In der ARD-Dokumentation „Helmut Schmidt. Lebensfragen“ (am 23.12.2013 gesendet) hat der Altkanzler im hohen Alter Rede und Antwort über sein Leben gestanden. Dabei sagte er auch ein wenig etwas über seine Kindheit. (onine derzeit noch auf youtube)
„Meine Verbindung mit den Eltern war damals nicht sonderlich eng.“, so Schmidt im Laufe der Doku. (Was somit auch die Mutter einschließt, über die Schmidt in der Doku wenig berichtet.) Die Sendung beginnt gleich zu Anfang mit einer Szene zwischen Vater und Sohn. Der Vater will Helmut Fahrradfahren beibringen. Dabei ist er sehr streng, nimmt keine Rücksicht auf Verletzungen durch einen Sturz und sagt zu dem verletzten am Boden liegenden Helmut „Was sagen wir da, was sagen wir? Da lach ich drüber! Aufstehen und weiter!“
Seinen Vater beschreibt Schmidt so (und über sich selbst spricht er dabei in der dritten Person): „Abweisend, kühl, Schmusereien hat es nicht gegeben zwischen ihm und seinen beiden Söhnen.“
Nach der Frage des Interviewers, ob Schmidt sich an klassische Kinderängste erinnern könne, antwortet er zunächst mit einem bestimmten „Nein“. Der Interviewer hakt nach und zählt einige mögliche Ängste auf, am Ende auch Zornesausbrüche des Vaters. Schmidt hält kurz inne. „Bisweilen hatte ich Angst vor meinem Vater, vor den Prügeln, die ich kriegte.“ Der 1918 geborene Helmut Schmidt hatte allem Anschein nach eine damals klassische deutsche Kindheit, was einen autoritären Erziehungsstil bedeutete.
Für mich war zudem auch aufschlussreich, was über die Kriegsjahre berichtete wurde. Nach der Frage, warum er sich Freiwillig für Einsatz zur Ostfront gemeldet hatte, antwortetet Schmidt, dass er nicht „als Feigling durch die Gegend laufen“ wollte, „Alle jungen Soldaten hatten inzwischen das Eiserne Kreuz (…) und ich hatte das nicht, das war das ganze Motiv.“ Er äußert er sich anschließend auch kurz selbstkritisch über seine damalige Verrücktheit.
Auf Nachfrage gibt Schmidt sofort zu, dass er Menschen im Krieg getötet hat, diese habe er aber nicht gesehen. Er habe Flugzeuge abgeschossen und Dörfer in Brand geschossen. „Man hat den Feind selber kaum gesehen, man hat ihn nur geahnt.“ „Wenn man Dörfer in Brand geschossen hat, wusste man dann auch, dass Frauen und Kinder sterben würden.?“ fragt der Interviewer. Schmidt: „Das war einem nicht bewusst. Im Kriege ist in vielen Situationen das eigene Denken ausgeschaltet.„
Ich will mir hier kein Urteil über Schmidt und dessen Taten im Krieg erlauben. Mir geht es um etwas anderes. Schmidt ist ein vielschichtiger Mensch, ein hochintelligenter Mann und ein echter Demokrat. In diesem Blog bin ich schon mal durch einen Leser aufgefordert worden, mich auch mit den Lebenswegen von (politischen) Menschen zu befassen, die keine glückliche Kindheit hatten und trotzdem politisch konstruktiv (oder zumindest nicht zerstörerisch/kriegerisch) handelten. Ich denke, dass für einen solchen Lebensweg Helmut Schmidt ein gutes Beispiel ist, zumindest nach 1945.
Ich weiß nicht, wie es anderen Menschen geht, wenn sie Helmut Schmidt sehen und hören. Ich persönlich schätze sein weitschichtiges Denken und seine klare Sprache. Außerdem fährt er eine klare Linie und steht zu dem, was er denkt. Und er hat auch eine gewisse und sehr feste Moral, so scheint es mir. Aber mir fällt auch immer wieder auf, wie er sich emotionale Regungen verbietet, wie er diese zurückhält. Irgendetwas fehlt, denke ich immer, wenn ich ihn reden hören. Man ahnt immer, dass er emotional dabei ist, aber man sieht es nicht. Diese fehlende Emotionalität ist sicher zu einem nicht unwesentlichen Teil das Resultat von elterlicher Gewalt und der Distanz zum Kind, die Schmidt beschrieb, wie auch ergänzend den Kriegserfahrungen. Zudem ist auch sein Kettenrauchen eine mögliche klassische Folge von solch traumatischen Erfahrungen.
