Samstag, 6. Oktober 2012

Neue Erkenntnisse und gleich ein ganzes Buch über Breiviks Kindheit



Ich wurde gestern von einer Blog-Leserin auf einen interessanten Online-Artikel hingewiesen.  Der norwegische Autor Aage Storm Borchgrevink hat umfassend  recherchiert und ein Buch (bisher nur in norwegischer Sprache) über Breivik und dessen traumatische Kindheit herausgebracht. Bewiesen scheint, dass Breivik eine psychisch kranke Mutter hatte, die ihren Sohn manches mal offen den Tod wünschte und im nächsten Moment wieder „zuckersüß“ mit ihm reden konnte. Der bereits in manchen anderen Medienartikeln geäußerte Verdacht (z.B. hier), dass Breivik auch sexuell missbraucht worden ist, wird durch den genannten Autor offensichtlich noch einmal weiter erhärtet. Vor allem wurde bisher nicht darüber berichtet, wer denn überhaupt der mögliche Täter oder die Täterin war. Borchgrevink lenkt auch hier den Blick auf die Mutter. 

Ich hoffe, dass dieses Buch auch in deutscher oder englischer Sprache erscheint. Ich werde es dann auf jeden Fall lesen. 

Menschen werden nicht zu Massenmördern, wenn sie ein paar mal als Kind angeschrien wurden, sich die Eltern trennten, es zehn mal Schläge gab und Mami oft arbeitete und zu Hause auch noch schlecht kochte. Menschen, die Massenmorde begehen, drücken durch ihre Tat bereits aus, was für tiefe Abgründe sich in ihnen verbergen und wie sie selbst als Kind seelisch ermordet wurden. Das entschuldigt gar nichts, aber es erklärt einiges. 

An dieser Stelle möchte ich auch erneut den Neurologen Pincus zitieren, der seine Erkentnisse über diverse von ihm begutachtete Mörder (über 150) wie folgt zusammenfasste: “It has been amazing to discover that the quality and the amount of „discipline“ these individuals have experienced are more like that of a prisoner in a concentration camp than a child at home.“ (siehe ausführlich über Pincus Buch im vorherigen Beitrag




Freitag, 10. August 2012

Jonathan H. Pincus: Was Menschen zu Mördern macht


Kaum ein Buch hat mich derart erschüttert und gleichzeitig so deutlich in meiner Sicht bestätigt wie „Base Instincts. What Makes Killers Kill?“ von dem Neurologen Jonathan H. Pincus (2001). Selbiger hat jahrelang Mörder, Serienmörder und Massenmörder in diversen amerikanischen Hochsicherheits-Gefängnissen befragt und begutachtet. Ein Satz bringt die wesentliche Gemeinsamkeit auf den Punkt, die er bei fast allen nachweisen konnte: „It has been amazing to discover that the quality and the amount of „discipline“ these individuals have experienced are more like that of a prisoner in a concentration camp than a child at home.“ (S. 27) Die untersuchten Mörder erlebten nicht nur einfach Gewalt, sondern extreme Formen und diese häufig und langjährig. In seinem Buch schilderte er einige Einzelfälle ausführlich und es wird einem wirklich schlecht, wenn man von diesen Kindheiten und der unfassbaren erlebten Gewalt oder eher Folter ließt.

Der Autor ergänzt, dass das Neue dabei ist, wie sich das Gehirn auf Grund von Misshandlungen verändern und Schaden nehmen kann. Seine Grundthese ist, dass Mörder als Kind misshandelt wurden, bei ihnen Gehirnschädigungen nachweisbar sind und paranoides Denken. Nur diese drei Faktoren zusammen führen u.U. zur Gewalt und zu Mord, was er in seinem Buch an Hand von Fallbeispielen nachweist. Er sagt aber auch, dass nicht alle schwer misshandelten Kinder zu Mördern werden.

Häufigen und langjährigen körperlichen und sexuellen Missbrauch durch Elternteile oder Elternfiguren fand Pincus bei den meisten ca.  150 Mördern, die er während seiner langjährigen Arbeit befragt und begutachtet hat. (vgl. S. 67) Er zitiert dabei auch eine seiner Studien, die einen fünf Jahres Zeitraum umfasste und nachwies, dass 94 % der untersuchten Mörder nachweisbar schwer als Kind  misshandelt wurden. (Anmerkung: Schwere diverse Misshandlungen in unterschiedlichen Formen erleben dagegen nur verhältnismäßig wenige Menschen. Eine deutsche repräsentative Studie wies z.B. nach, dass 1,4 % der Befragten drei, 0,8 % vier und 0,1 %  fünf schwere Formen des Missbrauchs  bzw. der Misshandlung erlebt haben. Wenn ich den Fallbeispielen im Buch folge, gehören die meisten Mörder wohl eher zu dieser Kategorie, mit einer Tendenz in Richtung fünf erlebter unterschiedlicher Misshandlungsformen.)

Bei den vielen Fallbeispielen im Buch fiel mir neben der Schwere der Gewalt auch immer wieder folgendes auf: Oft ging die Gewalt nicht nur von einer Person aus, sondern von mehreren (z.B. beide Eltern, zusätzlich andere Verwandte oder Geschwister, Pflegeeltern, in einem Fall auch Nachbarn, denen erlaubt wurde, das Kind in Abwesenheit der Mutter körperlich zu bestrafen).  Sofern ein Elternteil (i.d.R. die Mutter) nicht offen körperlich gewalttätig war, stand dieser den Gewalttaten duldend und nicht-helfend (ohnmächtig oder zustimmend?) gegenüber. Die besondere Schwere der Gewalt (der Sadismus und die Folter), der diese Mörder ausgesetzt waren, ist hier nicht wiederzugeben, da man jeden einzelnen Fall in seiner ganzen Realität ausbreiten müsste, so wie dies Pincus in seinem Buch teils getan hat. Unten gehe ich kurz auf zwei Fälle ein. Vorher möchte ich auf den Fall "Whitney" hinweisen. Pincus hat die erfahrene Gewalt, die dieser Mörder als Kind erlitten hat,  quantitativ an Hand der Gespräche erfasst. Der Vater pflegte den Jungen innerhalb eines festen Rituals körperlich zu bestrafen. Der Junge wurde so positioniert, dass er sich nicht bewegen oder wehren konnte. Der Junge durfte auch nicht weinen oder sich ansatzweise sträuben, ansonsten riskierte er noch mehr Schläge. Er wurde auch gezwungen, seinen Kopf in einem Kissen zu vergraben und seinen Vater bei der Ausübung der Prügel nicht zu beobachten. (Da eine Schwester berichtet hat, dass sie ihren Vater nach einer Prügelorgie draußen hat masturbieren sehen, könnte dies auch während dieser Prügel geschehen sein und der Grund dafür, warum der Junge sich nicht umdrehen durfte) Mit einem Gürtel schlug der Vater dann ca. 10 bis 20 mal auf diverse Körperstellen. Diese Prügel konnten einige Minuten andauern. In dieser Form fand die Gewalt  zwei bis drei mal die Woche statt, das ganze über 10 Jahre lang, ab dem Alter von 5 Jahren bis "Withney" 15 wurde. (vgl. S. 144) Ich habe einmal nachgerechnet. Dieser Junge bekam pro Woche den Angaben folgend im Minimum ca. 20, im Maximum ca. 60 sadistische Schläge; im Min. 80  und im Max. 240 pro Monat; im Min. 9.600 und im Max. 28.800 innerhalb von 10 Jahren (sprich 120 Monaten)! Und dies sind nur die Angaben bzgl. der ritualisierten (nicht außerordentlichen) körperlichen Gewalt und auch nur die des Vaters. Denn "Whitney" wurde auch von seiner Mutter misshandelt, die sich dafür eine Art Peitsche gebastelt hatte. Außerdem kam auch sexueller Missbrauch in dieser Familie vor. .

Eines fand ich auch besonders aufschlussreich. Pincus berichtet, dass von allen Gewalttätern und Mördern, die er befragt hat, zunächst zwei Drittel sagten, dass sie keine Kindesmisshandlung erlebt hätten. (vgl. S. 159) Wenn er diese Fälle nicht weiter untersucht hätte, so Pincus, wäre er wohl nicht darauf gekommen, dass Misshandlungserfahrungen besonders weit unter Gewalttätern verbreitet sind. Er erklärt sich die ersten Antworten der Befragten damit, dass viele sich nicht an die erlebte Gewalt  erinnern können (oder wollen) und zusätzlich auch weiterhin Angst haben, darüber zu sprechen.
Pincus beschreibt auch ausführlich den Fall eines Mörders – mit Namen Ray -, der selbst sagte, er sei nicht misshandelt worden. (vgl. S. 106ff) Ray ging konform mit der „harmonischen“ Geschichte, die seine Mutter, sein Bruder und sein Stiefvater seinem Anwalt erzählt hatten. Sein Vater – Jack – wurde als „guter Mann“ , „guter Ehemann“ und „guter Vater“ beschrieben, der besonders gut zu seinem Sohn Ray war. Dieser tolle Mann verstarb früh an Leukämie. Und sein Sohn hätte dies wohl nicht gut vertragen und sei daraufhin zum Alkohol gekommen und zum Mörder geworden. Während Ray dies Pincus erzählte, wirkte er wenig glaubhaft auf ihn.
Pincus führte daraufhin ausführliche Gespräche mit Familienmitgliedern und stieß auf die wahre Geschichte. Rays Vater war ein Alkoholiker (und ehemaliger Soldat), der seine Frau und Kinder schlug, dies immer heftiger und häufiger, je mehr er dem Alkohol verfiel. Die Konflikte zwischen den Eltern eskalierten immer mehr und das Leben der Mutter wurde sogar ernsthaft bedroht.
Rays Vater schlug ihn u.a. mit Stöcken, Gürteln, Schnallen, einer Gitarre und einem Gewehrrohr. Manchmal nahm der Vater seinen Sohn einfach mit auf lange Reisen, um sich an seiner Frau zu rächen und drohte  ihn zu seiner Großmutter in einen anderen US-Staat abzuschieben. Auch während dieser Reisen wurde der Sohn mit einer Peitsche misshandelt (bis er blutete), die der Vater extra für diesen Zweck im Auto aufbewahrt hatte. Als Rays Mutter einmal auf so einer Reise dabei war, goss sie Alkohol auf die Wunden ihres Sohnes, angeblich um ihm zu helfen. Als Ray nach diesem Vorfall gefragt wurde, ob dies nicht Schmerzen verursacht hatte, rollte er mit den Augen und sagte: „Gott, hab erbarmen!“. Auf Rays Rücken fand Pincus diverse Narben, die von den Misshandlungen stammten. Im Alter von zwölf Jahren gab es wieder einen handfesten Streit zwischen seinen Eltern. Ray schrie seinen Vater an: „Warum stirbst Du nicht?“Eine Woche später starb der Vater an Leukämie und Ray fühlte sich dafür schuldig. Soviel zu dem „tollen Vater“ und der „harmonischen Kindheit“ dieses Mörders... 

