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Mittwoch, 7. Februar 2024

Erstarken der AfD: 2024 ist nicht 1933! Kindheit bleibt politisch.

Armin Laschet hat kürzlich sehr ausführlich und deutlich vor dem Erstarken der AfD gewarnt:

Er sagte u.a.: „Man kann sagen: Naja, so schlimm wird das schon nicht werden. So haben die Leute 1933 auch gedacht“. Hitler habe nach seiner Wahl nur zwei Monate gebraucht, warnt er.

Auf den aktuellen Demos in ganz Deutschland gegen Rechtsextremismus und gegen die AfD hört man routinemäßig: „Nie wieder ist jetzt!

Ich finde dies alles gut und unterstützenswert! Die deutsche Gesellschaft ist aufgewacht und stellt sich gegen den Extremismus auf. 

Ich möchte dazu aber etwas anmerken:

Wenn man wie ich davon ausgeht, dass belastende Kindheitserfahrungen (inkl. autoritärer Erziehung in der Familie und der Schule) zentrale Ursachen dafür sind, dass sich Menschen radikalisieren und in Hass und "Schwarz-Weiß-Denken" abdriften können oder auch – die andere wichtige Seite der politischen Folgen von Kindheit – sich in Ohnmacht ergeben, erstarren, handlungsunfähig werden, ihrer eigenen Wahrnehmung nicht trauen und somit potentiell Machtmenschen das Feld überlassen, dann möchte ich folgende traumainformierte Stellungnahme zur Lage in Deutschland abgeben:

Es gibt aus psychohistorischer, traumainformierter und bzgl. Ausmaß von Gewalt gegen Kinder bzw. bzgl. Daten zum Wohlergehen von Kindern in Deutschland informierter Perspektive zentrale Unterschiede zwischen der psychoemotionalen Gesellschaftslage von 1933 und 2024!

Die deutsche Gesellschaft heute ist nicht nur „bunt“ im Sinne von unzähligen verschiedenen Lebensmodellen, Hautfarben, Migrationshintergründen, sexuellen Orientierungen usw., sondern sie ist vor allem auch psychisch/emotional bunt!

Die Bandbreite zwischen den erlebten Kindheitserfahrungen der heute Erwachsenen liegt zwischen Folter/Albtraum und sehr liebevoll, frei und absolut gewaltfrei Aufgewachsenen, mit allen erdenklichen Graustufen dazwischen. 

1933 gab es da viel mehr Extreme und zwar in Richtung „Folter/Albtraum-Kindheitshintergründen“. Die Graustufen waren weniger und die sehr liebevoll und gewaltfrei Aufgewachsenen (wie z.B. die Geschwister-Scholl) waren eine sehr kleine Minderheit. Entsprechend schwebten im gesellschaftlichen Raum auch massive, kollektive, unterdrückte Rachefantasien und (Selbst-)Hassgefühle herum, der von Hitler (der selbst als Kind unfassbar traumatisiert wurde) eingefangen werden konnten. 

Hinzu kommt das seit den 1980er Jahren in Deutschland sehr stark ausgeweitete Feld an psychologischen und psychotherapeutischen Hilfen für Menschen mit Traumaerfahrungen. Auch dieses Feld ist eine (unterschätzte!) Säule für gesellschaftlichen Frieden. 

In der Psychohistorie sprach Lloyd DeMause von unterschiedlichen "Psychoklassen", je nach Traumagrad der Kindheiten. Diese haben sich massiv verschoben und sind in Deutschland heute ganz andere als 1933. 

Teile (ich betone Teile!!) der noch stark als Kind belasteten und ungeliebten Menschen (die zudem zum Autoritarismus neigen) fühlen sich durch starke Dauerveränderungen und Fortschritte in der Gesellschaft (Minderheitenrechte, technische Veränderungen, höhere Anforderungen bzgl. Flexibilität usw.) getriggert. Der feste Rahmen, der sie innerlich und psychisch stabilisierte, droht in der neuen bunten Welt zu zerbrechen. Die Wunschlösung: Zurück in das Gestern, "wo Mann und Frau noch ihre festen Plätze hatten", wo mehr Homogenität herrschte und mit vorgefertigten, Sicherheit gebenden Lebenswegen. 

Das Aufbäumen der AfD ist in meinen Augen der letzte große Atemzug des Autoritarismus und von  getriggerten Kindheitsbelastungen in der deutschen Gesellschaft (dies wird noch einige Zeit anhalten, aber auf Grund der Veränderungen der „psychischen Landschaft“ mit der Zeit abnehmen). Der Fortschritt von Kindheit ist in Deutschland schon länger im vollen Lauf und nicht mehr rückgängig zu machen. 

Die Mahnungen in Richtung 1933 sind ehrenwert, aber meine Einschätzung ist, dass Deutschland diese Zeit nie wieder wiederholen wird. Die Kindheit ist extrem politisch und das bekommt Deutschland – diesmal im positiven Sinne – zu spüren. 


Sonntag, 31. Dezember 2023

Historiker Simon Sebag Montefiore über die Mütter von Hitler, Stalin und Trump. Eine kritische Anmerkung.

Der Historiker Simon Sebag Montefiore hat kürzlich dem SPIEGEL (52/2023) im Rahmen des Titelthemas „Für immer Sohn. Wie Mütter das Leben von Männern prägen“ ein ausführliches Interview gegeben (Historiker über Mütter mächtiger Männer. „Die Macht von Frauen lag in der Kontrolle ihres Sohnes“)

In dem Interview geht er u.a. auf die Mütter von Stalin, Hitler und Donald Trump ein. Wobei die Mutterbeziehung Hitlers ihn mit am meisten beeindruckt hätte, wie er auf Nachfrage sagt. 

Alle drei Mutterbeziehung kommentiert er nicht bzgl. ihrer destruktiven Wirkungen. Im Gegenteil, die Mütter von Hitler und Stalin werden sogar recht wohlwollend und zugewandt dargestellt. Auf SPIEGEL Frage "Von der Mutter des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump heißt es, dass sie ihren Sohn für dumm gehalten habe" hin kommentiert er nur, dass Trumps Mutter eine „energische, direkte Frau“ gewesen sei. Auf die folgende Nachfrage, warum Trump Frauen gegenüber immer wieder wenig Respekt gegenüber zeige, vermutet Montefiore als Ursache altes Klischeedenken von „Heiliger und Hure“. 

In allen drei Fällen wurde somit die grausame Realität der Mutter-Sohn-Beziehungen in meinen Augen ausgeblendet und insofern wurde eine Chance verpasst, die Wirkung von destruktiven Elternfiguren auf politische Führer (und deren Verhalten) in einem großen Leitmedium zu besprechen. 

Leider kommentiert der Historiker sogar noch an einer Stelle:
Hitlers Mutter „war sehr nachsichtig. Man hat den Charakter von Diktatoren ja lange Zeit damit erklärt, dass ihre Eltern sie grausam behandelt hätten. Aber das stimmt nicht. Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal – der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen. Hitlers Mutter hat ihren Sohn vergöttert.“

Dieser Satz blendet alle Erkenntnisse aus, die es mittlerweile über die Kindheiten von Diktatoren (und auch Gewalttätern an sich) gibt. Die Gemeinsamkeit von Diktatoren ist gerade ihre massiv traumatische Kindheit (siehe auch mein Buch „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“). Diesen Satz dann auch noch mit „Hitler“ einzurahmen, entbehrt jeder Logik, da gerade Hitler eine unfassbar traumatische Kindheit erlebt hat.

Dass Hitler von seinem Vater häufig und schwer misshandelt und gedemütigt wurde, ist längst bekannt (und wird auch dem Historiker Montefiore bekannt sein). Der Historiker Roman Sandgruber hat 2021 beispielsweise sehr deutlich geradezu einen Schlussstrich über die Erkenntnislage bzgl. Hitlers von Gewalt geprägter Kindheit gezogen, da dies einfach überdeutlich belegt ist: „Hitler: Ein einst misshandeltes Kind. Deutliche Worte in einem neuen Buch".

Hitlers Mutter stand hilflos und ohnmächtig daneben, ohne ihrem Sohn helfen/schützen zu können oder zu wollen. Was dies mit einer Mutter-Sohn-Beziehung macht, ist u.a. unter Kindertherapeuten bekannt. Das Gleiche gilt für einer mütterliche "Vergötterung" ihres Sohnes, was wenig mit Liebe zu tun hat und viel Destruktivität im Leben des Sohnes zur Folge haben kann.
Neben der Gewalt war Hitlers Kindheit von weiteren schweren Belastungen geprägt, darunter z.B. Tod von mehreren Kernfamilienmitgliedern

Die massiv destruktiven Eltern-Kind-Beziehungen bei den Trumps sind ebenfalls belegt (wenn auch öffentlich weniger bekannt/besprochen), auch der Einfluss der destruktiven und vor allem abwesenden Mutter (bei Interesse zwei lange Blogbeiträge dazu hier und hier

Was mich am meisten fassungslos zurückließ sind die Kommentare des Historikers bzgl. Stalins Mutter, die er als "eine interessante Figur", die ihren Sohn gefördert und angetrieben habe, beschreibt. Stalin habe seiner Mutter viel zu verdanken. 

Simon Sebag Montefiore selbst hat in seinem Buch „Der junge Stalin“ auf die massive Gewalt des Vaters UND der Mutter von Stalin hingewiesen. Ja, die Mutter von Stalin hat ihren Sohn körperlich misshandelt (nach meinen Recherchen zusätzlich auch emotional, aber das würde hier zu viel Raum einnehmen). Im SPIEGEL-Interview, das eine Titelstory über den Einfluss von Müttern auf ihre Söhne angelehnt ist, wird dieser extrem wichtige Faktor der mütterlichen Misshandlung einfach nicht erwähnt. 

Anbei zwei Zitate aus dem Montefiore Buch „Der junge Stalin“ im Kapitel „Der verrückte Besso“:

Streitsüchtig und aggressiv, war er so schwer unter Kontrolle zu halten, dass sogar seine Mutter, die ihn anbetete, zu Züchtigungen griff, um ihren widerspenstigen Schatz zum Gehorsam zu zwingen.“

Sie verdrosch ihn häufig«, erzählt Stalins Tochter Swetlana. Als Stalin seine Mutter in den Zwanzigerjahren zum letzten Mal besuchte, fragte er sie, warum sie ihn so oft geschlagen habe. »Es hat dir nicht geschadet«, erwiderte sie. Aber das ist umstritten. Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor.“

Was ich auch sehe – und da hat Montefiore einen Punkt – ist, dass Diktatoren in ihrer Kindheit auffällig häufig eine Mutter hatten, die sie antrieb und übermäßig erhöhte (neben den gleichzeitigen Demütigungen und Erniedrigungen innerhalb der Familie). Die besonderen Größenfantasien der Diktatoren haben hier wahrscheinlich mit ihren Ursprung. Insofern ist diese Art von mütterlichem Einfluss ein bedeutsamer Faktor. 

Aber ohne die viele Gewalt und die vielen Ohnmachtserfahrungen in der Kindheit dieser Akteure, wären sie nicht zu den gefühlskalten politischen Führern geworden, die sie wurden. Und genau darüber müssen wir sprechen und aufklären. 

"Der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen", sagte der Historiker ja (siehe oben). Das ist genau das Paradoxe im öffentlichen Bewusstsein. Dass destruktive Kindheiten Folgen haben, wird zwar öffentlich besprochen und ist irgendwie auch bewusst. Wenn es aber um Politik und politische Führer geht, wird dies sehr oft ausgeblendet und gering geredet. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich von Seiten eines Historikers solche Zeilen hier lese: "Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal". 

 Der Historiker Volker Ullrich hat z.B. in der Biografie "Adolf Hitler. Biographie Band 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889 – 1939" sehr deutlich die Gewalt von Hitlers Vater beschrieben. Dann fügt er an:
Doch sollten sich Biographen hüten, zu weitreichende Schlüsse aus frühen Kindheitserlebnissen zu ziehen. Körperliche Züchtigung war damals als Erziehungsmittel durchaus noch an der Tagesordnung. (…) Nach allem, was wir wissen, scheint Hitler eine ziemlich normale Kindheit verbracht zu haben, jedenfalls gibt es keine gesicherten Hinweise auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung, aus der sich die späteren Verbrechen ableiten ließen" (Kapitel: „1 Der junge Hitler“).

Was grausame Realität der Mehrheit der Kinder war, hat dann also keine negativen Folgen und übt keinen Einfluss auf Verhalten aus, wenn aus diesen Kindern später mal einflussreiche politische Akteure werden? 

Eigentlich weiß es Montefiore ja auch besser, denn er schrieb ja selbst: "Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor" (siehe oben).