Helmut Schmidt ging im Nachkriegsdeutschland demokratische Wege und verdient sicherlich für vieles Respekt. Aber trotzdem erfüllt sein Handeln und Denken während der Kriegsjahre Grundannahmen dieses Blogs. Als junger Mensch wollte er freiwillig ganz Vorne an der Front dabei sein. Ihm fehlte ganz offensichtlich die emotionale Vorstellungskraft dafür, was Krieg bedeutet. Diese emotionale Lücke ist eine klassische Folge von destruktiver Erziehung.
Kein Mensch geht ohne Folgen aus einer lieblosen Kindheit heraus. Gerade auch direkte elterliche Gewalt, die Schmidt erfuhr, hat immer Auswirkungen auf das Leben des heranwachsenden Menschen. Diese Folgen können wir, denke ich, auch bei Helmut Schmidt sehen. Wir sehen aber auch, dass Menschen immer Individuen sind und dass sie ihren Lebensweg je nach Möglichkeiten mitgestalten. Gewalterfahrungen in der Kindheit führen nicht automatisch zu einem politisch (oder sonstigen) verbrecherischen Verhalten, das die entsprechende Persönlichkeit lebenslang durchzieht. Helmut Schmidt hat viel für Deutschland und die demokratischen Entwicklungen im Lande getan. Politisch war er alles andere als eine Gefahr für den Frieden oder die Demokratie.
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Ein weiterer Politiker und dessen Kindheit machte vor kurzem Schlagzeilen: Sigmar Gabriel (derzeit Vizekanzler).
Als Sigmar drei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern und er musste gegen seinen Willen bei seinem Vater bleiben, einem überzeugten Nazi, der seinen Sohn oft verprügelte und ihn mit diversen Sanktionen und Strafen überzog. Beispielsweise verschenkte der Vater Sigmars gesamtes Spielzeug, nachdem der Sohn mit schlechten Noten nach Hause gekommen war. Erst als Sigmar 10 Jahre alt war, erstritt seine Mutter erfolgreich das Sorgerecht und Sigmar fühlte sich von ihr gerettet. (Allerdings entführte der Vater den Sohn zunächst und zwang diesen, seiner Mutter am Telefon zu sagen, er wolle beim Vater bleiben) Als Heranwachsender klaute Sigmar und zerstach Reifen, seine Mutter brachte ihn mit großer Mühe wieder in die richtige Bahn. (verwendete Quellen Bild, 10.01.2013, "SPD-Chef Sigmar Gabriel. Die Geschichte seiner schweren Kindheit" und Tagesspiegel, 11.01.2013, "Mein Vater, der Nazi") Und auch an anderer Stelle werden die Folgen der Misshandlung sichtbar. Der Focus schreibt: „Der Sozialdemokrat hat seine Vergangenheit bewältigt, eines jedoch kann er nicht abschütteln – seinen Jähzorn, den ihm laut „Zeit“ auch enge Freunde nachsagen.“
Sigmar Gabriel war als Kleinkrimineller durchaus gefährdet, weiter abzurutschen und ganz andere Wege zu gehen. Er hatte das Glück, eine Mutter zu haben, die ihm half.
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Vitali Klitschko hat sich nach seinem Rückzug aus dem Boxsport stark politisch in der Ukraine engagiert und ist dort derzeit ein wichtiger Oppositionspolitiker. Sein Bruder Wladimir Klitschko berichtete einst in einem Interview über seine Kindheit: „Als ich mal was ganz Schlimmes getan hatte, wusste ich, dass mir der Po versohlt wird. Also dachte ich: Wenn der Vater abends kommt, wird es hart. Aber ich dachte auch: Wenn die Mutter das schon geklärt hat, wird Vater gnädig sein. Dann habe ich den Gürtel aus einer Hose meines Vaters genommen und bin damit zur Mutter gegangen. Ich sagte ihr, dass ich etwas Schlimmes gemacht habe, und dass es nicht richtig war. Ich gab ihr den Gürtel in die Hand, guckte in ihre Augen und sagte: So, und jetzt schlag zu. Und dann habe ich ihr noch mit Tränen in den Augen gesagt: Komm, schlag! Mach es! Und dann ist unsere Mutter eingeknickt.“ (Tagesspiegel Online, 15.06.2011, "Politik ist ein Kampf ohne Regeln" ) Dieses Beispiel bracht er beiläufig, um zu erklären, wie er seine Mutter zum Mitwirken an den Dreharbeiten für den Film „Die Klitschkos“ überzeugen konnte. Die Interviewer gingen darauf nicht weiter ein. Mit dem Gürtel durch den Vater verprügelt zu werden, ist schwere körperliche Gewalt, ähnliches hat ganz sicher auch Vitali erlebt, der seinem Bruder auch nicht ins Wort fiel.
