnung, dass sich SozialwissenschaftlerInnen dem hier besprochenen Themenfeld weiter öffnen.

Der in Deutschland sehr bekannte Kriminologe und Wissenschaftler Christian Pfeiffer hat kürzlich in der Süddeutschen Zeitung einen Gastbeitrag unter dem Titel „Was Strafjustiz mit Kindererziehung zu tun hat“ (Pfeiffer 2015) veröffentlicht. Er befasst sich in dem Artikel mit dem hohen Ausmaß von körperlicher Gewalt gegen Kinder in den USA und den gesellschaftlichen Folgen daraus. Er plädiert konsequenter Weise für die Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechtes in den USA und befindet sich derzeit für ein entsprechendes Projekt in New York. Der Text ist im Grunde psychohistorisch in Reinform!
Der eingangs erwähnte Soziologe und Analytiker Martin Dornes (2012) hat in seiner Arbeit im Grunde sehr nützliche Grundlagen für die Psychohistorie geschaffen  und beschreibt auf seine Art sogar die Entstehung einer neuen Psychoklasse auf Grund verbesserter Kindererziehungspraxis. Interessant ist, dass Dornes nur ein einziges psychohistorisches Buch verwendet hat, das bereits oben von mir erwähnte Buch von deMause (1992) „Hört ihr die Kinder weinen?“, aus dem er auch nur ganz kurz zitiert. Dornes scheint - wie ich damals - trotz all seiner Recherchen nicht auf den Forschungsbereich Psychohistorie gestoßen zu sein. Dabei würde er glänzend in den Bereich passen. Falls er den Forschungsbereich doch als Ganzes wahrgenommen haben sollte wäre die Frage, warum er sich nicht auf die Psychohistorie bezieht?
Hoffnungsvoll stimmt mich auch, dass der 2009 erschienene Spielfilm „Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte“ für mehr als 70 Filmpreise nominiert wurde, von denen Michael Hanekes Regiearbeit über 40 gewinnen konnte. Dazu zählen u. a. die Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele von Cannes. In dem Film wird exemplarisch dargestellt, wie Kindheit im dörflichen norddeutschen Raum in Deutschland kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges aussah. Auf Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Das_wei%C3%9Fe_Band_%E2%80%93_Eine_deutsche_Kindergeschichte – Stand: 27.08.2015) steht in der Beschreibung folgender Satz, der den Inhalt auf den Punkt bringt:
„Der Film verdeutlicht das bedrückende, insbesondere für die Heranwachsenden traumatisierende soziale und zwischenmenschliche Klima der damaligen Zeit, das selbst im engen Familienkreis von Unterdrückung und Verachtung, Misshandlung und Missbrauch sowie Frustration und emotionaler Distanz geprägt ist.“
Der Film verknüpft in genialer Weise diese Kindheitsdarstellung und das entsprechend kalte Klima mit der Entstehung von bzw. der Unterordnung unter einer Ideologie und auch Kriegsbegeisterung.

Diese Beispiele verdeutlichen mir, dass es Möglichkeiten gibt, auf Verständnis zu stoßen, wenn es um destruktive gesellschaftliche Folgen auf Grund destruktiver Kindheiten geht. Irgendwie muss einfach nur der Knoten gelöst werden!

Die Psychohistorie steht vor einem weiteren Problem: Es scheinen entsprechende Ressourcen zu fehlen. Im deutschsprachigen Raum gibt es nach meinem Kenntnisstand keinen psychohistorischen Lehrstuhl. Viele PsychohistorikerInnen veröffentlichen „nebenbei“ ihre Arbeiten, neben ihren beruflichen Tätigkeiten als Therapeuten, Volkswirtschaftler, Lehrer, Pastor usw., die sie bereits stark im Alltag fordern. Ich selbst bezeichne mich als „Hobbygewaltforscher“, was auch bedeutet, dass mir laufend die Zeit fehlt, meine Gedanken zu Papier zu bringen und großflächig zu recherchieren. Um so wichtiger ist es, mehr Fach-Menschen mit ins Boot zu holen, breiter zu diskutieren, wie oben im Text angeregt.

Auf Grundlage dieser Gedanken stellt sich mir auch die Frage, ob der Begriff „Psychohistorie“ nicht vordergründig im Interesse für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit in Projektform weggelassen oder anders beschrieben werden sollte? Nicht jeder Fachmensch möchte vielleicht als Psychohistoriker gesehen werden, obwohl er/sie  wesentliche und erkenntnisreiche Beiträge abliefern könnte.  Die Grundfrage, für die es im Grunde noch kein Lehr- oder Handbuch gibt, lautetet doch: Wie politisch ist Kindheit?  Es ist Zeit für ein Lehr- oder auch Handbuch, dass das vorhandene Wissen zusammenfasst. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Wissen und wie viel Studien es doch im Grunde gibt.  Diese müssten nur einmal zusammengetragen werden. Ich fände es dabei wichtig, dass ein solches Buch auch ein Stück weit politisch ist. Denn der Auftrag muss sein, dass weltweiter Kinderschutz stark vorangetrieben wird, weil so nicht nur Leid sondern auch politische/soziale destruktive Entwicklungen präventiv verhindert werden können.

Lloyd DeMause hat Ende der 1970er Jahre PsychohistorikerInnen zusammengebracht und das oben bereits erwähnte berühmt gewordene Grundlagenwerk zur Geschichte der Kindheit (deMause 1992) verfasst. Ich stelle mir ein  ähnliches Grundlagenwerk vor, in dem verschiedene Fachrichtungen zusammentragen, was sie bzgl. der gesellschaftlichen Folgen der Gewalt gegen Kinder herausgefunden haben. Über individuelle Folgen von Kindesmisshandlung gibt es bereits diverse Fachbücher, in Deutschland ist das aktuellste ein Handbuch von Spitzer & Grabe (2013); das Grundlagenwissen liegt also vor und müsste nur auf die Makroeben übertragen werden. Dabei müsste auch das Ziel sein, eine einfache Sprache zu finden, die Dinge verständlich auf den Punkt zu bringen und gleichzeitig den LeserInnen einen emotionalen Zugang zu verschaffen. Es müsste gelingen, einen Mittelweg zu finden zwischen der emotionalen Herangehensweise (die auch empathisches Verstehen seitens der Leserschaft ermöglicht), die z.B. viele psychoanalytische Veröffentlichungen auszeichnet und der distanziert sachlichen Sprache der Sozialwissenschaft.
Die simple Kern-Botschaft lautet: Eine hohes Ausmaß von kindlichem Leid bedeutet ein hohes Ausmaß an individuellen psychischen Folgeschäden und emotionalen Schieflagen. Was wiederum bedeutet, dass Gesellschaften und deren Schieflagen und Probleme (inkl. Krieg und Terror) immer auch vor diesem Kindheits-Hintergrund zu analysieren sind. Verstärkte Kinderschutzbemühungen und eine verbesserte Kinderfürsorge und Erziehung müssen demnach deutlich Schieflagen reduzieren und Gesellschaften voranbringen. Sehr simpel und doch so schwer zu vermitteln. Letztlich ist es in meinen Augen im Jahr 2015 und vor dem Hintergrund des ganzen Wissens, das wir heute haben, schlicht und einfach nicht mehr länger hinnehmbar, dass die gesellschaftlichen Folgen der weit verbreiteten Gewalt gegen Kinder ignoriert werden!

Abschließend möchte ich noch anmerken, dass ich mich sehr schwer mit diesem Text getan habe. Ich hoffe, dass ich klar machen konnte, worum es mir geht. Bisherige Arbeiten von PsychohistorikerInnen möchte ich nicht geringschätzen, denn sie sind es ja, die mich auch in meinem Denken stark beeinflusst haben. Es gibt im deutschen psychohistorischen Raum auch wahre "Goldstücke", für mich z.B. das Jahrbuch für psychohistorische Forschung aus dem Jahr 2000 (Janus & Kurth 2000) und darin besonders die Arbeiten von Alenka Puhar bzgl. des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, die leider fast gar nicht öffentlich in Deutschland besprochen worden sind.

Für mich hat dieser Text allerdings bereits eine Wirkung gezeigt. Ich werde den Versuch unternehmen, die über 300 Beiträge in meinem Blog und die wesentlichen Kernsaussagen daraus in einen einzigen Text zusammenzuführen. Ein Projekt, das seine Zeit brauchen wird.


Literatur/Quellen

Akmatov, MK (2011): Child abuse in 28 developing and transitional countries—results from the Multiple Indicator Cluster Surveys. International Journal of Epidemiology 40(1): 219-227. http://ije.oxfordjournals.org/content/40/1/219.long#T2. Zugegriffen: 20.08.2015

Börsenverein des Deutschen Buchhandels (1978): „Niemals Gewalt!“ Dankesrede von Astrid Lindgren zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. http://www.boersenverein.de/sixcms/media.php/806/1978_lindgren.pdf. Zugegriffen: 20.08.2015

deMause, Lloyd (1992):  Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit . Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

deMause, Lloyd (2005): Das emotionale Leben der Nationen. Klagenfurt, Celovec: Drava Verlag.

Dornes, M. (2012): Die Modernisierung der Seele. Kind – Familie – Gesellschaft. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.

Fuchs, S. (2012): Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an: Plädoyer für einen offenen Blick auf die Kindheitsursprünge von Kriegen. Arbeitspapiere zur Internationalen Politik und Außenpolitik, 4/2012. Köln: Universität zu Köln. http://www.jaeger.uni-koeln.de/fileadmin/templates/publikationen/aipa/AIPA_4_2012_FINAL_01.pdf. Zugegriffen: 20.08.2015

Gruen, A. (2002): Der Fremde in uns. München: Deutscher Taschenbuchverlag.

Haberleithner, J. (2004):  Erkenntnisse und Forschungen zu Gewalt und Konflikt in der Gesellschaft nach Arno Gruen. (Online nicht mehr verfügbar, aber auf Anfrage beim Autor erhältlich)

Hellmann, D. F. (2014): Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. (Forschungsbericht Nr. 122). Hannover: KFN, http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fob122.pdf. Zugegriffen: 20.08.2015

Janus, L. & Kurth, W. (Hrsg.) (2000): Psychohistorie, Gruppenphantasien und Krieg. Heidelberg: Mattes Verlag.

Kurth, W. (2009): Die psychogene Theorie von Lloyd deMause -Plädoyer für eine konstruktive Weiterentwicklung. In: Nielsen, B., Kurth, W., und Reiß, H.J. (Hrsg.): Psychologie der Finanzkrise. Jahrbuch für psychohistorische Forschung. Band 10. Heidelberg: Mattes Verlag. http://www.psychohistorie.de/diskussion/kurth.pdf.  Zugegrriffen: 27.08.2015

Pfeiffer, C. (2015, 11. August):  Was Strafjustiz mit Kindererziehung zu tun hat. Sueddeutsche.de, http://www.sueddeutsche.de/panorama/aussenansicht-welche-strafe-muss-sein-1.2602181. Zugegriffen: 26.08.2015

Riedesser, P. (2001). Vortrag bei der Verleihung des Kinderschutzpreises. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. http://www.uke.de/kliniken/kinderpsychiatrie/index_4899.php. Zugegriffen: 20.08.2015

Spitzer, C. und Grabe, H. J. (Hrsg.) (2013): Kindesmisshandlung. Psychische und körperliche Folgen im Erwachsenenalter. Stuttgart: Kohlhammer.

Szyszkowitz, Tesse (2008): Trauma und Terror: zum palästinensischen und tschetschenischen Nationalismus. Wien – Köln – Weimar: Böhlau Verlag.

UNICEF - United Nations Children’s Fund (2014): Hidden in PlainSight: A statistical analysis of violence against children. New York. http://www.unicef.org/publications/index_74865.html. Zugegriffen: 20.08.2015.

Zittlau, J. ( 2010): „Sie meinten's herzlich gut: Berühmte Leute und ihre schrecklichen Eltern.“ Berlin: List.