Ich erinnere mich an dieser Stelle, dass nach Amokläufen routinemäßig in den Medien das behütende, durchschnittliche bürgerliche Elternhaus des Täters beschworen wird und die Unerklärlichkeit der Tat. Die Tatsache, dass zwei Drittel der befragten Mörder zunächst abstritten, misshandelt worden zu sein, Pincus aber bei fast allen eine schwere Misshandlungsgeschichte fand, sollte nachdenklich machen, vor allem auch die JournalistInnen, die über solche Mörder berichten.  

Besonders interessant fand ich das Kapitel „Hitler and Hatred“ (ab Seite 178) im Buch. Pincus verknüpft seine Erkenntnisse darin mit möglichen politischen Prozessen, wie sie in NAZI-Deutschland stattfanden. Er bezieht sich auf den Historiker Goldhagen, der davon ausgeht, dass mehr als 500.000 Deutsche während dieser Zeit aktive Täter und Mörder waren. Pincus vermutet, dass diese Mörder in ganz besonders hasserfüllten und misshandelnden Familien aufgewachsen sind. 

Er behandelt in diesem Kapitel auch den Fall des Mörders „Trent“. Trents Eltern waren misshandelnde Alkoholiker und er wurde im Altern von drei Jahren per Gerichtsbeschluss  zusammen mit seinem Bruder aus der Familie genommen und zu einem Onkel gebracht. Auslöser für diesen Weg war eine Situation, in der Trents Vater ein Messer über einer Flamme heiß machte und damit zur Strafe Trent verbrannte. Der Onkel, zu dem Trent kam, war allerdings ebenfalls Alkoholiker, der Trent und seinen Bruder regelmäßig schwer verprügelte, dabei u.a. einen Gürtel, Fäuste oder andere Instrumente verwendete. Einmal, als der Onkel total die Kontrolle verlor, trat er Trent so heftig auf den Kopf, dass Pincus bei seiner Begutachtung des Erwachsenen immer noch die Narbe deutlich vorfand.  Der Onkel dachte sich auch andere Grausamkeiten aus, z.B. musste Trent nackt in der Ecke stehen und durfte sich nicht herum drehen, sonst wurde er mit einem Gürtel verprügelt. Da er sich nicht herumdrehen durfte, sah er auch nicht, wann sein Onkel kam, um ihn zu kontrollieren. Schläge kamen dann quasi aus dem Nichts über ihn. Diese Folter konnte über Stunden andauern. Der Onkel zwang beide Brüder auch dazu, quasi in einer Art Gladiatorenkampf  zu seiner Unterhaltung gegeneinander anzutreten. Zusätzlich missbrauchte er die Jungen sexuell, zwang sie zu Oral- und Analsex, bei Trent bereits ab dem Alter von vier Jahren. Trents Tante unternahm nichts gegen all dies und war ebenfalls Opfer von Schlägen durch ihren Mann.
Einmal wollte der Onkel zur Strafe die Finger einer Hand von Trent mit einem Beil abtrennen und verfehlte diese, traf aber noch einen Finger, so dass Trent von seiner Tante ins Krankhaus gebracht werden musste. Dadurch kamen die Misshandlungen heraus und die Brüder kamen zunächst in eine Pflegefamilie; danach wurde Trent in diversen Einrichtungen untergebracht. .Auch in einigen Pflegefamilien wurde Trent erneut schwer verprügelt und sexuell missbraucht.
Das Unfassbare: Sein Onkel holte Trent für manche Wochenenden oder auch Urlaube aus den Pflegefamilien. Erneut wurde er sexuell missbraucht und sogar dazu gezwungen, bei der Vergewaltigung seiner Tante mitzuwirken. Der Onkel redete Trent dann ein, dass ihm all die Gewalt widerfahren sei, weil seine Tante nicht die sexuellen Dinge mit dem Onkel getan hatte, die dieser sich gewünscht hatte. Trent entwickelte daraufhin einen enormen Hass auf diese Tante und auf Frauen allgemein.
Diese Tante missbrauchte den Jungen ebenfalls sexuell, veranstaltete regelmäßig „Badetage“, ließ sich von ihm "waschen" und „wusch“ ihn. Bereits im Alter von 17 Jahren kam Trent ins Gefängnis, nachdem er erneut eine Lehrerin schwer angegriffen hatte (vorher hatte er eine andere Lehrerin fast vergewaltigt). Dort vergewaltigte er eine weibliche Wärterin. Später brachte er ohne Skrupel "einfach so" einen Mithäftling um. 

Was wäre, fragt sich Pincus, wenn jemand wie Trent einen politischen Führer – so wie Hitler  - hätte sagen hören: „Die Frauen sind unser Unglück“, „Die Juden sind unser Unglück“?  Was wäre, wenn so jemand gehört hätte, dass die Juden für Pornographie verantwortlich sind, für Unmoral, dass sie Krankheiten übertragen, dass sie schwach sind und keine Menschen, so wie Hitler es tat? So eine Nachricht wäre bei Jemandem wie Trent sehr willkommen gewesen, so Pincus, genau wie diese Nachricht bei vielen Deutschen willkommen geheißen wurde. Er fragt sich weiter, was gewesen wäre, wenn jemand wie Trent Anführer in einem Lager geworden wäre, mit dem Auftrag, Frauen und Homosexuelle zu töten.  Pincus schreibt, dass er zu wenig Daten hat, glaubt aber auf Grund seiner Arbeit mit unzähligen Mördern, dass Trent und Hitler sehr viel gemeinsam haben. Und er hat Recht damit, wenn man um die Kindheit von Hitler (auf diese geht Pincus auch kurz ein) weiß oder auch um die Kindheit der meisten Deutschen, die vor allem Lloyd deMause beschrieben hat.
Am Ende des Kapitels schreibt der Autor, dass die beste Prävention von Gewalt und Terror Kinderschutzprogramme sind. Und wie Recht er damit hat!

Studien wie diese machen den Blick frei auf das Wesentliche. Abgründe tun sich auf. Man muss aber dort hineinschauen, um zu verstehen, wie Menschen zu grausamen Mördern werden können. Und man wird daraufhin auch den von mir oft formulierten Satz ableiten können:
Wirklich geliebte Kinder werden nicht zu (Massen)Mördern, Serienkillern oder Terroristen!



Siehe ergänzend: 

 "Stephen Harbort: Das Serien-Mörder-Prinzip."

"James Gilligan: Gewalt." 

Donnerstag, 9. August 2012

Was hat Kindesmisshandlung mit Umweltzerstörung zu tun?

 Kindesmisshandlung als gewichtige Ursache von Umweltzerstörung.

Auf den ersten Blick scheint die Frage im Titel vielleicht eine ungewöhnliche Verknüpfung zu sein. Die Fragezeichen lassen sich eingangs ganz leicht aus dem Weg räumen, wenn man sich ein Teil-Ergebnis der ACE-Studie anschaut. 

Die amerikanische Kaiser Permanente Krankenversicherung hat ab 1995 eine Studie mit Daten von 17.421 Versicherten bzgl. dem Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, kurz ACEs, die u.a. emotionale, körperliche, sexuelle Misshandlungen und emotionale und körperliche Vernachlässigung beinhalten) und dem Gesundheitszustand durchgeführt. Es wurde dabei u.a. ein starker Zusammenhang zwischen Kindesmisshandlung (ACE Werten) und Rauchen festgestellt. (siehe den Text “The Relationship of Adverse Childhood Experiences to Adult Health:  Turning gold into lead”, S. 4 ) Am wenigsten Raucher (ca. 7 %) fanden sich in der Gruppe der Befragten, die über keinerlei Misshandlungserfahrungen (ACEs) berichteten. Mit jedem einzelnen ACE Wert, der angegeben wurde, stieg auch der Anteil der Raucher. Am häufigsten rauchten entsprechend die Personen, die über 6 und mehr ACE Werte berichteten (fast 18 % von diesen Personen rauchten). Rauchen ist ein selbstzerstörerischer Akt. Wer um die möglichen  Folgen von Kindesmisshandlung weiß, der wird sich über das aufgezeigte Ergebnis wenig wundern. 