Die Klitschko Brüder haben beide einen Weg gewählt, um legal und in einem sportlichen Rahmen Gewalt auszuüben. Beide haben sich dabei eine sehr traditionelle Männlichkeit gebastelt, bei der Stärke und Dominanz zählt und Schwäche oder gar Ohnmacht nicht erwünscht ist. Wie Vitali sich politisch entwickelt, ist bisher nicht eindeutig vorhersehbar. Beide Brüder stehen eindeutig nicht für Gewalt (außerhalb des Ringes) und politischen Wahn.
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Arnold Schwarzenegger – berühmter Schauspieler, Bodybuilder und ehemaliger Gouverneur - von Kalifornien berichtete über seine Kindheit in Österreich erschütterndes: „„Ich wurde an den Haaren gezogen. Ich wurde mit einem Gürtel verprügelt. (…) Damals wurde der Willen von vielen Kindern gebrochen. Das war die österreichisch-deutsche Mentalität.“ Immer, wenn er geschlagen worden sei, so im Artikel weiter, habe er sich gesagt: „Hier bleibe ich nicht mehr lange. Ich will hier weg. Ich will reich sein. Ich will jemand werden.“ (schwaebische.de, 05.08.2004, "Arnold Schwarzenegger spricht über Prügel-Vater")
Auch bei Schwarzenegger kann man – so meine Wahrnehmung – deutlich die Folgen der Kindesmisshandlung sehen. Er bastelte sich eine harte und männliche körperliche Hülle und trat auf der Leinwand als gewaltvoller Actionheld auf, eine legale Art, Gewalt zu inszenieren. Als Gouverneur war er sehr umstritten, u.a. weil er für die Todesstrafe stand und Gnadengesuche ablehnte.
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Alle vier vorgestellten Politiker sind sehr unterschiedliche Menschen und gingen sehr individuelle Wege. Alle vier stehen im ersten Moment, wo man sich mit ihnen befasst, nicht für Gewalttäter oder gar politischen Wahn. Trotzdem lassen sich bei allen deutliche Folgen der Kindheitserfahrungen erkennen, bei jedem auf seine Weise und auch in unterschiedlichen Lebensabschnitten. (Um über weitere mögliche Folgen etwas sagen zu können, müsste man diese Menschen näher kennen.)
Kindesmisshandlung hat immer (destruktive) Folgen, die sich von Mensch zu Mensch unterschiedlich gestalten. Die Folgen hängen dabei vor allem auch von dem Ausmaß und dem erlitten „Gewaltmix“ ab. Die unterschiedlichen Ausformungen und Ausdrucksformen dieser Folgen sind ein wichtiger Grund dafür, warum stets argumentiert wird, dass die meisten Menschen, die als Kind misshandelt wurden, nicht zu Amokläufern, Massenmördern oder Gewalttätern werden. Auf Grund dieser Feststellung wird dann routinemäßig angezweifelt, dass die Kindheit von Gewalttätern eine bedeutsame Rolle spielt. Das Ausblenden der komplexen Folgen von Kindesmisshandlung und der Komplexität von menschlichen Lebenswegen ist etwas, dem ich demnächst einen eigenen Beitrag widmen werde.
Noch ein Nachgedanke: Eines ist bisher unbeantwortet. Entsprechen die Kindheiten von PolitikerInnen denen der Normalbevölkerung (was in vielen Teil der Welt auch heute noch bedeutet, dass die Mehrheit der politschen Klasse als Kind Gewalt erfuhr) oder gibt es Unterschiede, vielleicht sogar in der Hinsicht, dass einst ungeliebte Kinder besonders häufig nach politischer Macht streben? Aussagenkräftige Befragungen von Parlamentsangehörigen in diesem Sinne sind mir bisher nicht bekannt, aber vielleicht kommt ja mal ein Forschender darauf, dahingehend eine Befragung durchzuführen.