Mittwoch, 2. September 2015

Erstaunliche Veröffentlichungen über die Ursachen von Rechtsextremismus und Delinquenz

Ich habe kürzlich zwei sehr erstaunliche Veröffentlichungen wahrgenommen. Bei der Ersten handelt sich es um einen aktuellen Fachbeitrag - Dudeck, M. (2013): Delinquenz und frühe Stresserfahrungen. In: Spitzer, C. und Grabe, H. J. (Hrsg.): Kindesmisshandlung. Psychische und körperliche Folgen im Erwachsenenalter. Stuttgart: Kohlhammer. (Kindle-Edition) - von Prof. Dr. med. Manuela Dudeck über die Ursachen von Delinquenz. Sie schreibt:

"Biographische Brüche, d.h. Traumata, sind als statische Prädikatoren relativ früh identifiziert worden und haben viele Autoren dazu angeregt, Zusammenhänge zwischen frühen traumatischen Erfahrungen und späterer Delinquenzentwicklungen zu untersuchen.
Die Ergebnisse epidemiologischer Studien zur Prävalenz von Traumata und Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) in Gefängnissen legen nahe, dass es sich um einen bedeutenden Forschungsgegenstand handelt. So kann bei nahezu jedem Häftling mindestens ein Trauma diagnostiziert werden, wobei emotionale, körperliche und sexuelle Missbrauchserfahrungen führend sind
." (Dudeck 2013, Position 9849) und "Dass frühkindliche Missbrauchserfahungen in der Entwicklung der antisozialen Persönlichkeitsstörung eine wichtige Rolle spielen, ist ein in der Literatur mittlerweile unumstrittenes Phänomen." (Dudeck 2013, Position 9863)

Ich habe schon viele kriminologische und psychiatrische Artikel gelesen, in denen auf Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen von StraftäterInnen eingegangen wurde. In keinem mir bisher bekannten Artikel wurden so deutliche Worte gewählt. Vor einem Satz wie "So kann bei nahezu jedem Häftling mindestens ein Trauma diagnostiziert werden" scheuten die Forschenden bisher zurück, obwohl ihre Studienergebnisse genau diesen Sachverhalt nahelegen. Wer meinen Blog verfolgt wird sich erinnern, dass dies eine beständige Kritik von mir bzgl. entsprechender Studien ist. Sie weisen nicht darauf hin, dass (Gewalt-)StraftäterInnen - bei gründlicher Untersuchung - keine Menschen sind, die gänzlich gewaltfrei aufgewachsen sind. Oder anders - mit meinen Worten - gesagt: Als Kind geliebte Menschen werden nicht zu Gewalttätern.
Neu ist für mich auch der oben verwendete Begriff "unumstritten". Das ist genau die Art von Begrifflichkeit die Erstens auf Grund diverser Forschungen empirisch logisch ist und Zweitens notwendig ist, um die Öffentlichkeit endlich einmal wachzurütteln. Immer wieder fangen z.B. JournalistInnen in Anbetracht von Gewalttaten an zu rätseln, warum ein Mensch gewalttätig wurde. Dabei ist längst klar, dass die Kindheit der TäterInnen immer mit in das Blickfeld genommen werden muss. Manuela Dudeck geht am Ende ihres Textes übrigens auch direkt darauf ein, dass die Opfererfahrungen von TäterInnen von der Öffentlichkeit, aber auch von der Wissenschaft u.a. auf Grund von Moralvorstellungen - dabei vor allem einer potentiellen Entschuldung der TäterInnen - nicht entsprechend der empirischen Befunde und ihrer gesundheitspolitischen Bedeutung beachtet werden.

Die zweite Veröffentlichungen ist fast noch ungewöhnlicher, als die vorbenannte. Die SPIEGEL-Online Kolumnistin Sibylle Berg hat am 29.08.2015 den Artikel "Ihr gehört in Therapie" veröffentlicht. Der Artikel entstand offensichtlich in Anbetracht aktueller rechtsextremer Angriffe auf Flüchtlingsheime. Man ließt heraus, dass die Autorin etwas über die Ursachen von solchen Taten und auch über die historische Entwicklung von Kindheit recherchiert hat. Sie lässt ihre Quellen aber im Grunde nicht durchblicken sondern -  das ist besonders erstaunlich - schreibt einfach drauf los und stellt mit einer puren Selbstverständlichkeit fest, dass eine destruktive Kindheit der wesentliche Hintergrund von rechtsextremen wie auch anderen schweren Gewalttaten ist. Punkt und Schluss. Ich muss gestehen, dass ich eine solche art von Artikel bisher in großen Medien nicht wahrgenommen habe. Das ist etwas Neues. Die Autorin nutzt ihren eigenen Sprachstil, den man mögen kann oder nicht. Im Grunde hat sie allerdings wesentliche psychohistorische Themenfelder angesprochen. Gewalt und Härte gegen Kinder in Deutschland mit Blick auf die Geschichte; ungleichzeitige Entwicklung von Kindheit, was bedeutet, dass es Teile der Gesellschaft gibt, in denen immer noch Härte und Gewalt gegen das Kind wie in früherer Zeit praktiziert wird; was wiederum Konflikte zwischen den fortschrittlich Erzogenen und den gestrig Erzogenen bedeutet. Aber vor allem hät sie fest: Gewalt gegen Kinder hat Folgen und erklärt Gewalttaten, die wir aktuell diskutieren. Punkt.
Wenn diese Selbstverständlichkeit bzgl. der Betrachtung von Ursachen von Gewalt Einzug in weitere Teile der Medien hält, dann ist viel gewonnen.


Dienstag, 11. August 2015

Kriminologe Christian Pfeiffer analysiert das Strafbedürfnis der US-Amerikaner

Dank der Leserin Ute wurde ich auf einen aktuellen Text in der Süddeutschen Zeitung vom 11.08.2015 ("Was Strafjustiz mit Kindererziehung zu tun hat") von Christian Pfeiffer aufmerksam.

Er ist einer der bedeutsamsten Kriminologen Deutschlands. Der Textinhalt verwundert mich nicht, dann Pfeiffer hat sich schon vor Jahren ähnlich geäußert. Dieser Text hat aber eine neue Qualität! Er mutet geradezu psychohistorisch an und ist in meinen Augen eine kleine Sensation. Die Psychohistorie wird seit Jahrzehnten nicht ernst genommen und von der Sozialwissenschaft wie auch klassischer Geschichtsforschung weitgehend ignoriert (ich arbeite gerade an einem Text zu dem Thema). Wenn wissenschaftlich anerkannte Persönlichkeiten wie Pfeiffer solche Richtungen einschlagen, wird das nicht ohne Folgen bleiben.
Es ist etwas in Bewegung im Land. Ich gehe davon aus, dass in den nächsten 5 Jahren viele Türen in Deutschland aufgehen. Ich rechne mit einem ähnlichen Sturm wie den bzgl. des sexuellen Missbrauchs und der folgenden großflächigen Debatte in den deutschen Medien. Nur dass es diesmal um die Geschichte der Kindheit, die Folgen von Kindesmisshandlung für Gesellschaften und die Kindheiten der NS-Generation inkl. Hitlers gehen wird. Auch Menschen wie Arno Gruen und Alice Miller werden noch mal großflächig besprochen werden. Aber ernsthafter. Es ist alles eine Frage von Zeit.

Den oben verlinkten Text sollten alle hier interessierten Leserinnen unbedingt lesen!!

Ich beobachte - nebenbei bemerkt - seit einiger Zeit den Wahlkampf von Donald Trump in den USA. Er liegt ja in Umfragen bzgl. rep. Wähler ganz vorne. Mensch schaue sich nur einmal ein Video an, in dem Trump seine Kandidatur für die Wahl zum Präsidenten erklärt. Die Rede ist voll mit emotional besetzen Wörtern und Sätzen. ("They are killing us", "They are beating us") In seiner Rede geht es um gefühlte Schwäche und Ohnmacht. Die USA hätten keine Erfolge mehr vorzuweisen, würden keine andere Nation mehr schlagen, sondern würde von Japan, China etc. geschlagen. Schlagen, Töten, Schwäche. Immer wieder dreht sich Trump um diese Begriffe, auch in anderen Kontexten und Reden. Es besteht die große Gefahr, dass Trump durch diese Art das Opfer in den Menschen  weckt. In den USA wurde und wird die Mehrheit der Kinder geschlagen und gedemütigt. Egal wie offensichtlich destruktiv Trump agiert und erst recht als Präsident agieren würde, wenn die Emotionen der Opfer von kindlicher Gewalt die Oberhand gewinnen, könnte auch ein Trump weiter ganz nach vorne kommen. Um so dringlicher werden wissenschaftlich fundierte Analysen wie die von Christian Pfeiffer. Sie können emotionale Schieflagen erklären und Präventionsansätze eröffnen.

Donnerstag, 23. Juli 2015

Die Farben der Gewalt: Ideologie ist niemals selbst Motivation für das Morden.

Ebrahim B. ist der erste deutsche IS-Rückkehrer, der offen über seine Erlebnisse in Syrien und im Irak berichtet und sich vom IS deutlich distanziert. Das in der ARD veröffentlichte Interview  ist sehr sehenswert und offenbart viel über die massive Gewalt, die auch in der Gruppe IS untereinander herrscht. 

In der ZEIT (17.07.2015, "Du bist entweder tot oder tot") wurde noch eine weitere Aussage von Ebrahim zitiert. Er habe eine schwierige Schulzeit hinter sich, kleinere Vorstrafen, eine geplatzte Hochzeit und sei in Orientierungslosigkeit verfallen. Dann wurde er angeworben von IS-Rekrutierern und fand eine scheinbare Berufung und einen Sinn.  Ebrahim wörtlich (und das ist der Satz, der mich besonders aufhorchen ließ!):  "Würde ich von einer Rocker-Bande aufgenommen in Jamaika oder in Amerika von Hells Angels oder so was, wäre ich mitgegangen. Ich bin gestolpert und wurde von den falschen Händen aufgenommen." Dazu passt auch, dass Ebrahim vorher nicht sonderlich religiös war.
Mich erinnert diese Aussage an den ehemaligen Terroristenunterstützer Willi Voss, über den ich hier im Blog bereits kurz geschrieben habe. In einem SPIEGEL-Interview (31.12.2012. "Ein Mann, drei Leben") sagte er folgendes: "Ich war ein verlorener Hund. Einer, der so oft getreten worden war, dass er zurückbeißen wollte, egal wie (…). Hätte ich damals Andreas Baader getroffen, wäre ich vermutlich bei der Roten Armee Fraktion gelandet.“ Seine Kindheit sei von Gewalt, sexuellem Missbrauch und anderen Demütigungen geprägt gewesen, schreibt der SPIEGEL weiter. „Ich habe als Kind immer wieder Zustände absoluter Ohnmacht kennengelernt. Etwas, dass blanke Mordlust in mir ausgelöst hat, tiefste Scham und ein Gefühl, als sei ich das Wertloseste, dass es auf dieser Welt gibt.“, sagte Voss.

Beide Akteure haben letztlich deutlich gemacht, dass ihnen die „Farbe“ ihrer gelebten Ideologie oder ihres Gruppenkultes letztlich mehr oder weniger egal war und sich einfach ergab. (Viele wundern sich, wenn z.B. Linksextremisten nach einiger Zeit plötzlich Rechtsextremisten werden, dabei erklärt dieses „egal welche Farbe“ genau das.) Ein Willi Voss wäre vielleicht, hätte er einen muslimischen Hintergrund, heute als junger Mann auch unterwegs in Richtung Syrien. Oder er wäre damals, wie er selbst für sich feststellte, einfach zur RAF gekommen, so Begegnungen und Zufälle dies möglich gemacht hätten. Ein Ebrahim B., der als Weißer  in den Südstaaten der 50er Jahre in den USA aufgewachsen wäre, hätte sich vielleicht – so es Zufälle und Begegnungen ergeben – dem rassistischen Ku-Klux-Klan angeschlossen. 

Egal wie die jeweilige „Farbe“ aussieht, der Weg MUSS destruktiv sein, wenn im Hintergrund eine entsprechend destruktive Kindheit therapeutisch unbearbeitet schlummert und das Opfer, das mensch als Kind war, weiterhin alles steuert. Die „Unauffälligeren“ wählen vielleicht einen selbstdestruktiven Weg, Drogensucht, lebensgefährlichen Extremsport, Unglück und Scherbenhaufen im Leben, zerschossene Beziehungen, Kindesmisshandlung, mir fällt da viel ein. Die „Unauffälligeren“ wählen vielleicht auch einen Weg, der zwar destruktiv ist, aber der Kultur angepasst ist, so dass das Verhalten nicht als abweichend oder kriminell gilt.  Z.B. das Soldatentum oder machtvolle Positionen, in denen extrem vernichtende Entscheidungen getroffen werden können, die dann als ökonomisch-politisch zweckrational gelten, obwohl sie im Grunde Terror sind, mit dem einzigen Ziel der Zerstörung.

Es ist eines der größten Irrtümer der klassischen Gewaltforschung, dass diese sich auf die politische, zweckrationale Dimension fokussiert und dies als Ursache benennt, obwohl dieser Überbau den Akteuren nur dazu dient, sich selbst zu belügen, damit gewissenlos zerstört werden kann, um der Zerstörung willen. Der „rational-politische Überbau“ dient – um es gleich noch mal zu wiederholen - nur als Mittel zum Zweck. Der eigentliche Zweck ist die Zerstörung an sich (gespeist durch Selbsthass auf Grund kindlicher Opfererfahrungen): Zerstörung von Menschen und Umwelt und natürlich vor allem die Selbstzerstörung.
Menschen brauchen aber i.d.R. etwas, um diesen eigentlichen Zweck vor sich selbst zu verschleiern. Einige wenige besonders krasse Täter wie Serienmörder etc. sind da große Ausnahmen. Sie sagen oftmals ganz offen: Ich wollte einfach zerstören,  jemanden abschlachten, jemanden leiden sehen,  wer und wo ist im Grunde egal und eher Zufall. Die meisten anderen destruktiven Menschen, die z.B. für den IS in den Krieg ziehen, brauchen zunächst einen politischen oder religiösen Überbau, irgendetwas, das dazu dient, die Lüge vor sich selbst zu verbergen. (Selbst der Straßenschläger, der jemanden „einfach so“ zusammenschlägt und vielleicht sogar tötet, braucht oftmals eine kleine Rechtfertigung für den Anlass der Gewalt: Er wurde schief angeschaut oder beleidigt oder er wurde darauf hingewiesen, sich zu benehmen. Der Hass und die Wut schlummerten schon vor der Tat in ihm.) Ist der Damm dann erst einmal gebrochen, wird dem Hass freien Lauf gelassen.

