Donnerstag, 13. Dezember 2018

Titel und Infos zu meinem Buch sind ab sofort beim Verlag online!

Auch wenn das Titelbild-/design noch nicht online ist (und mir selbst auch noch nicht bekannt ist, dies ist Sache des Verlages), muss ich jetzt doch schon qua meiner enormen Ungeduld darauf hinweisen, dass ab sofort beim Mattes Verlag Buchtitel, Inhaltsverzeichnis und mein Prolog online sind: http://mattes.de/buecher/psychohistorie/978-3-86809-143-4.html.

Der Buchtitel lautet: 

Die Kindheit ist politisch!
 
Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen

Die Entscheidung für den Mattes-Verlag fiel mir recht leicht, weil dies der Verlag ist, der die "Jahrbücher für psychohistorische Forschung" veröffentlicht. (Mein eigenes Buch sehe ich sowohl als psychohistorische, aber auch politische und auch sozialwissenschaftliche Arbeit an. Außerdem ist das Buch natürlich auch ein großes Kinderschutzbuch.) Zudem hat der Verlag mir viel Freiraum gelassen und mein Manuskript wurde zwar hier und da überarbeitet und in Form gebracht, aber ansonsten weitgehend vor allem textlich so belassen, wie ich es verfasst habe.

Der Mattes-Verlag ist ein kleiner Verlag und ich bekomme einen großen Vertrauensvorschuss in meine Arbeit und potentielle Absatzmöglichkeiten (ein Buch eines neuen Autors drucken zu lassen, ist für einen Verlag immer auch eine Risiko was Kosten angeht). Sofern einige Leser und Leserinnen des Blogs das Buch kaufen möchten, möchte ich dazu motivieren, das Buch direkt beim Verlag zu bestellen. Dadurch erhält der Verlag (nicht ich!) einen größeren Ertrag, als wenn es über den normalen Buchhandel bestellt wird. Natürlich freue ich mich grundsätzlich über alle Bestellungen, auch über den normalen Buchhandel.

Das Buch wird wohl Anfang nächsten Jahres (spätestens ab Februar) bestell und auslieferbar sein. Aktuell ist es noch im Druck und wird noch in keinem Buchhandel vorbestellbar sein. Sofern ich neues weiß, werde ich sicherlich wieder etwas dazu schreiben.

Eine E-Book Variante des Buches ist vom Verlag nicht vorgesehen. Ich selbst warte erst einmal die Resonanz ab und werde es evtl. einige Zeit später selbst als E-Book veröffentlichen.

Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass Herr Dr. med. Ludwig Janus in dem bald verfügbaren Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 19: "Gewalt und Trauma: Direkte und transgenerationale Folgen für Individuen, Bindungen und Gesellschaft" eine Rezension über mein Buch verfasst hat. Ich bin Herrn Janus sehr dankbar für seinen Zuspruch und seine Unterstützung bei der Bekanntmachung meines Buches :-) .

(Siehe ergänzend auch meinen Beitrag: Mein Buch ist fertig!)

Dienstag, 4. Dezember 2018

Häusliche Gewalt gegen Frauen - Ein Blick auf die Zahlen und die Details

aktualisiert am 22.03.2021 (siehe für genaue INFO Kommentare unten)

Über den Rückgang von sexueller und häuslicher Gewalt hatte ich bereits einen Blogbeitrag geschrieben. Kürzlich wurde in den deutschen Medien sehr viel über das Thema „Häusliche Gewalt“ berichtet. Insofern möchte ich das Thema erneut aufgreifen (zumal es hierbei ergänzend auch um das Wohlergehen von Kindern geht, denn das Miterleben von Gewalt zwischen Elternteilen stellt einen enormen Belastungsfaktor für Kinder dar). Immer wieder stehen dabei zwei Zahlen groß im Raum: 25 % und 22 %. So viel Prozent der Frauen in Deutschland haben - zwei repräsentativen Studien nach - häusliche Gewalt erlitten.

Ich zweifle diese Zahlen nicht an, beide Studien sind mir bekannt. Allerdings fehlt mir Erstens ein differenzierter und auch sachlicher Blick auf die Detailergebnisse und Zweitens fehlt mir die Frage, wie sich dieses Gewaltfeld ggf. verändert hat oder anders gefragt: Hat häusliche Gewalt abgenommen, nimmt sie zu oder bleibt sie gleich? Außerdem fehlt noch die Frage, ob diesen 22 bis 25 % Gewaltbetroffenen auch 22 bis 25 % männlichen Tätern gegenüberstehen oder ob der Anteil an männlichen Tätern nicht evtl. deutlich niedriger (auf Grund von Mehrfachtäterschaft) ausfällt?

Die 2004 veröffentlichte repräsentative Studie Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland kommt zu dem Ergebnis, dass 25 % der Frauen in Deutschland im Alter von 16 bis 85 Jahren mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Partnerschaftsgewalt erlebt haben. (BMFSFJ - Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, S. 220)

Zu einem vergleichbaren Ergebnis für Deutschland kommt auch eine im März 2014 veröffentlichte repräsentative Studie der Europäischen Grundrechteagentur: 22 % der Frauen im Alter zwischen 18 und 74 Jahren haben demnach seit dem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch eine/n derzeitige/n und/oder frühere/n PartnerIn erfahren. (FRA - European Union Agency for Fundamental Rights (2014): Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick. Luxemburg, S. 19)

Letztere Studie wurde in Gesamteuropa durchgeführt. In der Auswertung ist es daher schwierig, bzgl. Deutschland Einsicht in die Details zu bekommen. Eine Detailansicht bietet allerdings die vorgenannte Studie des BMFSFJ (2004), die ich nachfolgend besprechen werde. Nur 1 % der Partnergewalt ging von weiblichen Partnern aus. Insofern konzentrieren wir uns vor allem auf männliche Täter.

Zur Häufigkeit von körperlicher und/oder sexueller Partnergewalt im gesamten Leben:

28,1 % der gewaltbetroffenen Frauen haben in ihrem gesamten Leben nur ein einziges Mal Partnergewalt erlitten; 17,5 % zwei bis drei Mal. Wir können also festhalten, dass fast die Hälfte (45,6 %) der gewaltbetroffenen Frauen in ihrem gesamten Leben sehr selten Partnergewalt erlitten haben. 5,8 % der gewaltbetroffenen Frauen haben 20 bis 40 Mal Partnergewalt in ihrem Leben erlitten und 12,1 % häufiger als 40 Mal. (BMFSFJ 2004, S. 235)

Wenn wir die genannten 45,6 % auf die 25 % Gesamtbetroffenenrate beziehen, dann lässt sich differenziert sagen, dass 11,4 % aller Befragten Frauen einmalig oder sehr selten Formen von Partnergewalt und 13,6 % aller befragten Frauen häufiger als selten Formen von Partnergewalt erlitten haben.

Ausmaß und  Häufigkeit von rein körperlicher Gewalt in der aktuellen Partnerschaft:

91,6 % haben noch nie Gewalt in der aktuellen Partnerschaft erlitten ( 2,1 % machten keine Angaben)
3,8 % haben nur ein einzige Mal Gewalt erlebt.
1,5 % selten
0,7 % gelegentlich
0,4 % häufig
 (BMFSFJ 2004, S. 224)

Ausmaß von körperlicher und/oder sexueller Gewalt in der aktuellen Partnerschaft:

13 % der Frauen haben mindestens einmal in der aktuellen Partnerschaft körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt.
87 % der Frauen haben demnach in der aktuellen Partnerschaft weder körperliche noch sexuelle Gewalt erlebt.
(BMFSFJ 2004, S. 225)

Etwa 40% der Frauen, die körperliche oder sexuelle Übergriffe in der aktuellen Paarbeziehung erlebt haben, haben ausschließlich „wütendes Wegschubsen“ und keine andere körperliche Gewalthandlung erlebt.  (Bei Gewalt durch Ex-Partner fallen im Vergleich mehr schwere Gewaltformen ins Auge. So gaben von den Frauen, die Gewalthandlungen durch frühere Beziehungspartner genannt haben, nur 11% an, ausschließlich wütendes Wegschubsen erlebt zu haben.)

Schweregrade: 

Auf die Frage „Hatten Sie bei einer oder mehrerer dieser Situationen schon einmal Angst, ernsthaft oder lebensgefährlich verletzt zu werden?“, antworteten 38% der von Gewalt betroffenen Frauen mit ja, 56% verneinten dies und 6% machten dazu keine Angaben. 64% der gewaltbetroffenen Frauen berichteten über Verletzungsfolgen aufgrund von Gewalt in Paarbeziehungen. (BMFSFJ 2004, S. 235) Die häufigste Verletzungsfolge waren blaue Flecken/Prellungen.

Psychische Gewalt: 

42 % der Befragten gaben an, jemals psychische Gewalt erlitten zu haben. Ca. 30% der Frauen, die psychische Gewalt erlebt hatten, benannten als Täter den Partner (Partnerinnen) oder Ehemann. (BMFSFJ 2004, S. 105f) Wenn ich richtig gerechnet habe müssten demnach 12,6 % aller Befragten mindestens einmal in ihrem Leben psychische Gewalt durch den Partner oder Ehemann erlebt haben.

Gewaltinitiative durch die Frauen:

83,1 % der von Partnergewalt betroffenen Frauen gaben an, nie mit Gewalt angefangen zu haben. 10,4 % hatten einmal mit der körperlichen Gewalt angefangen und 3,8 % mehrmals. (BMFSFJ 2004, S. 237) Die AutorInnen der Studie vermuten auf Grund der ergänzenden mündlichen Interviews, dass der Anteil der Frauen, die mit Gewalt angefangen haben, real niedriger liegt, als die zuvor genannten Daten aus dem schriftlichen Fragebogen. Trotzdem muss hier angemerkt werden, dass wohl ein gewisser Teil der von Frauen erlittenen Partnergewalt (ca. 3,8 % oder etwas weniger?) entweder innerhalb eines allgemeinen und beidseitigen Gewaltverhältnis stattfand oder selbst erlittene Gewalt der Frauen aus Abwehrreaktionen (z.B. "wütendes Wegschubsten)" des zuvor angegriffenen männlichen Partners entstanden. Diese Frauen wären dann entweder sowohl Opfer als auch Täter oder zu einem Teil auch nur Täter. 

Blick auf andere Studienergebnisse: 

Was mich bei dem Thema immer wieder wundert ist, dass eine weitere große und repräsentative Studie oft ausgeklammert wird, sowohl in den Medien als auch manchmal von Fachseite. In der Expertise Gewalt in Paarbeziehungen. Expertise für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von Monika Schröttle aus dem Jahr 2017 werden beispielsweise vier verfügbare Studien zum Dunkelfeld vorgestellt, darunter die oben besprochene Studie vom BMFSFJ (2004) und die ebenfalls oben kurz besprochene Studie der European Union Agency for Fundamental Rights (2014),  plus  zwei kleinere Studien (einmal bezogen auf Männer und einmal bezogen auf Menschen mit Behinderungen).

Ausgeklammert wurde hier von Frau Schröttle (die auch wesentlich an der Studie vom BMFSFJ mitgewirkt hat) die große Studie „Hellmann, D. F. (2014): Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. (Forschungsbericht Nr. 122). (KFN, Hannover)“ für die insgesamt 11.428 Männer und Frauen im Alter zwischen 16 und 40 Jahren repräsentativ über Gewalterfahrungen (und dabei auch über häusliche Gewalt durch Partner) befragt wurden. Die Items zum Erleben körperlicher Gewalt innerhalb von Haushalt und Familie wurden von denjenigen Befragten beantwortet, die zum Befragungszeitpunkt mit einer erwachsenen Person in einem Haushalt lebten (n = 8.467; davon 4.431 Frauen und 4036 Männer). Die Fragen reichten von leichteren Formen von Gewalt (z. B. „Mit mir zusammenlebende Familien- oder Haushaltsmitglieder haben bei Streit oder Auseinandersetzungen mit einem Gegenstand nach mir geworfen“) bis hin zu schweren Formen (z. B. „Mit mir zusammenlebende Familien- oder Haushaltsmitglieder haben mir absichtlich Verbrennungen oder Verbrühungen zugefügt“). Die Lebenszeitprävalenz der häuslichen körperlichen Gewalt durch die Partnerin bzw. den Partner beträgt bezogen auf die Stichprobe von 8.467 Befragten 2,5 % (oder 3,8 % für Frauen und 1,3 % für Männer). Knapp die Hälfte der Gewaltbetroffenen berichteten von psychischen Folgen der Gewalt und ebenfalls knapp die Hälfte von körperlichen Folgen.