Dieses Hin und Her, diese Widersprüchlichkeiten der Aussagen zeigen mir, dass der Historiker sich selbst noch nicht bewusst gemacht hat, dass Kindheit politisch ist! Damit ist er nicht alleine, sondern bildet die gedanklichen und emotionalen Mehrheitsverhältnisse der Gesellschaft ab. 

Dies Stück für Stück zu verändern, wird auch mein Ziel im neuen Jahr 2024 bleiben. 

In diesem Sinne: Einen guten Rutsch ins neue Jahr wünsche ich!


Sonntag, 12. März 2023

"Hitlers Mann im Vatikan": Kindheit von Bischof Alois Hudal

Auf Alois Hudal bin ich zufällig gestoßen. Meine verwendete Quelle für seine Kindheitserfahrungen ist:

Sachslehner, J. (2019). Hitlers Mann im Vatikan. Bischof Alois Hudal. Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Kirche. Molden Verlag, Wien – Graz.

Der Titel erklärt bereits etwas, wer dieser Mann war. In der Buchbeschreibung wird es nochmals deutlicher: „Adolf Hitler wurde von Bischof Alois Hudal als Siegfried deutscher Größe verehrt, das Ideal des aus Graz stammenden Theologen war ein christlicher Nationalsozialismus, verbunden mit der Vernichtung der kommunistischen und bolschewistischen Weltgefahr. Als Rektor des deutschen Priesterkollegs Santa Maria dell Anima und Leiter des vatikanischen Pass- und Flüchtlingsbüros avanciert der umtriebige Bischof nach 1945 zum Fluchthelfer für zahlreiche NS-Kriegsverbrecher, unter ihnen Alois Brunner und Franz Stangl.“

Alois Hudal scheint ein schlechtes Verhältnis zu seinem Vater gehabt zu haben: „Alois Hudal, der sich den Namen der Mutter gewünscht hätte, verschloss sich Zeit seines Lebens der Erinnerung an seinen Vater. Konsequent betrieb er eine damnatio memoriae, einige abfällige Bemerkungen sind alles, wozu er sich hinreißen ließ“ (S. 16). 

Über seine Mutter und ihre Beziehung zu seinem Vater schreibt Hudal: „Sie lebte mit 73 Jahren ganz allein, schwer geprüft durch eine unglückliche Ehe mit einem Mann, der religiös und politisch im kirchenfeindlichen Lager der Sozialisten stand“ (S. 19).
An anderer Stelle berichtet er über die Mutter: „Sie war eine bescheidene, schlichte Frau, aber durch ihren tiefen Glauben von menschlicher Haltung. … So oft ich ihr Zimmer betrat, fand ich sie im Gebet versunken, eine milde fast unendlich primitive Religiosität, reine Engherzigkeit zeichnete sie aus“ (S. 20). Dem hängt er an, dass infolge „ihres unglücklichen Familienlebens“ ihr Leben „ein täglicher Opfergang“ gewesen sei. 

Was bedeutet es für ein Kind, die Mutter stets "versunken" vorzufinden? Wie war der psychische Zustand dieser Mutter? Was hat sich alles in dieser Familie zugetragen, dass der Sohn seinen Vater derart ablehnte? Und wie sah der genaue Erziehungsstil der Eltern aus? Weitere Details dazu finden sich leider nicht in der verwendeten Quelle. Belastungen für den Jungen deuten sich allerdings an. 

Ein Ereignis, das den Jungen deutlich geprägt haben wird, ist allerdings belegt. 1896 trat der damals elfjährige Alois in das Seckauer Diözesan-Knaben-Seminar ein, um ihn auf den Priesterberuf vorzubereiten. „Acht Jahre lebten die heranwachsenden jungen Burschen in einer eigenen Welt, rund um die Uhr behütet und bewacht. Das religiöse Ritual bestimmte ihren Tag (…)“ (S. 21). 

Ein ehemaliger Zögling des Instituts berichtet von einer religiös „sein Denken durchdringende Disziplin“, die die Erziehung im Seminar ausmachte (S.21). Manche Zögling wären am „harten Ringen“  dieser Ausbildung gescheitert. „Nicht wenige haben die ganze Höhe nie erreicht und versanken in soziale Isolation, zuweilen zu Sonderlingen geworden, einzelne gingen daran zugrunde, von der Welt, die sie umringte, überwältigt“ (S. 22).
Den Berichten ist nicht zu entnehmen, wie mit den Zöglingen umgegangen wurde. Fest steht, dass sie sich einem strikten, organisierten Tagesablauf zu unterwerfen und wenig Freiheiten hatten. Für ein Kind, das ab dem elften Lebensjahr Jahre aus seiner Familie gerissen wird, werden diese Umstände deutliche Belastungen bedeutet haben. Es ist zudem keine aus der Luft gegriffene Spekulation, wenn man annimmt, dass um das Jahr 1900 herum ein autoritäres Denken in solchen Internaten vorgeherrscht haben wird, mit entsprechenden Folgen für die Kinder. 

Wie so oft kann man auch bei diesem Nazi deutliche Belastungen in der Kindheit ausmachen. Das Gesamtbild, das sich aus den zitierten Passagen ergibt, ist deutlich. 


Sonntag, 26. Februar 2023

„Warum ich Nazi wurde“: Biogramme früher Nationalsozialisten

Ich habe ein sehr interessantes Buch entdeckt:

Giebel, W. (Hrsg.) (2018). „Warum ich Nazi wurde“: Biogramme früher Nationalsozialisten. Die einzigartige Sammlung von Theodore Abel. Berlin Story Verlag, Berlin. 

Das Buch und sein Inhalt werden in einem Artikel vom Deutschlandfunk ausführlich vorgestellt, insofern erspare ich mir eine große Einleitung durch den Link.

Nur kurz: Theodor Abel hat 1934 per Preisausschreiben die Kurzbiografien von etlichen überzeugten Nazis erhalten und gesammelt, die alle vor 1933 Mitglieder der NSDAP waren. 

Das Interessante für mich sind dabei natürlich mögliche Schilderungen über Kindheitshintergründe. Allerdings zeigte sich schnell, dass die meisten biografischen Schilderungen sich bezogen auf die Kindheit rein auf Oberflächendaten beziehen: Geburtsdatum, Geburtsort, Berufe der Eltern, Schullaufbahn, Ausbildung. Für die Akteure, die nur diese Oberflächendaten beschrieben, bleibt die Kindheit im Dunkeln (was auch bedeutet, dass negative Erfahrungen nicht auszuschließen sind). Allerdings haben auch mehrere Akteure Hinweise auf ihre Kindheit geliefert. 

Was mir zunächst immer wieder auffiel, ist der Tod von Vätern (was bei mehr Akteuren der Fall war, als ich unten in meinen Auszügen darstelle). Dies ist bei dieser „Nazi-Generation“ auch kaum verwunderlich, weil viele Väter im Ersten Weltkrieg umkamen. Für die Kinder allerdings ist der Verlust des Vaters eine enorme Belastung. Was mir ergänzend ins Auge fiel (sofern die Akteure Angaben dazu machten), ist die hohe Anzahl an Geschwistern. Viele Geschwister (gepaart mit sehr viel zu erledigenden Arbeiten der Eltern in der damaligen Zeit, was auch einzelne Akteure so berichten) können zumindest auch ein Indiz für Vernachlässigung sein. 

Anbei stelle ich die Akteure vor, für die sich belastende Kindheitserfahrungen andeuten oder sogar belegen lassen. Diese Generation ist nicht gerade bekannt dafür, allzu kritisch über die eigenen Eltern zu berichten oder diesbezüglich deutliche, offene Worte zu finden. Wenn man zwischen den Zeilen liest, wird man aber auch hier manches Mal fündig. 

Dies gilt so z.B. für F. Lüttgens (nach 1900 als Sohn eines Fabrikarbeiters geboren). Über seinen Vater berichtet er: „Ich entsinne mich noch sehr gut, dass wir Kinder ihn nicht allzuhäufig zu Hause gesehen haben, wenn er zu Hause war, so war dieses zu Hause sein auch nichts anderes als Arbeit und Mühe“ (S. 254). Die Mutter scheint ebenso viel beschäftig gewesen zu sein: „Die Mutter war eine brave, ehrliche deutsche Hausfrau. (…) In heisser Liebe arbeitete sie morgens von ½ 5 Uhr bis abends spät für ihren Mann und ihre Kinder“ (S. 254). Lüttgers betont im Nachsatz, wie wichtig Deutschland für die Eltern war. „Naturgemäß“ sei auch bei den Kindern der Same der Vaterlandsliebe gesät worden, ebenso Ehrgeiz und Wissensdurst. Dem fügt er an: „In der Schule machte sich die Art dieser Erziehung sehr bald bemerkbar. Absoluter Glaube an die Autorität des Lehrers gepaart mit gläubigem Vertrauen zu ihm als denjenigen, der die Arbeit von Vater und Mutter zu ergänzen hatte, trat selbstverständlich ein“ (S. 255). Die Art und Weise der Wortwahl kommt geradezu einer untergebenen Lobpreisung der eigenen Erziehung gleich, die der Akteur als sehr gelungen empfindet und nicht in Zweifel zieht. Der absolute „Glaube an die Autorität“ macht mich besonders hellhörig. Wie die Eltern ihre Autorität gegenüber den Kindern durchgesetzt haben, bleibt unserer Fantasie überlassen. 
Ein weiteres Ereignis sticht hervor: Als er zehn Jahre alt war, litt er nach einer Verletzung an einer Blutvergiftung. "Durch diese Blutvergiftung wurde ich fast 2 Jahre lang an das Krankenbett gebunden. Abgeschlossen von allen Spielkameraden war ich die meiste Zeit mir ganz allein überlassen" (S. 256). Ein Großteil dieser Zeit scheint er sogar im Krankenhaus verbracht zu haben, aus dem er 1914 entlassen wurde, wie er berichtet. Für ein Kind eine schwere Belastung, zu der die Trennung von den Eltern noch hinzu kam. 

Der 1893 geborene Fritz Schroner berichtet nur wenig über seine Kindheit. Er sei das siebte von insgesamt acht Kindern gewesen. Dass diese hohe Geschwisterzahl auch Not und wenig Zeit der Eltern für die Kinder bedeutete, führt er selbst aus: "(...) die hungrigen Mäuler zu stopfen, war für die Eltern nicht immer leicht. Und sie mussten wahrlich von früh bis spät tätig sein, um die Familie zu versorgen. Dass auch wir Kinder dabei auch noch im schulpflichtigen Alter je nach unserer Kraft und unserem Vermögen mit Hand anlegen mussten in Haus, Hof, Garten und Feld, war uns nicht immer leicht, aber unbedingt notwendig" (S. 210). Nach dem Ersten Weltkrieg musste er fünf Jahre in Gefangenschaft in Sibirien verbringen. An diesen Jahren wäre er fast zerbrochen. 

Der 1907 geborene Gustav Kohlenberg schreibt: "Von Jugend auf war ich in streng nationalem Geiste im Elternhaus erzogen worden. Das Schicksal hat meine Familie mit schwersten Schlägen bedacht. Nur während der ersten Kinderjahre lebten wir zu Hause in Wohlstand (...) Mein ganzes Leben hat bis heute stets Kampf bedeutet" (S. 236). Sieben Kinder hatte die Familie zu versorgen. Während der Kriegsjahre mussten sie eine schwere Hungerzeit und auch Krankheitswellen überstehen. 

Die Kindheit von dem 1890 geborenen Gustav Heinsch zeigt deutliche Schatten. Er wurde als fünfter Sohn seiner Eltern geboren worden. Allerdings waren alle seine Geschwister vor seiner Geburt verstorben. Wir dürfen annehmen, dass der Tod von vier Kindern diese Eltern extrem belastet und ggf. auch den Umgang mit dem überlebenden Kind geprägt haben wird. Viel Zeit für ihren Sohn hatten die Eltern nicht. Seine Großmutter war hauptsächlich für seine Erziehung verantwortlich, denn: „Meine Mutter musste genau so wie mein Vater vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf dem Gut arbeiten. Trotzdem beide schwer arbeiteten, reichte es gerade zum Notwendigsten“ (S. 344).  Ab dem achten Lebensjahr musste auch Gustav nachmittags arbeiten, zusätzlich zu seinen Arbeiten für die Schule. Die Eltern mussten außerdem arbeitsbedingt häufig umziehen. Gustav besuchte in der Folge fünf verschiedene Volksschulen, was befriedigende Bindungen an Gleichaltrige sicherlich schwierig gestaltete. 