Jede neue Tat traumatisiert die Täter wiederum zusätzlich. Fataler Weise fühlen sie sich kurzzeitig durch das Morden lebendig, sterben aber real immer weiter ab. Falls noch leichte Gefühle da waren und eine winzige Verbindung zur Menschheit bestand, wird auch dieses letzte Licht gelöscht. Ich spreche dann immer davon, dass eine Art „Superzombie“ entsteht. Diejenigen, die heute in Syrien Menschen massenhaft und oft grausam umbringen, waren bereits voller Hass und toter Emotionen, als sie loszogen. So man will fühlten sich viele wahrscheinlich bereits innerlich nicht-lebendig, einem Zombie nahe. Der „Superzombie“ entsteht dann durch ihre realen grausamen Taten. Danach gibt es im Grunde kein Zurück mehr zu einem innerlich lebendigen und gefühltem Leben. Der körperliche Tot wird irgendwann zum Ziel und verspricht Erlösung, das Innere ist eh schon tot.

Arno Gruen hat in seinem Buch „Wider den Terrorismus“ (2015) auf Seite 18  - auch mit aktuellem Bezug zum IS - formuliert: „Die tödliche Motivation kommt (…) vor der Ideologie. Diese soll nur die wahren Antriebskräfte verschleiern; die Ideologie ist niemals selbst Motivation.“ Dieser Satz bringt es auf den Punkt, wird aber oftmals immer noch nicht verstanden. In der gesamten Gewaltforschung müsste ein Umdenken in dieser Hinsicht stattfinden, ebenso bei politischen Entscheidungsträgern.

Siehe ergänzend: 

- IS-Terroristen: "Biografien der Vorhölle"

Donnerstag, 16. Juli 2015

Studie. Kindheiten von fremdenfeindlichen, teils rechtsextremen Gewalttätern.


Ich habe kürzlich eine (schon etwas ältere) Studie über fremdenfeindliche, teils rechtsextremistische Gewalttäter gefunden, die ich hier besprechen möchte: Frindte, Wolfgang / Neumann, Jörg (Hrsg.) (2002): Fremdenfeindliche Gewalttäter. Biografien und Tatverläufe. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Für die Studie wurden Daten von 91 verurteilten männlichen Straftätern erhoben, die im Strafvollzug oder Einrichtungen der Bewährungshilfe sowohl interviewt als auch schriftlich befragt wurden. Das durchschnittliche Geburtsjahr der Gewalttäter war 1978. Die Täter sind bereits frühzeitig aufgefallen, bis zum Abschluss des strafmündigen Alters von 14 Jahren hatten bereits 2/3 Polizei und 1/3 Gerichtskontakt.

In ihrer Zusammenfassung bzgl. des biografischen Verlaufs der Täter schreiben Neumann und Frindte u.a.:
„In den biografischen Erzählungen der interviewten Täter zeigt sich ganz offensichtlich die nachhaltige negative Wirkung einer gewaltbesetzten Familienkonstellation. Dies paart sich mit Fehlen einer stabilen emotionalen Beziehung zu Mutter, Vater oder einer anderen Bezugsperson. Dagegen ist die familiale Situation bestimmt durch vielfache Brüche, Beziehungsstörungen und Disharmonie.“ (S. 149) Bereits in der Schule fielen die Befragten auf, durch Leistungsversagen, Verhaltensauffälligkeiten, delinquentes Verhalten und Schulabbruch. Im Durchschnitt begann dann ab dem Alter von 14 Jahren die Gruppensozialisation in rechten Jugendcliquen. (S. 149)
Im Grunde sind somit die grundlegenden Informationen bereits benannt. Im Detail möchte ich jetzt auf die Zahlen eingehen:

30 % der Befragten lebten als Kind zu irgendeinem Zeitpunkt in einem Heim.

20 % der Befragten wurden bereits bei ihrer Geburt vom Vater verlassen. Nur 44 % lebten mit ihrem leiblichen Vater bis zum 14. Lebensjahr zusammen. Ca. 40 % lebten zu irgendeinem Zeitpunkt mit einem Stiefvater oder einem neuen Freund der Mutter zusammen.

Mutter, Vater und Stiefvater wendeten oftmals Gewalt gegen das Kind an. Leider wurde wie so oft in ähnlichen Studien versäumt, die Häufigkeit des Gewaltverhaltens (was die Folgeschäden wesentlich beeinflusst) abzufragen.  Es wurde zudem auch nicht dargestellt (auch das ist in vielen ähnlichen Studien leider gängig), ob es einzelne Täter gab, die keine einzige Form von Gewalt in der Kindheit erlebt und/oder keine belastenden Erfahrungen wie Heimunterbringung oder Miterleben von Gewalt gemacht haben. Oder anders formuliert: Gibt es rechte Gewalttäter, die als Kind Liebe und Geborgenheit erfahren haben und gewaltfrei aufgewachsen sind? Die vorhandenen Daten der hier besprochenen Studie sprechen dafür, dass diese Frage mit Nein zu beantworten ist.

In der schriftlichen Befragung wurde das Gewaltverhalten von Mutter und Vater jeweils getrennt erhoben. Dabei ist den Forschenden leider ein Fehler unterlaufen. Das Gewaltverhalten der Mutter wurde versehentlich auch in die Tabelle bzgl. des Gewaltverhaltens des Vaters übernommen. Im Text auf Seite 121 wurde aber eine Prozentangabe bzgl. der schweren Gewalt durch die Väter gemacht. Zudem wurden Ergebnisse aus den mündlichen Interviews ergänzend erwähnt, so dass sich ein Bild ergibt.

Bestrafungen durch die Mutter:
- Tracht Prügel (schwere Gewalt): 30 %
-  angeschrien: 58 %
-  herabgesetzt: 18 %
-  nicht beachtet worden: 20 %
-  Ohrfeige: 37 %
-  Klaps: 38 %
-  Hausarrest/Verbote: 58 %

Bestrafungen durch den Vater:

- Tracht Prügel (schwere Gewalt): 54 %

Andere im Buch  in Abbildung 18 (S. 121) Prozentwerte sind nicht verwertbar, weil fälschlich im Buch dargestellt bzw. versehentlich Daten von Müttern übernommen wurden.

In den mündlichen Interviews berichteten 63 % von Gewalt seitens der Mutter (davon 46 % schwere Gewalt) und 60 % von Gewalt durch den Vater (davon 80 % schwere Gewalt). Bzgl. der Stiefväter ergab sich das gleiche Verhältnis: 60 % Gewalt (davon 80% schwer)

Bedenkt man dabei, dass ca. 20 % der Befragten (18 Personen von 91)  seit Geburt ohne leiblichen Vater aufwuchsen, ergibt sich real noch mal ein anderer Wert bzgl. der Betroffenheit väterlicher Gewalt. Denn diese 18 Personen werden logischer Weise angegeben haben, dass sie keine väterliche Gewalt erlebt haben, weil der Vater einfach nicht da war. Dadurch verklärt sich die Auswertung.
Nimmt man die Ergebnisse aus den Interviews (60% von 91 Befragten) dann gaben rund 55 Befragte an,  väterliche Gewalt erlebt zu haben. Diese 55 Befragten muss man jetzt in Relation zu den 73 Befragten sehen, die überhaupt mit leiblichen Vätern aufgewachsen sind. Somit würde sich ergeben, dass ca. 75 % Gewalt durch leibliche Väter erlebt haben.

Zudem ergibt sich wie bei allen ähnlichen Studien das Problem der fehlenden Erinnerung (durch Abspaltung oder Verdrängen des Erlebten) , was routinemäßig Ergebnisse verzerrt. Diesen Hinweis möchte ich hier explizit einbringen, weil im hintern Teil des Buches zwei („Rolf“ und „Jochen“) der 91 Gewalttäter ausführlich dargestellt werden. „Rolf“ hat den Angaben nach mehrmals im Interview gesagt, dass er weitgehend keine Erinnerungen an die Kindheit hat. (S. 158)

Geht man jetzt gedanklich davon aus, dass in einigen Fällen vielleicht nur die Mutter Gewalt angewandt hat oder nur der Vater oder nur der Stiefvater ergibt sich bei den o.g. Werten die Vermutung, dass wenn überhaupt nur ein kleiner Bruchteil der Befragten  keine Gewalt erlebt haben wird.

Den Familienalltag in der Kindheit beschrieben die Mehrzahl der befragten Gewalttäter als geprägt von Streit, Geschrei und Disharmonie. 64 % bezogen auf die Mutter, 89 % auf den Vater und ¾ auf den Stiefvater. Von einem autoritären Erziehungsstil, der kaum Möglichkeiten zu eigenen Entscheidungen ließ, erzählten im Schnitt 60 % der Befragten. 61 % der befragten Gewalttäter gaben im schriftlichen Fragebogen an, dass ihre Eltern wenig Interesse für sie gehabt hätten. Gewalt zwischen den Eltern haben 20 % miterlebt.

(alle o.g. Daten S 119-124)

Ab Seite 156 stellt Christine Wiezorek – wie oben schon kurz erwähnt – zwei Fallbeispiele ausführlich vor: Die Biografie von „Rolf“ und von „Jochen“. Mir wurde beim Lesen dieser beiden Fälle mal wieder deutlich, dass Zahlen und Rahmendaten wie oben aufgezeigt nur ein erstes Licht auf das werfen, was Kinder erleiden. Erst im biografischen Detail offenbart sich das ganze Grauen. Ich gebe nur kurz einiges wieder:

Fall „Rolf“: Unmittelbar nach seiner Geburt kam Rolf in ein Heim, da seine Mutter eine längere Haftstrafe abzusitzen hatte. Insgesamt hat Rolf eigenen Angaben zu Folge während seiner Kindheit in 9 oder 10 verschiedenen Heimen gelebt, einmal auch in einer psychiatrischen Einrichtung.  Er berichtet, dass er sich weitgehend nicht an seine Kindheit erinnern kann. Dies spricht für besonders schwere und häufige Gewalt-- und Demütigungserfahrungen, die dann abgespalten werden, um  psychisch zu überleben. Rolf hat noch 4 Geschwister, die jeweils einen anderen Vater haben. Konflikte in der Familie aber auch außerhalb wurden oftmals mit Gewalt gelöst. Die Mutter schlug und prügelte Rolfs Geschwister, aber auch Menschen außerhalb der Familie. Einen Mann soll die Mutter derart zusammengeschlagen haben, dass dieser danach im Rollstuhl saß. Hatte Rolf Ärger mit anderen Leuten, wurde die Mutter auch mal handgreiflich diesen Personen gegenüber. Innerhalb der Familie scheint eine generelle Gefühlskälte und Kommunikationsstörung geherrscht zu haben.  Rolf scheint auch einige Zeit auf der Straße gelebt zu haben. Er wurde früh kriminell und auch suchtkrank.

Fall „Jochen“: Auch Jochen lebte einige Jahre seiner frühen Kindheit in einem Heim. Seine Mutter hatte noch zwei Töchter, die aber in einem anderen Heim untergebracht wurden. Jochen wurde also zusätzlich von seinen Geschwistern, mit denen er sich sehr verbunden fühlte, getrennt. Mit ca. 8 oder 9 Jahren kamt Jochen wieder nach Hause zu seiner Mutter, die mittlerweile einen neuen Mann gefunden hat. Dieser Mann, sein Stiefvater, war brutal gegen alle Familienmitglieder. Er schlug und prügelte auch ohne Anlass, eher aus einer Stimmung heraus. Wenn die Mutter dazwischenging und Jochen schützen wollte, erhielt sie die Schläge, was zu ihrem Rückzug führte.  Der Stiefvater  sei außerdem wenig zu Hause gewesen sondern eher in Kneipen und bei seinen Kumpels.  Jochen floh schließlich aus seinem Elternhaus und lebte einige Zeit auf der Straße. Später kam er wieder zurück. Erneut begann eine Spirale der Gewalt in der Familie. Besonders erschüttert wurde Jochen, als seine ältere und schwangere Schwester (die er besonders liebte) mit ihrem Freund in einen anderen Ort zieht, ohne Jochen zu sagen wohin genau. Er verlor dadurch Halt und seinen Rückzugsort, den seine Schwester (und auch deren Freund) für ihn bedeuteten. Nach einem Jahr kam die Schwester allerdings alleine wieder zurück. Sie hatte sich von ihrem Freund, der sie u.a. vergewaltigt hatte, getrennt. Für Jochen brach dadurch sein Vertrauen in die Welt zusammen.
Im Alter von 14 Jahren wurde Jochen zum ersten Mal verurteilt, mit 16 erhielt er seine erste Haftstrafe. Zur Interviewzeit saß er, 22 Jahre alt, bereits seine dritte Haftstrafe ab.

Montag, 13. Juli 2015

Breiviks Vater gibt ein langes, aufschlussreiches Interview

Der Vater von Anders Behring Breivik, Jens Breivik, hat kürzlich für das Süddeutsche Zeitung Magazin (Heft 26/2015, „»Ich hätte gerufen: Erschieß mich zuerst!«) ein langes Interview gegeben. Das Bild, das wir über Anders Kindheit erhalten, wird somit immer komplexer. (Letztlich fehlt nur noch die Aussage der Schwester von Anders) Der Vater selbst fährt im Interview keine klare Linie bzgl. der Frage, warum sein Sohn zum Massenmörder wurde. Er sagt z.B. auf die Frage, ob das Böse Anders "eher wie ein Virus befallen" hätte oder ob eher "eine lange Entwicklung" dahinter stünde, dass niemand daraus schlau wurde, auch die im Prozess beauftragten Psychiater nicht.