Anzumerken ist hier, dass auf Grund der Fragestellung Gewalt durch Partner, die nicht mit den Betroffenen zusammenlebten, ausgeklammert wurde (das ist zumindest der Schluss, den ich auf Grund der Fragestellungen ziehe). Insofern fallen Gewalterfahrungen in losen Partnerschaften sowie auch durch Ex-Partner raus, was vermutlich auch zu einem Teil erklärt, warum die Gewaltbetroffenrate deutlich niedriger ausfällt, als bei der Studie des BMFSFJ. Insofern sind die Ergebnisse nicht direkt mit den Ergebnissen des BMFSFJ (2004) vergleichbar.

Insgesamt berichteten außerdem in der Studie von Hellmann 4,9 % aller befragten Frauen, in ihrem Leben bereits sexuelle Gewalt („Hat Sie schon einmal jemand mit körperlicher Gewalt oder unter Androhung von Gewalt gegen Ihren Willen zum Beischlaf (Geschlechtsverkehr) oder beischlafähnlichen Handlungen gezwungen oder versucht, das zu tun?“) erlebt zu haben. Die meisten Übergriffe kamen dabei im Rückblick auf die letzten 5 Jahre von Ex-Partnern oder aktuellen Partnern, vermutlich gilt diese Tendenz auch für die Betroffenen mit Blick auf das Leben ab dem 16. Lebensjahr.  Diese Zahl müsste jetzt noch mit der oben genannten Gewaltrate von 3,8 % bezogen auf körperliche Partnergewalt gekoppelt werden. Bei Hellmann wurden beide Gewaltformen allerdings nur getrennt dargestellt, so dass man nicht zu einer Aussage wie in der BMFSFJ-Studie kommen kann wie:  „hat mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Partnerschaftsgewalt erlebt“.

Die Studie von Hellmann hat allerdings zwei große Vorteile im Vergleich zu der BMFSFJ-Studie:

Erstens: Die Befragungen fanden 2011 statt. Somit haben wir ein aktuelleres Bild über Partnergewalt, zumindest bezogen auf die Gruppe der damals 16 bis 40Jährigen.

Zweitens: Die Studie von Hellmann ist direkt vergleichbar mit einer großen Befragung aus dem Jahr 1992 und erlaubt somit als einzige Dunkelfeld-Studie zum Thema „Häusliche Gewalt“ eine Trendaussage. Leider wurde in der Vergleichsauswertung die Partnergewalt nicht gesondert dargestellt. Insofern beziehen sich die nachfolgenden Ergebnisse auf den Gesamtkomplex der  Häuslichen Gewalt, was für diese Studie neben Gewalt durch Partner (was fast ein Drittel, nämlich 26,7 % der erfassten Fälle von Häuslicher Gewalt ausmacht) auch Gewalt zwischen Erwachsenen mit Tätern wie Eltern, erwachsenen Geschwistern oder anderen Haushaltsmitgliedern meint.

Betrachtet wurden Angaben zur häuslichen Gewalt bezogen auf die letzten 5 Jahre vor der Befragung einmal für das Befragungsjahr 1992 und für 2011. Ergebnis nur für die Frauen: Von 1992 bis 2011 hat sich die Prävalenz schwerer häuslicher Gewalt um 58 % und die Prävalenz leichtere Gewaltformen um 35 % für die Befragungsteilnehmerinnen reduziert. Beide Gewaltformen zusammen betrachtet hat sich das Risiko häuslicher Gewalt für Frauen in diesem Zeitraum um 42 % reduziert. (Hellmann 2014, S. 131, 178)

Trotz mancher Einschränkungen der Studie von Hellmann zeigt sich erneut, dass wir im Jahr 2018 sehr vorsichtig mit den Zahlen der BMFSFJ-Studie umgehen sollten, wenn es darum geht, die heutige Situation von Frauen in Partnerschaften zu beurteilen.

Was die aktuellere Situation betrifft, sind vielleicht auch nachfolgende Daten von Interesse:

Für eine Untersuchung (Landeskriminalamt Mecklenburg Vorpommern, Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes MV &Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald (2017): Erste Untersuchung zum Dunkelfeld der Kriminalität in Mecklenburg-Vorpommern) zum Dunkelfeld der Kriminalität in Mecklenburg-Vorpommern wurde die Bevölkerung ab 16  bis über 80 Jahre zum Kriminalitäts-Erleben im Jahr 2014 befragt. In der Untersuchung wurde auch die Häusliche Gewalt in Partnerschaften abgefragt. Von den 3.170 Befragten gaben 1.746 Personen an, im vergangenen Jahr zumindest kurzfristig einen festen Partner gehabt zu haben. 36 von insgesamt 3.170 Befragten (1,2 %) gaben an, durch eine oder mehrere Straftaten der Häuslichen Gewalt geschädigt worden zu sein (körperliche, sexuelle und/oder psychische Gewalt). (S. 81) Obwohl hier also auch noch psychische Gewalt abgefragt wurde, ist der Wert auf relativ niedrigem Niveau. Wenn man die Gewalt nur auf die Menschen bezieht, die einen Partner hatten (36 von 1.746), dann kommt man auf eine Rate von rund 2 %. Hierbei muss nochmal hervorgehoben werden, dass auch psychische Gewalt mit einbezogen wurde. 98 % der Menschen in Partnerschaften in Mecklenburg Vorpommern erlebten im Jahr 2014 also eine durchgängig gewaltfreie Zeit.

Ein wenig Licht ins Dunkel bringen auch zwei große KFN-Studien aus Niedersachen, einmal aus dem Jahr 2013 (9512 befragte Schüler) und einmal aus 2015 (10638 befragte Schüler). 2013 berichteten 4,7 % aller Befragten, dass sie Gewalt zwischen ihren Eltern beobachtet hatten; 2015 waren es 4,6 %. Interessant sind auch Unterschiede je nach Herkunft: 2015 berichteten 2,9% der deutschen Schüler, dass sie Gewalt zwischen den Eltern miterlebt hatten; Schüler mit Migrationshintergrund berichteten dies zu 9,6 %, was dann den Durchschnittswert von 4,6 % für alle Schüler ergibt (Bergmann et al. (2017): Jugendliche in Niedersachsen. Ergebnisse des Niedersachsensurveys 2013 und 2015. Forschungsbericht Nr. 131. Hannover. S. 120) Die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen erleben also eine gewaltlose Zeit, ebenso wie ihre Eltern. 

Was sich mit Blick auf alle genannten Studien nicht klären ließ, ist der Anteil von männlichen Tätern. Ich gehe davon aus, dass viele Männer Mehrfachtäter sind, wenn es um Gewalt gegen die Partnerin geht. Sprich wenn sie grundsätzlich zu Gewalt neigen, werden sie mehr als ein Opfer hinterlassen. Den 25 % gewaltbetroffenen Frauen aus der BMFSFJ-Studie werden also nicht 25 % Männer in der Bevölkerung gegenüberstehen. Auf Grund der Datenlage lässt sich dieser Teil nicht abschließend klären. Dazu bräuchte es Täterbefragungen und dabei auch Fragen über die Anzahl der Opfer.

Zusammenfassende Bewertung und Kommentar:


In Medienberichten wird nach meinem Eindruck immer wieder recht leichtfertig mit Zahlen hantiert. Berichte über schwere Fälle von häuslicher Gewalt und in Frauenhäuser geflohenen Frauen werden die beiden Zahlen 25 % und/oder 22 % aus den beiden oben genannten Studien angehängt. Dadurch entsteht meiner Meinung nach ein verzerrtes Bild in der Öffentlichkeit und es werden Ängste geschürt, die nur teilweise begründet sind.

Meine aller erste Kritik an den Umgang mit diesen Zahlen ist, dass sie weitgehend ein Bild über die Vergangenheit aufzeigen. Bei gut einem Drittel der Frauen waren die Gewalthandlungen in der Partnerschaft innerhalb der letzten 5 Jahre (ca. 1998-2003) aufgetreten, bei einem weiteren Drittel vor 6-20 Jahren (ca. 1983-1997), bei 17% war dies länger als 20 Jahre (Jahre vor 1983) her und 13% machten hierzu keine Angaben. (BMFSFJ 2004, S. 239). Die Befragten bilden die weibliche Bevölkerung der Geburtsjahrgänge zwischen ca. 1918 und ca. 1987 ab. Außerdem wurden die Befragungen für die 2004 veröffentlichte BMFSFJ-Studie im Jahr 2003 durchgeführt. Was in den 15 Jahren seitdem passiert ist, wissen wir nicht.  Wir können auf Grund dieser Angaben sagen, das mit Sicherheit nicht 25 % der Frauen in Deutschland relativ aktuell von häuslicher Gewalt betroffen sind. Die Daten der Studie erlauben auch keine Aussage dahingehend, ob Gewalt in Paarbeziehungen abgenommen oder zugenommen hat, weil es keine Vergleichsstudie gibt.

Die oben aufgezeigten Daten zeigen außerdem, dass die Gewalt von ca. der Hälfte der gewaltbetroffenen Frauen einmalig oder sehr selten erlebt wurde. Schwere Fälle von häufiger häuslicher Gewalt sind in der Minderheit. Entsprechend macht es überhaupt keinen Sinn, wenn medial schwere Fälle mit Prozentsätzen wie den 25 % untermauert werden.

Das Wortpaar „Häusliche Gewalt“ erzeugt in jedem Menschen Bilder und einen Deutungsrahmen. Ich vermute sehr stark, dass die meisten Menschen beim Lesen und Hören dieses Wortpaares im ersten Moment relativ heftige Bilder vor sich haben und diese dann mit den 25 % verknüpfen, wenn diese Zahl genannt wird. Das gedankliche Ergebnis wäre dann: Die Welt in Deutschland ist sehr schlecht für Frauen und sehr viele Männer sind häusliche Gewalttäter. In diesen 25 % steckt allerdings eine große Bandbreite: im niedrigsten Bereich z.B. Frauen, die vielleicht vor über 30 Jahren einmal von ihrem Partner weggeschubst worden sind und ansonsten nie wieder Gewalt erlebt haben. Und im extremsten Bereich Frauen, die über 40 Mal Partnergewalt erlitten haben, dabei z.B. Verbrennungen, Drohungen mit Waffen und Schläge mit der Faust oder Gegenständen. Dazwischen gibt es etliche Abstufungen und Grautöne.

Ausgeklammert bleibt in der Berichterstattung auch der nachgewiesene Rückgang von häuslicher Gewalt. Dieser Rückgang passt zu einem allgemeinen langfristigen Trend des Gewaltrückgangs im häuslichen Bereich, dabei vor allem dem Rückgang von Gewalt gegen Kinder.

Der Rückgang von Gewalt gegen Kinder beschleunigt seinerseits wiederum den Rückgang von Gewalt gegen Frauen in Partnerschaften (auch dies wird medial oft nicht besprochen), denn zwischen erlebter Gewalt in der Kindheit und später ausgeübter Gewalt gegen Partner finden sich starke Zusammenhänge (siehe dazu z.B. Whitfield, C. L.; Anda, R. F.; Dube, S. R. & Felitti, V. J. (2003): Violent childhood experiences and the risk of intimate partner violence in adults: assessment in a large health maintenance organization. In: Journal of Interpersonal Violence. Vol. 18, Issue 2, S. 166–185. und Temple, J. R. et al. (2018): Childhood Corporal Punishment and Future Perpetration of Physical Dating Violence. In: The Journal of Pediatrics. Volume 194, S. 233–237.) und McKinney, C. M., Caetano, R., Ramisetty-Mikler, S., & Nelson, S. (2009). Childhood family violence and perpetration and victimization of intimate partner violence: findings from a national population-based study of couples. Annals of epidemiology, 19(1), S. 25–32.)