Der Vater des 1868 geborenen Waldemar von Schöler war einst Divisionskommandeur und hatte Kriegserfahrungen. Über seine Erziehung schreibt von Schöler: „In welchen weltanschaulichen Gedankengängen ich erzogen wurde, geht am klarsten aus den Grundsätzen hervor, die mir in meiner Kindheit eingeimpft wurden. Sie gründen sich alle auf die altpreußische, auf Friedrich Wilhelm I. zurückgehende Ideenwelt. Du musst vor allen Dingen stets Deine Pflicht erfüllen, ob es Dir angenehm ist oder nicht, und zwar nicht nur obenhin, sondern mit vollem Einsatz Deiner Person und Deiner Fähigkeiten“ (S. 376). Das Wort „eingeimpft“ möchte ich hier hervorheben. Nach weiteren Ausführungen u.a. über Tüchtigkeit, Gewissenhaftigkeit und Sparsamkeit mit Blick auf seine jungen Jahre kommt dann noch folgender Satz: „Autorität in Staat und Familie galten als die Grundpfeiler menschlicher Ordnung“ (S. 377). Man kann sich entsprechend vorstellen, dass dieser Junge autoritär erzogen worden sein wird, auch wenn er keine konkreten Beispiel dafür gibt. 

Der 1904 geborene Alfred Raeschke zog im Altern von sechs Jahren vom Lande in die Stadt, nach Berlin. Ca. ab dem dritten Kriegsjahr des Ersten Weltkriegs musste die Familie hungern. „Und das Schlimmste: ein Familienleben kannten wir nicht mehr. Alle kannten wir nicht – waren uns immer selbst überlassen. Denn die Frauen mussten ja die Arbeiten der Männer machen, die im Felde standen. (…). So sahen wir den Vater gar nicht, die Mutter aber nur des Abends. Doch dann konnte sie sich uns nicht widmen, weil sie ja das Haus noch zu besorgen hatte und auch müde war von der schweren Arbeit. So wuchsen wir heran, ohne rechtes Familienleben, voller Hunger, tiefe Not erlebend“ (S. 538). Nach der Schulzeit (im Jahr 1917) kam er zunächst in die Lehre. Der Hunger und die Not wurden schließlich so groß, dass die Mutter ihren Sohn aufs Land zu einem Bauern schickte. „15 Jahre war ich nun alt, aber arbeiten musste ich wie ein Erwachsener“ (538). Aber immerhin, er hatte genug zu essen und hatte überlebt. 

Der 1897 geborene G. Goretzki hat keine großen Einblicke in seine Kindheit gegeben. Er schreibt allerdings: „Die Erziehung im Elternhaus war streng, die Jugend trotzdem aber schön und sorgenlos. Vom Vater lernte ich die Tugenden altpreußischen Beamten- und Soldatentums kennen“ (S. 348).
Wie oft schon habe ich Sätze gelesen, in denen die Akteure dieser Zeit rückblickend auf ihre Kindheit blicken, von „Strenge“ in der Erziehung berichten und im gleichen Satz Wörter wie „schön“, „sorgenlose“ oder gar „Liebe“ verwenden? Meiner Auffassung nach ist diese Vermischung beider Ebenen bereits ein Anzeichen für die Folgen der „strengen Erziehung“. Die Strenge wird i.d.R. von dieser Generation nicht kritisiert und sogleich beschönigt. Was bedeutete elterliche Strenge um 1900? Wir können mit hoher Wahrscheinlichkeit auch von Körperstrafen ausgehen! Dass Goretzk durch seinen Vater preußisch-soldatisch erzogen wurde, ist ein weiteres Anzeichen für eine belastete Kindheit. 

Ähnlich wie Goretzk berichtet auch der 1906 geborene Friedrich Christian Prinz zu Schaumburg-Lippe von seiner Erziehung, ohne dabei – wie so oft bei biografischen Darstellungen aus dieser Zeit - ins Detail zu gehen. Der Prinz wuchs in reichen Verhältnissen auf. „Trotz dieser völligen Unabhängigkeit von irgendwelchen materiellen Schwierigkeiten war die Erziehung, die mir zuteil wurde, eine einfache, ja in mancher Weise soldatisch zu nennende, - immer, in allen Fragen des Lebens auf den Staat und das Volk gerichtet, der grossen Tradition einer tausendjährigen Familiengeschichte entsprechend“ (S. 616). Eine „soldatische Erziehung“ wird eine strenge Erziehung mit manchen Belastungen für das Kind gewesen sein. 

Der 1910 geborene Edmnd Dienhart hatte eine mehrfach belastete Kindheit. Als er fünf oder sechs Jahre alt war brach der Erste Weltkrieg aus. Er war das Jüngste von insgesamt sieben Kindern. An einer Stelle schreibt er etwas von einem bzw. seinem „gestrengen Vater“ (S. 592), ohne weitere Details zum väterlichen Umgang mit den Kindern zu schildern.  Als er acht Jahre alt war, starb der jüngste seiner Brüder. Dienhart gibt dem jüdischen Chefarzt, der seinen Bruder operiert hatte, die Schuld am Tod des Bruders. „Da ich meinen verstorbenen Bruder besonders liebte, stieg in mir Achtjährigen mit der Zeit ein Groll auf gegen den Chefarzt und dieser noch nicht recht begreifbare Hass steigerte sich mit meinem Alter zu einem Wiederwillen gegen alles, was jüdisch war“ (S. 592). Infolge einer Kinderkrankheit nahm seine Sehkraft ab dem neunten Lebensjahr stetig ab. Seine jüngste Schwester kümmerte sich in der Folge verstärkt um ihren Bruder. Allerdings musste sie das Zuhause verlassen und er sei ab dann „meist alleine“ gewesen (S. 592). Ab dem zehnten Lebensjahr kam Edmund zu einem Onkel und verlor somit sein gewohntes Familienleben. Innerhalb der folgenden zwei Jahre hatte er wohl mehrere Klinikaufenthalte von jeweils mehreren Wochen zu überstehen. Durch die Behandlungen wurde seine Sehkraft verbessert und kam wieder zurück. 

Der 1910 geborene Paul Matter war vier Jahre alt, als sein Vater im Ersten Weltkrieg fiel. In der Folge wurde er auch von seiner Mutter getrennt und zur Erziehung zu den Großeltern geschickt. Als er acht Jahre alt war, heiratete seine Mutter erneut. Mit seinem Stiefvater scheint er sich nicht gut verstanden zu haben, denn er berichtet: „Als ich meinem 14. Lebensjahr aus der Schule kam, verließ ich sofort das Elternhaus, denn mein Pflegevater, war doch nicht der Vater, der im Weltkriege für´s Vaterland starb“ (S. 680). Er begann dann eine Bäckerlehre in einem anderen Ort. 

Der 1912 geborene Karl Friedrich Nau hat fast nichts aufschlussreiches über seine Kindheit geschrieben und beschreibt nur kurz Eckdaten. Ab dem 14. Lebensjahr ging er in die Lehre und war mit 17 Jahren ausgelernt. Er habe lange ersehnt, danach endlich seinen Heimatort verlassen zu können und weitere Teile Deutschlands kennen zu lernen. Er zog dann auch fort und schreibt: „Bad-Nauheim war für mich etwas anderes als zu Hause, denn wir waren vier Geschwister und es musste in jeder Hinsicht dem väterlichen Willen gefolgt werden. Nun war ich für mich und konnte mich in meinen freien Stunden dem widmen, wonach ich mich sehnte (…)“ (S. 718).
Auch hier erfahren wir wieder keine Details über das väterliche Erziehungsverhalten. Allerdings zeigen seine Ausführung überdeutlich in Richtung autoritäre Erziehung. 

Der 1901 geborene Fritz Keppner berichtet im Grunde nichts über seine Familie und Kindheit. Was mir ins Auge stach war aber, dass er als Dreizehnjähriger (im Jahr 1914) eine Gelegenheit nutzte, um sich heimlich einer Maschinengewehrkompanie an der Front anzuschließen. Erst nach einer Woche fiel dies auf und man brachte ihn zurück. Er versuchte daraufhin erneut an die Front zu kommen, wurde aber aufgegriffen und musste zurück nach Hause. Er berichtet noch, dass er Mitglied der SS war und im Jahr 1930 seine Mutter Waffen versteckte, als die Polizei kam (S. 725f.). All diese Erzählungen deuten auf eine entsprechende Prägung im Elternhaus hin. Als Dreizehnjähriger unbedingt an die Front kommen zu wollen, ist schon bemerkenswert. 

Der 1903 geborene Paul Moschel war das sechste von zwölf Kindern. Das entsprechend wenig Zeit der Eltern für ihn da gewesen sein wird, erschließt sich von selbst. Er selbst formuliert es so: „Da unsere Familie so groß war und meine Eltern keinen Besitz hatten, musste ich mit meinen Geschwistern eine harte Kinderzeit durchmachen, aber die härteste während der Kriegsjahre. Wir waren durch meine guten Eltern echt deutsch erzogen, meine zwei älteren Brüder stellten sich bei Ausbruch des Krieges freiwillig in den Dienst unseres Vaterlandes mit 17 und 18 Jahren“ (S. 730). Beide Brüder starben. Über die Kriegsjahre und die Not der Familie schreibt er noch, dass sie eine Zeit durchmachen mussten “in der wir an Hunger, Entbehrung und Elend so viel erlebten, das in Worten nicht zu fassen ist“ (S. 730).  Als Vierzehnjähriger war er damals der älteste Sohn und versuchte mitzuhelfen, die Familie durchzubringen. Unter der Besetzung der Franzosen wurde Paul im Alter von sechszehn Jahren inhaftiert und saß eine Zeit lang im Gefängnis. Auch dies ist eine schwere Belastung für einen Minderjährigen. 

Der 1882 geborene Robert Friedrich berichtet im Grunde fast gar nichts über sein Elternhaus (S. 741f.). Er sei als vierter Sohn seiner Eltern geboren und nach evangelischer Kirschensitte erzogen worden. Im Alter von nur zwölf Jahren ging er auf eine Militärschule und blieb dort bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr. Auf diese Zeit geht er nicht weiter ein. Auf Grund der räumlichen Distanz zwischen seinem alten Heimatort und dem Sitz der Militärschule, gehen ich davon aus, dass er auch in der Schule lebte und wohnte (was eine andauernde Trennung von der Familie bedeuten würde). Danach wechselte er auf eine Unteroffiziersschule. Sein Weg blieb militärisch dominiert und er kämpfte im Ersten Weltkrieg. Schon seit seiner Kindheit war dieser Junge militärisch geprägt und erzogen worden. 

Die 1898 geborene Hedwig Eggert war das achte Kind ihrer Eltern, die insgesamt elf Kinder bekamen. „(…) davon sind 5 am Leben geblieben, die übrigen 6 sind teils klein, teils größer gestorben“ (S. 753). Ein Bruder sei im Alter von dreizehn Jahren gestorben und dies sei ein „herber Schlag für meine Eltern“ gewesen (S. 753). Entsprechend werden die Todesfälle auch Hedwig geprägt und belastet haben. Ihr Mutter „musste von früh bis spät in der Fabrik mitarbeiten, um all die hungrigen Mäuler stopfen zu können“ (S. 753). Der ebenfalls berufstätige Vater hatte nur einen geringen Lohn, der kaum reichte. Die Kinder werden irgendwie gelernt haben müssen, unter diesen Mangelbedingungen klar zu kommen und zu überleben. 

Der Vater des 1900 geborene Fritz Junghanss fiel 1917 im Krieg. Fritz muss zu der Zeit sechszehn oder siebzehn Jahre alt gewesen sein.  Vermutlich war schon früh seine Mutter gestorben (oder hatte die Familie verlassen), denn er schreibt „Meine natürliche Mutter hatte ich nicht gekannt, erhielt aber mit 10 Jahren eine Stiefmutter, zu der ich in einem schlechten Verhältnis stand, da sie kleinlich und gehässig war und ich mir ihr bald in jeder Beziehung überlegen fühlte. Mein Vater war nicht glücklich mit ihr und diese Stimmung im Elternhause war nicht dazu angebracht, Kinder (ich hatte noch einen drei Jahre jüngeren Bruder) mit Liebe und Vertrauen zu erziehen. Ich war daher darauf angewiesen, mich ohne die Stütze der elterlichen Hände charakterlich selbst zu bilden (…)“ (S. 780).
Der Herausgeber des Bandes (zu dem ich im Schlussteil noch etwas anmerken werde), stellt den meisten Biografien (die oft im Original abgebildet sind) eine Zusammenfassung vor. Auffällig ist hier, wie auch an anderen Stellen, dass er diese besondere und herausstechende Belastung in Kindheit und Jugend des Akteurs nicht in die Zusammenfassung mit aufnimmt, was sich absolut angeboten hätte. Belastungen, die er in dem Band in den Zusammenfassungen mit aufnimmt, sind i.d.R. der Tod von Familienmitgliedern oder der Wechsel des Wohnorts/der Familie. Auf den Herausgeber und seine Herangehensweise komme ich noch zurück. 