Im Interview bestätigt er viele Details, über die vereinzelnd schon berichtet wurde. Z.B. dass er 1983 von einer Nachbarin seiner Ex-Frau angerufen wurde, weil „seltsame Dinge in dieser Wohnung“ geschähen (Streit, laute Stimmen, viel Männerbesuch und das Anders und seine Schwester oft alleine zu Hause waren, auch nachts.). Oder dass Psychologen des Jugendamtes ihn angeschrieben hatten. Nach dem Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung war empfohlen worden, Anders von seiner Mutter zu trennen. Jens Breivik versuchte dann das Sorgerecht zu erstreiten, verlor aber den Prozess.

Für mich besonders interessant ist, dass Jens Breivik auch etwas über die Zeit erzählt, wo Anders noch Baby war (diese bekam er ja einige Monate mit, danach trennte er sich von seiner Frau).  Anders Mutter sei kühl gewesen. „Sie war nicht fürsorglich. Als er ein Baby war, tat sie nur, was getan werden musste, wechselte die Windeln, badete ihn.“ Sie habe ihn nicht in den Arm genommen oder gesagt „Ich hab Dich lieb.“
Jens Breivik deutet auch an, dass seine Frau unbedingt ein Kind wollte, es aber alleine großziehen wollte und für sich beanspruchte. Er bestätigt auch, dass seine Ex-Frau zwei Gesichter hatte und sehr wechsellaunig war.
Aber auch Jens Breivik scheint - "Ich bin kein Gefühlsmensch."- kein besonders emotionaler Mensch zu sein und offenbart auch deutlich väterliche Erwartungen an das Kind Anders, die eher erfolgs- und leistungsbezogen sind, etwas, was Anders nie erfüllte.  Er sei als Vater nie stolz auf seinen Sohn gewesen.

Etwas später sagt er: „Seine Kindheit mag traurig gewesen sein, aber keine Katastrophe.“  Was Aage Borchgrevink über Breiviks Kindheit herausgefunden hat und was sich letztlich auch im Interview mit Jens Breivik zeigt ist, dass diese Kindheit ein einziger Alptraum, eine einzige Katastrophe war! Letztlich wird Jens Breivik am Ende des Gespräches überdeutlich. Er wurde gefragt:  „Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten an einen beliebigen Zeitpunkt seit Anders’ Geburt: Wohin?“ Seine Antwort: "Nach 1983. Ich würde alles unternehmen, damit er kein Terrorist wird, und sofort von Paris nach Oslo zurückziehen, in seine Nähe.


Donnerstag, 9. Juli 2015

Studie: Zahlen über Kindesmisshandlung in 28 Ländern

Ich habe heute eine große Studie - Akmatov, MK (2011): Child abuse in 28 developing and transitional countries—results from the Multiple Indicator Cluster Surveys. International Journal of Epidemiology 40(1): 219-227 - gefunden, die vermutlich auch in bereits hier im Blog besprochenen UNICEF-Studien eingeflossen ist, sie entspricht offensichtlich zumindest den gleichen Standards. Befragt wurden Eltern/Sorgeberechtigte von 124.916 Kindern im Alter zwischen 2 und 14 Jahren in 28 Ländern. Erfasst wurde nur das Gewaltverhalten innerhalb von 4 Wochen vor der Befragung. Die Ergebnisse sagen also nichts über das Gewalterleben während der gesamten Kindheit aus, dies wird entsprechend höher sein! Es gibt eine gute Zahlenübersicht bzgl. aller 28 Länder. Die Zahlen sind nah dran an Datenübersichten, die ich bereits aus Studien von UNICEF besprochen habe. Afrikanische Länder und Länder des Nahen Ostens sind – das zeigt sich hier erneut – die gewalttätigsten Länder im Umgang mit Kindern. Es gibt auch einige Abweichungen verglichen mit der von mir hier besprochenen großen und aktuellsten UNICEF Studie „Hidden in Plain Sight“.

Ich stelle die Abweichung für folgende Länder beispielhaft vor:

Yemen

körperliche Gewalt:  86 %  (UNICEF) / 81,4 % (Akmatov)
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 43 % (UNICEF) / 61 % (Akmatov)
psychische Gewalt: 92 % (UNICEF) / 92,3 % (Akmatov)

Guinea-Bissau

körperliche Gewalt:  74 %  (UNICEF) / 65,2 % (Akmatov)
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 29 % (UNICEF) / 42,9 % (Akmatov)
psychische Gewalt: 68 % (UNICEF) / 66,6 % (Akmatov)

Kamerun

körperliche Gewalt:  78 %   (UNICEF) / 63,2 % (Akmatov)
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 % (UNICEF) / 60,1 % (Akmatov)
psychische Gewalt: 87 % (UNICEF) / 86,1 % (Akmatov)

Irak

körperliche Gewalt:  63 %   (UNICEF) / 66,8 % (Akmatov)
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 % (UNICEF)  / 32,6 % (Akmatov)
psychische Gewalt: 75 % (UNICEF) /79,7 % (Akmatov)

Syrien
körperliche Gewalt:  78 %  (UNICEF) / 74,2 % (Akmatov)
besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 % (UNICEF) / 28,9 % (Akmatov)
psychische Gewalt: 84 % (UNICEF) / 83,1 % (Akmatov)

Elfenbeinküste

körperliche Gewalt:  73 %  (UNICEF)  / 69,9 % (Akmatov)
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 23 % (UNICEF)  / 36,9 % (Akmatov)
psychische Gewalt: 88 % (UNICEF)  / 87,1 % (Akmatov)

Es zeigt sich, dass in der Studie von Akmatov im Vergleich zur UNICEF Studie teils starke Abweichungen bei der besonders schweren körperlichen Gewalt zu finden sind.
Diese Studie wie auch die UNICEF Studien zeigen ein extrem hohes Ausmaß der Gewalt gegen Kinder – vor allem in den Krisenregionen der Welt. Was leider bisher fehlt sind ähnliche systematische und große Übersichten bzgl. dem Gewalterleben während der gesamten Kindheit (z.B. durch Befragungen von Jugendlichen) und die Aufschlüsselungen von Häufigkeiten (täglich Gewalt erlebt, wöchentlich, einmal im Monat oder nur selten?). Sollte eine solche große Studie eines Tages kommen, wird sie vermutlich alle bisher vorhandenen Daten in den Schatten stellen.


Dienstag, 23. Juni 2015

Die emotionale Beschneidung der britischen Eliten in Internaten

Im ZDF Auslandsjournal gab es am 07.01.2015 einen Bericht unter dem Titel  „Kindheit im Internat“.  Der Beitrag ist derzeit noch online in der Mediathek einsehbar.
U.a. Sam Barber kommt in dem Bericht zu Wort. Der Erwachsene hat starke Probleme in seinem Leben, fühlt sich u.a. bindungsunfähig. Mit acht Jahren kam er ins Internat, für ihn der schlimmste Tag in seinem Leben. Sam fühlte sich nicht beschützt und sicher im Internat, einem  Ort, an dem Angst herrschte, wie er sagt. “Irgendwann hört man dann auf zu weinen. Das ist der schlimmste Moment. Wenn man mit dem Fühlen aufhört und sagt: Alles in Ordnung, ich habe mich dran gewöhnt.“
Bereits fünf Jahre alte Kinder werden in Großbritannien in Internate geschickt. Mehr als 80.000 britische Kinder leben weit Weg von zu Hause in solchen privaten Einrichtungen. Und diese Orte verstehen sich meist als Elite-Schmieden, die dortigen Kinder sollen später Karriere machen und die britische Gesellschaft führen.
Der Psychotherapeut und Psychohistoriker Nick Duffel äußert sich im Auslandsjournal wie folgt:
Wer das durchlebt, muss einen Teil seiner Persönlichkeit verleugnen. Die Gefühlswelt, Spontanität, Sexualität, dadurch gibt es Defizite bei der emotionalen Intelligenz. Und die meisten unserer Minister waren in solchen Internaten. Dabei braucht die Welt heute Politiker, die gemeinschaftlich Kompromisse finden können.
Duffel hat über das Thema Bücher geschrieben. Das aktuellste heißt  “Wounded Leaders: the Psychohistory of British Elitism and the Entitlement Illusion”. Auf seiner Homepage gibt es einiges darüber zu lesen und auch Videobeiträge, die aufschlussreich sind. (Einen Blogeintrag von Duffel möchte ich hervorheben. Darin beschreibt er, dass sich die britischen Internate natürlich verbessert haben, Gewalt, Demütigungen und Isolation haben deutlich abgenommen. Es bliebe aber immer das Trauma, von den Eltern getrennt zu werden. Darum geht es! Und ich möchte persönlich anmerken, dass die heutige Machtelite in dieser Region noch Kindheiten in Internaten verbracht hat, wo die Rahmenbedingungen noch nicht so aussahen wie heute.)

Ich finde seine Denkansätze wichtig und interessant. Letztlich geht es um die Frage, was für Menschen wir an der Macht und in Führungspositionen wollen? Ich habe mich hier im Blog schon häufig in der Hinsicht geäußert, dass Machtpositionen sehr reizvoll gerade für die Menschen sind, die als Kind schwere Ohnmachtserfahrungen gemacht haben. Dadurch verstärken sich destruktive gesellschaftliche Prozesse, weil die Führenden – so meine Vermutung – überproportional häufig emotional beschädigt zu sein scheinen. Die britische Gesellschaft scheint dies sowohl historisch als auch immer noch aktuell systematisiert und institutionalisiert zu haben. Kinder werden früh emotional beschnitten, in dem sie aus den Elternhäusern entfernt und dann in Eliteschulen auf die Führung des Landes getrimmt werden. Das ganze wird ihnen sowohl durch die Eltern, die Internatslehrkräfte als auch durch die Gesellschaft als "Wohlwollen" verkauft, wie immer wollen alle nur „das Beste für das Kind“…

Hinweis: In meinem Blog habe ich mich mit den Auswirkungen von Internatszeiten auf Politiker bereits an Hand des Beispieles von Tony Blair befasst.

Donnerstag, 18. Juni 2015

Fall Tugce. Die Mutter von Sanel M.

Nach dem Gerichtsurteil gegen Sanel M., der wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt wurde, bespuckte dessen Mutter draußen ein Foto der toten Tugce Albayrak. Freundinnen und Verwandte von Tugce hatten vor dem Gerichtssaal eine kleine Gedenkstätte errichtet, auch mit Fotos der Toten. Diese Szene wurde in vielen Medien besprochen. Ich verweise an dieser Stelle auf einen Bericht der BILD, weil neben Angehörigen von Tugce auch ein Reporter dieser Zeitung die "Spuckszene" beobachtet hatte.
Neben all der Aufregung um das Verhalten der Mutter fehlt ein weiterer Gedanke: Was ist das für ein Mensch, diese Mutter von Sanel M., und wie erzog sie eigentlich ihren Sohn, als dieser noch klein war?

Es gibt manche destruktive Verhaltensweisen von Menschen, die man entschuldigen kann. Weil sie unüberlegt waren, weil sie aus Schlafmangel/Stress entstanden, im Eifer des Gefechts usw. Nachdem der eigene Sohn den Tod eines anderen Menschen verschuldet hat und abgeurteilt wird auf das Bild der Toten zu spucken gehört für mich zu den Momenten, die nicht entschuldbar sind und die vor allem auch die Grundpersönlichkeit eines Menschen offenbaren. Für mich hat die Mutter des Angeklagten am Ende des Prozesses für alle Welt noch einmal offenbart, warum junge Menschen kriminell und gewalttätig werden: Weil sie in einer kalten Familienatmosphäre aufwachsen.

Montag, 1. Juni 2015

Serienmörder Carl Panzram: „Ich hasse die gesamte verdammte Menschheit, mich eingeschlossen.“

Ich bin aktuell durch den Artikel „History's Most Sadistic Serial Killer“ (OZY, 23.05.2015 – von Melissa Pandika) auf den Serienmörder Carl Panzram aufmerksam geworden. Neben den Schilderungen über seine Kindheit hat mich vor allem folgender Satz von Panzram dazu bewegt, etwas über ihn zu schreiben:
I hate the whole damned human race including myself.“
Selbsthass ist die Grundlage von Hass, der sich gegen Menschen richtet. Ohne Selbsthass (das Gegenteil davon wäre Selbstliebe) wären extreme Taten nicht denkbar und nicht machbar. Auf Arno Gruen (der in all seinen Büchern auf diesen Selbsthass und die Ursachen dafür in der Kindheit eindrücklich hingewiesen hat) bin ich als junger Student durch ein einziges Zitat in einem Buch aufmerksam geworden, das sinngemäß so ging: Hass hat seine Ursache im Selbsthass. Nachdem ich diesen Satz gelesen hatte, musste ich Gruens Bücher lesen und es gingen bei mir manche Lichter an.  Dazu kommt in diesem Fall noch der Bruch mit der Menschheit. Was dann übrig bleibt ist einfach nur noch Zerstörung. Menschen wie Carl Panzram sind zu anderen Zeiten, an anderen Orten die KZ- Kommandanten, Terroristenführer, Kriegsverbrecher, Sklaventreiber, Folterknechte usw.

Carl Panzram (geboren 1891) hat Anfang des 20. Jahrhunderts 23 Menschen getötet und ca. 1.000 Vergewaltigungen begangen. Dazu kommen Einbrüche, Diebstahl usw. Für all seine Taten empfand er keine Reue. (“For all of these things, I am not the least bit sorry.”)