Das weltweite, enorme Ausmaß vielfältiger Gewalt gegen Kinder und die An- oder auch Abwesenheit von Mitgefühl sind für mich zentrale Aspekte der Kriegsursachen-/Extremismusforschung, denen ich hier nachgehen möchte. Meine Grundfrage lautet: Wie politisch war und ist Kindheit?
Donnerstag, 16. Januar 2014
Montag, 13. Januar 2014
Ehrenpreis für Woody Allen als Zeichen für Täteridentifikation
Woody Allen wurde der diesjährige Golden-Globe-Ehrenpreis für sein Lebenswerk verliehen. Diese Nachricht ließ mich heute Morgen - als ich sie im Radio hörte – kurz zusammenzucken.
Missbrauchsvorwürfe gegen Allen gibt es schon seit Jahren. Aber gerade Ende letzten Jahres machte seine Adoptivtochter Dylan Schlagzeilen, weil sie über ihre Kindheitserinnerungen und den erlittenen Missbrauch durch ihren Stiefvater berichtete. Ebenso wurde öffentlich, dass auch weitere Kinder von Allen den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen haben. „Der jetzt 39-jährige Sohn Fletcher Previn (…) nahm sich sogar die Zeit, um aus jedem Familienfoto Allen mit Photoshop zu entfernen. Auch die Videos seien bearbeitet worden: `Wir können sie uns anschauen und das Gute sehen, ohne an das Böse erinnert zu werden`, erklärte er.“, berichtet die WELT.
Einen sehr deutlichen und hintergründigen Artikel findet man auch bei EMMA.
Für Allens Kinder ist es sicher nichts Neues, dass ihr Vater gesellschaftlich hoch geschätzt und geehrt wird. Der Golden-Globe-Ehrenpreis kommt zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt, kurz nach den Enthüllungen durch Dylan. Dieser Preis unterstreicht somit ganz besonders, dass sich viele Menschen lieber mit dem Aggressor identifizieren, als den Wahrheiten ins Gesicht zu schauen. Das ist etwas, was nicht nur im Fall Allen gesellschaftlich wie auch politisch relevant ist. Das „mit dem Täter identifiziert sein“ und „das Opfer nicht sehen wollen“ ist ein Grundproblem vieler Gesellschaften. Dieses Problem ist wiederum eine Folge der weit verbreiteten Gewalt gegen Kinder.
Missbrauchsvorwürfe gegen Allen gibt es schon seit Jahren. Aber gerade Ende letzten Jahres machte seine Adoptivtochter Dylan Schlagzeilen, weil sie über ihre Kindheitserinnerungen und den erlittenen Missbrauch durch ihren Stiefvater berichtete. Ebenso wurde öffentlich, dass auch weitere Kinder von Allen den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen haben. „Der jetzt 39-jährige Sohn Fletcher Previn (…) nahm sich sogar die Zeit, um aus jedem Familienfoto Allen mit Photoshop zu entfernen. Auch die Videos seien bearbeitet worden: `Wir können sie uns anschauen und das Gute sehen, ohne an das Böse erinnert zu werden`, erklärte er.“, berichtet die WELT.
Einen sehr deutlichen und hintergründigen Artikel findet man auch bei EMMA.
Für Allens Kinder ist es sicher nichts Neues, dass ihr Vater gesellschaftlich hoch geschätzt und geehrt wird. Der Golden-Globe-Ehrenpreis kommt zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt, kurz nach den Enthüllungen durch Dylan. Dieser Preis unterstreicht somit ganz besonders, dass sich viele Menschen lieber mit dem Aggressor identifizieren, als den Wahrheiten ins Gesicht zu schauen. Das ist etwas, was nicht nur im Fall Allen gesellschaftlich wie auch politisch relevant ist. Das „mit dem Täter identifiziert sein“ und „das Opfer nicht sehen wollen“ ist ein Grundproblem vieler Gesellschaften. Dieses Problem ist wiederum eine Folge der weit verbreiteten Gewalt gegen Kinder.
Montag, 6. Januar 2014
Aage Borchgrevink: "A Norwegian Tragedy". Ein Lehrstück über die tieferen Ursachen von Terror.
"Violence is the mother of change."