Der 1902 geborene Alfred Buchholz kam als viertes von insgesamt sechs Kindern seiner Eltern zur Welt. Er sei in „bescheidenen Verhältnissen, unter liebereicher Pflege meiner mustergütigen Eltern“ herangewachsen (S. 806). Diese anfängliche idealisierende Beschreibung seiner Eltern sollte uns sogleich im Gedächtnis bleiben, wenn wir uns seine weiteren Schilderungen anschauen!
Sein Vater war preußischer Unteroffizier bei einem Eisenbahnregiment. Entsprechend wird dieser militärische Einfluss auch das Familienleben geprägt haben.
Seine Mutter beschreibt er u.a. wie folgt: „Ihr Augenspiel, das besonders auffallend bei öfter notwendig werdenden Ordnungsrufen in Erscheinung trat, ist mir und auch meinen Geschwistern tief in`s Herz geschrieben und glich doch allzusehr dem strengen Augenzuge unseres `Alten Fritz`. Wir meinten später manches Mal: `Der Alte Fritz geht um, der Knüppel wird gleich tanzen`“ (S. 807).
Ganz offensichtlich hat diese strenge Mutter ihre Kinder mit einem Gegenstand misshandelt. Alfred Buchholz schmückt diese Erfahrungen geradezu schriftstellerisch aus und beschönigt sie dadurch deutlich. Kritik an dem Erziehungsverhalten gibt es seinerseits nicht. Im Gegenteil, er holt sogleich zu weiteren Höhenflügen aus, wenn es um die Eltern geht: „Beide, Vater und Mutter, sind strenge, sittliche reine, züchtige und mit feinstem Liebesempfinden ausgestattete Menschen, deren Liebe sehr wohl ihre guten Grenzen kannte (…). Ihnen gilt schon seit meiner frühsten Jugend meine ganze Verehrung und stets bin ich bemüht, mich meinen Eltern gegenüber dankenswert zu erweisen“ (S. 807). 

Lobpreisungen und das Wort „Liebe“ gleich im Anschluss nach Schilderungen über mütterliche Gewalt und Strenge, erneut taucht dies hier auf. Es ist dies klassisch für das mit dem Aggressor identifizierte Kind, das nur so seine Misere ertragen kann.
Gleich nach seinen Lobpreisung berichtet er wieder über Gewalterfahrungen: „Hässliche Worte, zänkisches Handeln, aufkommende schlechte Manieren wurden unter strengster Wacht der Eltern nicht geduldet sondern stets zu gutem Handeln und zum Verständnis ermahnt, was ich auch sehr beherzigte. Half jedoch die Milde und Güte nichts mehr, dann tanzte es eben reichlich fühlbar auf den Po“ (S. 807). „Tanzte“ auf den Po, auch in dieser Formulierung steckt bereits die Verdrehung der Wirklichkeit, nämlich das es eigentlich Gewalt ist, was dieses Kind erfährt, die offensichtlich „reichlich“ ausgeteilt wurde. Als Kind erlebte er zudem den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und schwere Hungerzeiten. 

Nach vielen Schilderungen u.a. über seinen Kampf für die Nazis schreibt er im Schlussteil:
Viele ereignisreiche Dinge meines Lebens, besonders auch im Kampf als Hitlerdeutscher, könnte ich noch aufweisen, doch müsste ich mich dann zu sehr verbreitern. Ich aber fühle, dass wir Deutsche heute echte und bester Ringer des Friedens sind in einem neuen Geiste  (…). Schlägt und würgt man aber ein Volk, so schlägt und würgt man auch Gott und seine Himmel werden sich vernichtend rächen. Eines darf ich von mir noch sagen, denn es ist meine Kraftquelle: Ich blieb aufrecht und rein; und würde aber meinen Körper zu Füßen des Todes legen, ehe ich davon abwich“ (S. 821).
Es bietet sich geradezu an, die Fantasien von einem geschlagenen und gewürgten Volk, das sich rächt, und für Reinheit kämpft mit seiner Misshandlungsgeschichte im strengen Elternhaus zu verbinden. Dieses sich „dreckig“ und sich „unrein“ fühlen, sind klassische Gefühle, die misshandelte Kinder haben, die aber später verdrängt werden. Die Umkehrung (bzw. Projektion) davon, also sich „rein“, „sauber“, „anständig“ fühlen zu wollen und gegen den „Dreck“ bei Anderen zu kämpfen (Die „dreckigen Juden“ oder DIE „dreckigen Ausländer), um „Reinheit“ herzustellen, ist etwas, das man oft bei Extremisten aller Arten beobachten kann. Und das halte ich nicht für einen Zufall!
Auch die Todessehnsucht, die Alfred Buchholz nebenbei zum Ausdruck bringt, sehe ich verbunden mit seinen Kindheitserfahrungen. Etwas, das ganz sicher viele damalige Nazis so oder so ähnlich empfunden haben werden. Hitler und sein Weltbild umgab schließlich ein Todeskult. Heute können wir diese Todessehnsucht u.a bei Islamisten beobachten. 

Aufschlussreich sind die Anmerkungen des Herausgebers mit Blick auf die Erkenntnisse aus den vielen Biogrammen. Unter der Zwischenüberschrift „Warum wurden sie Nazis – Thesen“ schreibt er u.a.: „Soziologen und Historiker versuchen heute mit unterschiedlichen Theorien und Erklärungsmodellen eine Antwort auf die Frage zu ergründen, warum jemand Nazi geworden ist: Traumatisierung durch den Ersten Weltkrieg, Demütigung des Nationalgefühls, Abrutschen der Mittelschicht, Isolation und Verunsicherung des Einzelnen, Existenzangst nach Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise. Kein Wissenschaftler kann aber erklären, warum eine junge Frau, die ein Biogramm schreibt, überzeugte, aktive, gnadenlose Nationalsozialistin geworden ist, sie sich selbst radikalisiert hat, ihre zehn Geschwister aber nicht“ (S. 23).
Und: „Meine These als Ergebnis der Auswertung dieser vielen hundert Biogramme ist: Wer Nazi werden wollte, wer sein Heil in dieser Ideologie mit überlegender Rasse und Untermenschen suchte und auf Hitler als Erlöser setzte, wurde Nazi – und war dafür allein verantwortlich. Es war eine ganz individuelle Entscheidung, Nazi sein zu wollen (…). Sie wollten das so (S. 24).“

Ca. 82 Biogramme hat der Herausgeber für das Buch ausgewählt und vorgestellt, von ursprünglich fast 581 erhaltenen Biogrammen von damaligen Nazis. Davon wiederum habe ich 17 herausgesucht, die zumindest Andeutungen über Kindheitsbelastungen enthalten. Die restlichen Biogramme enthalten bzgl. der Kindheit im Prinzip keine Infos, die hier relevant wären. Was sich aber auch zeigte: kein einziger von den 82 beschreibt eine gänzlich unbelastete, gar liberale oder gewaltfreie Kindheit, auch dies muss man hier feststellen.
Man könnte jetzt meinen, dass es sehr spekulativ wäre, von den 17 Akteuren auf die Gesamtheit zu schließen. Ich halte dem entgegen, dass wir heute sehr wohl darum wissen, dass eine strenge, autoritäre Erziehung, die Kindern kaum eigene Freiheiten gestattete und sowohl im Elternhaus als auch in der Schule Körperstrafen üblich waren, die damaligen Normen waren. Die oben zitierten 17 Akteure deuten dies oftmals klar an oder bestätigen es manchmal sogar überdeutlich (vor allem im zuletzt genannten Fallbeispiel). Dass die anderen Akteure keine Details in dieser Hinsicht berichten, sagt nicht aus, dass sie es nicht ähnlich erlebt haben. Gerade Erziehungsnormen wurden von der damaligen Generation kaum hinterfragt, sondern als „normal“ und nicht erwähnenswert hingenommen. Ich sehe diese 17 Akteure eher als Sprachrohr für die Anderen, als die Minderheit, die ausnahmsweise Details aus der eigenen Erziehung Preis gibt.
Das Gleiche gilt übrigens auch bezogen auf die Hungererfahrungen im Ersten Weltkrieg und die Abwesenheit der überarbeiteten oder am Krieg beteiligten Elternteile. Es würde kaum Sinn machen, diese grundlegenden Erfahrungen der damaligen Generation für diejenigen Akteure auszuschließen, die hier nicht darüber berichtet haben. Nicht jeder möchte solch schlimmen Erfahrungen erinnern und in seinem Biogramm öffentlich festhalten, was nur all zu nachvollziehbar ist. 

Ich selbst kannte - nebenbei bemerkt - mal einen Mann, der Anfang der 1930er Jahre geboren wurde. Durch Dritte (Verwandte von ihm) wusste ich, dass er als Kind von seinen Eltern schwer misshandelt worden war. Er selbst pflegte einmal zu sagen, dass er immer viel von seinen Eltern „kritisiert“ worden war. Das war genau die Art und Weise, wie diese Generation das Schweigegebot und den Gehorsam gegenüber den Eltern eingehalten hat. Es gehörte sich schlicht nicht, die Eltern zu kritisieren oder öffentlich Einblicke in elterliches Erziehungsverhalten zu geben. Insofern ist es schon fast ein Glücksfall, dass wir hier 17 Berichte haben, die manche Hinweise enthalten!

Kommen wir zu den Anmerkungen des Herausgebers. Ja, es gab viele Familien, in denen die einen Kinder der Familie Nazis wurden und die anderen nicht. Für mich ist das kein Widerspruch, weil die Einflüsse auf Wege von Menschen vielfältig sind. Für mich zählt viel mehr der Punkt, dass die, die Nazis wurden, keine nachweisbar unbelastet, geliebt und gewaltfrei aufgewachsenen Kinder waren (was uns ja auch heutige Studien über entsprechende Akteure eindrucksvoll aufzeigen). Das ist das Fundament, das Nazi-Deutschland überhaupt möglich machte. Und ja, ich gebe dem Herausgeber ein Stück weit Recht, dass die damaligen Akteure auch wollten, was sie taten, dass sie Entscheidungen trafen, für die sie verantwortlich waren. Hätten Sie diese Entscheidungen aber auch so getroffen, wenn sie eine unbelastete und liberale Kindheit erlebt hätten? Aus meiner Sicht: Nein!

Und genau deswegen halte ich diesen Band für besonders wertvoll. Auch wenn der Herausgeber selbst gar nicht bemerkt zu haben scheint, was hier auch nachgewiesen wird: Das diese Nazis belastete Kindheiten hatten. 



Sonntag, 4. Dezember 2022

Childhood is political!

This text (slightly updated version) is the English translation of:

Fuchs, Sven (2021). Die Kindheit ist politisch! Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention (DGfPI), Jahrgang 24, Heft 1, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 80-85.


Abstract: Do childhood experiences have consequences? If this question is put into relation to politics and society or even to collective things such as war, extremism, terrorism or social developments towards dictatorial regimes, then quite a few people would respond, “No, childhood has nothing to do with it!” People answer in this direct way quite promptly, but most of the time they don’t engage or really get involved to talk about these connections. I will use among other things biographies to show that childhood is indeed political and that childhood experiences itself can have political consequences.


Please imagine, dear reader, that you are a psychotherapist. In the following, I present five individual cases, anonymized at first. You will learn the real names of the “patients” afterwards. Patients come to your practice, we imagine, because of a range of mental and health conditions (addictions, mood disorders, sleep disorders, suicidal thoughts, self-loathing, etc.). In the course of anamnesis and therapy, their childhood backgrounds become clear, which I will present briefly: 

Case A: A was the first surviving child after two miscarriages; at the age of five he almost died of smallpox; after an accident suffered in childhood, his left arm was also injured and remained crippled; the father was a violent alcoholic who beat his wife and children; A’s father beat him almost every day (after one assault the child had blood in his urine for days); one day the father even tried to strangle A’s mother; when A was 11 or 12 years old, his parents separated; the father later became a vagrant; A’s mother also abused her son and she forced him into training to become a priest; A spent five years of his adolescence in a seminary which was characterized by rituals of submission to authority, humiliation by the clergy, powerlessness and punishment.

Case B: The mother had originally wanted to abort the fetus; during pregnancy, she already perceived the fetus as a difficult child who was restless and kicked her; for the infant, the mother did only what was necessary and was uncaring; early separation of parents; single mother was overwhelmed early on and asked the authorities for help; as a two-year-old, B was therefore accommodated in out-of-home care at the weekends for some time; the mother neglected and beat her son + emotional abuse; the mother behaved in a “sexualized” manner toward her son; the mother told her son she wished he were dead; the mother probably suffered from borderline personality disorder; three-week inpatient admission to a psychiatric facility as a four-year-old (along with his single mother); psychiatric team was extremely concerned after the assessment and demanded that the mother and son be separated; the father then attempted to gain custody, but failed. 

Case C and D: This is about two brothers; the father was physically violent towards the children and died early of cancer; the now single mother neglected the children, who also grew up in poverty and appeared neglected; finally, the mother became seriously ill, she asked the authorities for help, whereupon the two sons were placed in a children’s home; however, the home chosen by the authorities was very far away, which meant that neither the mother nor the other siblings could visit the brothers, they could only phone them; a few month after being placed in the home, the mother died, presumably of a drug overdose. 