In dem o.g. Artikel wird seine Kindheit erst ab dem Alter von 8 Jahren nachgezeichnet. Denn ab diesem Zeitpunkt verließ der Vater die Familie. Kurz darauf  landete Panzram auf Grund von Einbrüchen in einer Anstalt für straffällig gewordene Jugendliche. Laut OZY wurde er dort "in Sadismus geschult", er wurde misshandelt und vergewaltigt. Laut Wikipedia soll Panzram angegeben haben, dass er bereits am Tag seiner Ankunft dort von dem Anstaltsleiter sexuell missbraucht worden ist.
Nachdem er auf freien Fuß kam, verbrachte er Jahre als Straßenjunge, zog auf Zügen durchs Land. Auf einer dieser Reisen wurde er durch mehrere Männer vergewaltigt. Er kommentiert dies rückblickend so: Dieses Ereignis hinterließ „a sadder, sicker but wiser boy“. Welche „Weisheit“ hinterlässt eine Gruppenvergewaltigung? Wohl die, dass Hass (in seiner Erfahrungswelt) die Welt regiert. Auch als junger Mann erlebte er überall nur Gewalt. Er wurde inhaftiert, dort gedemütigt und misshandelt.

In dem Artikel erfährt man wie schon erwähnt wenig über sein Elternhaus. Für mich steht fest, dass er nicht erst ab dem Alter von 8 Jahren – als sein Vater die Familie verließ - Gewalt erlebte. Carl  war zu dieser Zeit ja bereits schwer kriminell. Auf Wikipedia (siehe Link oben) erfährt man etwas mehr. Carl hatte fünf Brüder und eine Schwester. Er musste bereits in jungen Jahren auf der Farm seiner Eltern arbeiten und scheint keine Zuwendung bekommen zu haben. Seine Brüder verprügelten ihn oft, einmal – als er einen Einbruch begangen hatte – wurde er von seinen Brüdern fast totgeprügelt. Woher kommt denn wohl diese schwere Gewalt der Brüder? Es ist nur logisch, dass im Hause Panzram Mutter und Vater Gewalt gegen die Kinder angewendet haben werden, wahrscheinlich auch in besonders schwerer Form.
Es ist nicht vorstellbar, dass jemand zum Serienmörder wird, der nicht schon seit frühster Kindheit Gewalt und Hass erlebt hat. Alle Indizien deuten darauf hin. Letztlich zeugt ein Ereignis, das im OZY Artikel beschrieben wird, davon, dass Carl Panzram lebenslang keine positiven menschlichen Erfahrungen gemacht hat. Nachdem er als junger Mann im Gefängnis durch Wärter schwer misshandelt worden war, hatte ein anderer Wärter Mitleid. Er gab Panzram eine Dollarnot, damit dieser sich Zigaretten und etwas zu Essen kaufen konnte. John Borowski, der sich viel mit Panzrams Leben befasst hat, kommentierte dies laut OZY so: “No one had ever been kind to him in his life”. Offensichtlich außer dieser einen Positiverfahrung. Manchmal wird aus Menschen, die so viel Hass erfahren haben, jemand, der sich rächt. Wir sollten nicht so tun, als ob grausame Taten nicht deutliche Ursachen haben. Man muss nur hinsehen wollen.



Donnerstag, 28. Mai 2015

Wie häufig und in welchen Schweregraden erleben Kinder in Deutschland körperliche Elterngewalt?

Auf Anfrage habe ich per Email Daten bzgl. der Häufigkeiten von abgefragten Gewalterfahrungen bzgl. der von mir kürzlich besprochenen KFN-StudieRepräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland.“ erhalten (Wiederum aufgeteilt nach Gewaltverhalten von Vätern und Müttern). Diese Daten fehlten in der veröffentlichten Studie. Sie sind besonders wichtig, weil sowohl die erlittene Form der Gewalt (leicht, mittel, schwer, besonders schwer?) als auch die Häufigkeit (selten, manchmal, häufig, sehr häufig?) stark die Folgeschäden mit beeinflussen. Ich hatte bei der Besprechung der Studie bereits beschrieben, dass diese Studie bahnbrechende Entwicklungen belegt: Nie war Kindheit in Deutschland gewaltfreier als heute, jede neue Generation erlebt wiederum noch weniger Gewalt.

Die körperliche Gewalt wird dabei vor allem „selten“ bis „manchmal“ erlebt. Auch diese erlebte Gewalt hat natürlich Folgen, aber tendenziell weit weniger, als wenn Kinder „häufig“ oder „sehr häufig“ Gewalt erleben. Die in der Studie als leichtere Gewalt definierten Gewaltformen (Items 1. bis 3.) wurden von 0,3 % bis 2,3 % der Väter und Mütter „häufig“ oder „sehr häufig“ angewandt. Die schwereren bis sehr schweren Gewaltformen wurden deutlich von unter 1 % der Väter und Mütter „häufig“ oder „sehr häufig“ angewandt. (siehe dazu ausführlich die Zahlen unten)
Man kann auch zusammenfassen: Je schwerer die Gewaltform und je häufiger diese erlitten wurde, desto weniger Kinder sind betroffen; bis letztlich in einen Bereich von 0,037 %  (der kleinste erfasste Wert in der Studie bzgl. einer schweren und „sehr häufig“ erlebten Gewaltform).

Diese Zahlen sind auch bedeutsam im internationalen Vergleich. Man könnte jetzt diese Studie nehmen und sagen „48,6 % der Deutschen im Alter zwischen 16 und 40 Jahren (zum Zeitpunkt der Befragung) haben körperliche Elterngewalt erlebt“ Dieser Satz wäre richtig. Wenn jetzt einer käme und sagt: „Ja aber diese Zahl ist ja nicht Lichtjahre weit weg von Zahlen aus anderen Regionen, immerhin ist fast jeder Zweite betroffen, deswegen kann man nicht ableiten, dass Gewalterfahrungen in der Kindheit massiven Einfluss auf soziale und politische Prozesse nehmen.“, dann irrt dieser Jemand komplett! Denn diese 48,6 % (oder gar die  noch höheren 74,9 % , die in der Vergleichsstudie - Wetzels 1997, S. 146 - aus den 90er Jahren angaben, körperliche Elterngewalt erlitten zu haben, bezogen auf die Gesamtbevölkerung )  erleben nun mal weit aus weniger schwere Gewaltformen und dazu noch weit aus seltener, als das in anderen Teilen der Welt aussieht. (Beispiele siehe hier oder hier) Das Ausmaß, die Häufigkeiten und auch die Schwere der Gewalt sind in manchen Teilen der Welt unvorstellbar hoch und das besonders in den Krisenregionen.

Hier nun die Daten aus der Email / 11.428 Befragte 

1 ... mit einem Gegenstand nach mir geworfen.

Väter

selten 3,9 %
manchmal 1,5 %
häufig 0,4 %
sehr häufig 0,4 %

Mütter

selten 4,3 %
manchmal  1,1%
häufig 0,3 %
sehr häufig 0,4%


2 ... mich hart angepackt oder gestoßen.

Väter

selten 13,1%
manchmal 5 %
häufig 1,6 %
sehr häufig 0,8 %

Mütter

selten 11 %
manchmal 3,5 %
häufig 1 %
sehr häufig 0,7 %


3 ... mir eine runtergehauen.

Väter

selten 21,1 %
manchmal 7,5 %
häufig  2,3 %
sehr häufig 1,3 %

Mütter

selten 21,2 %
manchmal 6,9 %
häufig 2 %
sehr häufig 0,9 %


4 ... mich mit Faust geschlagen, getreten oder mich gebissen.

Väter

selten 1,5 %
manchmal 0,9 %
häufig 0,5 %
sehr häufig 0,5 %

Mütter

selten 1,3 %
manchmal 0,6 %
häufig 0,3 %
sehr häufig 0,3 %


5 ... mich mit einem Gegenstand geschlagen oder zu schlagen versucht.

Väter

selten 3,3 %
manchmal 1,5 %
häufig 0,7 %
sehr häufig 0,6 %

Mütter

selten 4 %
manchmal 1,9 %
häufig 0,6 %
sehr häufig 0,6 %


6 ... mich geprügelt, zusammengeschlagen.

Väter

selten 1,8 %
manchmal 0,8 %
häufig 0,6 %
sehr häufig 0,5 %

Mütter

selten 1,3 %
manchmal  0,8 %
häufig 0,3 %
sehr häufig 0,4 %


Die Items der besonders schweren Gewalttaten wie.„mich gewürgt“ , „mir absichtlich Verbrennungen oder Verbrühungen zugefügt.“,  „mich mit einer Waffe, z. B. einem Messer oder einer Schusswaffe, bedroht.“ oder  „eine Waffe, z. B. ein Messer oder eine Schusswaffe, gegen mich eingesetzt“ führe ich hier der Übersicht halber und auch auf Grund der niedrigen Prozentwerte nicht auf. Die Werte liegen beim Würgen (max. ca. 0,5 % „selten“ bis min. 0,059 % „sehr häufig“) etwas höher als bei den anderen besonders schweren Gewalttaten (max. ca. 0,3 % „selten“ bis min. 0,037 % „sehr häufig“)

Gewalt gegen Kinder nimmt zu - zumindest laut den Medien

Der Journalist Stefan Niggermeier schrieb Ende 2008 einen kurzen Beitrag unter den Titel „Die Medien sind für mehr getötete Kinder“. Auslöser für seinen Beitrag waren in den Medien verbreitete Falschmeldungen über die (angeblich) gestiegene Zahl von Kindestötungen.

Letzte Woche wurde die Kriminalitätsstatistik vorgestellt und in diversen Medienbeiträgen aufgegriffen. Spätestens seit den Missbrauchs- und Misshandlungsfällen in Heimen und kirchlichen Einrichtungen wird in Deutschland überall über Kindesmisshandlung gesprochen. Und das ist auch gut so! Mir scheint es nur so zu sein, dass die richtige Mitte im Umgang mit dem Thema fehlt. Vor allem fehlt noch ein wirklich aufgeklärtes Bild in der Öffentlichkeit über die Geschichte der Kindheit, die Entwicklungstrends (belegt durch diverse Dunkelfeldstudien) hier in Deutschland und vor allem auch das Wissen um das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der ganzen Welt.
Folgt man zumindest der Mehrheit der aktuellen Berichterstattung, dann müssen mit dem Thema weniger vertraute Leser und Leserinnen zu dem Schluss kommen, dass es in Deutschland immer mehr Gewalt gegen Kinder gibt oder dass es zumindest nicht besser wird. Hier und da wird zwar in manchen Beiträgen erwähnt, dass die Anzeigebereitschaft womöglich gestiegen sei, gedeckelt wird dieser Hinweis aber u.a. durch den Aufbau der Artikel, die Überschriften oder die Hinweise auf das Dunkelfeld. Kein einziger Artikel griff aktuelle Zahlen des KFN auf, was sich ja geradezu anbot, weil dort aktuell die größte deutsche Studie zu dem Thema überhaupt durchgeführt und veröffentlicht worden ist. (siehe meinen Beitrag „Aktuelle KFN Studie über Gewalt gegen Kinder in Deutschland: Auf dem Weg zur gewaltfreien Gesellschaft“)

Wie auch immer. Hier nun einige Medienbeiträge, die mir aufgefallen sind (dazu kamen Beiträge im Radio, die ich hörte und die ähnlich formuliert waren) und die oft alleine schon durch die Überschriften und Untertitel klar machen, dass die historische Entwicklung der Gewalt gegen Kinder nicht gesehen wurde.