Auch auf der Opferseite gibt es starke Zusammenhänge. Hellmann schreibt, dass eine "gewalttätige Sozialisation durch die Eltern bzw. sonstigen Erziehungspersonen das größte Risiko für eine spätere Reviktimisierung in Form von partnerschaftlicher Gewalt" darstellt (Hellmann 2014, S. 113f). Das Beobachten von Gewalt zwischen den eigenen Eltern in der Kindheit (Faktor 1,7),  selbst erlebte leichte körperliche Gewalt (Faktor 2,8) bzw. schwere körperliche Gewalt (Faktor 6,8) durch die Eltern bzw. weitere Erziehungspersonen ist mit einem erhöhten Risiko assoziiert, als Erwachsener von der Partnerin bzw. dem Partner misshandelt zu werden. Anders ausgedrückt: Frauen, die z.B. schwere körperliche Gewalt in der Kindheit erlitten haben, weisen ein fast siebenmal (Faktor 6,8) höheres Risiko auf, körperliche Gewalt durch ihre Partnerin bzw. ihren Partner zu erfahren, als Frauen, die nie körperliche Gewalt erlitten haben. 
Ganz ähnliche Ergebnisse kommen aus den USA. Frauen, die als Kind körperlich misshandelt wurden oder Gewalt miterlebt haben, haben ein deutlich erhöhtes Risiko, später selbst häusliche Partnergewalt zu erleben (Bensley L, Van Eenwyk J, Wynkoop Simmons K. (2003): Childhood family violence history and women’s risk for intimate partner violence and poor health. American journal of preventive medicine. 25(1), S. 38–44.).

Man könnte auch zugespitzt formulieren, dass aus Opfern mit einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit erneut Opfer werden. Diese Feststellung soll Betroffenen keine Schuld zuschieben (die Verantwortung für sein Handeln trägt der Täter). Allerdings stützen diese Befunde die Vermutung, dass Menschen, die eine destruktive und gewalttätige Kindheit hatten, später Probleme damit haben, Menschen zu erkennen, die ihnen nicht gut tun, Grenzen (rechtzeitig) zu setzen oder sich zu wehren (z.B. durch Verlassen des destruktiven Partners). Ein Rückgang von elterlicher Gewalt gegen Kinder wirkt also in doppelter Hinsicht: die Tätergenese sowie auch die Opfergenese wird dadurch reduziert.

Ausgeklammert bleibt ebenfalls eine historische Einordnung. Das Züchtigungsrecht des Ehemannes gegenüber seiner Frau wurde im Deutschen Reich erst 1928 abgeschafft. Vorher gab es ein verbrieftes Recht dafür, die Ehefrau zu schlagen. Ich habe mich nicht in die Geschichte der häuslichen Gewalt gegen Frauen vertieft, aber es leuchtet ein, dass vor über 100 Jahren sicherlich nicht 75 % aller deutschen Frauen keinerlei körperliche und/oder sexuelle Gewalterfahrungen seitens des Partners erlitten haben, so wie dies die o.g. BMFSFJ-Studie für einen Frauenbevölkerungsschnitt nachgewiesen hat. 

Zu guter Letzt möchte ich schreiben, dass ich der Letzte bin, der die Augen vor Gewalt verschließt. Ich habe in meinem Blog bewiesen, dass ich hinsehen kann und will. Das grundsätzliche Ziel ist eine gewaltfreie Gesellschaft. Ich bin aber immer auch für einen unaufgeregten und sachlichen Umgang mit Zahlen und Daten. Ich persönlich möchte wissen, in was für einer Welt und in was für einem Land ich lebe. Dazu gehört der Blick in Abgründe (das vorhandene Ausmaß der Gewalt), aber auch auf Lichtblicke. Die große Mehrheit der Frauen in Deutschland lebt gewaltfrei in Partnerschaften und erfährt im gesamten Leben keine Gewalt durch ihren Partner. Aktuellere Studien als die des BMFSFJ zeigen ein deutlich geringeres Ausmaß der Gewalt und auch einen Rückgang mit Blick auf eine Vergleichsstudie (wie oben gezeigt). Auch darum sollte man und frau wissen. 



Samstag, 1. Dezember 2018

Wie peinlich! Frankreich verbietet elterliche Gewalt gegen Kinder!

Die französische Nationalversammlung hat aktuell einen Gesetzestext beschlossen, der festlegt, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Und dies gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung: Verschiedene Umfragen zeigten, dass ca. 70 % der Franzosen gegen ein Verbot von elterlichen Schlägen sind. Der Staat dürfe sich nicht in private Familienangelegenheiten einmischen. Insofern ist dies ein mutiger Schritt der regierenden Mehrheit gegen die Mehrheit der Menschen im Land. Dieser Schritt wurde aber wohl auch auf Druck des Europarates gemacht (sage mir noch einmal jemand, dass die EU und ihre Institutionen nicht wertvoll sind!).

Nun zeigt der Kalender, dass wir heute den 01.12.2018 haben. Ich finde es wirklich peinlich, dass ein westeuropäisches Land erst Ende 2018 Kinder gesetzlich vor Gewalt schützt! Das Kind quengelt an der Kasse? Ein paar Ohrfeigen durch Mutter oder Vater in aller Öffentlichkeit waren bisher in Frankreich legal. Eine Erzieherin macht Eltern darauf aufmerksam, dass ihr Kind Angst vor den gelegentlichen Schlägen zu Hause habe?  Bisher durften die Franzosen darauf antworten: Was wollen Sie, das ist doch nicht verboten!

Die Peinlichkeit, erst sehr spät jegliche Gewalt in der Erziehung zu verbieten, wird noch viele Länder ereilen (auch im sogenannten modernen Westen). Darunter auch Großbritannien, Italien, Schweiz, Tschechien, Kanada und die USA.

Montag, 5. November 2018

Politische Wahlen und die Identifikation mit dem Aggressor: Beispiel Brasilien.

Der ultrarechte Politiker Jair Bolsonaro hat aktuell die Präsidentschaftswahlen in Brasilien gewonnen (er erhielt ca. 55 % der Stimmen). In einem Artikel für den Tagesspiegel wurde dieser Mann treffend in seinem Sein zusammengefasst: „Bolsonaro beschimpft regelmäßig Schwarze, Indios, Frauen und Flüchtlinge. Er hält Hitler für einen `großen Strategen`. Einmal sagte er, dass es ihm lieber wäre, einer seiner Söhne stürbe, als dass er schwul sei. Politische Gegner möchte er am liebsten an die Wand stellen und die Gewerkschaften verbieten. (…) Jeder Brasilianer soll eine Waffe tragen dürfen, um sich zu verteidigen, das ist eines seiner Haupt-Wahlkampfversprechen. Er befürwortet Folter und will der Polizei eine Lizenz für außergerichtliche Exekutionen erteilen. (…) Eine linke Abgeordnete bedrohte Bolsonaro sogar vor laufender Kamera: `Du verdienst es nicht, von mir vergewaltigt zu werden.`" (Lichterbeck, P. (2018, 05. Okt.): Jair Bolsonaro – Brasiliens Revolverheld. Tagesspiegel)

Wie kann so ein Mensch bei demokratischen Wahlen zum Präsidenten gewählt werden?

Unzweifelhaft gibt es in Brasilien viele ungelöste Probleme und Konflikte. Das Wahlverhalten der Menschen wird vor diesem Hintergrund als rational angesehen. Die Menschen wünschten sich einen massiven politischen Wandel und jemanden, der sie schützt. Doch ist es wirklich rational, sich in die Hände eines unberechenbaren Aggressors zu begeben? Warum sollte konstruktiver Wandel und Schutz gerade von diesem Mann kommen?
Alle Informationen sprechen dafür, dass genau das Gegenteil der Fall sein wird. Man nehme nur das zentrale Wahlversprechen Bolsonaros, dass jeder Brasilianer zukünftig eine Waffe tragen dürfe. Die Mordraten werden in der Folge stark steigen, nicht sinken. Dass Menschen Schutz und Zukunft bei einem solchen Aggressor suchen, spricht nicht ausschließlich für rationale Beweggründe, sondern auch für emotionale.

Als in Deutschland lebender Mensch mag ich die Situation in Brasilien natürlich nicht absolut real einschätzen können. Allerdings befasse ich mich zentral mit Kindheitserfahrungen und familiärer Gewalt. Und diesbezüglich kann ich einige Informationen bieten:

In Südamerika und dem karibischen Raum kommt Gewalt gegen Kinder häufig vor. Für diverse Länder wurden einige Studienergebnisse tabellarische ausgewertet (allerdings ohne Daten für Brasilien): Child abuse: a painful reality behind closed doors. (In: Challenges, Number 9, July 2009)

Speziell für Brasilien fand ich zwei aussagekräftige Studien:

Eine Studie aus dem Jahr 2010 (4.025 Befragte über 16 Jahre) fand, dass 70.5% der befragten Brasilianer in ihrer Kindheit Körperstrafen erlitten hatten. 20,2 % wurden fast jeden Tag oder einmal in der Woche körperlich bestraft. Fast die Hälfte der Gewaltbetroffenen berichtet von Schlägen mit Stöcken oder Gürteln.  (Cardia, N. (2012): Pesquisa nacional, por amostragem domiciliar, sobre atitudes, normas culturais e valores em relação à violação de direitos humanos e violência: Um estudo em 11 capitais de estado. São Paulo, Núcleo de Estudos da Violência da Universidade de São Paulo, S. 87)

Für eine andere Studie wurden 1.172 Frauen (15 bis 49 Jahre) in São Paulo und 1.473 Frauen in der Region Pernambuco befragt. (World Health Organization (2005): Multi-country Study on Women’s Health and Domestic Violence against Women. Brazil.)

Ergebnisse: 
- In São Paulo berichteten 27 % und in Pernambuco 34 % der Frauen jemals körperliche Partnergewalt erlitten zu haben.
- 10% der Frauen in São Paulo and 14% in Pernambuco erlitten sexuelle Gewalt durch einen Partner.
- Werden körperliche und sexuelle Gewaltformen zusammengefasst, dann erlebten 29 % der Frauen in São Paulo und 37 % der Frauen in Pernambuco Partnergewalt.
- 40 % der gewaltbetroffenen Frauen in São Paulo und 37 % der gewaltbetroffenen Frauen in Pernambuco wurden mindestens einmal durch die Partnergewalt so sehr angegangen, dass sie Verletzungen davontrugen.
- Von den Frauen, die jemals schwanger waren, berichteten 8% in São Paulo and 11% in Pernambuco von Partnergewalt während der Schwangerschaft.
- 12% der Frauen in São Paulo and 9% in Pernambuco berichteten von sexuellen Missbrauchserfahrungen vor dem 15. Lebensjahr.


Beide Studienergebnisse zeigen ein hohes Ausmaß von Opfererfahrungen und gleichzeitig auch ein hohes Ausmaß von Täterverhalten (Eltern als Täter, männliche Partner als Täter). Auffällig ist für mich vor allem die besondere Schwere der Gewalt gegen Kinder (häufig Schläge mit Stöcken oder Gürteln und zentral auch die 20,2 %, die täglich oder wöchentlich geschlagen wurden). Für ca. 10 % der Kinder begannen die Gewalterfahrungen sogar schon als Fötus, wie die Daten über Gewalt gegen Schwangere zeigen.

Sowohl Täter als auch Opfer zeigen erfahrungsgemäß leider oftmals eine starke Identifikation mit Aggressoren und auch eine hohe Akzeptanz von Gewalt- und generellem Strafverhalten oder ein ohnmächtiges Erdulden dieser Dinge. Oder anders gesagt: In schwierigen politischen und sozialen Zeiten, wie sie Brasilien derzeit erlebt und unter politischen Reden, die Ängste und Hass schüren, ist die Gefahr groß, dass das Opfer in den Menschen zu irrationalen Handlungen verführt wird (bzw. Täterintrojekte getriggert werden).