(Anders Behring Breivik in seinem "Manifest")
Das Buch des Autors Aage Borchgrevink über das Massaker von Utøya und Anders Breivik ist Ende letzten Jahres auch in englisch unter dem Titel „A Norwegian Tragedy. Anders Behring Breivik and the Massacre on Utøya“ im Polity Verlag, Cambridge (UK) / Malden (USA) erschienen. Die erste Veröffentlichung war in norwegischer Sprache im Jahr 2012 (Ich selbst konnte bisher das Buch nur indirekt an Hand eines Medienartikels besprechen, was sich jetzt dank der englischen Übersetzung ändert.)
Seit dem ist einige Zeit vergangen und man möchte meinen, dass die deutsche Presse zumindest nach der englischen Veröffentlichung das in Norwegen mit dem "Kritikerpreis" ausgezeichnete Buch ausführlich bespricht. Aber fehl gedacht. Online hat einzig die Bild unter dem gewohnt reißerischen Titel „Der Hass kommt von der Mutter“ einigermaßen ausführlich berichtet. Außerdem gibt es noch einen kurzen Bericht unter shortnews. Das war es.
Ich bin insofern hoch motiviert, das deutschsprachige Internet um die wesentlichen Rechercheergebnisse des Autors zu bereichern. Der Fall Breivik ist einzigartig und ein Lehrstück für die Gewaltforschung, da dieser Massenmörder im Alter von knapp vier Jahren Anfang 1983 - nachdem seine Mutter, Wenche Behring, das „State Centre for Child an Youth Psychiatry“ (SSBU) erneut um Hilfe ersucht hatte – zusammen mit seiner Mutter drei Wochen lang stationär aufgenommen und von einen Fach-Team bestehend aus ganzen acht Personen beobachtetet und analysiert wurde.
Bereits Mitte 1981 hatte Breiviks Mutter das Sozialamt um Hilfe mit ihrem ca. 2 ½ Jahre alten Sohn gebeten, da sie überfordert war und ihren kleinen Sohn als ruhelos, gewalttätig und voller Eigenarten empfand. Anders wurde daraufhin für einige Zeit an den Wochenenden fremduntergebracht, bis die Mutter dies wieder auflöste. Mit ihrer Tochter dagegen war Wenche eng verbunden, attackierte aber ihren Sohn. (S. 28+29) Bereits während der Schwangerschaft wollte die Mutter Anders abtreiben, da sich bereits Probleme in ihrer Partnerschaft abzeichneten, sie verpasste aber den Stichtag. (S. 262) Während der Schwangerschaft empfand sie den Fötus bereits als schwieriges Kind, das rastlos war und sie trat. (Anmerkung: Sichwort "Fötales Drama" nach Lloyd deMause) Nach 10 Monaten Stillzeit stoppte sie diese, weil sie meinte, das starke und aggressive Saugen würde sie zerstören. (S. 262)
Der SSBU Bericht zeigte weiterhin folgendes:
Der vier Jahre alte Enders Breivik wusste in einem Spielzimmer nichts mit Spielsachen anzufangen, im Spiel mit anderen Kindern fehlte ihm Vorstellungskraft und Empathie und er konnte seine Gefühle nicht ausdrücken. (S. 29)
Seine Mutter pflegte eine doppelte Kommunikation mit ihrem Sohn, stieß ihn von sich weg und zog ihn hinterher wieder eng an sich heran. Dies ging soweit, dass sie ihrem Sohn sagte, sie wünschte, er wäre tot und einem Mitarbeiter der Sozialbehörde ebenfalls sagte, dass sie ihren kleinen Sohn loswerden wolle, was auch immer sie damit meinte. Die Mutter dachte in schwarz und weiß, sah alles als Fehler Anderer, konnte nicht über sich selbst reflektieren, konnte ihrem Sohn keine deutlichen Grenzen setzen, ließ diesen oft alleine zu Hause, konnte nicht mit ihm umgehen, fühlte sich durch ihn provoziert usw. (S. 28+31+32+259+263) Aage Borchgrevink kommentiert all dies mit dem Begriff „Emotionale Misshandlung“ (S. 31) und stellt dem Gutachten folgend die Vermutung in den Raum, dass Wenche Behring an einer Borderline Persönlichkeitsstörung leidet. (S. 33) Sie selbst war als Kind schwer belastet. Ihr Vater verstarb früh, sie selbst erlebte emotionale und körperliche Misshandlung und eine sehr gestörte Mutter-Tochter-Beziehung. (S. 264) Außerdem musste sie einige Jahre in einem Kinderheim verbringen. (S. 265)