 „Misshandelt und missbraucht“ – Jeden Tag werden 40 Kinder Opfer von sexueller Gewalt – Fachleute sind entsetzt http://www.svz.de/nachrichten/deutschland-welt/panorama/misshandelt-und-missbraucht-id9750051.html

„Gewalt gegen Kinder nimmt dramatisch zu“
http://www.bild.de/politik/inland/kindesmissbrauch/gewalt-gegen-kinder-nimmt-zu-41000496.bild.html

„Kriminalbericht legt erschreckende Zahlen offen“
http://www.n24.de/n24/Mediathek/videos/d/6664776/kriminalbericht-legt-erschreckende-zahlen-offen.html

"Kinder weiterhin Opfer von Gewalt"
http://www.dw.de/kinder-weiterhin-opfer-von-gewalt/a-18461683

"Schockierende Statistik. Auch Sie kennen vermutlich ein Kind, das missbraucht wird"
http://www.focus.de/politik/deutschland/schockierende-statistik-auch-sie-kennen-vermutlich-ein-kind-das-missbraucht-wird_id_4691843.html

"Zahl der misshandelten Kinder nimmt zu" 
http://www.sueddeutsche.de/panorama/gewalt-gegen-kinder-zahl-der-misshandelten-kinder-nimmt-zu-1.2485615

"Misshandlung von Kindern nimmt zu"
http://www.deutschlandfunk.de/polizeiliche-kriminalstatistik-misshandlung-von-kindern.1818.de.html?dram:article_id=320246

"Erschreckende Bilanz - 2014 ist die Zahl der misshandelten Kinder gestiegen"
http://www.lokalkompass.de/luenen/ratgeber/erschreckende-bilanz-2014-ist-die-zahl-der-misshandelten-kinder-gestiegen-d553178.html


"Kindesmisshandlung ist eine chronische Krankheit" Die Zahl der Kindesmisshandlungen steigt stärker, als von der Polizei berichtet, sagt der Rechtsmediziner Michael Tsokos. Immerhin wird jetzt mehr hingesehen
http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2015-05/kindesmisshandlung-statistik-gewalt-tsokos

Eine große Ausnahme war ein Bericht in der Tagesschau, der auf Grund der selben Ausgangsdaten (Kindestötungen und Anzeigen wegen sexueller Gewalt gegen Kinder sanken nämlich) zu folgendem Titel kommt:
Gewalt gegen Kinder in Deutschland nimmt ab. "Jedes betroffene Kind ist eines zu viel"
http://www.tagesschau.de/inland/kindesmisshandlung-103.html

Montag, 11. Mai 2015

Doku "Das radikal Böse"

Kürzlich hat das ZDF den Dokumentarfilm „Das radikal Böse“ von Stefan Ruzowitzky gezeigt. (leider ist der Film bereits nicht mehr in der ZDF-Mediathek) Ruzowitzky ist studierter Historiker, hat sich in seinem Film aber sehr viel auf psychologische, vor allem auch gruppenpsychologische Thesen bzgl. der Ursachen des Holocaust eingelassen.
Ich möchte den Inhalt des Filmes gar nicht ausführlich besprechen. Der Film zeigt viele interessante Facetten und real wirkende menschliche Gruppenprozesse, deren Wirkungskraft ich gar nicht bestreiten möchte. Erstaunlich ist aber folgendes:
In dem Film kommen einige ausgesuchte Experten ausführlich zu Wort. Darunter auch der Psychiater Robert Jay Lifton, der ab den 1960er Jahren die Psychohistorie mit begründet hat. Lifton, von dem ich keine Arbeiten kenne, hat allem Anschein nach eine andere Herangehensweise an das Thema, als Lloyd deMause. Grundsätzlich bestand aber schon die Wahrscheinlichkeit, dass Stefan Ruzowitzky durch die Beschäftigung mit Lifton auch auf die Psychohistorie nach deMause gestoßen sein könnte. Ich weiß es nicht. Wie auch immer, wie immer fehlte in einer solchen öffentlichkeitswirksamen Doku die Besprechung von Kindheitseinflüssen. Ich warte immer noch auf den Tag, wo sich ein Regisseur ähnlich ernsthaft und ausführlich an die Ursachen extremer Gewalt macht und endlich einmal die Kindheitseinflüsse aufnimmt! Eine Doku, die Thesen von Arno Gruen, Alice Miller und Lloyd deMause ernsthaft aufgenommen hat, ist mir bisher nicht bekannt.

Für mich war „Das radikal Böse“ aber in einem Punkt doch noch interessant. Ich bin hin und wieder schon auf Berichte über Feldpostbriefe gestoßen, wo Kriegsverbrecher nach Hause schrieben.
Einen dieser Briefe habe ich schon in meinem Arbeitspapier erwähnt. Am 10. Oktober 1941 schrieb Walter Mattner an seine Frau in der Heimat über die Tötung von Juden:
Bei den ersten Wagen hat mir etwas die Hand gezittert, als ich geschossen habe, aber man gewöhnt das: Beim zehnten Wagen zielte ich schon ruhig und schoss sicher auf die vielen Frauen, Kinder und Säuglinge. Eingedenk dessen, dass ich auch zwei Säuglinge daheim habe, mit denen es diese Horden genau so, wenn nicht zehnmal ärger machen würden. (...)“

In „Das radikal Böse“ werden etliche ähnliche Briefe (darunter auch der oben erwähnte) zitiert, die die Täter nach Hause schickten. Die Täter des Holocaust waren ja mehrheitlich vor allem eines: Männlich. Die gezeigten Briefe belegen etwas, worüber ich in der Besprechung des Holocaust bisher keine direkte Forschung gefunden habe. Nämlich, dass die Ehemänner offensichtlich nicht davon ausgingen, dass ihre Frauen irgendein Problem mit dem Massenmorden haben würden. Sie schrieben locker drauf los, wie aus dem Urlaub.
Die Ehefrauen zu Hause haben keine Juden ermordet, aber sie stimmten dem Morden offensichtlich ohne jedes Gewissen zu , sonst hätten diese Männer keine so offenen Briefe schreiben können. „Das radikal Böse“ zeigt also ganz nebenbei etwas über verdeckte weibliche Täterschaft. Ein eigenes, interessantes und oft unbeachtetes Themenfeld. .

Dienstag, 14. April 2015

Aktuelle KFN Studie über Gewalt gegen Kinder in Deutschland: Auf dem Weg zur gewaltfreien Gesellschaft

Endlich habe ich die Zeit gefunden, eine der größten Befragungen in Deutschland zu Opfererfahrungen etwas auszuwerten: Hellmann, D. F. (2014): Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. (Forschungsbericht Nr. 122). Hannover: KFN

2011 wurden in Deutschland repräsentativ 11.428 Menschen im Alter von 16 bis 40 Jahren (Geburtsjahrgänge ca. 1971 – 1995) befragt. (wobei türkisch und russisch stämmige Menschen repräsentativ mit enthalten sind) Für mich sind natürlich die Ergebnisse bzgl. der Gewalterfahrungen in der Kindheit am Bedeutsamsten.

Ergebnisse bzgl. körperlicher Elterngewalt:
16 bis 40 Jahre alt (Durschnitt der gesamten Stichprobe)
51,4 % keinerlei körperliche Gewalt
35,7 % mindestens einmal leichte Gewalt erlebt
13 % schwere Gewalt

Männer erlebten insgesamt etwas mehr körperliche Gewalt als Frauen. 54,2 % der Frauen sind in der Kindheit gewaltfrei  aufgewachsen, dagegen  48,6 % der Männer.

Schaut man sich die einzelnen Altersgruppen an, fällt der Rückgang der Gewalt besonders auf!

16- bis 20-Jährige (Geburtsjahrgänge ca. 1991 – 1995) 61,7  % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt
21- bis 30-Jährige (Geburtsjahrgänge ca. 1981 -1990): 53,6 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt
31- bis 40-Jährige(Geburtsjahrgänge ca. 1971 -1980): 44,9 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt

16 bis 20-Jährige: 29,8 % mindestens einmal leichte Gewalt erlebt
21- bis 30-Jährige: 34,8 % mindestens einmal leichte Gewalt erlebt
31- bis 40-Jährige: 39 % mindestens einmal leichte Gewalt erlebt

16 bis 20-Jährige: 8,5 %, mindestens einmal schwere Gewalt erlebt
21- bis 30-Jährige: 11,7 % mindestens einmal schwere Gewalt erlebt
31- bis 40-Jährige: 16,2 % mindestens einmal schwere Gewalt erlebt

(S. 82+83)

In der Studie nicht enthalten waren Schweregrade und Häufigkeiten des Gewalterlebens. Diese sind allerdings abgefragt worden und mir auf Anfrage per Email vom KFN mitgeteilt worden. Siehe entsprechende Daten hier: "Wie häufig und in welchen Schweregraden erleben Kinder in Deutschland körperliche Elterngewalt?" Die Daten zeigen, dass die meiste körperliche Gewalt "selten" gefolgt von "manchmal" erlebt wurde. "Häufige" oder "sehr häufige" Gewalterfahrungen wurden deutlich seltener angegeben.

Ergänzende Auswertung innerhalb der Studie bzgl. eigenem Gewaltverhalten gegen Kinder
1.586 Befragte lebten mit Kindern (eigenes, Pflegekinder etc.) unter 18 Jahren in einem Haushalt und beantworteten Fragen zu eigenem Gewaltverhalten gegen das eigene Kind. Sie waren im Schnitt bei der Befragung ca. 33 Jahre alt (Geburtsdatum im Schnitt ca. 1978)
21,4 % berichten, dass sie mindestens einmal leichte Gewalt (z.B. „mit einem Gegenstand nach dem Kind geworfen“, „das Kind hart angepackt oder es gestoßen“ oder „dem Kind eine runtergehauen“ ) gegen das eigene Kind angewendet hatten. 1,3 % hatten schwere Gewalt (angefangen bei „das Kind mit der Faust geschlagen, getreten oder gebissen“ bis hin zu „das Kind geprügelt, zusammengeschlagen“) gegen das eigene Kind angewendet. (S. 157)
Diese Zahlen bedeuten auch, dass ca. 78 % der jungen Eltern ihre Kinder bis zum Zeitpunkt der Befragung niemals körperlich angegangen sind. Dies würde auch dem allgemeinen oben festgestellten starken Trend des Gewaltrückgangs entsprechen. Leider wurde in der Studie nicht angegeben, wie alt die Kinder der Befragten im Schnitt sind. Aufgrund des Altersschnitts der befragten Eltern ist davon auszugehen, dass die Kinder aus den Geburtsjahrgängen ab dem Jahr 2000 stammen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass wir auf eine Gesellschaft zusteuern, in der bald fast keine Kinder mehr körperliche Elterngewalt erleben werden!

In der Studie wurde ebenfalls ein starker Rückgang des sexuellen Missbrauchs (mit Körperkontakt) von Kindern festgestellt. (darüber hatte schon einmal berichtet) :

16- bis 20-Jährige Frauen (Geburtsjahrgänge ca. 1991 – 1995) 3 %
21- bis 30-Jährige Frauen (Geburtsjahrgänge ca. 1981 -1990): 7,2 %
31- bis 40-JährigeFrauen (Geburtsjahrgänge ca. 1971 -1980): 9,5 %

16- bis 20-Jährige Männer (Geburtsjahrgänge ca. 1991 – 1995) 0,9 %
21- bis 30-Jährige Männer (Geburtsjahrgänge ca. 1981 -1990): 1,4 %
31- bis 40-Jährige Männer (Geburtsjahrgänge ca. 1971 -1980): 1,8%

(S. 104)

Auch in diesem Gewaltfeld steuert die deutsche Gesellschaft also letztlich auf einen Wert in Richtung 0 % zu!
Das Erstaunliche ist, dass diese Studie in manchen Medien zwar kurz besprochen wurde, keiner  traut sich allerdings in Jubelstürme auszubrechen. Dabei sind diese Zahlen eine echte Sensation! Sie sind bahnbrechend, vor allem wenn man um die Geschichte der Kindheit weiß. Ich werde die o.g. Zahlen zur körperlichen Gewalt in Kürze auch in meinen Text „Gewalt gegen Kinder in Deutschland in Zahlen. 1910 bis Heute“ aufnehmen.

Donnerstag, 26. Februar 2015

Kindheit von Charles Manson


Charles Manson steht in der medialen Wahrnehmung für das Böse an sich.

Ich habe mir online einige Interviews mit ihm und auch zwei Dokumentationen angesehen. Und ich muss sagen, dass ich ihn in keinster Weise beeindruckend oder charismatisch finde. Ich erinnere mich, dass ich früher als Jugendlicher oft Gänsehaut bekam, wenn ich auszugsweise die hasserfüllten Reden von Adolf Hitler im Fernsehen hörte. Dieses unverfrorene, direkte böse Reden bewirkte ein wie auch immer gelagertes inneres Entsetzen und Erschüttert sein und irgendwie auch Angst vor so etwas wie „dem Bösen“. Hitlers Reden berühren mich schon lange nicht mehr. Ebenso die Reden von Charles Manson. Beide machen mir vor allem keine Angst vor „dem Bösen“. Das ist es glaube ich, was mich früher beunruhigte. Das so etwas wie „das Böse“ existieren könnte, etwas, das irgendwie von Außen – in einem quasi religiösem Sinne- in die Menschen kommen könnte. Wenn ich heute Menschen wie Hitler und Manson reden höre, dann sehe ich einfach nur Leere. Armselige Leere. Nichts, was irgendwie beeindruckend oder beängstigend sein könnte. Angst muss man nur haben, wenn solche leeren oder auch innerlich tote Menschen plötzlich Menschen um sich gruppieren und zu Macht kommen. Manson war ein solcher Mensch, der zu Macht kam und dadurch Unheil anrichten konnte. Und sein Größenwahn war ähnlich ausgeprägt wie der von Hitler. Nach Mansons damaligen „Helter Skelter Theorie“ wäre nämlich er nach einem Rassenkrieg zum alleinigen Führer der USA aufgestiegen. 
„Das Böse“ in ihm war allerdings hausgemacht, d.h. durch leibhaftige Menschen selbst reproduziert. Seine Kindheit erinnert an die unvorstellbaren, alptraumhaften Kindheiten von denen auch Gilligan und Pincus in ihren Arbeiten mit und über grausame Mörder berichtet haben. Es gab keine Liebe, keine Hilfe, keine Hoffnung; nur Hass, Gewalt und Dunkelheit, von Geburt an. Manson selbst sieht diese Zusammenhänge sehr deutlich (dazu unten ein Zitat).

Ich habe das Buch „Charles Manson. Meine letzten Worte“ von der Journalistin Michal Welles (2011 im Hannibal Verlag, Höfen erschienen) als Online-Kindle Buch durchgearbeitet. Welles hat Manson über einem Zeitraum von 20 Jahren immer wieder in der Haft besucht und mit ihm gesprochen. In ihrem Buch lässt sie ihm viel Raum, um zu Wort zu kommen. Seine Kindheit erklärt vieles und entschuldigt dennoch nichts.