Case E: E was rejected as a fetus, his mother tried to abort him, but this failed; E lost his father early and went to live with an uncle who regularly beat him and called him the “son of a cur”; the uncle was considered an argumentative and moody person and an obstinate admirer of Adolf Hitler; the uncle was eventually imprisoned for his veneration of the Nazis and E had to go back and live with his mother who had found a new husband in the meantime; he was not welcomed; the new stepfather was also brutal and beat E; in the family home there was neither running water nor electricity, and humans and animals lived together under one roof; at night, the family slept crowded together on the dirt floor to keep each other warm; since E was fatherless and an outsider, he was also teased mercilessly by the other children in the village and often beaten up.

Case F: War childhood (including escape from Jena from the Red Army), orphan: The father died when F was five, the mother died when she was 14, severe conflict and marital crisis in the parental home after mother's affair, then suicidal moods of the mother; abandonment by the mother on several occasions (children's home + relatives); the first time, F’s mother passed her to the children’s home at the age of six for about half a year (later, F wrote the screenplay for the German film “Bambule”, which depicted the hardship and attempted resistance of female adolescents in institutions); the mother had fallen in love with a fellow female student and seems to have devoted herself entirely to this relationship and her university education; after the mother's death, the whole world died for her, F later said; the mother's girlfriend became a foster mother but neglected the adolescent.  

Please remember that you are still imagining that you “are” a psychotherapist. Do you see a connection between these childhoods and the patients’ suffering and mental state, or do you rule it out? I can imagine that you recognize a connection and you are also quite right with regard to the general research situation.

Internationally, since the pioneering work of Dr. Vincent Felitti in the late 1990s, research into so-called Adverse Childhood Experiences (ACEs) has expanded tremendously. ACEs typically include stress factors such as sexual, physical and emotional abuse; neglect; parental separation; witnessing domestic violence; growing up with mentally ill or addicted family members; and witnessing the incarceration of family members. 789 professional articles that focused on various consequences of adverse childhood experiences (ACEs) were published between 1998 and 2018 (Struck et al. 2021). In addition, a full 38,411 English-language professional articles thematically related to child maltreatment emerged between the years 2000 and 2018 (Tran et al. 2018). The large meta-study by Gershoff & Grogan-Kaylor (2016) is worth highlighting: 111 studies were evaluated. The studies evaluated included data for a total of 160,927 children. 99 % of studies found harmful effects of physical violence against children and no positive effects. 17 negative effects were recorded, including, for example, aggression, antisocial behavior, mental health problems, low self-esteem, lower cognitive ability, lower internalized morals, alcohol and drug abuse, and approval of corporal punishment against children. 

Analysis of ACEs (review and meta-analysis; 253,719 respondents from 37 international studies) has found that adults who were exposed to four or more ACEs were seven to eight times more likely to be involved in interpersonal violence (violence victimization or perpetration), and 30 times more likely to attempt suicide than adults with no ACE exposure (Hughes et al. 2017). 

Adverse Childhood Experiences were also found to a strikingly high extent in the particular population of (violent) offenders (Baglivio et al. 2021, Cannon et al. 2016, Dermody et al. 2020, Graf et al. 2021, Messina & Grella 2006, Reavis et al. 2013). In one study, particularly young murderers (N = 25, mean age = 14.7) were also found to have clearly destructive childhood backgrounds: dysfunctional family (96 %), emotionally abused at home (83 %), physically abused (55 %), sexually abused (10 %); in addition, 52 % of these children/murderers had suicidal thoughts (Myers et al. 1995).

Meanwhile, the costs associated with adverse childhood experiences are also coming into focus. A 2019 study, funded by WHO, calculates the annual cost due to adverse childhood experiences (ACEs) to be US$ 581 billion in Europe and US$ 748 billion in North America (Bellis et al. 2019). “How Much More Data Do We Need? Making the Case for Investing in Our Children” is the title of a recent specialist article that makes the case that the consequences of child maltreatment are finally extensively researched and that it is time to invest heavily in children (Berger et al. 2021). 

I believe that you are a good “psychotherapist” if you recognize the connections and do long-term trauma therapy with your above-mentioned patients. However, my experience is that these relationships are often faded out or even denied when it comes to the political realm, when it comes to dictatorial/authoritarian forms of government, extremism, terrorism, war and hostile/destructive politics. All these things are most rarely associated with adverse childhood experiences. 

But now we come to the resolution (sources for each of the childhoods discussed above are in parentheses): Patient A is the mass murderer and dictator Josef Stalin (Fuchs 2019), patient B is the Norwegian right-wing terrorist and mass murderer Anders Breivik (Borchgrevink 2013, Fuchs 2019), patients C and D are the Islamist terrorists Chérif and Saïd Kouachi (Fuchs 2019, Smith 2019) who carried out the attack on the editorial office of the satirical magazine Charlie Hebdo on January 7, 2015. Patient E is the Iraqi mass murderer and dictator Saddam Hussein (Fuchs 2019) and patient F is Red Army Faction (RAF) founding member and German far-left terrorist Ulrike Meinhof (Fuchs 2019).  

I could imagine that your assessment of these personalities might now change somewhat. There is a danger, you may think, that the actions of these people would be excused if we relate them to correspondingly destructive childhoods. There is an equal danger of losing sight of the victims of the perpetrators when we focus on the victim that these perpetrators once were. An essential thought may also be that most people abused and traumatized as children do not become mass murderers and terrorists (however, I assume that you as a “psychotherapist” would not hold against your “patients” that, after all, many other people with similar childhood backgrounds do not have an addiction problem or suicidal thoughts, just a thought). The influences that must come together for a person to become a perpetrator, even a mass murderer, are undoubtedly always complex and not just dependent on childhood. And yes, certainly the step to commit the crime is also a decision of the respective perpetrator and these people have to answer for this, no matter what their childhood was like. We do not have to excuse their actions, but we should understand so that prevention can take effect. 

The much more essential and central question for me is: Would these personalities have become this kind of perpetrator if they had experienced a largely loving and violence-free childhood? Or also: with the horrors of childhood remaining the same, would they have become these perpetrators if they had received help, support, positive compensatory experiences and psychotherapy early on? 

In 2019, I published my book, “Die Kindheit ist politisch!“ (Childhood is Political!”) (Fuchs 2019; the book was reviewed in English by Peter Petschauer (2020) ). In it, I showed that the countries and regions (e.g. Iraq, Syria, Afghanistan, Egypt, Palestine, Cambodia, El Salvador, but also the USA) that strike us as “problem children” in terms of world politics (or that represent this in a shorter historical retrospect) and that represent severe political conflicts, social imbalances, war, terror and/or recruitment regions for terrorists, at the same time show an enormously high level of violence against children in various forms and, in addition, often other stress factors for children. I have conducted extensive studies and case analyses/biographies on extremists/terrorists (e.g. Andreas Baader, Zacarias Moussaoui, Osama Bin Laden), (violent) criminals, dictators (e.g. Adolf Hitler, Benito Mussolini, Francisco Franco, Nicolae Ceauşescu, Slobodan Milosevic, Josip Broz Tito, Mao Zedong, Augusto Pinochet, Manuel Noriega, Fidel Castro), belligerent politicians (e.g. Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, George W. Bush, Bill Clinton, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin) NS perpetrators (including Rudolf Hess, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Adolf Eichmann) and soldiers. The conclusions from all my research come to a head in the title of the book. What all of the named personalities have in common is that their childhoods were often anything but free of violence, loving and happy. In the overall picture, it becomes clear that the above-mentioned case studies are not isolated cases or outliers. 

After the book was published, I also compiled all the studies/individual papers I could find in which right-wing perpetrators of violence / right-wing extremists had been interviewed about their childhoods. To date, I have found a total of 37 papers for which a minimum of one and a maximum of 115 right-wing personalities were interviewed. It turns out that right-wing perpetrators of violence or right-wing extremists usually had a very destructive childhood. I refer here to my abstract, which can be viewed online (Fuchs 2021). In my opinion, the empirical data is almost overwhelming and it is surprising that child protection as an essential branch of prevention of extremism has not been / is not widely discussed. 

One of these works is presented here as an example. 91 (70 male, 21 female) former US extremists / racists (from Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads groups) were interviewed. Results regarding ACE values (experiences before the age of 18): 48 % experienced physical abuse in the home, 46 % experienced emotional neglect in the home, 46 % experienced emotional abuse in the home, 23 % experienced sexual abuse in the home, 15 % experienced physical neglect in the home; 68 % experienced parent abandonment, 66 % reported parental substance abuse, 47 % witnessed domestic violence, 47 % reported parent/caregiver mental illness, and 32 % reported parent incarceration (Windisch et al. 2020). 

I advocate that we look at the possible political consequences of childhood without blinkers and that the prevention of child abuse or ACEs is also communicated as the prevention of violence, terrorism and extremism.  If this view succeeds across society as a whole, then this would subsequently necessitate one thing above all: more worldwide child protection.  

I would like to add my favorite quote (from the former director of the Clinic for Child and Adolescent Psychiatry at the University Medical Center Hamburg-Eppendorf and expert in psychotraumatology Prof. Peter Riedesser): “The more children here and around the world are neglected, beaten, humiliated and slide into hopelessness and hatred, the higher the destructive potential in our own country and worldwide. Against this background, child protection has become a question of survival. Worldwide child protection is the ideal way to prevent not only mental suffering, but also crime, militarism and terrorism. It ensures democracy and peaceful cultural and economic exchange. It takes all of our creativity and determination to make this happen. If we all wanted this in a unique act of solidarity, we would also have the knowledge and the means” (Riedesser 2002, p. 32). 


Bibliography

Baglivio, M. T.  Wolff, K. T. & Epps, N. (2021): Violent juveniles' adverse childhood experiences: Differentiating victim groups. Journal of Criminal Justice. Volume 72, 101769, https://doi.org/10.1016/j.jcrimjus.2020.101769

Bellis, M. A., Hughes, K., Ford, K., Rodriguez, G. R., Sethi, D. & Passmore, J. (2019). Life course health consequences and associated annual costs of adverse childhood experiences across Europe and North America: a systematic review and meta-analysis. Lancet Public Health. 4: e517–28. https://doi.org/10.1016/S2468-2667(19)30145-8

Berger, R., Dalton, E. & Miller, E. (2021). How Much More Data Do We Need? Making the Case for Investing in Our Children. Pediatrics, 147 (1), e2020031963; DOI: https://doi.org/10.1542/peds.2020-031963

Borchgrevink, A. (2013): A Norwegian Tragedy. Anders Behring Breivik and the Massacre on Utøya. Cambridge / Malden: Polity Verlag.

Cannon, Y., Davis, G., Hsi, A. & Bochte, A. (2016). Adverse Childhood Experiences in the New Mexico Juvenile Justice Population. Georgetown Law Faculty Publications and Other Works. 2191. https://scholarship.law.georgetown.edu/facpub/2191

Dermody A., Lambert S., Rackow, A., Garcia J., & Gardner C. (2020). An Exploration of Early Life Trauma and its Implications for Garda Youth Diversion Projects. Youthrise / Quality Matters, Dublin. https://youthrise.org/wp-content/uploads/2020/11/Early-Life-Trauma-and-its-Implications-for-Garda-Youth-Diversion-Services-Full-Report.pdf

Fuchs, S. (2019). Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen. Heidelberg: Mattes-Verlag.

Fuchs, S. (2021, 25. Jan.): Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien. https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/09/kindheitsursprunge-von.html

Gershoff, E. T. & Grogan-Kaylor, A. (2016). Spanking and Child Outcomes: Old Controversies and New Meta-Analyses. Journal of Family Psychology, 30(4), p. 453-69.

Graf, G. H.-J., Chihuri, S., Blow, M. & Li, G. (2021). Adverse Childhood Experiences and Justice System Contact: A Systematic Review. Pediatrics. 147 (1), e2020021030, https://doi.org/10.1542/peds.2020-021030.

Hughes, K., Bellis, M.A., Hardcastle, K.A., Sethi, D., Butchart, A., Mikton, C., Jones, L. & Dunne, M. P. (2017). The effect of multiple adverse childhood experiences on health: a systematic review and meta-analysis. Lancet Public Health, 2017; 2, e356–66.

Messina, N. & Grella, C. (2006). Childhood Trauma and Women’s Health Outcomes in a California Prison Population. American Journal of Public Health. Vol. 96, No. 10. p. 1842-48.

Myers, W. C., Scott, K., Burgess, A. W. & Burgess, A. G. (1995). Psychopathology, biopsychosocial factors, crime characteristics, and classification of 25 homicidal youths. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry. Volume 34, Issue 11, p. 1483-89. https://doi.org/10.1097/00004583-199511000-00015

Petschauer, P. W. (2020). Destructive Childhood Experiences and the Penchant for Authoritarians. Clio’s Psyche. Volume 26, Number 2, Winter 2020, p. 253-258. 