Borchgrevink fasst noch mal die gestörte Mutter-Sohn-Beziehung zusammen: „Together, Anders and his mother wandered arround like aliens on Earth, visitors from another planet who could not understand what they should feel or what they should do in the playroom. They were united in a deeply ambivalent relationship, occasionally escaping restlessly to seek confirmation from the outside world, but always finding their way back to each other.” (S. 34)
Diese ambivalente oder auch symbiotische Beziehung beinhaltete auch, dass Anders durch seine Mutter sexualisiert wurde bzw. sie – dem Bericht des SSBU folgend – ihre "paranoiden aggressiven und sexualisierten Ängste vor Männern auf ihren Sohn projizierte." (S. 259+260; eigene Übersetzung) Sexueller Missbrauch konnte nicht nachgewiesen werden, steht aber im Raum. Borchgrevink zitiert dabei auch einen Medienbericht, der sich auf zwei unterschiedliche Quellen bezieht, die beide sexuellen Missbrauch nahelegen. (S. 256)
Wenche Behring berichtete den Mitarbeitern des SSBU auch, dass sie ihren Sohn schlug und er dann rief: „Es tut nicht weh, es tut nicht weh.“ (S. 262) Das Ausmaß der körperlichen Gewalt ist nicht belegt. Ich selbst vermute aber, dass das Kind sich schon früh emotional abschalten musste, um in dieser allgemeinen Atmosphäre der Gewalt und Vernachlässigung zu überleben. Ein solches Kind kann dann in der Tat keinen Schmerz mehr empfinden.
Das Team des SSBU war nach der Begutachtung der Familie extrem beunruhigt, machte sich Sorgen um mögliche ernsthafte psychische Folgen für Anders und forderte, dass der Junge von seiner Mutter getrennt werden müsse, etwas, das zur damaligen Zeit in Norwegen nur in extrem schwierigen Fällen gefordert wurde. (S. 26+27+32)
Nachdem Anders - von der Familie getrennt lebender - Vater sorgenvolle Warnmeldungen durch Nachbarn und auch den Bericht des SSBU erhalten hatte, wollte er gerichtlich das Sorgerecht erstreiten. Dies scheint ein Wendepunkt gewesen zu sein. Anders Mutter mobilisierte all ihre Kraft, um gegen ihren Ex-Mann zu kämpfen (S. 34), den sie schon vorher als Monster beschrieben hatte, weil er sie für verrückt hielt. (S. 27) Um es kurz zu fassen. Die Mutter gewann vor Gericht, behielt das Sorgerecht, eine staatliche Kinderschutzstelle besuchte die Familie noch einige male und fand nichts Ungewöhnliches vor, was Grund zur Sorge gab. Borchgrevink fragt sich zu Recht, ob die Mutter damals gezielt eine Fassade aufbaute. (S. 36)
Nach den Taten ihres Sohnes wurde sie befragt und gab falsche Angaben zu den damaligen Abläufen. Sie sagte u.a. aus, dass es keinerlei Befürchtungen bzgl. Anders Entwicklungen als Kind gab und dass die Begutachtung des SSBU ein Resultat des Sorgerechtsstreites mit ihrem EX-Mann war, obwohl es genau umgekehrt war. (S. 140) . Borchgrevink befasst sich am Ende des Buches u.a. mit den aktuellen Kinderschutzauffassungen in Norwegen und meint, dass Anders Breivik nach einem Gutachten wie des der SSBU Anfang der 80er Jahre heute von seiner destruktiven Mutter getrennt worden wäre. (S. 270) Doch damals waren die Zeiten und Einstellungen zu Kindern und Familie noch anders.
Anders Breivik selbst sagte nach seiner Inhaftierung, dass er sich nicht an seine frühe Kindheit und auch nicht an die Zeit der Begutachtung durch den SSBU erinnern könne. (S. 266) ("I haven´t really had any negative experiences in my childhood in any way.”, schrieb der norwegische Attentäter auch in einem mit sich selbst geführten Interview innerhalb seines kranken „Manifestes“ auf Seite ca. 1387. Was letztlich nur eine klassische Folge von Kindesmisshandlung ist, da diese schmerzlichen Erinnerungen abgespalten werden.) Soweit ich mich an Medienberichte erinnere, hat Breivik auch vor Gericht nichts über seine traumatische Kindheit gesagt und seine Mutter zog – nach erster Einwilligung – die Entbindung von der Schweigepflicht der SSBU zurück, so dass die oben genannten Details vor Gericht nicht ausgeführt werden konnten.