Seine Mutter sei ständig betrunken gewesen, erinnert sich Manson an seine Kindheit. (Kapitel „Über Mich“, Position 974) Sie selbst floh erstmals im Altern von 15 Jahren von ihrem zu Hause und wurde zur Kriminellen mit häufigen Inhaftierungszeiten. (Als Charles geboren wurde, war seine Mutter – laut Wikipedia – gerade 16 Jahre alt.) Sie wollte später unbedingt verhindern, dass Charles bei ihren Eltern (seinen Großeltern) aufwuchs und setzte sich dafür ein, dass er in ein Heim kam (was letztlich klar macht, aus welch schlimmen Verhältnissen sie selbst kam.) „Sie konnte ja nicht ahnen, dass für Jungen, die unter staatlicher Obhut standen, das Bett in der Hölle gemacht ist.“, so Manson wörtlich dazu.  (Kapitel „Über Mich“, Position 974) Er berichtet daraufhin über seine Heimunterbringung bei einer christlichen Organisation, über die heiligen Väter und Nonnen, „die mich windelweich prügelten und dabei behaupteten, es sei nur zu meinem Besten.“ (ebd.)  Manson stand nach eigenen Angaben mit 11 Jahren alleine auf der Straße. Er überlebte u.a. durch kriminelle Taten. Mit 13 Jahren kam er dann, nachdem er festgenommen worden war, in ein Erziehungsheim, floh, wurde wieder festgenommen, kam in ein anderes Heim usw. (Kapitel „Über Mich“, Position 992)
Den ersten Knacks bekam ich gleich zu Anfang, nachdem man mich in ein Heim gesteckt hatte. Ich war erst sechs, als mich ein Junge von vielleicht 14 Jahren missbrauchte. Anschließend beschimpfte er mich und erzählte jedem, was für ein süßes Mädchen ich gewesen war. Es war einfach niemand da, zu dem ich hätte gehen können. Es gab keine Hilfe.“ (Kapitel „Keine Tränen mehr“, Position 1043-1061)
Wenn Du kapierst, dass deine eigene Mutter dich nicht lieben kann, dann verändert es dich und deine Stellung in der Welt.“ (Kapitel „Erinnerungen an ganz, ganz früher“, Position 1118)
Manson berichtet, wie seine Mutter war, wenn sie getrunken hatte (was oft vorkam). Sie fing an, ihn zu beschimpfen und ihn zu verprügeln. „Sie verfolgte mich durch die schmierige Küche (…) brüllte meinen Namen und schrie, sie würde mir mein dreckiges Maul stopfen und mein armseliges Dasein beenden, wenn sie mich erwischen würde. `Dann wirst Du anderen Leuten nicht mehr das Leben schwer machen können. Du elende kleine Ratte.` So ging das immer und immer weiter. Wenn ich heulte, hasste sie mich nur noch mehr. `Hör auf, wie ein kleines Mädchen rumzuflennen. Was bist du nur für ein Weichei!` Sie schrie und brüllte und verfolgte mich durch die ganze Wohnung. (…) Und schau mich heute an. Wo ich bin. Wer ich geworden bin. Für wen ihr mich alle haltet, und wieso  ihr nicht wollt, dass ich je wieder aus dem Knast rauskomme. Der geheime Fluch, der all das in Gang setzte, wurde damals in dieser dreckigen Wohnung ausgesprochen, als ich mein Vertrauen in die Welt verlor und keinerlei Hoffnung mehr hatte, dass man mich wirklich und wahrhaftig lieben würde.“ (Kapitel „Erinnerungen an ganz, ganz früher“, Position 1137) Nach diesen Ausführungen schwenkt er wieder zu seinen Heimaufenthalten und den Demütigungen und Bestrafungen (er benutzt auch das Wort „Folter“) , denen er dort ausgesetzt war. Er wäre im Alter von 10 Jahren in einem christlichen Heim zum Teufel erklärt worden. „Ich floh aus dieser Anstalt, nachdem man mich fast totgeprügelt hatte, weil ich vorm Essen nicht gebetet hatte.“ (ebd.) Manson berichtet dann, wie er einmal im Alter von 11 Jahren eine gute Nonne auf der Straße traf, die ihn kurz aufnahm. Sie wollte etwas von ihm und seinem Leben erfahren. Er fasst zusammen: „Als ich ihr erzählte, ich sei schon seit 11 Jahren auf der Flucht davor, gehasst, abgelehnt und bestraft zu werden, und auf den Straßen sei es selbst an einem solchen Tag (Anmerkung: es war kalt und nass zu der Zeit) wärmer als dort, wo ich herkam, da traten Tränen in ihre alten, müden, braunen Augen.“ Charles Manson hat mit diesem Satz im Grunde die ganze Hölle seiner Kindheit von Geburt an auf den Punkt gebracht.

Seinen Vater hat Charles Manson nie kennengelernt. Der Freund, mit dem seine Mutter gerade bei seiner Geburt zusammen war, gab ihm seinen Nachnamen: Manson. Dieser war nie da und gab ihm nie das Gefühl, in ihm einen Vater zu haben, so Manson. (Kapitel „Vater“, Position 1201)

Ich halte es für enorm wichtig, Kindheitsgeschichten von Mördern und Massenmördern nicht einfach nur kurz mit Worten wie "unglückliche Kindheit" oder "geprügeltes Kind" zu kennzeichnen (was oft in Medien geschieht). Ihre Taten werden erst richtig zu erklären sein, wenn man sich die Details anschaut, das ganze Ausmaß der Leidensgeschichte.

An einer Stelle erklärt Manson übrigens seinen Erfolg als Sektenguru. „Alle von diesen jungen Leuten, die bei uns landeten, hatten etwas in sich, was an ihnen nagte, ihnen die Ruhe und das Selbstvertrauen untergrub und ihr eigentliches Ich zerstörte. Und ich, der ewige Knacki, das Straßenkind, das schon im Kleinkindalter getürmt war, der Sünder seit dem Tag seiner Geburt, ich stand da und erklärte ihnen, dass mit ihnen alles in Ordnung war. Das allein war schon ein Schock. Als ich ihnen dann noch zu sagen wagte, dass ihre Eltern falsch gehandelt und nicht das Recht gehabt hatten, ihnen die Seelen zu stehlen, entstand daraus die geheime Mischung, aus der meine Macht erwuchs.“( Kapitel „Vater“, Position 1218)  Die von ihm gegründete Gemeinschaft oder Sekte nannte sich auch "The Family" oder "The Manson Family". Führer und Gefolgschaft vereinte offensichtlich ihre destruktive Kindheitsgeschichte, ihre Suche nach Halt/Anerkennung und ihre Rachefantasien.

Dienstag, 17. Februar 2015

Papst befürwortet im Prinzip Gewalt gegen Kinder und verrät dabei viel über sich selbst.

Am 04.02.2015 hat sich Papst Franziskus in seiner wöchentlichen Generalaudienz im Prinzip für Körperstrafen gegen Kinder ausgesprochen. Sein entscheidender Satz lautete: 
"Einmal habe ich einen Vater bei einem Treffen mit Ehepaaren sagen hören: 'Ich muss manchmal meine Kinder ein bisschen schlagen, aber nie ins Gesicht, um sie nicht zu demütigen'." "Wie schön!", erklärte Franziskus. "Er weiß um den Sinn der Würde. Er muss sie bestrafen, aber tut es gerecht und geht dann weiter." (siehe z.B. ZEIT-Online) Seine Äußerungen kann mensch auch als Video auf youtube sehen. Als der Papst mit den Worten „Wie schön!“ beginnt, hebt er belehrend und unterstreichend die rechte Hand (Daumen und Zeigefinger verbindend) und gleitet in ein Lächeln ab, als er auf die „Gerechtigkeit“ der Strafe zu sprechen kommt. Ich fand seine Aussage und Gesten sehr authentisch. Sprich: Er glaubt wirklich, dass Körperstrafen „gerecht“ und „würdevoll“ sein können und Sinn machen, um Kinder väterlich zu „korrigieren“ (Dass Väter ihre Kinder mit „Bestimmtheit korrigieren“ sollen, sagte er vorher in seiner Rede.)

Dazu habe ich (passend zur kirchlichen Tradition) dreifaltige Anmerkungen:

1. Die Reaktionen in den deutschen Medien und auch in Kommentarbereichen entsprechender Artikel über die Papstaussage sind eindeutig kritisch. Gewalt gegen Kinder kann niemals würdevoll sein und ist falsch, das ist die überwiegende Reaktion. Ist das nicht großartig? Noch vor 15-20 Jahren hätte es kaum derart breite kritische Anmerkungen in den Medien bzgl. der Papstaussage gegeben.

2. Viele befürchten, dass der Papst durch seine Äußerungen Gewalt in der Erziehung befördern könnte. Das glaube ich weniger. Er stützt eher die, die sowieso schon schlagen. Eltern brauchen keine päpstlichen Belehrungen, um Schläge auszuteilen. Sie kommen alleine darauf, weil sie nur das weitergeben, was sie selbst als Kind erlitten haben.
Anders wäre es gewesen, wenn er sich eindeutig gegen jegliche Gewalt in der Erziehung gestellt hätte. Da hätte manch gläubiger Katholik vielleicht Denkanstöße mit nach Hause bekommen.

3. Das besonders Erschreckende an seinen Äußerungen ist etwas, dass in den Medien nicht angesprochen wurde. Die o.g. Papstaussage lässt die starke Vermutung zu, dass Franziskus selbst als Kind geschlagen wurde. „Auf Nachfrage verteidigte Vatikan-Vertreter Thomas Rosica die Thesen des Papstes.“, schreibt die ZEIT.  „Wer habe nicht schon einmal sein Kind gezüchtigt oder sei von den Eltern gezüchtigt worden, schrieb Rosica in einer E-Mail. Der Papst habe nicht über Gewalt oder Grausamkeit gegenüber Kindern gesprochen, sondern vielmehr darüber, jemandem zu Wachstum und Reife zu verhelfen.“ Der Papst-Sprecher Rosica spricht im Grunde also aus, was ich vermute. Wer sei nicht schon einmal als Kind geschlagen worden?, antwortet er, wohl auch im Namen des heiligen Vaters Franziskus. (Rein statistisch ist es eh extrem wahrscheinlich, dass er als Kind geschlagen wurde. Er ist Jahrgang 1936 und stammt zudem aus Südamerika, wo das Schlagen von Kindern auch heute noch sehr weit verbreitet ist) 
Nun möchte ich nicht schreiben, dass es grundsätzlich erschreckend ist, dass ein – vermutlich – als Kind Geschlagener so eine mächtige Position wie die des Papstes inne hat (Natürlich sind die Mächtigen in der Welt eh den gleichen Erziehungspraktiken ausgesetzt gewesen, wie das Volk) Erschreckend ist, dass dieser mächtige Mensch offensichtlich weiterhin mit dem Aggressor identifiziert ist (wobei es da unterschiedlich starke Ausprägungen gibt) Wo elterliches Gewaltverhalten mit einem Lächeln unterstrichen wird und Gewalt mit positiven Begriffen wie „Würde“ und „Gerechtigkeit“ verbunden wird, da stimmt etwas nicht in dem emotionalen Zugang zur Welt, da wurde die eigene Wahrnehmung einst vernebelt und verdreht. Die Frage ist, in wie weit dies politisch-kirchliche Entscheidungen ggf. mit prägt. Und eine andere grundsätzliche Frage ist auch, in wie weit eine Organisation wie die katholische Kirche - mit ihren festen Hierarchien, ihren festen Strukturen und Erklärungen von Welt – in besonderem Maße Menschen anzieht, die durch ihre Kindheitserlebnisse aus der Bahn geworfen wurden und Sinn und Halt suchen. Ohne dass ich dies jetzt zwangsläufig negativ bewerte, denn ein religiöses Auffangen, dass nicht zu Gewalt und Destruktivität führt, kann ja auch nützlich sein.

Übrigens hat einzig die Pädagogin Katharina Saalfrank in einem offenen Brief an den Papst den vorgenannten Gedanken ebenfalls öffentlich gemacht (Danke an Mario für den Hinweis auf den Brief im Gästebuch!) Sie schreibt: "Im Grunde aber strafen die Erwachsenen zumeist, weil sie als Kinder selbst geschlagen wurden und unbewusst etwas selbst Erlebtes wiederholen. Würden wir uns gegenüber sitzen, so würde ich die Frage stellen, wie war es eigentlich bei Ihnen? Vermutlich haben Sie selbst Schläge erlebt und die Programmierung „es geschieht zu Deinem Besten“ hat vortrefflich funktioniert." (siehe hier)

Dass Eltern Kindern nicht immer gerne ins Gesicht schlagen, hat übrigens oft einen ganz anderen Grund, als den, sie – angeblich -  nicht „in ihrer Würde zu verletzten“. Schläge ins Gesicht hinterlassen sichtbare Spuren für Nachbarn, Lehrer und Umfeld und das könnte im Zweifel Konflikte hervorrufen.

Anmerkung:
Im Kommentarbereich des o.g. ZEIT-Artikels hat übrigens jemand im Kommentar Nr. 3 folgendes geschrieben:
"Ich bin froh darüber, dass mich mein Vater damals als ich mit 11 Jahren angenfangen habe aus meinen elterlichen Portmonee Geld zu stibitzen mir einpaar gescheurt hat. Oder meine Mutter als ich mehrere 6er hintereinander nach Hause gebracht habe nur wegen Faulheit. Es hatte seine nachhaltige Wirkung.
Alles was ich heute bin oder erreicht habe, habe ich meinen Eltern zu verdanken. Meinen Eltern war ich halt nicht einfach egal wie bei anderen Eltern es so oft der Fall ist.
Es gibt halt einfach schwierige Kinder wo einfache Strafen wie Hausarrest oder einfaches reden nicht wirklich hilft. Bei mir war das auch nicht anders. Und nicht jede Eltern sind irgendwelche pseudo Psychologen."
Solche Kommentare finden sich vereinzelnd fast immer unter solchen Themenartikeln. Erschreckend ist dabei, wie deutlich zu sehen ist, wie das einst geschlagene Kind die Sicht der Eltern übernahm und sich unterwarf. Es ist das eigentlich ver-rückte, dass Erwachsene ihren Eltern rückblickend dankbar für Schläge sind. Ach, was hätte der Papst wohl dazu gesagt?