Was aber hat Rauchen mir Umweltzerstörung zu tun? Sehr viel. Mensch lese sich den Greenpeace Magazin (Ausgabe 6/11) Artikel „Rauchen zerstört die Umwelt“ durch. Weltweit wurde, dem Artikel folgend,  zwischen 2000 und 2005 rund 13 Millionen Hektar Wald in etwa die Fläche von Bayern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz zusammen für den Tabakanbau abgeholzt. Monokulturen, Pestizide, Kunstdünger und Holzverbrauch (auch Tropenholz) für die Trocknung des Tabak tun ihr Weiteres zur Zerstörung der Umwelt. Ein enorm großes Problem ist auch der (Gift)Müll, der durch weggeworfene Zigarettenkippen entsteht. 40 Liter Grundwasser werden durch eine einzige weggeworfene Zigarettenkippe  (die unzählige Giftstoffe enthält) verunreinigt.  „Laut UN-Umweltprogramm stammen 40 Prozent des Mülls in den Weltmeeren aus Kippen und Verpackungen das ergab eine Untersuchung im Mittelmeerraum. Zigaretten und Zigarettenfilter machen demnach außerdem den weltweit größten Anteil an Müllobjekten an den weltweiten Stränden und Küsten aus. Jährlich würden laut UN doppelt so viele Kippen wie Plastiktüten gefunden.“, schreibt das GM. (Dazu kommen andere destruktive Auswirkungen, wie Kinderarbeit im Tabakanbau. In Malawi sind z.B. in der Hauptsaison bis zu 150.000 Kinder am Schuften. Ein zynischer Zusammenhang, wenn man bedenkt, dass misshandelte Kinder später häufiger rauchen und dadurch wiederum Kinderarbeit „beauftragen“.)
Raucher zerstören sich selbst, aber auch ihre Umwelt. Rauchen hängt erwiesenermaßen stark mit belastenden Kindheitserfahrungen zusammen. Insofern ist es nicht übertrieben zu schreiben, dass Kindesmisshandlung auch etwas mit Umweltzerstörung zu tun hat. 

Dieses Thema lässt sich sicher auch noch weiter ausbauen. Beispiele für extreme und irrsinnige Umweltzerstörung gibt es zu Hauf. Es ist noch nicht all zu lange her, dass gesetzlich erlaubt  Atommüll im Nordatlantik versenkt werden durfte (der mittlerweile wieder auftaucht und sogar in Fischen nachweisbar ist). Wer damals  solche Gesetze geschaffen und wer solche Fässer im Meer versenkt hat, muss emotional blind sein und unter Realitätsverlust leiden.  Es bedarf eines hohen Verdrängungspotentials, wenn solche Dinge geschehen. Genau dieses Ausblenden von Emotionen und Realitäten, von Auswirkungen auf das eigene Handeln trifft auf viele willentliche und direkte (aber auch indirekte) Handlungen zu, die die Umwelt zerstören. Das Ausblenden von Emotionen und Realitäten ist auch etwa, was Kinder brauchen, um in einer Atmosphäre der familiären Gewalt zu überleben. „Das geschieht mir nicht“; „Meine Eltern sind doch lieb“; „Gewalt ist Fürsorge und Liebe“ usw. das sind Verdrehungen der Wirklichkeit, die Eltern durch ihr gewaltvolles Handeln und ihre Äußerungen (gezielt) auslösen. Gewalt gegen Kinder bedingt auch manches mal Denkblockaden (aus den genannten Gründen). 

Mir scheint, dass das weltweite Wegsehen bzgl. der Realitäten (des von Menschen gemachten Klimawandels und der Zunahme von Umweltkatastrophen) sehr viel mit destruktiven Kindheitserfahrungen zu tun hat. Bei vielen Menschen, denen ich im Alltag begegne, stelle ich auch eine Art „Starre“ fest. Man kann ja eh nichts tun und ändern, die Politik muss es richten usw. Man ergibt sich der Ohnmacht oder besser gesagt man gibt sich ihr hin. Dabei kann jeder etwas im Alltag tun, was schon beim Kaufverhalten oder der Wahl des Stromanbieters  anfängt. 

Es wäre zudem interessant, z.B. die Kindheiten von Greenpeace Mitgliedern mit den Kindheiten von Nicht-Mitgliedern und zusätzlich auch Menschen, die Greenpeace ablehen zu vergleichen oder die Kindheiten von überzeugten Ökostromkonsumenten (oder auch deren Produzenten) und überzeugten Atomstromkonsumenten (und deren Produzenten). Das hört sich vielleicht etwas merkwürdig an (weil solche Verknüpfungen bisher nicht gestrickt wurden), aber ehrlich, ich vermute, dass sich dabei signifikante Unterschiede feststellen ließen. 

Selbstzerstörung in diversen Ausformungen (z.B. Drogenkonsum, Prostitution, Soldatenberuf, selbstverletzendes Verhalten, Suizid) sind typische mögliche Folgen von Kindesmisshandlung. Ich habe noch in keinem einzigen Buch über Kindesmisshandlung gelesen, dass auch die Selbstzerstörung durch Umweltzerstörung eine mögliche Folge von Kindesmisshandlung sein kann. Dieser Bereich ist gänzlich unerforscht und es wird noch nicht einmal darüber nachgedacht. In Anbetracht der massiven weltweiten Umweltzerstörung (und der extrem weit verbreiteten Gewalt gegen Kinder) ist dies eine fahrlässige Lücke. 

Abschließend möchte ich noch erwähnen, dass Kriege massive Auswirkungen auf die Natur und Umwelt haben. In Kriegszeiten werden gedankenlos Fabriken bombardiert, Abwasserkanäle zerstört, Uranmunition oder gar Chemiewaffen eingesetzt, Entlaubungsmittel versprüht (z.B. in Vietnam) oder wie im 2. Weltkrieg geschehen Atombomben eingesetzt. Da die (massenweise) Misshandlung von Kindern in einem direkten starken Zusammenhang zu der Entstehung von Kriegen steht (die Grundthese dieses Blogs) wird einmal mehr deutlich, dass Kindheiten Auswirkungen auf den Umgang mit der Natur haben. 

Klimaschützer und Umweltschützer müssen immer auch Kinderschützer sein, sie müssen für den Schutz von Kindern vor Gewalt, für die Lebendigkeit und Lebensfreude von Kindern und deren freien Eigenwille eintreten, wenn sie langfristig viel bewirken wollen. 

Samstag, 4. August 2012

Die Welt muss hinschauen! Wie Gewalt gegen Kinder aussehen kann. Zwei Videos


Ich habe schon unzähliges über Kindesmisshandlung und auch etliche Erfahrungsberichte gelesen (die mir zum Teil die Tränen in die Augen getrieben haben). Ich habe kürzlich zwei Videos gesehen, die mich komplett schockiert haben. Im ersten Video (das bei der ersten Onlinestellung Millionen mal angeklickt wurde) hat eine mutige jugendliche Tochter eine Misshandlungsszene heimlich aufgenommen und einige Jahre später online gestellt. Ihr Vater - William Adams - ist in den USA Familienrichter….  So weit ich in Medienberichten gelesen habe, wurde der Vater nicht für diese Misshandlung bestraft, weil sie zu lange zurücklag...

Das zweite Video zeigt eine  malaysische Mutter, die über drei Minuten lang ihr Baby misshandelt, während ihre etwas ältere Tochter dabei zusehen muss. Dieses Video ist derart schlimm, dass ich nur noch weinen konnte und große Wut empfand. 

Ich habe nicht vor, öfter nach solchen Videos zu suchen, da sie mich wirklich belasten. 

Sehr oft habe ich innerhalb von Diskussionen erlebt, dass die Folgen der Gewalt gegen Kinder (dabei vor allem auch die politischen Folgen) abgewehrt werden, nicht gesehen werden wollen, bagatellisiert werden oder Ablenkungsmanöver innerhalb der Diskussionen erfolgen. 

Mensch schaue sich diese beiden Videos an, das eine zeigt die 7 minütige Misshandlung (sowohl körperlich als auch psychisch) einer Jugendlichen, das andere über drei Minuten die Misshandlung eines Babys. Die meisten Kinder werden bereits ab dem Kleinkindalter misshandelt. Das, was wir z.B. in dem Video mit der Jugendlichen sehen, geschieht so oder so ähnlich bereits gegenüber 2 bis  4  Jahre alten Kindern!! Das zweite Video zeigt sogar die Misshandlung von einem Baby, auch dies ist keine Seltenheit (und kam historisch um so häufiger vor, je weiter wir zurückschauen). Wir sehen einige Minuten Lebensrealität und Kindheitsalptraum. Wir sehen pure elterliche Folter. Beide Erlebnisse an sich zerstören etwas bei den Kindern. Nun, die  Abhängigkeit von Eltern endet aber nicht nach einigen Minuten, sie dauert über Jahre. Jahrelang müssen sehr viele Kinder solche Folter erleben!  Das ist unvorstellbar, aber es ist Realität. Wenn man sich diese zwei Schicksale anschaut und um die Zahlen weiß, die ich hier im Blog veröffentlich habe, dann wird einem wirklich schlecht. 

Nun sage mir nochmal einer, dass dies KEINE Auswirkungen auf eine ganze Gesellschaft hat, wenn 25, 30 oder 50 %, in manchen Regionen (z.B. in Afrika) auch bis zu 80 %  der Kinder misshandelt werden. Solche Zahlen findet man in vielen Krisenregionen auf dieser Welt, u.a. auch in Syrien, was ich im vorherigen Beitrag ausführte. 

Wie blind muss Mensch sein, solche Zusammenhänge nicht sehen zu wollen. Wie blind muss Mensch sein, wenn nicht erkannt wird, dass die Gewalt gegen Kinder die Wurzel von allen erdenklichen destruktiven Entwicklungen und individuellen wie auch gesellschaftlichen Problemen ist. Wer sich emotional vorstellen kann, was Kindesmisshandlung bedeutet, wer hinschaut, wie Kindesmisshandlung abläuft  und wie weit diese verbreitet ist, der kann nicht untätig bleiben. Die Welt muss endlich verstehen, dass wir international die Alarmglocke läuten müssen, dass wir einen gut durchdachten, gut finanzierten und vernetzten „Marshallplan“ für weltweiten Kinderschutz brauchen, sofort, jetzt, heute. Denn jeden Tag gehen diese Kindheitsalpträume weiter, jeden Tag geht etwas bei vielen Kindern kaputt und verloren, jeden Tag, den wir nicht effektiv gegen Gewalt gegen Kinder ankämpfen, ist ein weiterer verlorener Tag.  