Leider ist die gängige Sozialwissenschaft blind bzgl. dieser möglichen Zusammenhänge. Dabei wäre der Sachverhalt ziemlich einfach zu klären: Man müsste einfach repräsentative Befragungen zu belastenden Kindheitserfahrungen durchführen und in dem Fragebogen auch erfassen, für wen die jeweilige Person bei den Wahlen abgestimmt hat. Meine Vermutung ist, dass Jair Bolsonaro überdurchschnittlich oft von Menschen gewählt wurde, die Opfererfahrungen (dabei vor allem auch in der Kindheit) erlitten haben.

In Deutschland gibt es übrigens die gleiche Lücke. Bzgl. Wählern wird alles Mögliche erfasst und in einen Zusammenhang zum Wahlverhalten gesetzt (Einkommen, Schulbildung,  Geschlecht, Schicht, Beruf, Liebesleben, Zufriedenheit, Meinungen zu bestimmten Fragen usw. usf.) Allerdings ist mir keine Studie bekannt, die Kindheitserfahrungen und Wahlverhalten in einen Zusammenhang gesetzt hat. Für mich wäre vor allem spannend, ob sich die Kindheiten von AFD-Wählern signifikant von den Kindheiten von Wählern anderer Parteien unterscheiden?


Freitag, 12. Oktober 2018

Mein Buch ist fertig!


Mein ursprünglicher Plan war, dies mit dem 400. Blogbeitrag (was ich irgendwie nett gefunden hätte) hier anzukündigen und dann gleich auch auf eine Bestellmöglichkeit als selbstveröffentlichtes E-Book hinzuweisen. Nun hat sich allerdings ein Verlag gefunden, der das Buch veröffentlichen wird, was mich sehr freut. Die Veröffentlichung über einen Verlag bedeutet für mich, dass das Buch zitierfähiger wird, aber auch breitere und professionelle Werbemöglichkeiten über klassische Verlagswege hinzukommen. Außerdem muss ich mich nicht mit dem Layout herumschlagen.

Der Nachteil ist für den Moment, dass die Veröffentlichung wohl noch etwas dauern wird (vermutlich wird es im Februar 2019 veröffentlicht werden). Daher möchte ich jetzt doch in diesem 400. Beitrag bereits das Buch vorankündigen.

Titel und Untertitel sowie das Inhaltsverzeichnis möchte ich allerdings noch nicht verraten, auch, weil evtl. noch kleine Änderungen durch den Verlag kommen könnten. Allerdings kann ich ausführen, was ich im Wesentlichen geschrieben habe und was vor allem Neu im Vergleich zu den Texten im Blog und zu meinem Text „Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an“ ist.

Zunächst: Das Buch wird sehr umfangreich werden. Im DIN A4 Format komme ich auf über 400 Seiten (inkl. Literaturverzeichnis und Fußnoten). Im Buchformat dürften es entsprechend noch mehr Seiten werden.  Der Grundstil ist wissenschaftlich orientiert, aber das Ganze lesefreundlich und so einfach wie möglich (ich mag zwar wissenschaftliche Fachbücher, aber mein Sprachstil ist nun einmal anders).

Sehr viel Raum habe ich historischen Erziehungseinstellungen, der Historie des Kinderleids an sich und auch der Gewalt in vorzivilisatorischen Gesellschaften gegeben, damit wir verstehen, wo wir eigentlich herkommen und auf welchen Grund wir heute stehen. Diese Themenfelder hatte ich im Blog bisher nur angerissen und nicht vertieft. Dazu kommt auch ein kleiner Ausflug in die Gehirnforschung, worüber ich bisher noch gar nichts geschrieben habe.

Es folgt eine sehr systematische Analyse von belastenden Kindheitserfahrungen und von Kindesmisshandlung in der Welt. Diese Analyse habe ich auf spezielle Gruppen wie (Gewalt-)Straftätern, Soldaten, Extremisten, Terroristen, politischen Führern und von Hitlers Helfern (NS-Elite + bekannte NS-Täter) gesondert ausgeweitet. Die Quellen und verwendeten Studien für die Analysen sind deutlich breiter und vertiefender, als das, was ich bisher im Blog geschrieben habe. Auch die Anzahl an Einzelbiografieanalysen übertrifft deutlich das, was bisher im Blog oder in extern von mir verfassten Texten steht.

U.a. nachfolgende Personen werden bzgl. ihrer destruktiven Kindheit systematisch analysiert: 
John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, George H. W. Bush, George W. Bush, Bill Clinton, Hillary Clinton, Tony Blair, Ludwig XIII., Napoleon Bonaparte, Friedrich II., Otto von Bismarck, Wilhelm II., Adolf Hitler, Benito Mussolini, Francisco Franco, Nicolae Ceauşescu, Slobodan Milosevic, Tito, Mao Zedong, Lenin, Stalin, Ivan IV., Wladimir Putin, Augusto Pinochet, Manuel Noriega, Fidel Castro, Jean-Bédel Bokassa, Saddam Hussein, Hassan II., Jassir Arafat, Recep Tayyip Erdoğan, Charles Manson, Rudolf Heß, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth, Reinhard Heydrich, Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Inge Viett, Horst Mahler, Stefan Wisniewski, Peter-Jürgen Boock, Lutz Taufer, Astrid Proll, Anders Breivik, Beate Zschäpe, Osama Bin Laden. Dazu kommen diverse Personen (Terroristen, Extremisten und Gewalttäter), die öffentlich nicht so bekannt sind. Auch werden hier und da destruktive Kindheiten im Textverlauf gestreift (z.B. von Martin Luther, Jim Jones oder von Anthony Kiedis)

Mir ist bisher kein Buch bekannt, in dem derart umfassend und systematisch destruktive Kindheiten von destruktiv (einst oder auch noch aktuell) agierenden Menschen analysiert wurden.

Die Studienlage (allgemeine Studien, Befragungen von Akteuren) bzgl. der Kindheiten von Extremisten habe ich außerdem deutlich breiter dargestellt. Ich selbst wundere mich darüber, dass es öffentlich kaum Einlassung auf diese Studien gibt. Die BKA-Studie „Die Sicht der Anderen“ wurde zwar öffentlich hier und da besprochen, aber es gibt da noch deutlich mehr Studien, die zusammengefasst öffentlich gar nicht angekommen sind. Öffentlich müsste demnach eigentlich vor allem im Angesicht von Rechtsextremismus immer auch über die Kindheit gesprochen werden. Aber es herrscht breites Schweigen.

Sehr viel Raum (ein eigenes Kapitel)  habe ich also der Frage gegeben, warum die gesammelten Dinge und Erkenntnisse im Buch zu Kindheitseinflüssen öffentlich meist ausgeschwiegen werden. Dabei habe ich auch deutlich Beispiele aus Wissenschaftskreisen benannt, wo ganz klar an den Dingen vorbeigesehen wird.

Dazu kommen weitere Kapitel, die ich nicht wirklich zusammenfassend vorstellen kann. Auf jeden Fall leuchte ich die Dinge in verschiedene Richtungen aus, erkläre, warum es nicht immer leicht ist, die Kindheitshintergründe von Einzelpersonen komplett zu ergründen, befasse mich mit gängiger Kritik an meinen und psychohistorischen Thesen und ergründe auch, wie destruktive Kindheiten und deren individuellen Folgen sich kollektiv ausdrücken und auch enorm destruktiv wirken können.

Was man in dem Buch kaum finden wird, sind dagegen ausführlich Einlassungen auf psychohistorische Modelle und die Theorie von deMause. Es würde kaum Sinn machen, diese auszubreiten und zu wiederholen. Viel mehr sehe ich mein Buch als eine Ergänzung und Stütze der Psychohistorie. Mein Buch ist vor allem durch die deutlich sozialwissenschaftliche Ausrichtung anders. Ich frage mich wirklich, warum in der Sozialwissenschaft aber auch der klassischen Geschichtswissenschaft bisher kein ähnliches Werk vorliegt? Denn die Studienlage ist enorm. Es gibt derart viele Einzelarbeiten, die die Dinge ergründet haben, dass es im Gesamtblick darauf kaum Sinn macht, nicht von enormen Einflüssen von Kindheitserfahrungen auf die Welt wie wir sie erleben und auch wie wir sie im historischen Rückblich sehen auszugehen. Und dies meine ich vor allem mit Blick auf politisches Agieren, mit Blick auf Krieg, Gewalt, Selbstzerstörung, Terror, Extremismus, politischer Verrücktheit und sozialen Schieflagen.

Viel mehr kann und will ich jetzt hier gar nicht vorwegnehmen. An dem Buch habe ich zwar ca. ein Jahr lang gearbeitet, aber im Grunde ist es das Resultat aus einer Arbeit und Recherchen, die ca. im Jahr 2002 begonnen haben.

Nun, wir werden sehen, wie es angenommen und ob es gar auch diskutiert werden wird.

Ich persönlich habe ab sofort wieder mehr Zeit. Mir schweben bereits zwei Blogbeiträge vor. Allerdings markiert mein Buch auch einen gewissen Abschluss für mich. Ich lasse die nächsten Monate einfach erst einmal auf mich zukommen und wir sehen dann, was wird.

Dienstag, 12. Dezember 2017

Jahreswechsel: Kurze Info zum Buchprojekt und Blog


Das Jahr 2018 kommt näher. Insofern wollte ich kurz etwas zum Stand meines Buchprojektes schreiben. Ich habe meinen Text "Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an" mit Blogbeiträgen (bzw. Teilen daraus)  und ergänzenden Infos verschmolzen. Derzeit umfasst das Buch bereits fast 140 Seiten. Die Literaturliste an sich umfasst ergänzend bereits über 20 Seiten. Auch einen Buchtitel habe ich schon. Vermutlich werden am Ende deutlich über 200 Seiten heraus kommen, nur Inhalt.

Ich habe auch vieles aufgenommen, über das ich bisher noch nichts geschrieben habe. Mir juckt es entsprechend sehr in den Fingern, diese Infos schon jetzt rauszuhauen, weil ich es gewohnt bin, einfach drauf los zu schreiben und dann zu veröffentlichen. Nun ja, ich werde mich noch gedulden müssen.

Ich denke, dass das Buch recht gut wird. Aus Erfahrung rechne ich allerdings nicht mit all zu viel Reaktionen und Aufmerksamkeit. Letztlich lasse ich das Ganze einfach auf mich zukommen.

Am meisten Bauchschmerzen bereitet mir eigentlich die Überlegung, wie ich es veröffentlichen soll. Ich habe da einige Möglichkeiten vor Augen, kann mich aber noch nicht wirklich entscheiden. Na wir werden sehen.

Ziel ist es für mich, im Sommer 2018 mit dem Text fertig zu sein. Zeitgleich oder spätestens zum Herbst 2018 möchte das Ganze dann veröffentlichen. Das ist zumindest der Plan. Was für manche, die den Text dann lesen werden und meinen Blog noch nicht kennen, vielleicht eine Art Anfang sein wird, ist für mich auf eine Art ein Ende. Irgendwann ist alles Wesentliche ausgeleuchtet. Es geht dann nur noch darum, wie lange es dauert, bis die (Welt)Gesellschaft dieses Wissen Stück für Stück in ihr Bewusstsein kommen lässt und in der Folge Prävention von menschlicher Destruktivität durch mehr Kinderschutz beschleunigt vorantreibt.

Zur Entwicklung des Blogs:

Die Zugriffe gehen seit 2016 zurück. Was verständlich ist, weil ich auch immer weniger geschrieben habe. 2015 und noch Anfang 2016 gab es teils Spitzen von fast 10.000 Zugriffen pro Monat. Derzeit pendelt der Blog so um die 6.000 Zugriffe und bewegt sich langsam auf insgesamt 500.000 Zugriffe zu (Zugriffe spiegeln nicht die Anzahl der Besucher wider, sondern die Anzahl der Seitenzugriffe!). Neben Deutschland, Österreich und der Schweiz kommen viele Besucher auch aus den USA und Russland. Googel liebt weiterhin meinen Blog. Bzgl. diverser Suchbegriffe ist der Blog sehr gut zu finden.