Reavis, J. A., Looman J., Franco, K. A., Rojas B. (2013). Adverse Childhood Experiences and Adult Criminality: How Long Must We Live before We Possess Our Own Lives? The Permanente Journal. Vol. 7, No. 2, p. 44-48. https://doi.org/10.7812/TPP/12-072

Riedesser, P. (2002): Trauma - Terror - Kinderschutz: Prävention seelischer Störungen und destruktiven Verhaltens. Vortrag bei der Verleihung des Kinderschutzpreises am 29.10.2001. Psychotraumatologie, 3(2), p. 32.

Smith, J. (2019). Home Grown: How Domestic Violence Turns Men Into Terrorists. Riverrun, London

Struck, S., Stewart-Tufescu, A., Asmundson, A. J.N., Asmundson, G. G. J. & Afifi, T. O. (2021). Adverse childhood experiences (ACEs) research: A bibliometric analysis of publication trends over the first 20 years. Child Abuse & Neglect, Volume 112, 104895. https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2020.104895

Tran, B. X., Pham, T. V., Ha, G. H., Ngo, A. T., Nguyen, L. H., Vu, T. T. M., Do, H. N., Nguyen, V., Nguyen, A. T. L., Tran, T. T., Truong, N. T., Hoang, V. Q., Ho, T. M., Dam, N. V., Vuong, T. T., Nguyen, H. Q., Le, H. T., Do, H. T., Moir, M., Shimpuku, Y., Dhimal, M., Arya, S. S., Nguyen, T. H., Bhattarai, S., Latkin, C. A., Ho, C. S. H. & Ho, R. C. M. (2018). A Bibliometric Analysis of the Global Research Trend in Child Maltreatment. International Journal of Environmental Research and Public Health. 15(7). pii: E1456. https://doi.org/10.3390/ijerph15071456

Windisch, S., W., Simi, P., Blee, K. & DeMichele, M. (2020). Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists. Terrorism and Political Violence. https://doi.org/10.1080/09546553.2020.1767604


Dienstag, 23. August 2022

Die Kindheit von Eva Braun

Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass Paarbeziehungen häufig auf Grund ähnlicher oder sich verzahnender Kindheitserfahrungen zustande kommen. Mann/Frau „erkennt sich“. Sehr deutlich nachweisbar ist dies beispielsweise bei von häuslicher Gewalt geprägten Beziehungen: Täter (meist männlich) und Opfer (meist weiblich) verbindet oftmals eine leidvolle Kindheitsbiografie, die unterschiedlich ausagiert wird. 

Eva Braun ist eine historische Figur, von der ich erwartet habe, dass auch ihre Kindheit belastet und nicht von Liebe geprägt war. Nur so ist meiner Auffassung nach ihre starke Bindung an Adolf Hitler zu erklären. Jetzt fand ich endlich einmal die Zeit, dazu zu recherchieren. 

Eva Braun wurde am 06.02.1912 als zweite Tochter der Familie geboren. Später kam noch ein drittes Mädchen hinzu.
Ihr Vater Friedrich (ein Lehrer) hatte sich 1914 freiwillig für den Krieg gemeldet. Erst im Jahr 1919 kam er zu seiner Familie zurück. In diesen Jahren lebte Franziska Braun weitgehend alleine mit ihren drei Kindern. Nach der Rückkehr ihre Mannes durchlebte das Paar eine Ehekrise, die am 03.04.1921 mit der Scheidung endete. Allerdings kamen beide auch wieder zusammen. Ende des Jahres 1922 heirateten sie erneut. Die Biografin Heike Görtemaker spekuliert, dass der erneute Zusammenschluss finanzielle Gründe hatte, denn die Wirtschaftssituation war nach dem Krieg enorm schwierig (Görtemaker 2010, S. 39f.).
Dafür spricht wohl auch, dass die Ehe problematisch blieb: „Die Ehe der Brauns scheint (…) immer noch nicht glücklich gewesen zu sein. So bezeichnete Herta Ostermeier, die beste Freundin Eva Brauns, deren damalige Familienverhältnisse in einer späteren Erklärung als `nicht sehr erfreulich`. Eva Braun habe deshalb, teilte Ostermeier mit, `fast ihre ganze Jugend in meinem Elternhaus` verlebt und auch die Ferien `mit mir auf dem Gut meiner Verwandten` verbracht. Ihre Bindung an die Eltern der Schulfreundin hätten sich dabei derart eng gestaltet, dass sie diese ebenfalls mit `Vater und Mutter` angesprochen habe“ (Görtemaker 2010, S. 41).
Evas Mutter betonte dagegen rückblickend nach dem Krieg, dass ihre Kinder in einem intakten Elternhaus aufgewachsen wären, in dem es nicht einmal einen richtigen Streit gegeben hätte. „Diese Aussage ist angesichts der Tatsache einer rechtskräftigen Scheidung offensichtlich unwahr“ (Görtemaker 2010, S. 42). Dass Eva sich eine Ersatzfamilie suchte, spricht ergänzend Bände. 

Auch eine Nichte bestätigte später, dass sich die Eheleute Braun nicht verstanden und keine enge Ehe führten (Lambert 2014, S. 57f.). Eine Scheidung war zur damaligen Zeit eine höchst ungewöhnliche Sache, zumal die Familie auch noch extrem christlich geprägt war. Es bleibt unsere Fantasie überlassen, was alles zwischen den Eheleuten vorgefallen sein mag, dass es zu diesem Schritt kam (auch wenn er später wieder rückgängig gemacht wurde). Die Kinder standen dazwischen und haben sicher einiges miterlebt, was belastend war, Lambert (2014, S. 61) schreibt: „(…) at a time when separation were virtually unknown in Germany, proves that something went very wrong between husband and wife” 

Für Eva kam eine weitere, besondere Belastung hinzu. Ihre Mutter verließ nach der Trennung von ihrem Mann die gemeinsame Wohnung in München und zog mit ihren drei Kindern zu ihren Eltern aufs Land. Als dann später beschlossen wurde, dass sie wieder zurück nach München zog, ließ sie Eva einfach bei ihren Eltern. In deren Wohnort besuchte Eva mehrere Monate die dortige Volksschule. Lambert kommentiert: „Eva cannot have been happy there, not entirely happy living with her grandparents. Summer holidays in the country were one thing; being forced to leave her parents, her friends and her family routine at the age of seven was quite another” (Lambert 2014, S. 60). Warum ausgerechnet Eva zurückgelassen wurde und wie lange genau sie bei den Großeltern blieb, erschließt sich der Quelle nach nicht. 

Dies blieb aber nicht die einzige Trennung von der Familie und der vertrauten Umgebung. Als Eva sechszehn Jahre alt war, beschlossen ihre Eltern, sie auf eine Klosterschule (Internat) 120 Kilometer nordöstlich von München zu schicken. „Eva would be forced to leave home, leave her friends and her social life (…) to be incarcerated for two years with nuns. She raged and wept and sulked in her room but her parents were adamant. It´s likely that, behind the histrionics, she felt rejected“ (Lambert 2014, S. 67). Später erinnerte sich eine Nonne, dass Eva keine engen Freunde in dem Kloster hatte. In dem Kloster herrschte außerdem ein striktes Regime. Eva schaffte es aber, nach neun Monaten wieder nach Hause zu kommen. Offensichtlich hatte sie sich schulisch nicht besonders engagiert. 

Lambert (2014, S. 49f.) beschreibt, dass Friedrich nach dem Krieg launisch, unzugänglich und depressiv wurde. Ohne ihn war die Familie zuvor gut ausgekommen. Der Vater zog sich nun vom Familienleben immer mehr in einen eigenen Raum zurück. Was ansonsten an Destruktivität von dem Vater ausging, lässt sich wohl nicht mehr eindeutig ermitteln.
Lambert schließt Gewaltverhalten aus: "There`s no evidence that any of the three girls ever suffered abuse or emotional neglect, which is not to say that Eva must therefore have been happy” (Lambert 2014, S. 51). Wir wissen heute, dass die um 1900 Geborenen zu mindestens über 80% Körperstrafen in der Familie erlebt haben. Diese Gewalt muss natürlich nicht immer die Definition von Misshandlungen treffen. Ich möchte dies hier anhängen und habe meine Zweifel, ob Eva Braun wirklich keine Gewalt erlitten hat. Auch Evas Mutter gehört hier ergänzend in den Blick. 

Evas Vater wird vom Charakter und Verhalten außerdem folgendermaßen beschrieben: „(…) regid, and authoritarian, self-centred and humourless” (Lambert 2014, S. 58).  „Fritz Braun (…) remained a nineteenth-century patriarch who insisted on strict obedience and it seems that, like many disciplinarians, he seethed with inner furies. The rebellious Eva, in failing to be as docile as he required, infuriated him. (…) There was a good deal of confrontation but no suggestion that Fritz Braun beat any of his girls. Ilse Braun recalled later, `The three of us were brought up in a very Catholic atmosphere and had to obey without question. We could argue as much as we liked but in the end our father would always say, `As long as you sit at my table you`ll do what I want`“ (Lambert 2014, S. 51). 
Selbst wenn der Vater nicht handgreiflich wurde, was ich bzgl. seinem autoritären Charakter und den damaligen Sitten nach höchst unwahrscheinlich finde, so ist doch davon auszugehen, dass dieser Vater seinen Kindern häufig Angst einflößte. Außerdem verwundert, dass Lambert emotionale Vernachlässigung wie oben zitiert ausschließt. Zumindest der Vater vernachlässigte die Familie extrem! 

Man kann sich vorstellen, dass Eva Braun in der Beziehung zu Adolf Hitler einiges von dem wiederfand, was sie von Zuhause aus kannte: Die (väterliche) Kälte, das väterliche Trauma aus dem Krieg, ständige Abwesenheit, Humorlosigkeit und Gehorsamsforderungen. 

Laut Lloyd deMause war Adolf Hitler sein Leben lang suizidal. Die Berichte über den Vater von Eva Braun lassen den Schluss zu, dass dieser ebenfalls zu einer gewissen Lebensmüdigkeit neigte. Depressionen wurden wie oben zitiert beschrieben. Auch Eva Braun war stark suizidal. 
1932 versuchte sich Eva mit der Schusswaffe ihres Vaters das Leben zu nehmen, konnte aber gerettet werden. Viele HistorikerInnen betrachten diesen Suizidversuch als kalkulierten Akt, um Hitler - der die damals Zwanzigjährige häufig alleine ließ - für sich einzunehmen (Görtemaker 2010, S. 59-63). Nun, mit einer Waffe auf sich selbst zu schießen bleibt aber ein Akt, der das Risiko einer Lebensgefährdung einschließt. Ein zweiter Suizidversuch folgte 1935, diesmal durch eine Überdosis Schlaftabletten (Görtemaker 2010, S. 111). 

Auch während des Kriegsverlaufs scheint Eva Braun ein mögliches Ziel vor Augen gehabt zu haben: Den gemeinsamen Untergang mit Adolf Hitler. Hitler befürchtete Attentatsversuche gegen ihn und gab Anweisungen, was im Falle seines Todes zu tun sei. Goebbels notierte im Sommer 1944, dass Eva Braun für den Fall von Hitlers Tod gesagt hätte, dass ihr dann nur eines blieb "nämlich selbst auch den Tod zu suchen" (Görtemaker 2010, S. 256). "Eva Braun scheint ihr Leben frühzeitig und sehr bewusst auf Gedeih und Verderb mit demjenigen Hitlers verbunden zu haben. Schon mehrfach hatte sie ihm bewiesen, dass sie im Hinblick auf seine Person zum Äußersten bereit war. Er wiederum schätzte offenbar diese Art der Treuebezeugung (...). Insgesamt verdeutlicht die Episode, dass der gemeinsame Selbstmord neun Monate später kein Zufall war. Die Rollen für den letzten Akt waren seither festgelegt. Möglicherweise hatte es sogar eine gemeinsame Absprache gegeben" (Görtemaker 2010, S. 256).

Eine große Review und Meta-Analyse (n = 253.719; 37 international Studien, die meisten davon aus den USA) zeigte, dass die größten Effekte von belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, ACEs) bzgl. Suizidversuchen zu finden sind. Menschen mit Mehrfachbelastungen (vier oder mehr ACEs) unternehmen dreißig mal so häufig einen Selbstmordversuch wie Menschen, die überhaupt keine belastenden Kindheitserfahrungen erlebt haben (Hughes et al. 2017). Bzgl. Hitler sind etliche ACEs nachweisbar, bzgl. Eva Braun weniger, aber auch hier deuten sich diverse Belastungen in Kindheit und Jugend an. Mann/Frau „erkennt sich“, schrieb ich einleitend. Gewiss traf dies auf diese dunkle Beziehung zu! Sehr wahrscheinlich galt dies auch für die "Meta-Beziehung" zwischen Führer und Volk, letzteres erkannte in Hitler die eigenen dunklen Väter...


siehe ergänzend auch: Nachtrag zum Beitrag über Eva Braun: Wurde sie sexuell missbraucht?