Ich möchte an dieser Stelle auch wieder an das hier in der Blogleiste stehende Zitat von Prof. Dr. med. Peter Riedesser  erinnern:
"Je mehr Kinder bei uns und weltweit vernachlässigt, geschlagen, gedemütigt werden und in Hoffnungslosigkeit und Hass abgleiten, desto höher ist das destruktive Potential in unserem eigenen Land und weltweit. Vor diesem Hintergrund ist Kinderschutz zu einer Frage des Überlebens geworden. Weltweiter Kinderschutz ist der Königsweg zur Prävention nicht nur von seelischem Leid, sondern auch von Kriminalität, Militarismus und Terrorismus. Er sichert die Demokratie und den friedlichen kulturellen und ökonomischen Austausch. Unsere gesamte Kreativität und Entschlossenheit ist gefragt, dies zu realisieren. Wenn wir alle dies wollten in einem einzigartigen solidarischen Akt, hätten wir dafür auch das Wissen und die Mittel. "

Dienstag, 24. Juli 2012

Das Fundament des Bürgerkrieges in Syrien


Die Situation in Syrien scheint nach Medienberichten immer mehr zu eskalieren. Das Land zerfällt und befindet sich in einem Bürgerkrieg. „Gut“ und „Böse“ werden in den westlichen Medienberichten mal wieder fahrlässig sauber getrennt, dort der Schurke Assad, auf der anderen Seite die „guten“ (sehr heterogenen) Rebellen, die diesen Schurken stürzen wollen.  Dabei häufen sich jetzt schon die Berichte darüber, dass auch diese Rebellen Grausamkeiten begangen haben und keineswegs vertrauenseinflößend sind. (Es gibt sogar Berichte, die Zweifel aufkommen lassen, ob das Massaker von Hula - bei dem auch etliche Kinder starben, was überall in der internationalen Presse aufgegriffen wurde - überhaupt von Assads Armee begangen wurde.)

Vom psychohistorischen Standpunkt aus sind solche Massenkonflikte (unbewusst) gewollt und dienen dem Ausagieren von Kindheitstraumen und der Reduzierung von Wachstum.  Ein solcher Bürgerkrieg  (genauso wie das Leben in einer Diktatur) ist nur möglich, wenn eine Mehrheit sich ohnmächtig fügt (sich in die stille Opferrolle oder Zuschauerrolle begibt) und es zudem unzählige Menschen gibt, die zur Waffe greifen und zum Töten bereit sind.  

Die Grundlage für solche Konflikte bereiten die Kindheiten in einem solchen Land. Ein Land, in dem die Mehrheit gewaltfrei erzogen wurde, würde nicht in einen Bürgerkrieg verfallen, davon bin ich überzeugt. Aber selbst in den Ländern, in denen eine Mehrheit Gewalt als Kind erlebt, braucht es vermutlich auch einen (unbestimmten) Prozentsatz von Menschen, die schwere und mehrere Formen der Gewalt erlebt haben. Seltene Gewalterfahrungen reichen nicht aus, um einen derartigen Massenhass zu schüren.  

Insofern lohnt ein Blick in folgende Studie:  UNICEF (2010): Child Disciplinary Practices at Home: Evidence from a Range of Low-and Middle-Income Countries. New York, USA. 

89 % aller befragten syrischen Kinder (2-14 Jahre alt) erlebten dieser großen Studie zu Folge psychische und/oder körperliche Gewalt. (Diese Zahlen gelten für die Kinder 2005/2006 und zwar nur für das Gewalterleben 4 Wochen vor der Befragung, also nicht für die gesamte Kindheit. Die Erwachsenen, die heute Krieg führen, werden vermutlich noch mehr und noch schwerere Formen der Gewalt erlebt haben, weil sie einer älteren Generation angehören und die Gewaltbetroffenheit i.d.R. im historischen Rückblick steigt.)

Nur ca. 5 % der befragten Kinder erlebte innerhalb eines Monats vor der Befragung überhaupt keine Bestrafungen.  Ca. 6 % erlebten gewaltlose Bestrafungen. Der größte Teil der syrischen  Kinder erlebte beides, psychische und körperliche Gewalt.  

Ca. jedes vierte Kind erlebte sogar besonders schwere körperliche Gewalt.
(hierunter wurde verstanden: Schläge oder Tritte ins Gesicht, gegen den Kopf oder Ohren und/oder Schläge mit einem Gegenstand, immer und immer wieder und so hart ausgeführt, wie es geht.  Schläge gegen andere Körperteile oder Schläge mit einem Gegenstand, die nicht den erwähnten Zussatzbedingungen entsprachen ("immer und immer wieder" und "so hart es geht"), wurden - um Kategorien zu bilden - nicht als schwere Formen gewertet. Insofern ist davon auszugehen, dass weit aus mehr Kinder auch schwere und besonders folgenreiche Gewalt erlebt haben, als diese ca. 25 %)

Das ist das Fundament, aus dem heraus Diktaturen, Kriege und Bürgerkriege entstehen können (nicht müssen). Ein stetig eskalierender Konflikt verstärkt dabei die Freund-/Feindschemata und holt das Opfer (und dessen Hass) in den Menschen hervor. 

Insofern wird aktuell einmal mehr deutlich, wie ungemein wichtig weltweiter Kinderschutz ist.

Deutsche Studie über Misshandlungen in Kindheit und Jugend


Ich habe eine weitere aktuelle und repräsentative Studie gefunden, die das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche (bis zum Alter von 18 Jahren) in Deutschland erfasst hat:  Häuser, Winfried; Schmutzer, Gabriele; Brähler, Elmar; Glaesmer, Heide (2011):  Misshandlungen in Kindheit und Jugend:Ergebnisse einer Umfrage in einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung. In: Deutsches Ärzteblatt, Jahrgang 108, Heft 17.

Wie der Titel der Studie bereits sagt, geht es hier vornehmlich um Misshandlungen, also schwereren Gewalterfahrungen  (vor allem körperliche Züchtigungen sind auf Grund der Fragestellungen nicht erfasst worden), die wiederum in die Kategorien „gering bis mäßig“, „mäßig bis schwer“ und „schwer bis extrem“ eingeteilt wurden. Die Studie wurde im April 2010 durchgeführt und es konnten die Daten 2.504 Personen (über 14 Jahre bis über 60 Jahre alt) ausgewertet werden. (Die Rücklaufquote war dabei mit 56 % sehr gering)

Einige Ergebnisse: 

15,0 % der Personen der Gesamtstichprobe berichteten über emotionalen Missbrauch

12,0 % über körperlichen Missbrauch

12,6 % über sexuellen Missbrauch 

49,5 % über emotionale und 48,4 % über körperliche Vernachlässigung 

1,6 % der Personen der Gesamtstichprobe berichteten über schweren emotionalen, 2,8 % über schweren körperlichen, 1,9 % über schweren sexuellen Missbrauch in Kindheit und Jugend. 6,6 % der Befragten gaben Auskunft über schwere emotionale und 10,8 % über schwere körperliche Vernachlässigung in Kindheit und Jugend.

31,8 % der Befragten berichteten über keine, 27,7 % über eine, 23,7 % über zwei, 8,3 % über drei, 4,6  % über vier und 3,7 % über fünf Formen des Missbrauchs.

85,5 % gaben keine, 8,9 % eine, 3,3 % zwei, 1,4 % drei, 0,8 % vier und 0,1 %  fünf schwere Formen des Missbrauchs an

Freitag, 6. Juli 2012

Wikipedia: Artikel über Adolf Hitler wieder ohne Bezüge zur Kindheit

Anfang 2011 hatte ich die Darstellungen von einigen politischen Führern auf Wikipedia dahingehend untersucht, ob die entsprechenden destruktiven Kindheiten erwähnt oder sogar mit dem politischen Verhalten in Zusammenhang gebracht wurden.

Einzig in dem Artikel über Adolf Hitler fand ich einen relativ ausführlichen Beitrag, der sich auf Arno Gruen bezog. Ich schrieb damals:

"Relativ viel über Herkunft und Familie. Erwähnung der Gewalt durch den Vater: „In Mein Kampf schildert Hitler den Vater als streng, autoritär, mitunter auch jähzornig und gewalttätig.“ Besonders auffällig ist ein relativ langer Absatz über Arno Gruens Analyse der destruktiven Eltern-Kind-Beziehung Hitlers und Thesen über die psychischen Folgeschäden. Diese Darstellungen sind meiner Erinnerung nach relativ neu, auf Wikipedia, noch vor über einem Jahr fand ich dort keine Erwähnung von Gruens Thesen. Diese Wikipedia Darstellung eines Diktators/politischen Führers ist somit die einzige, bezogen auf die hier analysierten Personen, in der direkt auf die Folgen der erlebten Gewalt hingewiesen wird und somit auch ein direkter Bezug zum späteren politischen Handeln hergestellt wird."
Leider musste ich heute feststellen, dass der Wikipedia-Artikel über Hitler stark überarbeitet worden ist. 
Jetzt findet sich nur noch ein kurzer Satz über die Schulzeit, in dem die Gewalt gegen das Kind abgehandelt wird: "Sein Vater hatte ihn für eine Beamtenlaufbahn bestimmt und bestrafte seine Lernunwilligkeit mit häufigem, aber erfolglosen Prügeln."
Der Absatz über Arno Gruens Darstellungen ist komplett gelöscht worden!

Wikipedia ist somit erneut blind bzgl. der Kindheit von Adolf Hitler und dem entsprechenden Einfluss auf sein Handeln...

Dienstag, 3. Juli 2012

Gäste-/Infoaustauschbuch



Hinweis vom 29.07.2019: 
Da dieses Gästebuch - außer durch mich selbst - selten genutzt wurde/wird, habe ich den Link darauf entfernt. Kommentare können bei Bedarf weiterhin unter allen Blogbeiträgen abgegeben werden.



Ich ringe schon länger mit mir, in welcher Form ich hier eine Art Gäste-/Infoaustauschbuch einrichten könnte. Das Ganze bei einem externen Internetanbieter unterzubringen, ist mir irgendwie nicht so lieb, da man nie weiß, ob das Angebot bestehen bleibt, obgleich diese Angebote natürlich optisch und funktional weit entwickelt sind. 