Donnerstag, 26. Oktober 2017

Neue Öffentlichkeit für das Thema Sexismus und Gewalt gegen Frauen als Zeichen für Fortschritt

Derzeit herrscht - ausgelöst durch die Affäre Weinstein - eine ungewöhnlich lang anhaltende, breite, weitgehend ehrliche und offene Debatte über Sexismus und sexuelle Gewalt gegen Frauen.  Alle Medien durchzieht das Thema (der SPIEGEL machte das Thema gar aktuell zur Titelstory). Politikerinnen reden plötzlich offen über Übergriffe und Sexismus. Alte Vorfälle werden wieder aufgerollt. Selbst George H. W. Bush musste sich kürzlich für einen Übergriff und sexuelle Anzüglichkeiten rechtfertigen.

Ich habe zu dem Thema drei Anmerkungen.

1. Gut so! Sexismus und sexuelle Gewalt gehören breit thematisiert und müssen präventiv bekämpft werden.

2. Ich empfinde die aktuelle Welle der Berichterstattung als außergewöhnlich. Meine These ist, dass diese Welle etwas mit Fortschritt und einem generellen Befriedungprozess zu tun hat, nicht mit gesteigerten Fallzahlen von Übergriffen. Gewalt ist in der westlichen Welt immer mehr „out“ und Gewalttätern wird immer weniger Toleranz entgegengebracht. Der Aufschrei der Frauen zeugt auch von einem gestiegenen Selbstbewusstsein. Letzteres hat wiederum viel mit der Sozialisation und Entwicklung von Kindheit der letzten Jahrzehnte zu tun.

3. Gewalt gegen Frauen sinkt nachweisbar seit Jahren. Darüber wird leider öffentlich viel zu wenig berichtet.

Den letzten Punkt möchte ich etwas weiter ausführen:

Das KFN hat zwei große repräsentative Studien miteinander verglichen. Die eine Studie stammt aus dem Jahr 1992, die andere (noch größere, mit weit über 11.000 Befragten) aus dem Jahr 2011.

In der Zusammenfassung der Studie „Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland“ schreibt die Autorin Deborah F. Hellmann: „Seit 1992 hat sich das Risiko häuslicher Gewaltviktimisierungen unter den 23- bis 40-Jährigen deutlich verringert. Insgesamt ist ein Rückgang um fast 30 % zu verzeichnen. Besonders für Frauen hat sich das Risiko häuslicher Gewalt in diesem Zeitraum reduziert (um insgesamt 42 %) und für schwere Gewaltviktimisierungen ist eine besonders starke Reduktion zu verzeichnen.“ (S. 178+179) Und bzgl. sexueller Gewalt wurde zusammengefasst: „Während sich im Alterskohortenvergleich keine Unterschiede in der Fünfjahresprävalenz beobachten lassen, zeigt der Vergleich mit der Befragung von 1992, dass sich das Risiko sexueller Gewalt sowohl innerhalb als auch außerhalb von Haushalt und Familie (für die deutschstämmige weibliche Stichprobe) fast um die Hälfte reduziert hat.“ (S. 180) Nebenbei bemerkt zeigte die Studie sowohl im Vergleich zwischen 1992 und 2011, als auch bzgl. verschiedener Altersgruppen für 2011 einen deutlichen Rückgang von sexuellem Missbrauch in der Kindheit.

Die Ergebnisse der KFN Studie und der Vergleich mit Daten aus dem Jahr 1992 wurde auch noch mal etwas vereinfacht aufgearbeitet von dem Kriminologen Christian Pfeiffer und Deborah F. Thoben: „Weniger Gewalt zu Hause gegen Frauen“ (Centaur 4 /2013) In dem Text weisen beide Autoren auch deutlich auf den Einfluss einer friedlicheren Erziehung auf den Rückgang der Gewalt gegen Frauen hin. 

Lesenswert ist ergänzend auch das Buch  "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit" von Steven Pinker, Kapitel "Frauenrechte und der Rückgang von Vergewaltigung und häuslicher Gewalt." (ab S. 584). Schaut man historisch weiter zurück (als Frauen noch Besitz waren), werden die Fortschritte bzgl. Frauenrechten überdeutlich. Aber auch die letzten Jahrzehnte zeigen einen eindrucksvollen Fortschritt. In den USA ist laut Pinker die jährliche Vergewaltigungsquote von 250 auf 100.000 Einwohner im Jahr 1973 auf 50 im Jahr 2008 gesunken. (S. 596) In Wirklichkeit dürfte, so Pinker, der Rückgang noch stärker sein, denn Frauen seien immer mehr bereit - als in früheren Jahren - Vergewaltigungen anzuzeigen. Ebenso sinken seit 1993 angezeigte Taten auf Grund häuslicher Gewalt. Das selbe gilt für England und Wales (S. 609+611)
Pinker zeigt auch eine grafisch aufbereitete Übersicht, die sich aus Umfragen ergibt. Diese zeigt eine seit 1970 stetig zunehmende positive und fortschrittliche Einstellungen gegenüber Frauen. (S. 599) Ebenso zeigen Befragungen, dass seit 1965 die Zustimmung zu der Frage, ob es richtig sei, wenn ein Mann seiner Frau eine Ohrfeige gibt, stetig sinkt. (S. 607)

Für die USA liegen außerdem eindrucksvolle Berichte der US-Regierung vor, die vor allem auch Dunkelfelddaten berücksichtigt haben und sehr aussagekräftig sind. Zwischen 1995 und 2010 ist die jährliche Quote von Vergewaltigungen/sexuellen Angriffen (inkl. Versuch) um 58 % gesunken, von 5 auf 1.000 Frauen auf 2,1 auf 1.000 Frauen. (U.S. Department of Justice (2013): Female Victims of Sexual Violence, 1994-2010) Interessant an diesem Bericht ist auch, dass grafisch ergänzend die Entwicklung von Anzeigen bei der Polizei bzgl. sexueller Gewalt dargestellt wurde (ebd., Figure 3, "Rape and sexual assault victimizations against females reported to police, 1995–2010"). Zwischen 2000 und 2003 gab es einen stetigen, starken Anstieg von Anzeigen. Bis 2005 gingen die Anzeigen wieder zurück, um dann bis 2008 wieder leicht anzusteigen. Diese Kurven entsprechen nicht dem stetigen Rückgang im Dunkelfeld, so dass hier eindrücklich gezeigt werden kann, wie vorsichtig man Hellfelddaten betrachten muss, denn gerade zwischen den Jahren 2000 bis 2005 war der Rückgang im Dunkelfeld am größten! (ebd., Figure 2, "Rape and sexual assault victimizations, by sex of victim, 1995–2010")

Ebenso ist häusliche Gewalt in den USA stark rückläufig. Und zwar um 63 % zwischen 1994 und 2012 oder jährlich 13,5 pro 1.000 Frauen im Jahr 1994 auf 5 pro 1.000 Frauen 2012. ( U.S. Department of Justice (2014): Nonfatal Domestic Violence,2003–2012 ) Die Gewaltkriminalität insgesamt war in diesem Zeitraum ähnlich rückläufig und zwar um 67 %, worauf die Autoren hinweisen.

In den USA sehr bekannte Gewaltforscher wie David Finkelhor zusammen mit Lisa Jones (Crimes Against Children Research Center (2012): "Have Sexual Abuse and Physical Abuse Declined Since the 1990s?")  haben zudem Daten zusammengetragen, die einen generellen und starken Rückgang von sexuellem Missbrauch von Kindern, Kindesmisshandlung, Kindestötungen, Vergewaltigungen sowie häuslicher Gewalt seit Anfang der 1990er Jahre aufzeigen.

Da diverse Studien einen starken Zusammenhang zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und Gewaltkriminalität gezeigt bzw. Sexualstraftäter massiv in ihrer eigenen Kindheit Misshandlungen, Vernachlässigung und Übergriffe erlebt haben und ergänzend Einzelstudien (siehe externen Link: "Childhood Corporal Punishment and Future Perpetration of Physical Dating Violence") einen signifikanten Zusammenhang zwischen erlebter körperlicher Gewalt in der Kindheit und späterem eigenen Gewaltverhalten in Beziehungen (sprich häuslicher Gewalt) gezeigt haben, destruktive Kindheitserfahrungen allerdings in der westlichen Welt seit einigen Jahrzehnten stark rückläufig sind und elterliche Zuwendung parallel zugenommen hat, ist dieser Fortschritt der Kindheit sicherlich einer der bedeutsamsten Faktoren (wenn nicht gar der bedeutsamste Faktor) auch für den allgemeinen Rückgang von Gewalt gegen Frauen.

Der Rückgang der Gewalt gegen Frauen hilft natürlich nicht all den Frauen, die aktuell Gewalt erleben oder erlebt haben. Trotzdem bin ich der Meinung, dass auch über den oben gezeigten Fortschritt berichtet werden muss.

Dienstag, 12. September 2017

Gegen rechte Besucher, AfD & Co., aber für reife Persönlichkeiten!

Da derzeit meine gesammelten Daten bzgl. des Ausmaßes von Kindesmisshandlung in diversen Ländern (auch denen, aus denen derzeit viele Menschen nach Deutschland geflohen sind) von rechten, AfD-freundlichen und Verschwörungstheorie-gewaschen Blogs entdeckt worden sind, möchte ich hier gleich eine kleine Stellungnahme abgeben:

1. Ich distanziere mich von solchen Seiten deutlich!

2. Das Wissen um das Ausmaß von Kindesmisshandlung in der Welt erfordert einen überlegten, rationalen und reifen Umgang damit und Präventionsarbeit, die Jahrzehnte dauern wird. Ich spreche AFD-Leuten und rechten Gesinnungsbrüdern und -schwester eine reife Persönlichkeit ab! Daten über die Verbreitung von Kindesmisshandlung werden solche Leute vor allem aus irrationalen Motiven heraus nutzen, das wird entsprechend wenig bringen und destruktiv wirken.

3. Menschen, die heute zu extremen Denken neigen, sind - darum handelt mein Blog - meist die einst gedemütigten, ungeliebten Kinder von gestern. Die Daten über Kindesmisshandlungsraten bzgl. "Ausländern" werden insofern gerade unter Extremisten ungute Projektionen auslösen und Irrationalität nochmals verstärken. Fasst Euch lieber an die eigene Nase!

4. Wo wir schon bei der eigenen Geschichte sind: Deutschland war einst Meister im Kinderprügeln und Kinderdemütigen. Dies bedingte u.a. zwei Weltkriege. Heute sind deutsche Eltern mit führend in der Welt, was gewaltfreie Erziehung und Kinderfürsorge angeht. Dies bedeutet nicht, dass wir heute auf andere Kulturen verächtlich herabschauen dürfen, sondern dass wir bewusst aus unseren Erfahrungen heraus die Welt und vor allem die Kindererziehung voranbringen müssen.

5. Daten über Kriminalitäts- und Gewaltraten, die zeigen, dass bestimmte Ausländergruppen krimineller sind als deutsche, kann und sollte man öffentlich besprechen. Dies kann man sachlich tun. Für mich sind solche Daten allerdings niemals Rechtfertigung für das Ausagieren von Hass und Menschenfeindlichkeit. Da Gewalthandeln sehr viel mit der Kindheit zu tun hat, bedeutet dies eher, dass die Politik Maßnahmen ergreifen muss, um Menschen aus anderen Kulturkreisen gewaltfreie Kindererziehungspraktiken beizubringen. Wenn wir heute in die Kinder investieren, die hier als Geflüchtete gestrandet sind, dann tun wir etwas für die Zukunft unseres Landes.

6. Kommentare (und auch entsprechende Links), die dem gesunden Menschenverstand und allgemeinen höflichen Umgangsformen widersprechen, werden von mir selbstverständlich gelöscht.

Ende der Durchsage

Donnerstag, 3. August 2017

Wie es hier weitergeht

Es ist kaum zu glauben, aber seit meinen "Zwischengedanken. In eigener Sache" ist mittlerweile fast ein Jahr vergangen. Den regelmäßigen BesucherInnen wird aufgefallen sein, dass die Anzahl der Blogbeiträge 2017 stark zurückgegangen ist. Wobei ich drei sehr wichtige Texte geschafft habe, wie ich finde und zwar diese: hier, hier und hier.