Quellen: 

Görtemaker, H. B. (2010). Eva Braun. Leben mit Hitler. C. H. Beck, München.

Hughes, K., Bellis, M.A., Hardcastle, K.A., Sethi, D., Butchart, A., Mikton, C., Jones, L. & Dunne, M. P. (2017). The effect of multiple adverse childhood experiences on health: a systematic review and meta-analysis. Lancet Public Health, Vol. 2, e356–66.

Lambert, A, (2014). The Lost Life of Eva Braun. St. Martins Press, New York. Kindle-eBook Version. 


Montag, 11. Juli 2022

Kindheiten von KZ-Kommandanten

Meine hier verwendete Quelle ist: Segev, T. (1992). Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ-Kommandanten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg. 

Ich wurde auf dieses Buch durch ein Zitat in einer anderen Arbeit aufmerksam. Das Zitat zeigte deutlich auf Vernachlässigung in der Kindheit von Amon Leopold Göth (siehe dazu unten mehr), dem wollte ich nachgehen. Danach las ich zunächst über die die Kindheit von SS-Obergruppenführer, General der Waffen-SS und zeitweise Kommandant des Konzentrationslagers Dachau Theodor Eicke (1892–1943), die deutlich belastet gewesen zu sein scheint. Tom Segev hat diesem Mann ein eigenes Kapitel gewidmet.
Nachdem ich das Buch Stück für Stück weiter durcharbeitete, wurde mir bewusst, was ich hier eigentlich in den Händen hielt! Der Autor hat für die meisten der von ihm untersuchten KZ-Kommandanten zumindest einen kleinen biografischen Teil verfasst, indem i.d.R. auch etwas über die Kindheit zu finden ist. Natürlich können wir keine ausführlichen Berichte über den Erziehungsstil und den Alltag der Kinder erwarten. Aber: Bei fast allen KZ-Kommandanten finden sich Auffälligkeiten in der Kindheit, wie tote Familienmitglieder, Kriegskindheit, abwesende Väter und/oder strenger Erziehungsrahmen in der Familie oder z.B. im Rahmen einer Kadettenausbildung. 

Diese „Auffälligkeiten“ sehe ich immer auch kumuliert um die routinemäßigen Belastungen einer Kindheit um 1900 im Kaiserreich. Joachim Fest schreibt in seinem Buch „Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft“ (1977, R. Piper Verlag, München) in dem Kapitel über Rudolf Heß: „In seinem unbalancierten Verhältnis zur Autorität gleicht Heß auffallend vielen führenden Nationalsozialisten, die wie er aus sogenannten strengen Elternhäusern stammten. Es spricht denn auch einiges dafür, dass Hitler beträchtlich von den Erziehungsschäden einer Epoche profitierte, die ihre pädagogischen Leitbilder von den Kasernenhöfen holte und ihre Söhne in den Härtekategorien von Kadetten aufzog. In der eigentümlichen Mischung aus Aggressivität und hündischer Geducktheit (…), aber auch der inneren Unselbstständigkeit und Befehlsabhängigkeit, kamen nicht zuletzt die Fixierungen auf die Kommandowelt zum Vorschein, die der bestimmende Erfahrungshintergrund ihrer frühen Entwicklung war" (Fest 1977, S. 260). Und speziell bezogen auf Heß fügte er an, dass der „immer wieder gebrochene Wille“ sich Vater und Vaterersatz suchte, „wo immer er ihn fand: Man muss Führer wollen!“ 

Diese "strengen Elternhäuser" waren damals Alltag und formten eine ganze Generation und Gesellschaft. Wenn sich in den Kindheitsbiografien der KZ-Kommandanten Andeutungen in Richtung konservative oder strenge Erziehung finden, so spricht dies Bände (und schließt meist wohl auch Körperstrafen ein). Wenn diese Hinweise fehlen, so sollten wir die strenge, autoritäre Erziehungsnorm der Zeit immer mitdenken und vor allem nicht als unwahrscheinlich ausschließen. 

Der Vater von Paul Werner Hoppe starb beispielsweise, als Paul zweieinhalb Jahre alt war (sein Fall siehe unten). Er kam bei Verwandten unter und verlor dadurch auch noch seine Mutter. Dies ist an sich eine traumatische Belastung für ein kleines Kind. Über den Erziehungsstil erfahren wir in seinem Fall nichts. Denken wir einen strengen Erziehungsstil auf Grund von Wahrscheinlichkeiten (Normen der Zeit) hinzu, dann wird diese Kindheit zum reinen Alptraum. 

Beginnen wir nun aber mit der Kindheit von Theodor Eicke (der vom Autor am ausführlichsten besprochen wird).
Seine Verwandten hatten seinen Vater als pingeligen und humorlosen Hünen in Erinnerung. Sie sagten, seine Kinder hätten bei ihm eine sehr strenge Erziehung genossen“ (Segev 1992, S. 135). Der Vater war Bahnhofsvorsteher in seinem Heimatort und brachte dadurch sicherlich eine gewisse Autorität auch mit nach Hause.
Was um das Jahr 1900 herum wie schon gesagt unter einer „sehr strengen Erziehung“ zu verstehen ist, können wir uns vorstellen: Körperstrafen, Demütigungen und absolute Gehorsamsforderungen waren damals Erziehungsroutine. Wenn es solche eindeutigen Aussagen über die Kindheit gibt, bestehen meiner Auffassung nach kaum Zweifel daran, dass Theodor entsprechenden schweren Belastungen ausgesetzt war.
Die Verwandten ergänzten ihre Erinnerungen darum, dass Theodor „keine glückliche Kindheit hatte. Erst mit seinem Eintritt ins Militär wurde er der Mann, der er seiner Meinung nach bereits geworden war“ (Segev 1992, S. 135).
Im Alter von siebzehn Jahren ging er von der Schule ab und für zehn Jahre zum Militär. Theodor sei „ganz versessen darauf gewesen, endlich von zu Hause wegzukommen, wo man ihn immer noch wie einen kleinen Jungen behandelte. Er hatte zehn Brüder und Schwestern, die allesamt älter waren als er“ (Segev 1992, S. 135).
Wir wissen heute, dass sich ein strenger, autoritärer Erziehungsstil auch auf die Beziehungen der Geschwister untereinander negativ auswirken kann. Theodor war zudem das jüngste und somit potentiell schwächste Kind der Familie. Die Wahrscheinlichkeit, dass er Belastungen auch seitens mancher Geschwister erlebt hat, halte ich für hoch. Bei einer Familie mit elf Kindern stellt sich mir auch die Frage nach elterlicher Vernachlässigung. Für das einzelne Kind wird kaum Zeit gewesen sein. 

Seine Mutter habe „viel Zeit bei ihren Verwandten in Paris“ verbracht, berichtet Segev (1992, S. 135). Dauer und Zeitpunkt ihrer Abwesenheit werden nicht genannt. Die Frage ob und wie sich ihre Abwesenheit auf die Kinder ausgewirkt hat, sollte zumindest in den Raum gestellt werden. Zumal ihr Gatte ja kein fürsorglicher Kinderbetreuer gewesen zu sein scheint.
In der Familie gab es zudem einen Konflikt zwischen der mütterlichen Bindung an Frankreich und dem ganz auf Deutschland ausgerichteten Patriotismus des Vaters. Die Kinder hätten augenscheinlich darunter gelitten, meint Segev.
1928 trat Eicke in die NSDAP und SA ein.  Ca. zwei Jahre später wurde er Mitglied der SS und sollte später zu einem ihrer führenden Köpfe werden.
Aus heutiger Sicht war er anfangs ein klassischer Extremist auf dem Weg in den Terrorismus. „Im März 1932 wurde Eicke verhaftet und wegen terroristischer Umtriebe vor Gericht gestellt. Die Polizei fand bei ihm einige Dutzend selbstgebastelter Bomben. Seine Verhaftung fiel genau in die Zeit zunehmender politisch motivierter Gewalttaten, denen die deutschen Behörden machtlos gegenüberstanden“ (Segev 1992, S. 139).
Interessant, aber letztlich auch logisch ist, dass Theodor Eicke später von seinen Untergebenen „eiserne militärische Disziplin“ forderte und die Häftlinge im Konzentrationslager „einem grausigen Terror“ unterwarf (Segev 1992, S. 145). „Im Dienst gibt es nur eine rücksichtlose Strenge und Härte“, wird er zitiert (Segev 1992, S. 145). „Gleichzeitig war er gehorsam, stets bereit, sich seinen Vorgesetzten bis zur Kriecherei zu unterwerfen. Wie viele der Lagerkommandanten brauchte er sowohl die Macht als auch den Gehorsam. Die SS gab ihm erstere und verlangte letzteren“ (Segev 1992, S. 145f.).

Eicke neigte zudem zu plötzlichen Wutausbrüchen, pedantischere Streitlust, Arroganz und auch melodramatischen Anwandlungen. Er wird als Patriarch beschrieben, als strenger Vater, eifersüchtiger Ehemann und Haustyrann (Segev 1992, S. 119, 147, 150, 152). „Seine Männer seien ihm, so seine Haushälterin später, lieber gewesen als Frau und Familie“. Sie hätten ihm „etwas gegeben, was er zu Hause nicht habe finden können. Sie hätten ihn gern gehabt, und ihre Zuneigung habe ihm alles bedeutet“ (Segev 1992, S. 146).
O-Ton Eicke: „Wenn mich meine Männer auf ihren Stuben Vater nennen, dann ist dies der schönste Ausdruck für eine Herzensgemeinschaft, wie ihn nur der Vorgesetzte findet, der stets mit seinen Männern in Führung bleibt, von dem die Männer überzeugt sind, dass er sie nicht nur kommandiert, sondern auch für sie sorgt“ (Segev 1992, S. 146).
Die Schatten seiner Kindheit tauchen hier wieder auf: Autoritäres und strenges Verhalten, Gehorsam, fehlende emotionale Bindungen in der eigenen Familie und Suche nach Ersatzfamilie. 

Gerne und immer wieder wird verwundert die Frage in den Raum gestellt, warum aus (angeblich!) normalen, liebevollen Familienvätern und Ehemännern in der NS-Zeit grausame Sadisten und Täter hatten werden können. Der Fall Eicke zeigt erneut, dass diese Vorstellung eine Illusion ist! Zuhause verhielten sich diese Akteure ganz ähnlich, wie auf den Schlachtfeldern oder in den Konzentrationslagern. Ihre Familien hatten nichts zu lachen. 

Hilmar Wäckerle, der erste Kommandant des Lagers Dachau, war vierzehn Jahre alt, als sein Vater ihn ins Königlich Bayerische Kadettenkorps schickte (Segev 1992, S. 81). „Man unterwarf die Kadetten einer strengen Disziplin, der sie sich anstandslos zu fügen hatten. Das Maß des Erlaubten zu überschreiten, konnte, unter anderen Strafen, auch die Prügelstrafe nach sich ziehen. Von dem Tag an, an dem sie in der Schule eintrafen, erwartete man von ihnen, sich ganz im Geiste der Offiziersethik wie Männer, Soldaten und Patrioten zu verhalten, sowohl innerhalb der Schule wie außerhalb. Sie wohnten in großen Schlafsälen und wuchsen dort auf, stets in Uniform, immer Teil einer Gruppe. Es herrschte ein steter Wettbewerb“ (Segev 1992, S. 83).
Auch Alfred Jodl hatte, neben diversen anderen hohen Militärs, laut Segev diese Kadettenschule durchlaufen. Für eine entsprechende Beschreibung der dortigen Abläufe und des Erziehungsrahmens siehe auch meinen Beitrag über Jodls Kindheit.

Karl Künstler war einer der Kommandanten des Lagers Flossenbürg. Er wurde 1901 geboren. Im Alter von vierzehn Jahren ging er gegen den Willen der Eltern von Zuhause fort und begann in einem Postamt zu arbeiten (Segev 1992, S. 88). Was für Hintergründe in der Familie mögen einen so jungen Menschen dazu gebracht haben, sich unbedingt unabhängig von den Eltern machen zu wollen? Künstler wurde außerdem später zum Trinker, wie Segev ausführt. Suchtverhalten hat Ursachen!

Adam Grünewald war Kommandant des KZ Herzogenbusch. „Sein Vater starb, als Grünewald acht Jahre alt war; als der Krieg ausbrach, war er zwölf“ (Segev 1992, S. 89). Den Vater so früh zu verlieren, ist eine schwere traumatische Erfahrung. Eine Gesellschaft im Kriegszustand zu erleben, ist ein weiteres prägendes Ereignis für ein Kind. 