Insofern greife ich jetzt zu der einfachsten Variante, dieser Beitrag ist hiermit das Gästebuch dieses Blogs, in dem per Kommentarfunktion Eure Mitteilungen und Gedanken für mich und  alle LeserInnen sichtbar sind. 

Lob, Tadel, Ideen, Grüße, bedeutsame Informationen. Schreibt gerne, was Euch wichtig ist. Sehr freuen würde ich mich auch immer über interessante Infos zum Thema, neu entdeckte Bücher, die wichtig erscheinen, eigene Forschungsarbeiten oder Gedanken zum Thema, so weit sie zum Blogthema passen.

Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich Kommentare, die eher in ein Selbsthilfeforum passen oder persönliche Hilfsgesuche hier nicht veröffentliche. Etwas anderes ist es, wenn persönliche Erfahrungsberichte dem Thema des Blogs dienen und etwas zur Erhellung bzgl. der gesellschaftlichen Folgen der Gewalt gegen Kinder beitragen. Mit Links bitte insoweit sorgsam umgehen, als dass die verlinkten Seiten seriös sein sollten. 

Ich lese selbstverständlich alle Kommentare/Einträge und bedanke mich schon mal im Voraus dafür. Um die Übersicht zu erhalten, werde ich i.d.R. die Gästebucheinträge nicht kommentieren. 

Übrigens kann mensch bei Interesse unten im Kommentar-Bereich auch die Kommentare für dieses Gästebuch abonnieren.

Samstag, 30. Juni 2012

Die Kindheit von JudenretterInnen


Eva Fogelman (1998) hat im Laufe von 10 Jahren zusammen mit einer Forschungsgruppe mehr als 300 Juden-RetterInnen in diversen Ländern befragt und die Ergebnisse in einem Buch vorgestellt: „Wir waren keine Helden“ Lebensretter im Angesicht des Holocaust. Motive, Geschichten, Hintergründe. Deutscher Taschenbuchverlag, München.  Die Erinnerungen der RetterInnen überprüfte sie in Gesprächen mit jüdischen Menschen, die sie gerettet hatten oder an Hand von Archivmaterial.

Die Retter und Retterinnen waren so unterschiedlich, wie Menschen nur sein können. Fogelmann schreibt, dass diese Männer und Frauen so willkürlich zusammengewürfelt erschienen, wie die Fahrgäste in der U-Bahn. (vgl. S. 247) Auch das Geschlecht spielte keine Rolle. „Beide Geschlechter waren für die ausweglose Lage der jüdischen Bevölkerung emotional empfänglich. Beide kamen den Opfern zu Hilfe, weil sie sich in ihrem Gerechtigkeitsgefühl verletzt sahen.“ (S. 242) Allerdings waren Frauen vor allem an der Rettung von Kindern beteiligt, weil sie als Frauen im Umgang mit Kindern weniger auffielen oder als „alleinerziehende Mutter“ ein jüdisches Kind aufnahmen (ein alleinerziehender Vater wäre damals aufgefallen). 

Allerdings hatten alle RetterInnen sehr ausgeprägte humanistische Wertvorstellungen. Die Kindheit übte dabei einen entscheidenden Einfluss auf diese Einstellungen aus. „Motor des Handelns waren die inneren Werte, die die RetterInnen schon frühzeitig in ihrer Kindheit ausgebildet haben. Entsprechende Kindheitserfahrungen und –erinnerungen ziehen sich wie ein Leitmotiv durch die Geschichten der meisten RetterInnen. Nach vielen Gesprächen mit RetterInnen wunderte es mich kaum mehr, wenn folgende prägenden Faktoren in ihrer Kindheit eine Rolle spielten: ein behütetes, liebevolles Elternhaus; ein altruistischer Elternteil oder ein liebes Kindermädchen, das als Vorbild für altruistisches Verhalten diente; Toleranz gegenüber Menschen, die anders sind; eine schwere Krankheit während der Kindheit oder der Verlust einer nahestehenden Person, wodurch die eigene Widerstandskraft auf die Probe gestellt und besondere Hilfe nötig wurde; eine verständnisvolle und fürsorgliche Erziehung zu Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Disziplin, die nicht mit körperlichen Strafen und Liebesentzug operierte.
Selbstverständlich haben nicht alle RetterInnen solche Erfahrungen gemacht, aber die meisten. Auch sind die genannten Faktoren allein kein hinreichender Grund, um ZuschauerInnen zu RetterInnen zu verwandeln. Ebenso wichtig war die Stimmigkeit der Umstände, des Zeitpunktes und der Gelegenheit zur Rettung.
Gleichwohl steht für mich nach meinen Gesprächen mit RetterInnen zweifelsfrei fest, dass ihre Fähigkeit, sich dem Rassismus zu widersetzen und mit den Verfolgten zu sympathisieren, auch durch ihe Kindheitserfahrungen und die Werte, die ihnen in dieser Zeit eingeschärft wurden, bedingt ist
.“ (S. 247 + 248)

Fogelman ergänzt, dass viele RetterInnen sich als Kind nicht nur geliebt, sondern auch beschützt fühlten; dass die Eltern argumentierten, anstatt zu drohen; dass die Eltern sich mit ihren Kindern darüber auseinandersetzten, was unter akzeptablen Verhalten zu verstehen ist und klare Regeln festlegten; dass die Eltern sie in ihren Interessen gefördert hatten und für Begabungen Lob aussprachen. Viele RetterInnen wurden als Kinder nicht nur dazu ermutigt, anderen zu helfen, es wurde von ihnen erwartet.  Bei 89 Prozent der RetterInnen fungierte zudem mindestens ein Elternteil oder eine andere erwachsene Person als altruistisches Rollenvorbild, dass den Lehren auch Taten verlieh. Empathie mit den Juden und deren ausweglosen Situation war ein entscheidender Bestandteil rettenden Verhaltens. Die meisten RetterInnen waren lebensbejahende Menschen, trotz auch häufig eigenen schmerzlichen Erfahrungen, wie z.B.  Trennung von einem Elternteil, Tod eines Familienmitgliedes, eigene schwere Krankheit während der Kindheit. Dabei fällt auf, dass den meisten offensichtlich während dieser schmerzhaften Zeit mindestens eine nahestehende Person mit Trost , Ermutigung und Hilfe zur Seite stand. (vgl. S. 248-263) “RetterInnen waren Menschen, die als Kind eine Bezugsperson hatten – ein Elternteil, ein Großelternteil, ein Kindermädchen, einen Bruder oder eine Schwester – die jedesmal rettend eingriff, wenn die Ereignisse sie zu überwältigen drohten. Diese Erfahrung vergaßen sie nie. Die Verfolgung der jüdischen Menschen durch Hitler gab ihnen Gelegenheit, ihrerseits Hilfe zu leisten.“ (S. 264)

Die Autorin weist auch auf kleinere Studien hin, die zu ähnlichen Ergebnissen kamen. Der Psychoanalytiker David Levy verglich 21 Nazigegner mit passiven Zuschauern und fand dabei heraus, dass die Widerstandskämpfer aus einem weniger rigidem, vergleichsweise liebevolleren Elternhaus stammten und in ihrer Akzeptanz anderen Menschen gegenüber gefördert worden waren. Eine liebevolle Mutter und väterliche Disziplin ohne Strenge hatten großen Einfluss gehabt. Die Psychologin Frances Grossmann deckte in einer Untersuchung über neun Juden-RetterInnen dasselbe Muster in der Kindheit auf. (vgl. S. 249+250)

Als Deutscher und zudem Enkel der Kriegsgeneration ist die Frage nach den Ursachen der NS-Herrschaft etwas, das mich stets beschäftigt hat. Die Studie von Eva Fogelman macht das Bild für mich rund. Das vorliegende Wissen über die Kindheit von Adolf Hitler und die Kindheit der Deutschen um 1900 (siehe z.B. hier und hier), ergänzt um das Wissen der Kindheit der JudenretterInnen oder auch der Geschwister Scholl  lässt nur einen Schluss zu: Die NS-Zeit wäre so nicht möglich gewesen, wenn eine breite Mehrheit als Kind liebevolle und kaum oder keine Gewalterfahrungen gemacht hätte. Und da heute bereits eine Mehrheit der jungen Deutschen ohne Gewalt aufwächst und auch immer liebevoller erzogen zu werden scheint, lässt dies auch den Schluss zu, dass eine solche kollektive Grausamkeit, wie sie im Ersten und auch Zweiten Weltkrieg zu Tage trat,  in diesem Land nicht wieder möglich sein wird. Für mich ist das große „Rätsel“ um die Ursachen der beiden Weltkriege gelöst.
Gewaltfreie Erziehung fördert den aufrechten Gang“ ist ein Satz, den der Kriminologe Christian Pfeiffer oft verwendet, wenn er die Studien über die JudenretterInnen zitiert. Ein schöner und wahrer Satz, der heute immer mehr verstanden wird. 

(Fogelman war übrigens einst Mitarbeiterin von Stanley Milgram, der das berühmte Milgram-Experiment durchgeführt hat. Letzterer wollte dadurch beweisen, wie ganz normale Menschen unter bestimmten Rahmenbedingumngen zu Grausamkeiten fähig sind. Milgram hat meines Wissens nach allerdings versäumt, die ("ganz normalen") Kindheiten seiner Versuchsteilnehmer mit einzubeziehen. Seine Schülerin hat mit ihrer Untersuchung das Milgram-Experiment quasi umgedreht und ist zu klaren Erkenntnissen gekommen.) 


siehe ergänzend auch: Oliner & Oliner: Die Kindheit von JudenretterInnen

Donnerstag, 28. Juni 2012

Adolf Eichmann - Eine ganz "normale" deutsche Kindheit

"Ich werde, wenn es sein muss, lachend in die Grube springen, denn das Bewusstsein, fünf Millionen Juden auf dem Gewissen zu haben, verleiht mir ein Gefühl großer Zufriedenheit."
(Adolf Eichmann zitiert nach Guido Knopp (1998):  Hitlers Helfer. Täter und Vollstrecker. S. 23; Anmerkungen: So handeln und sprechen nur Menschen, die wie "Untote" sind, emotional tot, körperlich am Leben.)