Ich bin jetzt in der Tat relativ regelmäßig dabei, diesen Blog in eine Art Buch zu pressen. Ich brauchte etwas Zeit seit meinen "Zwischengedanken", um mich zu motivieren. Mittlerweile brenne ich endlich darauf, das Projekt voranzutreiben. Es klingt vielleicht in Angesicht des Themas merkwürdig, für mich muss aber auch etwas Spaß dabei sein, damit ich intensiv arbeite (was ich ja neben all den anderen Dingen des Alltags schaffen muss). Spaß am Formulieren, Recherchieren, Entdecken, Zusammenfügen oder einfach dem wissenschaftlichen Arbeiten. Diesen "Spaß" habe ich erst kürzlich wiedergefunden. Ich denke, dass ich erst irgendwann 2018 mit dem Gesamttext fertig sein werde und dann schaue, wie ich ihn veröffentliche. Bis dahin werde ich hier im Blog nicht mehr viel veröffentlichen, es sei denn, zwischendurch brennt es mir unter den Nägeln.

Für mich wird persönlich immer deutlicher, dass ich auf eine Art Schlussstrich zusteuere. Ich fühle mich etwas wie jemand, der die Feuerwehr rufen möchte, damit der Brand gelöscht wird und der sich wundert, warum kaum ein anderer das Feuer überhaupt erkennt und den Notruf wählt. (Oder anders formuliert: Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der Welt und die enormen gesellschaftlichen und politischen Folgen daraus müssten eigentlich Tagesthema sein, so wie es der Klimaschutz/Klimawandel ist.) Ich als Mensch mit all meinen Alltagsaufgaben, Arbeit, Familie usw. kann den Brand nicht löschen. Dafür braucht es mehr. Vor allem braucht es auch Zeit, wohl einige Jahrzehnte. Destruktive Kindheiten aus der Vergangenheit wirken einfach zu stark fort.

Mich erstaunt immer wieder auch, dass ich selbst staune, wenn ich recherchiere und Texte schreibe. Das ganze Thema ist einfach unfassbar, auch für mich noch nach all den Jahren. Ich vermute, dass ich am Ende mein "Buch" bestimmt einige male durchlesen werde und dann selbst davor stehe und einfach geschockt bin. Tja, das wollte ich heute einmal mitteilen.



Dienstag, 18. Juli 2017

Gewalt gegen Kinder und Aufforderung zu kindlichem Gehorsam in der Bibel

Von mir aktuell wiederentdeckt: Eine von mir einst angelegte Sammlung von Zitaten aus der Bibel (sicher nicht vollständig), die für sich spricht.

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Einige Auszüge aus dem Alten Testament:

Misshandlung der Eltern:
Wer seinen Vater oder Mutter schlägt, wird mit dem Tode bestraft. (Ex 21,15)

Entehrung der Eltern:
Wer seinen Vater oder seine Mutter verflucht, wird mit dem Tod bestraft. (Ex 21,17)

Die Verfluchung der Eltern:
Jeder, der seinen Vater oder seine Mutter verflucht, wird mit dem Tod bestraft. Da er seinen Vater oder seine Mutter verflucht hat, soll sein Blut auf ihn kommen. (Lev 20,9)

Die Verstoßung eines Sohnes:
Wenn ein Mann einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat, der nicht auf die Stimme seines Vaters und seiner Mutter hört, und wenn sie ihn züchtigen und er trotzdem nicht auf sie hört, dann sollen Vater und Mutter ihn packen, vor die Ältesten der Stadt und die Torversammlung des Ortes führen und zu den Ältesten der Stadt sagen: Unser Sohn hier ist störrisch und widerspenstig, er hört nicht auf unsere Stimme, er ist ein Verschwender und Trinker. Dann sollen alle Männer der Stadt ihn steinigen und er soll sterben. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. (Dtn 21,18-21)

Die Warnung vor Verführung und Unerfahrenheit:

Mein Sohn, verachte nicht die Zucht des Herrn, / widersetz dich nicht, wenn er dich zurechtweist. (Spr 3,11)

Wen der Herr liebt, den züchtigt er, / wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat.  (Spr 3,12)

Die erste salomonische Spruchsammlung:

Wer Zucht liebt, liebt Erkenntnis, / wer Zurechtweisung hasst, ist dumm. (Spr 12,1)

Armut und Schande erntet ein Verächter der Zucht, / doch wer Tadel beherzigt, wird geehrt. (Spr 13,18)

Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, / wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht. (Spr 13,24)

Der Tor verschmäht die Zucht seines Vaters, / wer auf Zurechtweisung achtet, ist klug. (Spr 15,5)

Züchtige deinen Sohn, solange noch Hoffnung ist, / doch lass dich nicht hinreißen, ihn zu töten. (Spr 19,18)

Für die Zuchtlosen stehen Ruten bereit / und Schläge für den Rücken der Toren. (Spr 19,29)

Die Worte von Weisen / Mahnungen:

Erspar dem Knaben die Züchtigung nicht; / wenn du ihn schlägst mit dem Stock, wird er nicht sterben. (Spr 23,13)

Du schlägst ihn mit dem Stock, / bewahrst aber sein Leben vor der Unterwelt. (Spr 23,14)

Die zweite salomonische Spruchsammlung:

Rute und Rüge verleihen Weisheit, / ein zügelloser Knabe macht seiner Mutter Schande. (Spr 29,15)

Züchtige deinen Sohn, so wird er dir Verdruss ersparen / und deinem Herzen Freude machen. (Spr 29,17)

Missratene Kinder und unbelehrbare Toren:

Die trotzige (Tochter) bereitet dem Vater und dem Gatten Schande, / von beiden wird sie verachtet. (Sir 22,5)

Wie Musik zur Trauer ist eine Rede zur falschen Zeit, / Schläge und Zucht aber zeugen stets von Weisheit. (Sir 22,6)

Warnung vor Unzucht:
Jener wird auf den Straßen der Stadt verurteilt; / wo er es nicht vermutet, da wird er ergriffen. So auch die Frau, die ihren Mann verlässt / und von einem andern einen Erben zur Welt bringt (...) Sie wird vor die Gemeinde geführt / und ihre Kinder werden es büßen müssen. Ihre Sprösslinge werden keine Wurzel treiben / und ihre Zweige keine Frucht bringen. Ihr Andenken hinterlässt sie zum Fluch, / ihre Schande wird niemals getilgt. (Sir 23, 21-26)

Die Kinder:

Wer seinen Sohn liebt, hält den Stock für ihn bereit, / damit er später Freude erleben kann. (Sir 30,1)

Wer seinen Sohn in Zucht hält, / wird Freude an ihm haben und kann sich bei Bekannten seiner rühmen. (Sir 30,2)

Ein ungebändigtes Pferd wird störrisch, / ein zügelloser Sohn wird unberechenbar. (Sir 30,8)

Beug ihm den Kopf in Kindestagen; schlag ihn aufs Gesäß, solange er klein ist, sonst wird er störrisch und widerspenstig und du hast Kummer mit ihm. (Sir 30,12)

Auszüge aus dem Neue Testament:

Worte der Mahnung an die Getauften / Christliche Hausordnung:
Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem; denn so ist es gut und recht im Herrn. (Kol 3,20)

Der Brief an die Hebräer / Die Züchtigung als Zeichen väterlicher Liebe:

Mein Sohn, verachte nicht die Zucht des Herrn, / verzage nicht, wenn er dich zurechtweist. Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; / er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat. Haltet aus, wenn ihr gezüchtigt werdet. Gott behandelt euch wie Söhne. Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater nicht züchtigt? Würdet ihr nicht gezüchtigt, wie es doch bisher allen ergangen ist, dann wäret ihr nicht wirklich seine Kinder, ihr wäret nicht seine Söhne. Ferner: An unseren leiblichen Vätern hatten wir harte Erzieher und wir achteten sie. Sollen wir uns dann nicht erst recht dem Vater der Geister unterwerfen und so das Leben haben? (Hebr 12,5-9)

Jede Züchtigung scheint zwar für den Augenblick nicht Freude zu bringen, sondern Schmerz; später aber schenkt sie denen, die durch diese Schule gegangen sind, als Frucht den Frieden und die Gerechtigkeit. (Hebr 12,11)

Freitag, 16. Juni 2017

Politische Spaltung in den USA als Ausdruck von einer gespaltenen Kinderfürsorge?

Gerade in der aktuellen politischen Debatte hört man immer wieder, die USA seien ein tief gespaltenes Land. Die Kinderschutzorganisation „Save the Children“ hat kürzlich erstmals eine Art Ranking über das Wohlergehen von Kindern in der Welt veröffentlicht. Der Bericht soll regelmäßig fortgeführt werden. Den Gesamtbericht kann mensch hier nachlesen. Deutschland steht aktuell auf einem sehr guten Platz 10. Die USA steht dagegen auf Platz 36 (einen Platz vor Russland und fünf Plätze vor China).

Für das Ranking wurden 8 Kriterien mit einbezogen: Kindersterblichkeit, schwere Mangelernährung bzw. Fehlernährung, fehlender Schulbesuch, Kinderarbeit, Kinderehen, minderjährige Mütter, Flucht vor Kriegen und Konflikten, extreme Gewalt (Mord an Kindern und Suizide von Minderjährigen). Elterliche Gewalt wurde im Ranking nicht mit einbezogen, vermutlich aus Gründen der Vergleichbarkeit der Daten. 

Nun ist Platz 36 für die USA nicht extrem schlecht. Allerdings gibt es auch einen us-amerikanischen Einzelbericht von Save the Children, in dem wiederum ein Ranking der einzelnen Staaten in den USA aufgeführt ist: Save the Children (2017). Stolen Childhoods. U.S. Complement to the End of Childhood Report 2017. Fairfield.

Dieses US-Ranking möchte ich hier näher besprechen, denn innerhalb der USA gibt es offensichtlich ein großes Gefälle oder eine tiefe Spaltung, was das Wohlergehen von Kindern angeht.

Die Top 10 (Gesamtwertung) wird durchweg von den Nord-, Nordöstlichen Staaten in den USA dominiert:  1. New Hampshire, 2. Massachusetts, 3. New Jersey, 4. Vermont, 5. Iowa, 6. Connecticut, 7. Minnesota, 8. Virginia, 9. Wisconsin und 10. Rhode Island.
Die 10 Schlusslichter bestehen vor allem aus den südlichen Staaten (und dem speziellen, nördlichen Staat Alaska, der traditionell sehr republikanisch und konservativ ist): 41. Arizona, 42. Nevada, 43. Alabama, 44. Arkansas, 45. Alaska, 46. Georgia, 47. Oklahoma, 48. New Mexico, 49. Mississippi und 50. Louisiana.
Schaut man sich das Ranking zwischen Platz 11 und 40 an, zeigt sich auch dort, dass die südlichen Staaten die hinteren Ränge dominieren. Der Platz 36. im weltweiten Ranking ist demnach vermutlich nur den fortschrittlichen Staaten in den USA zu verdanken, die für die Endauswertung einen entsprechenden Mittelwert erbrachten. Würde man nur die südlichen Staaten in das weltweite Ranking einbeziehen, wären die USA deutlich schlechter platziert als Platz 36.

Da Gewalt gegen Kinder durch Vertrauenspersonen wie Eltern und Lehrern nicht im Ranking mit einbezogen wurde, möchte ich auf eine Grafik hinweisen, die aufzeigt, in welchen US-Staaten Körperstrafen an Schulen nicht verboten sind (Stand 2012) Auch hier zeigt sich eine tiefe Spaltung des Landes. Die südlichen Staaten erlauben Lehrern weitgehend, Kinder körperlich zu strafen (zu Hause ist dies eh legal, es gibt in den USA kein Verbot von körperlichen Züchtigungen im Elternhaus).
Für eine KFN Studie hat Christian Pfeiffer Daten über Körperstrafen an US-Schulen bzw. die entsprechende Gesetzeslage in ein Verhältnis zu Gefängnisinsassen pro 100.00 Einwohnern, verhängte Todestrafen und Opfer durch Schusswaffen gesetzt. Je konservativer bzw. rückständiger die Rechtslage bzgl. Körperstrafen gegen Kinder an Schulen war, desto mehr Gefängnisinsassen, Todesstrafen und Mordopfer: Pfeiffer, C. (2015). The Abolition of the Parental Right to Corporal Punishment in Sweden, Germany and other European Countries: A Model for the United States and other Democracies? (KFN-Forschungsberichte No. 128). Hannover: KFN.