Arthur Rödl war Kommandant des KZ Groß-Rosen. Als er zehn Jahre alt war, musste der Zeitungs- und Tabakkiosk seiner Mutter schließen. „Rödl wurde in dem Glauben aufgezogen, der Grund dafür sei die erbarmungslose Konkurrenz des benachbarten Kiosk gewesen – der einem Juden gehört hatte“ (Segev 1992, S, 164). Die Familie sei streng katholisch gewesen. Nach der Grundschule entschloss sich Arthur, Schmied zu werden. Noch während seiner Lehrzeit schloss er sich einer paramilitärischen nationalistischen Organisation an. Als der Krieg ausbrach, eilte der Sechzehnjährige zur nächsten Rekrutierungsstelle. Er fälschte seine Papiere und gab sich als Achtzehnjähriger aus. „Die nächsten vier Jahre verbrachte er in verschiedenen Kampfeinheiten an der Front“ (Segev 1992, 165). Das selbst gewählte Schicksal, ein Kindersoldat zu werden, ist schon bemerkenswert. 

Egon Zill war Kommandant verschiedener Konzentrationslager. „Egon Zill war acht Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Der Krieg war das zentrale Ereignis seiner Kindheit. Sein Vater wurde sofort bei Kriegsbeginn eingezogen, war die ganzen vier Jahre über weg und kehrte schwerverwundet zurück“ (Segev 1992, S. 168). Außerdem wird berichtet, dass ein Bruder von Egon im Alter von acht Monaten starb. Ob Egon dies miterlebt hat, ist nicht klar. Bereits im Alter von Siebzehn schloss sich Egon Zill der SA an. 

Karl Fritzsch war u.a. stellvertretender Kommandant in Auschwitz. Er wurde 1903 geboren. Sein Vater war Kachelofenbauer und häufig auf Auslandsreise, wobei er seine Familie häufig mitnahm. Karl musste deswegen immer wieder die Schule wechseln. „Eine richtige Schulbildung hat er nie genossen; und er sollte zeit seines Lebens Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben. Später erzählte er seiner Frau, er hätte nie ein richtiges Zuhause und Freunde gehabt; er sei ein stilles, äußerst sensibles Kind gewesen, das sich vor allem zur Mutter hingezogen fühlte“ (Segev 1992, S. 171). „Mehr als einmal erzählte er seiner Frau, wenn sie Kinder hätten, würde er alles tun, damit sie eine glücklichere Kindheit hätten als er, und dass sie in eben jenem richtigen Zuhause aufwachsen müssten, das ihm als Kind gefehlt habe“ (Segev 1992, S. 172). Was genau er alles an Belastungen in seiner Kindheit erfahren hat, bleibt unserer Fantasie überlassen. Seine Aussagen zeigen in eine deutliche Richtung.
Als der Krieg ausbrach, wurde sein Vater sofort eingezogen und kam bis Kriegsende nicht mehr nach Hause. Als er zurückkam, war Karl fünfzehn Jahre alt. Auch dies waren ganz sicher prägende Ereignisse. 

Karl Koch war Kommandant verschiedener Konzentrationslager. „Der Schlimmste aller Lagerkommandanten war zweifelsohne Karl Koch. In seinem Leben vermischt sich Grausamkeit mit Leidenschaft und Korruption (…)“ (Segev 1992, S. 175). Als Karl acht Jahre alt war, starb sein Vater. Seine Mutter heiratete später erneut, der Stiefvater brachte drei Söhne mit in die Ehe, die alle älter waren als Karl. Als Siebzehnjähriger wollte er freiwillig in den Ersten Weltkrieg ziehen, seine Mutter verhinderte dies. „Allem Anschein nach war er über die Maßen versessen darauf, endlich von zu Hause fortzukommen. Von Zeit zu Zeit meldete er sich bei der Armee, und jedesmal verlangte seine Mutter, dass man ihn wieder nach Hause schickte“ (Segev 1992,. 183f.). Als Achtzehnjähriger schaffte er es schließlich doch, an die Front zu kommen.
Dieser Wille zur Flucht von Zuhause macht nachdenklich. Er war das jüngste Kind dieser Patchworkfamilie und Halbwaise. Was war in dieser Familie los?

Der Autor befasst sich auch mit Amon Leopold Göth, dessen Wirken im KZ Płaszów weltweit durch den Film „Schindlers Liste“ bekannt wurde. Mit der Kindheit von Göth habe ich mich bereits in meinem Buch befasst. Es gab deutliche Hinweise für Vernachlässigung, aber auch Belastungen in einem strengen Internat. Segev unterstreicht diese Erkenntnisse nochmals sehr deutlich: „Amon Göth erzählte seiner Frau später, seine Eltern hätten ihn als Kind vernachlässigt und dass er den bürgerlichen Werten, zu denen sie ihn zu erziehen hofften, den Rücken zugewandt hätte. Sein Vater, so erzählte Göth, sei oft auf Geschäftsreisen durch ganz Europa und in den Vereinigten Staaten gewesen; seine Mutter habe die Druckerei geleitet und Hausarbeit und Kinderpflege ihrer Schwägerin, Göths Tante Kathy, überlassen. So weit er zurückdenken könne, sagte Göth später, hätten sie ihm das Gefühl gegeben, er sei dazu verpflichtet, sich darauf vorzubereiten, die Firma zu übernehmen (…)“ (Segev 1992, S. 186). Das Thema Kindesvernachlässigung kann somit eindeutig als erwiesen abgehakt werden. 

Franz Xaver Ziereis war Kommandant des KZ Mauthausen. Er wurde 1905 geboren. Sein Vater starb im Krieg, als Franz elf Jahre alt war. "Es lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, wie sich das auf Ziereis auswirkte, jedenfalls sprach er immer wieder davon. Vielleicht bildete diese Erfahrung den Grundstein für die unerbittliche Härte, die er im Laufe der Jahre entwickelte" (Segev 1992, S. 191).

Hermann Baranowski war u.a. Kommandant im KZ Sachsenhausen. Er wurde 1884 geboren. Als Hermann sieben Jahre alt war, starb sein Vater. Als er sechzehn Jahre alt war, entschloss er sich, Elternhaus und Schule zu verlassen. Er ging zur Marine und verpflichtete sich gleich für zwölf Jahre. Der Autor führt aus, dass die Marine mit Härte und Disziplin geführt wurde. Nicht selten wurden Untergebene grausam misshandelt und erniedrigt. "Baranowski begann als gemeiner Matrose und diente sich langsam nach oben. Mit seiner Beförderung zum Obermaat schließlich gab man ihm eine fast unbegrenzte Macht an die Hand, jüngere Untergebene genauso zu behandeln, wie man ihn behandelt hatte" (Segev 1992, S. 200f.)

Franz Stangl war Kommandant der Lager Sobibor und Treblinka. Er wurde 1908 geboren. Sein Vater habe die Familie "mit eiserner Faust nach Regimentsgrundsätzen" geführt (Segev 1992, S. 247). O-Ton Stangl: "Ich hatte eine Todesangst vor ihm (...). Ich wusste seitdem ich ganz klein war, ich erinnere mich nicht genau wann, dass mein Vater mich nicht wirklich gewollt hatte. Ich hörte sie darüber reden. Er glaubte, ich sei nicht von ihm" (Segev 1992, S. 247). "Zu seinen frühesten Kindheitserinnerungen gehörte die, dass ihn sein Vater einmal wegen eines kleinen Vergehens `irrsinnig` verdrosch" (Segev 19992, S. 247f.). Als Franz acht Jahre alt war (während des Ersten Weltkriegs), starb sein Vater an Unterernährung. Als er zehn Jahre alt war, heiratete seine Mutter erneut. Stangls Ehefrau berichtete später, ihr Mann hätte eine unglückliche Kindheit gehabt.

Paul Werner Hoppe war Kommandant der Konzentrationslager Stutthof und Wöbbelin. Er wurde 1910 geboren. Sein Vater starb, als Paul zweieinhalb Jahre alt war. „Als Waise schickte man Hoppe zu Verwandten seiner Mutter, wo er bis 1919 blieb“ (Segev 1992, S. 205). Warum die Mutter nicht bei ihrem Sohn blieb, wird nicht beschrieben. Jedenfalls verlor das Kleinkind somit beide Elternteile.
Nach dem Krieg kehrte Paul in das Haus seines Onkels in Berlin zurück. Er wuchs in gehobenen Verhältnissen auf. Onkel und Tante, die keine eigenen Kinder hatten, adoptierten noch ein Mädchen. 

Johannes Hassebrock war Lagerkommandant des Konzentrationslagers Groß-Rosen. Er wurde 1910 geboren. In seiner Familie herrschte eine „konservative, patriotische Erziehung“ (Segev 1992, S. 216). Sein Vater war Gefängniswärter. Man mag angesichts dieser Tatsache spekulieren, ob ein Gefängniswärter des Kaiserreichs auch Zuhause zu starker Autoritätshörigkeit aufforderte.
Als Johannes drei Jahre alt war, starb eines seiner Geschwister im Alter von einem Jahr, was eine schwere Belastung für Johannes bedeutet haben wird. Ebenfalls im Alter von drei Jahren erlebte er den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sein Vater wurde sofort eingezogen und kam erst vier Jahre später wieder zurück. Nach dem Krieg schloss sich der Vater dem „Stahlhelm“ an, der größten legalen paramilitärischen Veteranenorganisation. Seinen Sohn schickte der Vater zum „Bismarckbund“, einer konservativen, paramilitärischen Organisation auf dem rechten Flügel. Johannes wird dort entsprechenden Prägungen ausgesetzt gewesen ein. 

Max Kögel (oder Koegel) war Kommandant verschiedener KZs. Er wurde 1895 geboren. Als er fünf Jahre alt war, starb seine Mutter bei der Geburt ihres fünften Kindes. Als Max zwölf Jahre alt war, starb auch sein Vater. Eine Bauernfamilie nahm den Jungen auf (Segev 1992, S. 226). Wo seine Geschwister unterkamen, wird nicht beschrieben. Offensichtlich wurde er auch von ihnen getrennt. Als der Erste Weltkrieg ausbrach war Max achtzehn Jahre alt und meldete sich sofort als Freiwilliger zur Armee, nach drei Monaten Ausbildung schickte man ihn an die Front. 

Hans Hüttig war Kommandant der Konzentrationslager Natzweiler-Struthof und Herzogenbusch. Er wurde 1894 geboren. Die Familie war sehr religiös und lebte streng nach dem evangelischen Glauben. „Der Vater züchtigte die Kinder häufig, wie es damals üblich war. `Das machte einen Mann aus mir`, meinte Hüttig dazu“ (Segev 1992, S. 230). Letzteres spricht für eine starke Identifikation mit dem Aggressor. Sein Vater träumte von einer Offizierskarriere seines Sohnes. Seinen jugendlichen Sohn schickte er zunächst auf ein Internat, das die Schüler auf den Armeedienst vorbereitete. Entsprechend war Hans von seiner Familie getrennt. Als Siebzehnjähriger flog er allerdings durch die Prüfung und musste wieder zu seiner Familie ziehen. Ein oder zwei Jahre später verließ er das Elternhaus. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, meldete er sich sofort freiwillig für das Ostafrikakorps. 

Auch die schwer belastete Kindheit von Rudolf Höß wird vom Autor ausführlich beschrieben. Da ich hier keine mir neuen Informationen fand und ich die Kindheit von Höß bereits in meinem Buch besprochen habe, spare ich mir diesen Teil an dieser Stelle.

Schlussbemerkung 

Schade ist, dass der Autor Tom Segev in seinem Schlusswort nicht zentral auf die Gemeinsamkeit „Kindheitsbelastungen“ hingewiesen hat. Und dies, obwohl er sogar explizit die Arbeiten der „Psychohistory“ erwähnt (was an sich selten ist!) bzw. auf die Ergänzungen für die Geschichtswissenschaften aus dem Bereich der Psychologie/Psychoanalyse verweist (Segev 1992, S. 261f,). Dass Kindheitsbelastungen ein wichtiger Ursachenfaktor sein können, hat er wohl wahrgenommen, bleibt aber zögerlich und skeptisch. Zusammenfassend schreibt er kritisch: "Einige psychohistorische Arbeiten erweitern den Horizont des Lesers, aber letzten Endes versprach die psychohistory doch mehr, als sie halten konnte. Im Grunde ging sie nie über den theoretischen Ansatz, über Spekulationen und Vermutungen, hinaus" (Segev 1992, S. 262).
In der Tat standen der Psychohistory damals noch nicht so viele Daten zur Verfügung wie heute. Leider hat der Autor wie gesagt selbst verpasst, die Kindheitshintergründe auf Grund seiner eigenen Recherchen herauszustellen, was eigentlich naheliegend gewesen wäre. Er stand vor den Ergebnissen, vor der Empirie und hat daran vorbeigesehen...