Mit Adolf Eichmann habe ich mich bisher nicht wirklich viel befasst. Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen.“ ist ja ein Klassiker, der mich allerdings bisher wenig zum Lesen reizte, weil die eigentlichen Ursachen des „Bösen“ – so viel ich über das Buch gelesen habe – nicht besprochen werden. 

Manchmal liegen die Erkenntnisse nur zwei, drei Suchbegriffe im Internet entfernt…. So stieß ich zu meiner großen Überraschung zunächst auf ein Worddokument einer auf den ersten Blick nicht seriös wirkenden Homepage mit englischer Webadresse. Eichmanns Memoiren wurden dort veröffentlicht. Als ich den ersten Teil über seine Kindheit und Jugend gelesen hatte, dachte ich zunächst, dass sich da wohl ein Alice Miller oder Arno Gruen Kenner einen Scherz erlaubt und eine Fälschung ins Netz gestellt hatte, um Eichmann selbst von den tieferen Ursachen sprechen zu lassen, die die NS Zeit ermöglichten. Eigentlich eine gute Idee, die bestimmt Aufmerksamkeit erzeugt, dachte ich. 

Ich irrte mich mit meinem ersten Eindruck. Denn der Text ist echt und wurde einst von der „Welt“ ("Ein Leben, bestimmt durch Befehle", 12.08.1999) veröffentlicht. Bereits der Anfangsteil seiner Erinnerungen macht deutlich, warum Eichmann zu dem werden konnte, was er war:

"Irgend etwas aber muß es doch gewesen sein, daß es meinen seligen Vater schon in meiner frühesten Jugend dazu bewogen haben muß, trotz liebevollster Zuneigung und Freude an mir, gerade mich besonders streng zu erziehen, eine Strenge, wie sie meine Geschwister nie in diesem Umfange zu verspüren bekommen hatten. Und dabei soll ich keinesfalls etwa ein schwer erziehbares Kind gewesen sein, sondern das gerade Gegenteil daran; leicht lenkbar und folgsam.
Von der Kinderstube angefangen also, war bei mir der Gehorsam etwas Unumstößliches, etwas nicht "ausderweltzuschaffendes". Als ich dann später, sehr viel später, genau 27 Jahre später, ich meine nach meiner Geburt, zur Truppe kam, fiel mir das Gehorchen nun keinen Deut schwerer als das Gehorchen in der Kinderstube, als das Gehorchen in den zwischen Kinderstube und Truppendienst liegenden Schulausbildungs- und Berufsjahren.
Ich anerkannte meinen Vater als absolute Autorität, ebenso meine leider früh verstorbene Mutter; ich erkannte meine Lehrer und beruflichen Vorgesetzten als Autorität an und ebenso später meine militärischen und dienstlichen Vorgesetzten.
Es wäre denkbar gewesen, daß das berühmte Kamel durch das Nadelöhr geht, aber undenkbar wäre es gewesen, daß ich nicht mir gegebenen Befehlen gehorcht hätte."

Nun ist ja bekannt, dass Eichmann keine Verantwortung für sein Handeln übernehmen wollte und sich als „Opfer“ von Befehlen darstellte. Natürlich war er verantwortlich und ein Täter und natürlich wusste und wollte er, was er tat. Aber, man sollte seine eigenen Erklärungen trotzdem ernst nehmen. Sein Vater war, nachdem was wir hier lesen, eine klassische autoritäre Persönlichkeit, die unbedingten Gehorsam durchsetzte. Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutete dies für deutsche Kinder i.d.R. auch Schläge. Eichmann selbst fungierte in seiner Familie wohl als besonderer Blitzableiter, wie er selbst schildert, da seine Geschwister nicht so sehr der Strenge des Vaters ausgesetzt waren, wie er selbst. Seine Mutter verstarb zudem, als er noch ein Kind war. Dies an sich ist bereits traumatisch, kann aber verarbeitet werden, wenn eine Familie zusammenhält und sich gegenseitig Trost spendet. Ein autoritärer Vater wird keine emotionale Stütze für dieses Kind gewesen sein. 

Eichmanns Schilderungen wurden ihm oft als Verteidigungsstrategie ausgelegt. Vieles spricht allerdings dafür, dass er wirklich so fühlte. Er hatte keine Identität, war form- und dehnbar und wäre z.B. in der DDR sicher ein guter Funktionär geworden. Dieser Mann ist geradezu ein Paradebeispiel für einen Menschen, der als Kind keine eigene Identität aufbauen konnte, worüber vor allem Arno Gruen ganze Bücher geschrieben hat (insbesondere „Der Fremde in uns“). Adolf Eichman war „ganz normal“ in dem Sinne, dass die Mehrheit der damaligen Deutschen ebenfalls keine eigene Identität aufbauen konnten, weil ihre Eltern sie schwer angriffen und unterdrückten und dadurch alles Eigene als etwas Fremdes abgespalten werden musste. 

Ich staune immer noch etwas, dass diese Erkenntnisse derart offensichtlich durch Eichmann selbst dargestellt wurden. Und trotzdem bleibt er emotional blind während seiner Ausführungen, betrachtet sich selbst als jemand Fremden, so kommt es mir vor. Was Sinn macht, denn solche Menschen sind im Grunde nie in ihrem Leben und ihrer eigenen Gefühlswelt angekommen. Und der Vater, der einst den Willen des Kindes brach, blieb natürlich idealisiert:  In „liebevollster Zuneigung und Freude an mir“. Keine Wut, keinen Groll, der Vater tat ja alles nur „zum Besten“ des Kindes, das diesen Schmerz nicht fühlen darf und sich unterwirft.

Wie schon gesagt, manchmal liegen die Erkenntnisse nur zwei, drei Googel-Suchbegriffe entfernt.

Samstag, 16. Juni 2012

Kindheit, Trauma und die Stasi


600.000 Menschen wurden vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS oder auch Stasi) im Laufe der Jahre als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) angeworben, um ihr Umfeld zu bespitzeln. 20 von ihnen wurden für eine umfassende psychoanalytische Untersuchung befragt: Kerz-Rühling, Ingrid / Plänkers, Thomas 2004: Verräter oder Verführte. Eine psychoanalytische Untersuchung Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Christoph Links Verlag, Berlin. 

Die Ergebnisse sind also alles andere als repräsentativ. Aber sie gehen bzgl. dieser 20 Personen sehr in die Tiefe, denn ganze fünf Psychoanalytiker haben eine Gesamtbewertung der untersuchten Personen zusammengestellt. Als explorative Studie und gedankliche Anregung ist dieses Buch sicher erwähnenswert. 

Die Befragten wurden bzgl. ihrer Anwerbung als IM grob in vier Gruppen unterteilt: Die Bestochenen, die Erpressten, die überzeugten Sozialisten und die Getäuschten. Alleine diese Kategorien zeigen, dass der Prozess der Anwerbung sehr unterschiedlich verlaufen konnte und sich insofern auch die inneren Motive unterscheiden. 

Die Autoren leiten dann über zu den „unbewussten und bewussten Motiven für die Zusammenarbeit mit der Stasi“. Die für mich am Interessantesten stelle ich kurz vor: 

Bei 12 der 20 Befragten „waren frühe Trennungserfahrungen, Mangel an Fürsorge und das daraus resultierende starke Bedürfnis nach Sicherheit und Halt gewährenden Beziehungen für die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem MfS ausschlaggeben. In mehreren Fällen handelte es sich um zerbrochene Familien. (…) Die späteren IM vermissten elterliche Fürsorge und Unterstützung, fühlten sich teilweise abgelehnt und allein gelassen. (…) Die Beziehung zu den Führungsoffizieren bot diesen Menschen vorübergehend Sicherheit und Zuwendung. Insbesondere den IM, die als Kinder Liebe vermisst hatten, gab das Angesprochenwerden durch die Stasi das Gefühl, gebraucht und geschätzt zu werden. (…) An die Stelle des geflüchteten, verhafteten oder ablehnenden Vater trat in der Person des Führungsoffiziers ein scheinbar einfühlsamer, hilfsbereiter, auf die Bedürfnisse eingehender Ersatzvater.“ (S. 128 + 129) Auch ein weiteres Motiv wird sicherlich auch im Zusammenhang mit mangelnder elterlicher Fürsorge stehen: „Ausgleich narzisstischer Defizite“. 8 der 20 Befragten ließen sich anwerben, „um auf diese Weise ihr geringes Selbstwertgefühl zu verbessern. Sie fühlten sich durch die Mitarbeit in der Stasi wichtig genommen.“ (S.129)
7 der 20 Befragten bot die Mitarbeit außerdem die Möglichkeit, „auf diese Weise ihre Rivalität und Neidgefühle gegenüber Kollegen und Nachbarn auszuleben und Rache an Ehepartnern, Eltern oder Bekannten zu nehmen.“ (S. 130) Weitere Motive wurden wie folgt unterschieden: „Wiedergutmachung eigener oder elterlicher Verfehlungen“, „Partizipationan der Macht und Lust am Doppelleben, „Angst vor Strafmaßnahmen“ und „Erwartung von Belohnung für die Zusammenarbeit“

Bzgl. der Beurteilung von den Persönlichkeitsstrukturen kommen die Autoren zu dem Schluss, dass das „psychische Niveau, auf dem die von uns untersuchten IM Beziehungen zu ihren Mitmenschen und im Gespräch zum Interviewer eingehen“ in nur vier Fällen als „reif“ bzw. “erwachsen“ beurteilt werden kann. (S.137) Bei der Hälfte der Befragten fanden die Analytiker außerdem deutliche psychische Traumatisierungen, bei drei weiteren Befragten wurde diese Diagnose vermutet, es fehlten aber weiterführende Informationen. (S.138) Bzgl. der hier relevanten Folgen von Traumatisierungen schreiben sie u.a.: „ Die Fähigkeit, selbstbewusst und kritisch nachdenkend sich der Außenwelt gegenüber verhalten zu können, ist dann in der Regel sehr eingeschränkt, da eine erhöhte Abhängigkeit von anderen Menschen infolge des Traumas besteht. Diese psychische Notlage eines Menschen konnte die Stasi wiederum für ihre eigenen Zwecke ausnutzen.“ (S. 138) 