Montag, 26. Januar 2015

Studie: Den meisten Kindern in Deutschland geht es wirklich gut

Entgegen aller dunklen Themen in diesem Blog bleibe ich Optimist, was die weitere Entwicklung der Kindheiten angeht. Deutschland scheint da ein richtiges Zugpferd und Vorbild zu sein, das legen viele hier im Blog besprochene Daten nahe, wie auch eine aktuelle Studie.

Für die Zeitschrift Eltern wurden - jeweils in eigenen Studien und Befragungen - Eltern (1.006)und Kinder
(727 Kinder von 6 bis 12 Jahren) in Deutschland repräsentativ befragt.  (Eltern, 12.01.2015, „Eltern 2015 – wie geht es uns? Und unseren Kindern?“)

77 % der Kinder meinen, dass sich ihre Eltern sehr gut verstehen und sich lieben.

Über 90 % der Kinder fühlen sich von ihren Eltern so geliebt, wie sie sind; fühlen sich bei ihren Eltern immer sicher und wohl und empfinden ihre Eltern als die besten Eltern, die sie sich vorstellen können.

93 % der Kinder finden es schön auf der Welt zu sein und 83 % meinen, dass es ihnen richtig gut geht.


Die Studie zeigt auch: Die Eltern sind gestresst und haben hohe Ansprüche an sich (höhere, als früher). Doch sind nicht die positiven Rückmeldungen der Kinder auch mal ein Eigenlob wert? Diese Frage steht so sinngemäß am Ende der Studie und dort steht auch: "Großartige Eltern, glückliche Kinder." Dem kann ich nur zustimmen.

Samstag, 24. Januar 2015

Anschlag auf Charlie Hebdo. Die Kindheit der Täter

Ich hatte kürzlich in einem Beitrag darauf hingewiesen, dass die beiden Brüder Chérif und Saïd Kouachi, die für den Terroranschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" verantwortlich sind, in einem Heim aufgewachsen sind. Den alten Beitrag lösche ich hiermit, da u.a. der SPIEGEL (Nr. 4 / 17.01.2015) mit einem Titelthema zu dem Anschlag etwas ausführlichere Informationen über Kindheit und Jugend recherchiert hat.

Der entsprechende SPIEGEL Artikel trägt den Titel „Das waren gute Kinder“ (S. 77-84; der Artikel ist auch online in englisch hier zu lesen) Eine ehemalige Erzieherin in dem Kinderheim hatte diesen (Titel-)Satz bzgl. ihrer früheren Schützlinge zu Protokoll gegeben.
Ich hatte mich in dem nun gelöschten Beitrag rein auf die Heimunterbringung konzentriert, da es in diversen Medien hieß, beide Brüder wären in sehr früher Kindheit nach dem Tod beider Eltern ins Heim gekommen. Der SPIEGEL zeigt da jetzt ein anderes Bild. Der Vater der Brüder starb 1990 an Krebs. Chérif ist zu dem Zeitpunkt ca. 8, sein Bruder Saïd ca. 10 Jahre alt. „(…) die Mutter bekam noch eine weitere Tochter mit einem anderen Mann. Sie fühlte sich überfordert mit den vielen Kindern, erzählt der Heimleiter. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Schulnoten der Brüder schlechter, sie wirkten verwahrlost. Das Pariser Jugendamt schickt die vier ältesten Geschwister in das Kinderheim nach Treignac, wo sie am 03. Oktober 1994 ankamen.“  (DER SPIEGEL, 17.01.2015, S. 78) Chérif ist 11 Jahre alt bei seiner Heimunterbringung, sein Bruder Saïd ist gerade 14 Jahre alt geworden. Die Mutter telefonierte laut SPIEGEL regelmäßig mit den Kindern, kam aber nie zu Besuch. Ca. drei Monate nach der Heimunterbringung stirbt die Mutter Anfang 1995. 

Es gibt Berichte, dass sich die Mutter der Brüder nach dem Tod des Vaters prostituierte, um die Kinder durchbringen zu können. Die Brüder hätten ihre Mutter eines Tages tot in der Wohnung gefunden. Von einer Überdosis Drogen ist die Rede und von Selbstmord.  (vgl. The National, 18.01.2015, “From orphans to terrorists: journey of the Kouachi brothers” und The Telegraph, 19.01.2015, “Charlie Hebdo killers 'traumatised by mother's suicide' ”; beide Artikel berufen sich wohl  auf den Artikel “L’enfance misérable des frères Kouachi” vom 15.01.2015 auf “reporterre”, den ich leider weitgehend nicht verstehe, da ich kein französisch kann. Durch googel kann man ihn allerdings übersetzen lassen und erhält zumindest einen Eindruck. Der Titel sagt schon vieles (übersetzt): "Die unglückliche Kindheit der Brüder Kouachi")
Im SPIEGEL werden die Abläufe anders dargestellt, die Mutter starb demnach erst nach der Heimunterbringung.  Von einem möglichen Selbstmord der Mutter ließt man allerdings auch auf Wikipedia unter Berufung auf einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 17.01.2015.

Es gibt also noch einige Unklarheiten und Fragezeichen. Es baut sich allerdings ein Bild auf. Egal welcher o.g. Quelle und Darstellung man folgt, so oder so, diese Kindheiten waren ein Alptraum. (Was nichts entschuldigt!)
Ein Titel wie „Das waren gute Kinder“ (wie vom SPIEGEL gewählt) lenkt eher ab. Vielmehr sollten die offenen Fragen beantwortet werden. Die Spitze des Eisberges (die vorgenannten Hintergrundinfos) sind erschreckend genung, doch wie sahen die Kindheiten in der Familie Kouachi genau aus, was passierte alles im Laufe der Jahre? Gab es Gewalt als Mittel der Bestrafung? Andere Übergriffe? Geschwister der Brüder leben noch, man könnte die Fragen klären, wenn man wollte.

Eine aktuelle UNICEF Studie stellte bzgl. des Heimatlandes der Eltern der Attentäter fest, dass 88 % der aktuellen Kindergeneration in Algerien körperliche und/oder psychische Gewalt erleben. 75 %  erleben körperliche Gewalt, besonders schwere körperliche Gewalt ca. 25 % und rein psychische Gewalt 84 %. Das Ganze gilt nur für das Gewalterleben innerhalb eines Monats vor der Befragung! Algerien gehört demnach zu einem der gewaltvollsten Ländern der Welt, was den Umgang mit Kindern angeht. Die Vermutung liegt - alleine aus statistischen Gründen - nahe, dass im Hause Kouachi eher ein nicht liberaler Erziehungsgeist herrschte, sondern das genaue Gegenteil davon.


Montag, 5. Januar 2015

Kindheiten von RAF-Terroristen

Nachträglicher Hinweis: Die Kindheiten von Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Inge Viett, Horst Mahler, Stefan Wisniewski, Peter-Jürgen Boock, Lutz Taufer und Astrid Proll habe ich  in meinem Buch besprochen und dabei Infos und Quellen eingebracht, die ich zum Zeitpunkt dieses Blogbeitrages noch nicht vorliegen hatte. Irgendwann werde ich auch den Blog bzw. diesen Beitrag hier dahingehend aktualisieren. 

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Gleich Anfang des Jahres 2015 hatte ich ein „Aha-Erlebnis“. Ich googelte etwas über die Kindheit von RAF Terroristen. U.a. auch über Peter-Jürgen Boock. Ich fand die Information, dass Boock im Alter von 16 Jahren von seinen Eltern in ein Kinderheim (zur damaligen Zeit sehr strenge und gewaltvolle Orte für Kinder, wie wir heute wissen)  gesperrt wurde. Das Schicksal wollte es, dass Boock gerade dort die RAF-Gründer Andreas Baader und Gudrun Ensslin kennenlernte (diese engagierten sich damals für Heimkinder) bzw. diese ihn quasi aus dem Heim heraus rekrutierten. Er habe Baader geliebt, gestand Boock in einem Interview. „Da gab es einen Grad von Verlässlichkeit, wie er mir vorher in meinem Leben nicht begegnet war.“ (Kölner Stadtanzeiger, 23.04.2007, „ Boock hat nicht den besten Leumund“)
Während ich nach weiteren Informationen über Boocks Kindheit suchte (und keine fand) stieß ich - zu meinem eigenen Erstaunen - auf meinen Blog. Und zwar auf mein Nachwort zum „Grundlagentext“, in dem ich 2008 folgendes geschrieben hatte:
Am 18.10.07 gab es auf dem Sender N-TV eine Dokumentation über den „Terror der RAF“, in der auch der Ex-Terrorist Peter-Jürgen Boock interviewt wurde. Er sagte dort aus, dass der Moment der Schleyer Entführung (damals kamen während der Entführung auch Begleiter von Schleyer ums Leben; Schleyer selbst wurde später umgebracht) und nachdem alles so „glatt gelaufen“ wäre, er sich so lebendig gefühlt habe, wie nie zuvor in seinem Leben. Wenn sich ein Mensch nur mit Hilfe von Terror „lebendig“ fühlen kann, dann sagt das viel über tiefere, emotionale Ursachen seiner Taten aus, die im Kern nichts mit politischen Zielen oder der Zeit usw. zu tun haben, wie ich meine.“
Ich hatte diese Textstelle glatt vergessen...
Nachträglich geben mir die o.g. Informationen über die Heimunterbringung von Boock Recht bzgl. meiner Gedanken aus dem Jahr 2008. Über Boocks Eltern habe ich noch nichts gefunden. Aber: Welche Eltern geben ihr Kind in ein Heim? Es muss eine Menge Destruktivität im Hause Boock geherrscht haben. So viel Destruktivität, dass sich der später Erwachsene lebendig fühlte, als ein anderer Mensch litt.

Der RAF Terrorist Stefan Wisniewski wurde ebenfalls von seinen Eltern als Jugendlicher in ein Heim gegeben. Siebenmal flüchtete er innerhalb eines Jahres, wurde aber immer wieder von der Polizei zurückgebracht. (SPIEGEL-Online, 23.04.2007, „Stefan Wisniewski: Wie aus einem Provinzler die Furie der RAF wurde“)
Ich habe mich bisher nur häppchenweise mit den Kindheiten von RAF-Terroristen befasst. In meinem Blog gibt es bisher nur einen Beitrag über die Kindheit von Inge Viett, die ebenfalls in einem Kinderheim und zwischenzeitlich auch bei Pflegeeltern lebte.

Bzgl. Ulrike Meinhof ist mir bisher nur die wichtige Info bekannt, dass ihr Vater starb, als sie fünf Jahre alt war. Sie ist vierzehn, da stirbt ihre Mutter an Krebs. Dies an sich spricht für eine sehr traumatische Kindheit. (Zudem war sie - Jahrgang 1934 - ein Kriegskind) Ich bin aber davon überzeugt, dass es noch mehr braucht, um zum Terroristen zu werden. Wie war der Umgang der Eltern (zu deren Lebzeiten) mit ihr? Gab es Vernachlässigungs- und Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit?

Über Andreas Baader fand ich im Internet in diversen Quellen bisher nur die Info, dass er seinen Vater nie kennengelernt hat, da dieser verstarb. Er wuchs in einem Haushalt mit Mutter, Tante und Großmutter auf und soll verwöhnt worden sein. Ich zitiere nicht gerne Diplomarbeiten, aber in folgender fand ich die Info, dass er auch längere Zeit von seiner Mutter getrennt war. Die Mutter ließ Andreas nach Kriegsende bei seiner Großmutter in Thüringen und versuchte in München Geld für die Familie zu verdienen. Erst 1949 - Andreas war sechs Jahre alt - zog die Familie gemeinsam nach München und Mutter und Sohn lebten - nach Jahren der Trennung - wieder zusammen. (vgl. Hofböck, Carina (2010): Die Berichterstattung über die RAF-TerroristInnen in den österreichischen Printmedien. Uni Wien, Diplomarbeit, S. 36) Seine Großmutter muss irgendwann Ende des 19. Jahrhunderts geboren worden sein. Was für einen Erziehungsstil hat sie wohl gegenüber dem Kleinkind Andreas gelebt, als sie mit diesem alleine war? Viele Fragen bleiben offen.

Es gibt mittlerweile etliche Bücher, vor allem auch Autobiografien der Terroristen selbst, über die RAF. Mir scheint, dass man in den Kindheiten dieser Leute viele Brüche finden kann. Außerdem sprechen alleine ihre Geburtsjahrgänge rein statistisch dafür, dass sie elterliche Gewalt erlebt haben.

Sofern es meine Zeit zukünftig zuläßt, werde ich ausführlich über einzelne Terroristen recherchieren und dies hier im Blog zusammentragen. Sofern die Leserschaft hier schon ergänzende Hinweise hat, bitte, ich freue mich auf Kommentare.