Soweit ich es medial verfolgen konnte, hat auch Breiviks Schwester weitgehend geschwiegen und nichts über Details aus der Kinderzeit erzählt. Es drängt sich die Frage auf, was gewesen wäre, wenn es in diesem Fall nicht diese besonderen Ereignisse und Begutachtungen Anfang der 80er Jahre gegeben hätte? Die Antwort ist einfach: Wir hätten das Bild eines relativ normal aufgewachsenen Jungen, der in einer ganz normalen Trennungsfamilie aufwuchs, wie so viele. All die Gewalt, Vernachlässigung und pathologischen Familienstrukturen wären niemals öffentlich geworden. Und die Öffentlichkeit hätte genauso wie unzählige Fachleute, die nach der Tat zu Wort kamen, mit offenen Mund und einem breiten „Wie konnte das geschehen?“ dagestanden. Aber halt, erinnern wir uns wieder daran, dass in den deutschen Medien das besprochene Buch und Breiviks Kindheit weitgehend ausgeblendet wurden (Im Gegensatz zum englischsprachigen und norwegischen Raum). Dies ist für mich absolut unverständlich und ich hoffe, dass noch manche Medien nachträglich berichten.
Interessant ist abschließend noch, dass (die Anfang 2013 verstorbene) Wenche Behring zusammen mit einer Journalistin Ende 2013 eine Biografie mit dem norwegischen Titel „Moren“ („Die Mutter“) über sich als Mutter herausgebracht hat. Kurz vor ihrem Tod soll sie noch entschieden haben, das Buch doch nicht zu veröffentlichen. (was nicht verwundert, wenn man dem oben besprochenen Buch folgt. Sie traf andauernd wechselende Entscheidungen, was typisch für Borderliner ist.) „Viel Neues erfährt der Leser nicht. Wie Breivik zum Terroristen wurde, bleibt auch nach der Lektüre unklar.“ beschrieb die WELT das Buch.
Breiviks Mutter kommentierte das Buch auf dem Sterbebett u.a. wie folgt: „Ich hatte mir ein Buch gewünscht, dass schlicht und einfach die Geschichte von mir und meinem Leben erzählen sollte, so dass niemand herumgehen und erzählen könnte, was für grausame Menschen wir gewesen seien", schreibt die WELT. Es ging ihr offensichtlich um Entlastung, nicht um Wahrheit, wenn man diese Zeilen liest.
Sind es nicht genau diese Mütter und Väter von Mördern und Gewalttätern, die u.a. dazu beitragen, dass die Öffentlichkeit im Dunkeln darüber gehalten wird, welche Abgründe sich in der Kindererziehung auftun, die einst praktiziert wurden? Der Fall Breivik ist in vieler Hinsicht ein Lehrstück. Vor allem sollte er eine Mahnung für Medien und Fachleute sein, Eltern von Mördern nicht alles einfach unhinterfragt zu glauben, wenn sie öffentlich erklären, wie gut es ihre Kinder bei ihnen doch hatten.
Das Buch des Autors Aage Borchgrevink ist für mich auch von einer besonderer Bedeutung, weil er am Ende selbst sagt, dass er nach der Recherche einen veränderten Blick auf die Ursachen von Terror bekommen hat. (S. 267) Und er wird noch mal besonders konkret, wie sich solche Terrorakte präventiv verhindern lassen:
“In my opinion, however, the most important lesson from this tragedy is not about integration policy, the Internet, ideology or the police`s operating methods and resources (…). It is about child and family welfare policy. (…) The banality of evil in the case Breivik is the significance of childhood trauma in the hatred of a grown man. Countering hatred, radicalization und terrorism is also a matter of preventing children from being abused by their parents – a banal insight, perhaps, possibly so banal that it has been overlooked.” (S. 269)”
Siehe ergänzend:
Attentäter Breivik: Natural born Killer?
Breiviks Vater gibt ein langes, aufschlussreiches Interview
Neues Buch über Anders Breivik mit ausführlichen Infos über seine Kindheit
Gedankliche Anmerkung: Manchmal ist es schon merkwürdig im Leben. Die vorsitzende Richterin -Wenche Elisabeth Arntzen -, die über Anders Breivik urteilte, hat den selben Vornamen wie dessen Mutter.