Zwei Befragte und ihre Kindheit werden am Ende des Buches auch ausführlich vorgestellt. „Frau Quindt“ ist mehrfach schwer traumatisiert worden: Sexueller Missbrauch durch den Stiefvater, schwere Misshandlungen, mangelnde Fürsorge, Trennungserfahrungen, Verlust der Eltern, Heimaufenthalte, sieben Jahre Haftanstalten- und Psychiatrieaufenthalte.
„Herr Voss“ hatte eine weitaus weniger belastete Biografie, aber auch bei ihm zeigte sich deutlich der Einfluss von Kindheitserfahrungen. Beide Eltern haben sehr viel gearbeitet und sich wesentlich über ihre Leistung definiert. Seinen Vater beschreibt er als 90 Prozent friedlich, aber in Affektsituationen konnte dieser sich kaum bremsen, „rastete aus“, tolerierte vor allem keine Faulheit und Schwächen. „(…) innerhalb von drei Sekunden konnte der wie eine Rakete hochgehen, und davor hatte ich schon Angst, auf jeden Fall (…)“ (S.208)   Mit zwölf Jahren verließ Herr Voss die Familie und ging auf ein Internat und Sportschule, das ganze ohne Trennungsschwierigkeiten und Heimweh. Auch dort stand er unter enormen Leistungsdruck, musste neben den regulären Schulstunden ca.35 Stunden sportliches Training absolvieren. Nach Ende der Studienzeit hielt er die Belastungen nicht mehr aus, bekam Alkoholprobleme und depressive Verstimmungen (inkl. Selbstmordgedanken).
Es ist nur logisch und nachvollziehbar, dass Menschen mit solchen Vorgeschichten besonders anfällig für eine Anwerbung durch die Stasi waren bzw. wenig Ressourcen mitbrachten, um sich effektiv der Anwerbung zu entziehen. 

In ihrer Besprechung und Zusammenfassung schreiben die Autoren u.a.“Um Eigenständigkeit und Selbstvertrauen zu entwickeln, ist es notwendig, sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft Geborgenheit und Anerkennung zu erleben und zu autonomen Handeln ermutig zu werden.“ (S. 232)
Dem ist im Grunde nichts hinzuzufügen. 

Interessant wäre es zusätzlich gewesen, 20 oder mehr Personen zu untersuchen, die sich der Stasi Mitarbeit verweigert und zusätzlich ggf. aktiv für Demokratie und Menschenrechte eingetreten sind. Wie sah deren Kindheit und Sozialisation aus?

Montag, 11. Juni 2012

Kindesmisshandlung: Mütter als Täterinnen

Einleitend ein Betroffenenbericht von „Mona“:
Das Gesicht meiner Mutter ist ganz nah. ‚Du weinst doch nicht?‘ Sie schlägt meinen Kopf auf den Boden und wiederholt freundlich: ‚Du weinst doch nicht, oder?‘ Es ging ihr nicht darum, mir das Weinen zu verbieten. Sie wollte, dass ich Schmerzen litt und nicht mehr wusste, dass es mir weh tat. Ich sollte lachen, während sie mich quälte. Ich sollte verrückt werden. Das ist ein Stück aus dem Alltag mit meiner grossen Feindin, meiner Mutter. Das ist Teil der sexuellen Ausbeutung. Vor niemandem hatte ich so maßlose Angst wie vor meiner Mutter. Sie kannte mich viel besser. Sie besaß mehr Druckmittel. Sie konnte viel weiter gehen. Sie gab mir zu essen oder verweigerte es mir. Sie wusch mich oder tauchte mir den Kopf ins Wasser. Sie brachte mich ins Bett oder sperrte mich aus der Wohnung. Darüber hinaus war sie den ganzen Tag mit mir allein. Sie konnte mich schlagen, mir Brandwunden zufügen, mich in den Schrank sperren, mich zwingen, stundenlang still zu stehen, und sie konnte mich jederzeit berühren. Sie hatte Zeit. Sie hatte Zeit, zu warten bis meine Kraft nachliess; Zeit ihre Drohungen auszukosten. Ich fühlte mich wie ein Tier auf dem Sprung. Der Tag war eine graue Masse: warten auf den Mittag, warten auf den Abend, warten auf den Morgen, warten bis jemand hereinkam, dann war ich sicher.“ (Bundesverein zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen e.V., 2/2004, S. 9)

Mir fiel in der Vergangenheit immer wieder auf, dass viele Menschen keine realistische Vorstellung davon haben, in wie weit Frauen (bzw. vor allem Mütter/Stiefmütter) an der Misshandlung von Kindern beteiligt sind und auch historisch waren. Erst kürzlich bekam ich nach einer Onlinediskussion die Einschätzung präsentiert, dass das Zahlenverhältnis ca. 10:1 männliche gegenüber weiblichen TäterInnen bei Kindesmisshandlung sei.  Auch im Internet findet man recht wenig zum Thema. Wenn man entsprechende Suchbegriffe eingibt, erhält man i.d.R. Infotexte über weibliche Täterschaft bei sexuellem Missbrauch (was derzeit immer mehr von öffentlichem Interesse zu werden scheint) oder Texte mit stark ideologischem Hintergrund (vor allem aus der radikalen Männerbewegung). Klassisch sind auch sachliche Kommentare wie der vom Schriftsteller Bruno Preisendörfer. Er schrieb einen Artikel über erzieherische Gewalt und kam auch auf das Bürgerliche Gesetzbuch zu sprechen, in dem im Jahr 1896 noch im § 1631 stand: "Kraft Erziehungsrechts darf der Vater angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden." Preisendörfer kommentiert: „Der Vater, nicht die Mutter! Der Mutter war es beschieden, die Kinder zur Brust zu nehmen und ihnen ins Gewissen zu reden, den Gürtel von der Hose schnallen konnte und durfte nur der Vater. Zeitlich ziemlich genau in der Mitte zwischen dieser Festschreibung des väterlichen Züchtigungsrechtes 1896 und der Festschreibung des kindlichen Rechts auf gewaltfreie Erziehung im Jahr 2000 hatte das väterliche Züchtigungsrecht wegen der mütterlichen Gleichberechtigung seine Exklusivität eingebüßt. Das Gleichstellungsgesetz vom Juli 1958 drückte auch den Müttern den Stock in die Hand. Doch blieben die meisten von ihnen bei der nachhaltigeren Methode des Liebesentzugs. Erst wenn das nicht fruchtete, behalfen sich die Mütter mit der Androhung der Strafe, die dann der Vater zu vollstrecken hatte. "Warte nur, bis Papa nach Hause kommt" - wer aus meiner Generation kann von sich behaupten, dies nie aus dem Mund der Mutter gehört zu haben.“ (LE MONDE diplomatique, 09.04.2010)
Dass Väter rechtlich und von der patriarchalen Sitte her in der Geschichte die Machthaber in den Familien waren, ist unbestritten. Doch aus diesem Recht und dieser Macht kann man nicht ableiten, dass Frauen bzw. Mütter keine oder sehr viel weniger Gewalt gegen ihre Kinder ausübten oder gar erst damit angefangen haben, nachdem sie rechtlich einigermaßen  gleichgestellt wurden. Der Autor irrt komplett mit seiner Einschätzung.  Die Sozialwissenschaftlerin Claudia Heyne hat ein ganzes Buch zum Thema Täterinnen geschrieben. Nach ihren Recherchen schwanken in der Literatur die Zahlen über den Anteil der Täterinnen bei der körperlichen Kindesmisshandlung zwischen 40 % und 70 %. (vgl. Heyne, 1993, S. 257) Unten im Text werde ich Studien vorstellen, die ich zum Thema gefunden habe. Mütter verfügten stets über Macht gegenüber ihrem Kind, auch wenn der Vater ihnen historisch vorgestellt war, einfach weil das Machtverhältnis hier lautet: Erwachsener-Kind. 

Interessant ist in diesem Kontext auch eine aktuelle UNICEF Kampagne zum Thema Gewalt gegen Kinder. Eine Werbeagentur hat für UNICEF ein 49 Sekunden langes Video gedreht. Zu sehen ist ein Junge in seinem Kinderzimmer, der sich eilig aus Pappe einen "Schutzmantel" bastelt. Nachdem ein Geräusch an der Tür zu hören ist, ist Angst in den Augen des Jungen zu sehen und der Schutzmantel verwandelt sich in eine echt aussehende Kommode. Mit Druck wird die Tür aufgerissen und herein kommt der Vater, der offensichtlich seinen Sohn verprügeln möchte und diesen nicht findet. Man schaue sich das selbe Video an und stelle sich vor, dass an Stelle des Vaters die Mutter hereinkommen würde. Die Wirkung des Videos wäre vermutlich nicht die selbe, weil wir kulturell vermittelt gar nicht auf ihre Täterrolle gegenüber Kindern vorbereitet sind.