All dies macht für mich einmal mehr deutlich, wie sehr die Kinderfürsorge und Kindererziehungspraxis weitreichende Folgen für Gesellschaften hat! In den USA sehen wir eindeutig, dass die politische Spaltung des Landes bzw. die Ausrichtung in konservative und eher liberalere Staaten etwas mit dem unterschiedlichen Niveau der Kinderfürsorge zu tun hat. Eine deutliche Verbesserung der Situation von Kindern in den USA – vor allem auch in den südlichen Staaten – würde meiner Auffassung nach auch politische und soziale Veränderungen mit sich bringen, natürlich zum Positiven.

Mittwoch, 31. Mai 2017

Kindheit von Manuel Noriega

Aktualisierung und Hinweis vom 19.07.2018

Unter dem Titel „Acht Merksätze für eine gelungene Diktatoren-Karriere“ wurde auf Welt-Online (30.05.2017 von Florian Stark) ein Artikel auf Grund des Todes von Manuel Noriega  (Ex- Militärmachthaber bzw. Diktator in Panama) veröffentlicht. Im Artikel heißt es, dass Noriega in einem Kinderheim aufgewachsen sei. Diesen Artikel hatte ich als Grundlage für diesen Beitrag genommen. Mittlerweile gehe ich, solange ich keine gegenteilige Info finde, davon aus, dass diese Information falsch bzw. nicht belegbar ist. Zu eindeutig sind die Hinweise auf eine Patentante, bei der Noriega ab ca. dem 5. Lebensjahr aufwuchs. Meinen Beitrag werde ich entsprechend umschreiben. 

Der Text über die Kindheit von Noriege lautet nun folgendermaßen:

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Über Panamas Militärdiktator Manuel Noriega (ca. 1934- 2017) habe ich keine umfassenden Informationen über seine Kindheit gefunden. Noriega selbst schreibt in seinen Memoiren, dass seine Mutter unverheiratet war und krank wurde, als er noch ein Baby war. Er wurde früh zu seiner Patentante, die er Mama Luis nennt, gebracht und wuchs bei dieser auf. Bzgl. seines Vaters erwähnt er nur, dass dieser regelmäßig Geld und Essen schickte (Noriega & Eisner 1997, S. 17).
Bis auf diese kurzen Informationen über seine Mutter, seinen Vater und seine Patentante, die in nur einem kurzen Absatz abgehandelt werden, schreibt er nichts über seine Familie. Diese Lücke sticht geradezu ins Auge. Stattdessen geht er dazu über, ausführlich über Ausflüge mit Kindheitsfreunden zu berichten.

Warum es sich als schwierig gestaltet, Informationen über seine Kindheit und Jugend zu erhalten, zeigt folgendes: „Da er sich für seine bescheidene Herkunft genierte, hatte Noriega alle Geschichten über seine Jugend als »streng geheim« eingestuft. Die meisten Bekannten aus den Jahren seiner Kindheit trauten sich vor seinem Sturz im Dezember 1989 nur anonym etwas zu sagen.“(Kempe 1990, S. 50). Bei dem Noriega-Biografen Kempe finden sich zumindest noch einzelne Details vor allem zu Manuels Vater. „Er war Alkoholiker, und nur sein Hunger nach Frauen war mit seinem Durst zu vergleichen.“(Kempe 1990, S. 50).

Manuels Mutter war einst Hausangestellte bei seinem Vater. Der verheiratete Mann hatte eine Affäre mit ihr und sie wurde mit Manuel schwanger, woraufhin sie ihre Anstellung kündigte. Seinen Vater lernte Manuel erst als Jugendlicher kennen. Als Manuel vier oder fünf Jahre alt war, starb seine Mutter krankheitsbedingt. „Noriegas Freunde messen der Tatsache Bedeutung bei, dass er das Grab seiner Mutter nie besucht hat, bevor er Offizier war. Es war offensichtlich, dass er keine besondere Zuneigung für sie empfand. Auf alle Fälle verehrte er aber seine Adoptivmutter Luisa Sanchez, die ihn mit Liebe und Aufmerksamkeit überschüttete. (…) In Panama halten sich die Legenden, dass Tony von seiner Mutter grausam behandelt und von seinem Bruder homosexuell vergewaltigt wurde, aber die Wahrheit über Noriegas Kindheit ist keineswegs so furchtbar und düster wie diese Gerüchte. Luisa Sanchez adoptierte Noriega, verhätschelte ihn und richtete ihn für den Schulbesuch sauberer und netter her, als die meisten seiner Freunde es waren.“(Kempe 1990, S. 50+51).

Für mich stellt sich die Frage, wie der Säugling und das Kleinkind die Zeit mit der offenbar schwer erkrankten Mutter (dazu kamen noch ärmliche Verhältnisse) erlebt hat? Außerdem fällt der Hinweis auf das Verhätscheln durch die Pflegemutter auf, ein Sachverhalt, der bei nicht wenigen Diktatoren zu finden ist. Dieser Mix aus kindlichem Leid und Ohnmachtserfahrungen auf der einen Seite und mütterlichem Verhätscheln und mütterlicher Bewunderung auf der anderen Seite scheint mir im Kontext der Analyse von Diktatoren von großer Bedeutung zu sein (Nebenbei bemerkt: ähnliches findet sich auch  in der militärischen Ausbildung, zunächst haben die Rekruten viel Leid zu ertragen und werden gedemütigt, danach werden sie überhöht als echte Männer und potentielle Helden der Nation). Unterm Strich gibt es trotz fehlender vertiefender Informationen deutliche Hinweise auf eine sehr belastete Kindheit von Manuel Noriega.


Verwendete Quelle:

Kempe, F. (1990): Aufstieg und Fall Noriegas. Panama-Poker – gefährliches Spiel mit den USA. Hannibal Verlag, Wien.

Noriega, M. & Eisner, P. (1997): America's Prisoner:: The Memoirs of Manuel Noriega. Random House, New York.

Donnerstag, 4. Mai 2017

Fallbeispiel Beate Zschäpe: Opfer vom Opfer = kein Täter?

SPIEGEL-Online hat aktuell in einen Artikel (03.05.2017, "NSU-Prozess.Das zweite Gesicht der Beate Zschäpe", von Beate Lakotta) über Beate Zschäpe die Frage ihrer Schuldfähigkeit und ein neues Gutachten von dem Psychiater Joachim Bauer besprochen. Der Artikel an sich ist bereits ungewöhnlich, wenn man sich die ansonsten verbreitete Berichterstattung über TäterInnen anschaut.
Der Artikel beginnt so: „Es gibt Situationen in frühester Kindheit, die so zerstörerisch sein können, dass sie einen Menschen immer wieder einholen im Leben. Dauerhafte Vernachlässigung zum Beispiel. Der Mensch kann sich dann später im Leben womöglich nicht wehren, wenn die alte Verlassenheitspanik in ihm hochsteigt, die er als Säugling erlebte oder als Kleinkind. Schon die Vorstellung, allein zu sein, bringt Todesangst hervor.“ Es geht um die Kindheit von Beate Zschäpe, so die SPIEGEL-Autorin.
Im Artikel wird auch über die Vernachlässigung und häufige Wechsel von Erziehungspersonen in Zschäpes Kindheit berichtet. Ebenso wird auf den Alkoholismus von Zschäpes Mutter eingegangen. Zschäpes Mutter „habe oft volltrunken auf dem Fußboden in der Wohnung gelegen, manchmal im eigenen Erbrochenen. Sie habe sich geschämt und Angst gehabt, Freundinnen mit nach Hause zu bringen.“ (In Bauers Gutachten kam ergänzend  auch krasse häusliche Gewalt durch Böhnhardt gegen Zschäpe zur Sprache.) Eine solche direkte Berichterstattung über destruktive Kindheitshintergründe und Opfererfahrungen von TäterInnen finde ich natürlich vom Grundsatz her erfreulich und fortschrittlich.
Joachim Bauer diagnostiziert nun in seinem Gutachten nach vorherigen 14 Gesprächsstunden mit Zschäpe eine „abhängige Persönlichkeitsstörung“. Sie sei entsprechend „vermindert schuldfähig“.

Ich nutzte diesen Bericht heute einmal, um mich nochmal deutlich zu positionieren. Beate Zschäpe ist eindeutig ein Opfer. Als Kind Opfer von destruktiven Erwachsenen, die Macht über sie hatten. Als Frau Opfer von (schwerer) häuslicher Gewalt durch Böhnhardt. Aber bedeutet dies jetzt, dass die Opfer des NSU-Trios einem Opfer gegenüberstehen? Nein, das bedeutet es nicht! Die Opfer der NSU und deren Hinterbliebenen sind Opfer von Tätern geworden! Und Beate Zschäpe war Teil dieses Tätertrios. Punkt.
Die Opfererfahrungen dieser Täter sind nur bzgl. der Erklärungen nützlich, wie es zu den Taten kommen konnte. Die Opfererfahrungen der Täter und das Reden darüber sind desweiteren nützlich, weil so zukünftig Taten präventiv verhindert werden können; weil wir heute wissen, wie bedeutsam Kindheitserfahrungen bei der Genese von Gewalt und Hass sind. Die Opfererfahrungen der Täter wären für diese „Täter-Opfer“ ansonsten noch eine eigene Anklage an ihre Täter (vor allem die Eltern) wert oder ein wichtiger Teil in einer Therapie. Dies wäre aber persönliche Sache von Zschäpe und hat die Opfer des NSU-Trios herzlich wenig zu interessieren.

Opfer eines Opfers zu werden bedeutet immer, dass es eine Tat und einen Täter / eine Täterin gibt. Opfer eines Opfers zu werden, entlässt das Opfer, das zum Täter/Mittäter wurde, nicht aus seiner Verantwortung und befreit nicht von Schuld.

Ich persönlich hoffe sehr auf ein ausgewogenes, gerechtes Urteil der zuständigen Strafkammer.

Samstag, 29. April 2017

Islamistischer Terror: Nur Untote sprengen sich in die Luft!

In der TV-Dokumentation „Europas Muslime (2/2). Auf Reisen mit Nazan Gökdemir und Hamed Abdel-Samad“ (von Thomas Lauterbach, ZDF, 2016, ausgestrahlt auf Arte TV am 11.04.2017) gibt es ein interessantes Interview mit „Jo Dalton“, wie er sich nennt (realer Name Jérémie Maradas-Nado), zu sehen. Dalton kam mit sechs Jahren aus der Zentralafrikanischen Republik nach Frankreich. In den Vororten von Paris glitt er schnell in die Kriminalität ab und saß mehrfach im Gefängnis. Im Gefängnis traf er auf Islamisten und wurde radikalisiert. Er konnte sich allerdings von deren Einfluss lösen und arbeitet heute präventiv mit Jugendlichen gegen Gewalt und Hass.

Wie weit wäre er bereit gewesen zu gehen, in den Zeiten des Hasses?“ fragt sich die Journalistin Nazan Gökdemir in der Doku. „Wenn ich höre `großer Soldat Gottes`, das macht mir Angst.“ (ca. Minute 23)

Jo Dalton: „Ja, natürlich macht das Angst, weil ich vom Hass besessen war. Weil ich im Loch war. Tiefer als im Gefängnis kann man nicht mehr fallen. Darunter gibt es nur noch den Tod. (…) Ab dem Moment, wo Du das Leben in Dir abtrennst, wirst Du zum lebendigen Toten. Du hast keine Emotionen mehr. Da muss man tun, was zu tun ist.“ (Hervorhebung durch mich)

Gökdemir: „Das heißt?“

Dalton: „Wenn man sich opfern muss, muss man sich opfern, damit das System versteht, dass es keine Macht über Dich hat und es nur Gott gibt. Damals hätte ich es tun können. (…) Wer einmal das Leben abgetrennt hat, sieht niemanden mehr. Nur noch das System. (…) Man muss in die Haut dieser Menschen schlüpfen, um zu verstehen.  Sonst kannst Du diesen Hass nicht nachvollziehen.“ (Hervorhebung durch mich)

Diese Aussage sagt in meinen Augen alles über die eigentlichen Hintergründe von fanatischen Hassern, die Anschläge planen und sich dabei i.d.R. selbst opfern. Diese Menschen, die sich in die Luft sprengen, sind bereits (innerlich) tot, aber körperlich am Leben. Wer nichts fühlt, kann alles erdenkliche an Taten verüben, denn es wird ihn in keiner Weise berühren.  (Der Gefängnispsychiater James Gilligan hat die von ihm untersuchten Mörder in US-Gefängnissen als Untote („living dead“) bezeichnet, was deren Selbstdefinition widerspiegelt. Diese Männer erlebten derart brutale, folterähnliche Misshandlungen und absolute Lieblosigkeit in ihrer Kindheit, dass sie sich "leer", "innerlich tot", wie „Zombies“, „Steine“ oder „Vampire“ fühlten.)

Jo Dalton stammt aus der Zentralafrikanischen Republik, einem Land mit einer der höchsten Raten an Kindesmisshandlung in der Welt. Ich vermute sehr stark, dass er als Kind misshandelt wurde und zwar schwer und häufig. Sein Künstlername „Jo Dalton“ spricht da bereits Bände. Der Name steht in Verbindung zu der Comicfigur „Joe Dalton“ in den Lucky Luke Bänden. Die Comicfigur Joe Dalton ist der hasserfüllte und cholerische Anführer einer kriminellen Brüderband in dem Comic. Er ist aber auch der kleinste der Brüder. „Die größte Schwachstelle Joes stellt seine Mutter dar. Er erträgt es nicht, dass diese das Nesthäkchen Averell ihm vorzieht und auch nicht zögert, Joe, den „gefürchtetsten Banditen des Westens“, übers Knie zu legen.“, steht auf Wikipedia.  Ich denke, dass dies schon sehr viel erzählt über die Kindheitshintergründe von „Jo Dalton“ aus Paris. 

Mittwoch, 26. April 2017

Necla Kelek über die "verlorenen Söhne"

Ich habe heute meinen vorherigen Beitrag über die "Kindheit von Gewalt- und Straftätern" um die qualitative Arbeit von Necla Kelek ergänzt: Kelek, N. (2007). Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes. Wilhelm Goldmann Verlag, München.

In dem Beitrag mache ich sonst immer im Kommentarbereich auf Aktualisierungen und neue Studien aufmerksam. Diese heutige Aktualisierung möchte ich durch einen gesonderten Beitrag nochmals hervorheben. Natürlich ist die Analyse von Kelek nicht auf alle Muslime übertragbar, was sie selbst auch betont. Sie befasst sich ja auch gezielt mit der Sozialisation in der Türkei und nochmals gezielt vor allem mit der Sozialisation von türkischen Männern, die schwere Probleme in ihrem Leben haben. Es ist allerdings sicherlich kaum zu leugnen, dass die Dinge, die Kelek anspricht, so oder so ähnlich und je nach Milieu und muslimischen Kulturkreis oder in abgemilderter oder sogar gesteigerter Form weiterhin existieren und Einfluss auf die islamischen Gesellschaften haben. Diesen Beitrag hier über die Arbeit von Frau Kelek werde ich natürlich auch noch in meinem Text "Islamistischer Terror und Gewalt. Die notwendige Modernisierung der muslimischen Familie" verlinken. Er macht das Bild ziemlich rund, wie ich finde.

Darüber hinaus ist klar, dass diese Art von Sozialisation auch hier bei uns in Deutschland noch nicht lange her ist (man sehe sich z.B. den Film "Das weiße Band - Eine deutsche Kindergeschichte" an) und ihre Schatten warf und wirft.

Hier nun meine Ergänzung des o.g. Textes:


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Der Ansatz von der Autorin Necla Kelek ist bzgl. des Themas „Strafgefangene und deren kindliche Sozialisation und Erfahrungen“ ein besonderer und ich möchte diesen gezielt ans Ende dieses Blogbeitrags setzen.  In ihrem Buch „Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes“ hat sie fünf muslimische, inhaftierte (türkischstämmige) Straftäter ausführlich vorgestellt, mit denen sie zuvor intensive Interviews geführt hat. Den Berichten über die Straftäter hängt sie eine generelle Analyse der traditionellen muslimischen Erziehung an. Man erhält dadurch ein sehr komplexes Bild. Sie berichtet von der Macht der Väter, von kollektiven Familiensystemen, von mittelalterlichen Normen, vom Einfluss des Islam, vom Trauma der Jungenbeschneidung, von destruktiven Ehrvorstellungen, von Kindern die zuschauen, wenn Tieren beim Opferfest die Kehle durchgeschnitten wird usw. und auch von ihren eigenen Kindheitserinnerungen in der Türkei. Ihre Berichte sind – das betont sie – nicht repräsentativ (sie versteht ihren Ansatz als "qualitative Sozialforschung"), zeigen aber einen wichtigen Ausschnitt aus der Wirklichkeit.
Bzgl. dieser speziellen Gruppe der ursprünglich in der Türkei geborenen und hier in Deutschland inhaftierten männlichen Straftäter zeigt sich, dass zu den Erfahrungen von Gewalt und Demütigungen in der Kindheit dieser Männer (was sie mit anderen Straftäter gemein haben) ergänzend ein ganzes „Kultursystem“ betrachtet werden muss, in dem sie aufgewachsen sind.

Individuelle Freiheit und Entfaltung gibt es in diesen quasi "mittelalterlichem" Kultursystem, aus dem diese Täter stammen, nicht. Wie ein Junge und ein Mann zu sein hat und was sein Lebensweg sein wird (und wen er wann heiraten wird), bestimmen die Älteren, Sitten, Bräuche, die Religion, die Großfamilie und die (Dorf-)Gemeinschaft. Hinzu kommt eine strickte Trennung der Lebenswelten von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen, aber auch von Eltern und Kindern. Kelek zitiert einen Mann, der berichtet, dass seine Eltern nichts von ihm wüssten. „Das ist bei den meisten Familien so, nicht nur in meiner. Die Eltern leben für sich, und die Kinder sind auch für sich.“ (Kelek 2007, S 104) Dieser Mann berichtet über seine Familie: „Bei uns (…) spielt der Respekt eine große Rolle. Wenn mein Vater mich besuchen käme, würde ich sofort aufstehen und seine Hände küssen. Wenn er nach Hause kam, standen wir Kinder immer auf, küssten ihm die Hände und verließen den Raum, damit er seine Ruhe hatte. Wir achteten ihn, wir dienten ihm, denn er ist unser Vater.“ (ebd., S. 105)
Necla Kelek berichtet über das Kinderleben in dem anatolischen Dorf ihrer Mutter. „Im Dorf wurden die Kinder nicht betreut. Sie liefen, sobald sie laufen konnten, einfach mit. Die Jungen lernten von den älteren Jungen, was es hieß, ein Junge zu sein. Sie mussten die Schafe, die Gänse hüten oder Besorgungen erledigen. Die Mädchen halfen der Mutter im Haus und lernten durch Zuschauen und Mitmachen. In dieser Welt gab es keine bewusste Erziehung durch Ausbildung und fürsorgliches, erklärendes Beibringen, sondern nur das Prinzip Aneignung durch Nachahmung und Strafe bei Nachlässigkeiten.“ (ebd., S. 118) Strafen waren dann vor allem körperliche Gewalt (auch gegen Kleinkinder) und/oder Ausgrenzung.

Auch die Berichte der Strafgefangen sind voll von Gewalt, Ohnmachtserfahrungen und Gehorsamsforderungen. Kelek fasst an einer Stelle kurz zusammen:
„Die Lebensgeschichten, die ich im Gefängnis gehört habe, erzählen von Vätern, die ihre Söhne mit dem Stock oder mit einem Kabelende schlagen oder ihnen heißes Öl über die Hand gießen – alles Vergeltungsmaßnahmen für verweigerten Gehorsam oder nicht gezollten Respekt.“ (ebd., S. 182+183) Keiner der männlichen muslimischen Gesprächspartner – sowohl Strafgefangene als auch diverse andere -, die alle samt durch ihre Väter bestraft wurden und Gewalt erlebt hatten, machte ihren Väter deswegen Vorwürfe, schreibt Kelek. (ebd., S. 174+175) „Alle ´respektierten` seine Macht bis zur Selbstzerstörung. Der Vater, so scheint es, hat einen gottähnlichen Status, und die Angst, vor ihm zu versagen, ist groß.“ (ebd., S. 175)

Kelek spitzt im hinteren Teil des Buches an einer Stelle zu: „Muslimische Jungen wachsen ohne Liebe auf. In ihrer Sozialisation geht es in erster Linie darum, dieses Leben zu bestehen, Gott zu gehorchen und dafür zu sorgen, dass ihnen gehorcht wird. Es ist eine Welt von Schwarz und Weiß, von Entweder-Oder, von oben und unten. In ihr können keine Gefühle ausgebildet werden (…)“ (ebd., S. 179) Neben dieser Ohnmacht erleben diese Jungen aber auch, dass sie als männliche Wesen mehr wert sind, als Frauen. Gleichzeitig ist ihr Leben ein trauriges. Dies ist in meinen Augen eine unheilvolle Mischung aus Ohnmacht und Gehorsam + Macht und überhöhter Männlichkeit, alles die besten Zutaten für einen gewalttätigen Charakter. Diese Seiten zeigen sich sehr gut an einer Stelle im Buch:
„Die Söhne werden von den Müttern gepampert und verwöhnt und von den Schwestern bedient, mit ihnen spielen, träumen, weinen, lachen – das tut keiner. Das müssen die Jungen mit sich selbst, vielleicht noch mit ihren `Kumpels` abmachen. (…) Die Mutter und die Schwestern sind als Gesprächs- und Gefühlspartner unerreichbar, der Vater wird meist als strafende Instanz oder Herrscher über die Familie erlebt – als Partner seines Sohnes, der dessen Sorgen und Nöte teilt, ihn beschützt oder einfach für ihn da ist, fällt er aus.“ (ebd., S. 179)

Die Autorin berichtet auch über den Umgang mit Säuglingen in dem anatolischen Dorf ihrer Mutter. Die Säuglinge wurden in zwölf Meter lange Tücher so sehr eingewickelt, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten. „Dem Kind wurde, damit es vor dem `bösen Blick` oder auch vor Fliegen geschützt war, ein Tuch über die Augen gelegt. Solche Tücher gehören bei jeder Frau zur Aussteuer. Oft wurde ein Kleinkind ein Jahr lang so mumifiziert, es konnte weder etwas sehen noch sich bewegen. Wenn man das Kind vom Tuch befreite, schüttelte es wie wild den Kopf hin und her, weil das unbekannte Licht grell in den Augen schmerzte.“  (ebd., S. 116) Kelek betont, dass diese Praxis heute auch in Anatolien nicht mehr üblich sei. Man kann sich allerdings vorstellen, dass dieser traumatische Terror gegen das Kind in seinen ersten 12 Lebensmonaten nachhaltig wirkte, sowohl auf die Persönlichkeit der so Terrorisierten, als auch auf deren Umgang mit ihren eigenen Kindern.

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass Kelek auch den Blick auf viele Türken und Türkinnen richtet, die ihre Kinder anders erziehen, „die ihren Kindern die Liebe, Fürsorge und Nähe angedeihen lassen, die den von mir beschrieben Männern fehlt. Sie sollen aufstehen und sagen, wie sie es machen – je mehr es sind, desto besser.“ (ebd., S. 184)

Ich denke, es ist klar geworden, dass die Biografien von Gewalt- und Straftätern sehr stark ausgeleuchtet werden können, wenn Forschende sich auf den Weg dahin machen wollen und ergänzend entsprechende Ressource zur Verfügung gestellt bekommen oder sich beschaffen. Je mehr man erfährt und ausleuchtet, desto mehr versteht man auch die Genese von Gewalt, ohne sie gleichzeitig zu entschuldigen, sondern mit dem einzigen Zweck: Prävention im Hier und Jetzt, bei der heutigen Kindergeneration.