Aktueller Auslöser für einen Beitrag in diese Richtung waren bei mir zusätzlich auch zwei Dinge: Erstens das Buch „20 Europäische Diktatoren“ von Johann Benos, in dem der Autor allen untersuchten Diktatoren eine besonders liebevolle Mutter unterstellt, worauf ich bereits in einem Beitrag ingegangen bin. Alleine schon die Zahlen über das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder und das Wissen um den Anteil an weiblichen Täterinnen hätten hier beim Autor Zweifel aufkommen lassen müssen, ob diese seine Einschätzung denn nun gerade auf besonders kaltblütige Männer zutreffen könnte. Zweitens der kürzlich erschienene erschütternde Welt-Artikel "Als Frau in Afghanistan lernst du, dich zu hassen" (05.06.2012), in dem ein Mädchen beschrieben wird, dass vom eigenen Bruder an eine andere Familie verkauft und dort schwer gefoltert wurde, nachdem sie sich geweigert hatte, sich zu prostituieren. Ein Onkel ruft schließlich die Polizei. Während man sie im Rollstuhl ins Krankenhaus bringt, wollen die Polizisten wissen, wer sie so zugerichtet habe. „Sahar antwortet mit schwacher Stimme: "Mein Schwiegervater, meine Schwiegermutter, meine Schwägerin, mein Schwager und mein Ehemann." „ Auch die Schwiegermutter und Schwägerin hatten sich direkt an den Folterungen beteiligt, ohne jegliche Skrupel. Insofern leite ich an dieser Stelle gleich über zur Beleuchtung des Ausmaßes weiblicher Täterschaft bei Kindesmisshandlung: 

Eine Studie, für die 287 Schulkinder aus Kabul (Afghanistan) befragt wurden, ergab, dass 41,6% der Kinder von ihrem Vater geschlagen werden und 59,9% berichteten, von ihrer Mutter geschlagen zu werden. (vgl. Bette, 2006, S. 54)

Eine repräsentative Studie aus Indien (siehe auch ausführliche Besprechung hier) kam zu dem Ergebnis, dass 50.9% der gewaltbetroffenen Kinder körperliche Gewalt durch ihre Mutter erfahren haben, 37,6 % erlebten Gewalt durch den Vater. (Ministry of Women and Child Development. Government of India, 2007, S. 49)

 „Save the Children Sweden“ hat eine vergleichende Studie bzgl. der Gewalterfahrungen von Kindern für den Pazifik und südostasiatischen Raum durchgeführt. In Fidschi wurden Mütter 2 Prozentpunkte öfter als Täterinnen genannt, wie Väter. In Kambodscha wurden die Mütter 6 Prozentpunkte öfter als Täterninnen genannt. Ein sehr hohes Ausmaß an mütterlicher Gewalt wurde in Vietnam festgestellt.  62 % der befragten 298 vietnamesischen Kinder berichteten, dass die Gewalt von der Mutter ausging, 38 % ging vom Vater aus. Die vietnamesischen Mütter benutzten beim Strafen 4 Prozentpunkte öfter einen Stock als die Väter und griffen ihre Kinder zudem doppelt so oft verbal an.. Die Daten aus der Mongolei zeigten, dass 40 % der Ohrfeigen durch Mütter ausgeteilt wurden, 27 % durch Väter; Schläge mit der Faust gingen ebenfalls in 40 % der Fälle von Müttern aus, in 32 % von Vätern; Misshandlungen/Tritte gingen jeweils zu 31 % von den Müttern und zu 25 % von den Vätern aus. (vgl. Save the Children Sweden, 2005, S. 143-146)

Im Rahmen einer repräsentative Studie in Guatemala gaben 28 % der Mütter zu, ihre Kinder körperlich zu züchtigen, Väter räumten dies zu 21,8 % ein. 26,1 % der Mütter gaben außerdem Misshandlungen zu, dagegen 20,3 % der Väter. (vgl. Speizer , Goodwin , Samandari , Kim , Clyde, 2008, S. 254; siehe auch Besprechung der Studie hier

Ein Studie aus Tansania ergab ein ausgeglichenes Bild: 36,9 %  der befragten weiblichen Kinder und Jugendlichen erlebten körperliche Gewalt durch den Vater, 49,3 % durch die Mutter; fast genau umgedreht sieht es bei den männlichen Befragten aus: 50,9 % gaben den Vater als Täter an, 36 % die Mutter. (vgl. United Republic of Tanzania, 2011, S. 21)

Bei einer Befragung von jungen Frauen in Kenia, Uganda und Äthiopien kam bzgl. diverser körperlicher Übergriffe heraus, dass Mütter/Stiefmütter häufig als Täterinnen genannt wurden. Z.B. erlebten Schläge mit einem Gegenstand in Kenia 23,5 % durch die Mutter / 13,3 % durch den Vater; in Uganda 42,9 %  durch die Mutter (+ 14 % durch die Stiefmutter), und in 43,4 % durch den Vater; Äthiopien 45,2 % durch Mutter. 39,1 % durch ihren Vater. (vgl. The African Child Policy Forum, 2006, S. 18)

Eine ähnliche Befragung junger Frauen wurde einige Jahre später für weitere afrikanische Länder durchgeführt. Haupttäterinnen bei der körperlichen Gewalt waren die Mütter: Burkina Faso 85 %, Nigeria 60 %, Cameroon 71 %, DRC 70 %, Senegal 70 %; gefolgt von Vätern: Burkina Faso 61 %, Nigeria 45 %, Cameroon 64 %, DRC 45 %, Senegal 58 %. (vgl. The African Child Policy Forum, 2010, S. 9+10)

Wetzels (1997, S. 37) bespricht die sogenannte Studie „Family Violence Survey“ aus dem Jahr 1975, die repräsentativ in den USA durch geführt wurde. 67,8 % der befragten Mütter und 57,9 % der Väter gaben an, körperliche Gewalt  innerhalb von 12 Monate vor der Befragung gegen ihr Kind /ihre Kinder angewandt zu haben. Schwere Gewalt gaben 4,4 % der Mütter und 2,7 % der Väter zu. 17,7 % der Mütter und 10,1 % der Väter schlugen ihre Kinder mit einem Gegenstand. 

In den USA bestätigt sogar das Hellfeld (vgl. CPS Report 2003 zit. nach Child Welfare Information Gateway, 2006 ), dass Mütter öfter als Täterinnen in Erscheinung treten. Väter waren in 36,8 % der gemeldeten Fälle von Kindesmisshandlung beteiligt, Mütter dagegen zu 64 % (nur beim sexuellen Missbrauch sind die Väter in den meisten Fällen die Täter)
Auch bei der Kindestötung traten Mütter in den USA häufig als Täterinnen in Erscheinung. 78 % aller Kindestötungen in den USA wurden 2003 durch die leiblichen Eltern verübt; dabei 39 % durch Mütter (entweder alleine oder zusammen mit einem nicht-leiblichen Elternteil), 19 % durch Väter (
entweder alleine oder zusammen mit einem nicht-leiblichen Elternteil) und 20 % durch beide Elternteile. (vgl. Finkelhor / Douglas, 2005)

Auch kleiner Studien mit speziellen Fragestellungen ergeben ein deutliches Bild zulasten von Müttern. Für eine qualitative Untersuchung (Mantell, 1978) wurde u.a . die Kindheit und Familienstruktur von 25 Kriegsfreiwilligen (für den Vietnamkrieg) der US-Spezialeinheit Green Berets analysiert.
21 (84 %) berichteten über körperliche Strafen seitens der Väter und 23 (92 %) über Körperstrafen seitens der Mutter. (vgl. S. 400) Diese Oberflächendaten ergeben erst einmal kaum Unterschiede. Schaut man aber in die Tiefe, kristallisieren sich signifikante Unterschiede bzgl. der Häufigkeit des Gewalthandelns heraus. 32 % berichteten, dass sie einmal in der Woche bis zweimal im Monat von ihren Vätern geschlagen wurden. Die Mehrzahl gab hingegen  an, dass ihre Väter sie entweder zwei- bis dreimal im Jahr oder überhaupt nur zwei- bis dreimal geschlagen hatten. (vgl. S. 51) Die Mehrzahl der Väter (72 %) verwendete dabei auch Gegenstände wie Gürtel, Stöcke und Peitschen; fast die Hälfte fuhr mit den Schlägen dort, wenn ihre Söhne anfingen zu weinen, drei Väter verstärkten dann sogar die Schläge. (S. 52)
Die Mütter wandten dagegen weit aus häufiger Gewalt an. Mehr als zwei Drittel schlug ihre Söhne einmal im Monat oder öfter, bis weit in ihre frühe Adoleszenz hinein. (vgl. S. 72) 68 % der Mütter verwendeten (ähnlich viele wie die Väter) dabei Gegenstände wie Gürtel, Stöcke, Peitschen und Riemen. 32 % nahmen, wenn sie wütend waren, irgendwelche Gegenstände, die ihnen in die Hand kam. Die Mehrzahl der Mütter fuhr fort ihre Söhne zu schlagen, wenn diese ihren Schmerz zeigten.


In Deutschland zeigt sich aktuell folgendes Bild. Im „Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland“ aus dem Jahr 2005 steht: „Die meisten Studien der Familiengewaltforschung kommen zu dem Ergebnis, dass Mütter in gleich hohem oder höherem wie Väter Ausmaß elterliche körperliche Gewalt gegenüber ihren Kindern ausüben. Auch eine geschlechtsspezifische Auswertung von Bussmann (2002) zeigt für Deutschland ein durchweg leicht höheres Sanktionsniveau auf Seiten der Mütter auf; bei schwereren Gewaltformen gleichen sich die Erziehungsstile zwischen den Geschlechtern allerdings an.“  (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005, S. 656)
Eine Einzelstudie möchte ich dabei vorstellen. Die Daten von 44.610 Jugendlichen wurden im Rahmen eines KFN-Forschungsprojektes ausgewertet. (vgl. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachen, 2009, S. 53) 46,2 % gaben an, körperliche Gewalt durch den Vater erlebt zu haben; 46,3 % durch die Mutter. Die Väter griffen dabei etwas häufiger zu schweren Gewaltformen, was 10,7 % der Befragten berichteten; Mütter dagegen zu 9,6 %. 

Deutlich als Täterinnen traten auch in früheren Zeiten die Mütter hervor. Anfang der 50er Jahre wurden deutsche Jugendliche nach ihren Erziehungserfahrungen in der Familie befragt (siehe ausführliche Besprechung der Studie hier). Bei 46,2 % der Jugendlichen wurden Strafen (und Strafen waren nach Angaben der Befragten vor allem Körperstrafen) durch die Mutter vollzogen, 33,4 % durch den Vater und bei 13,7 % durch beide Elternteile. (vgl. Pipping, Abshagen, Brauneck, 1954, S. 166)
Der Volkskundler Walter Hävernick hat in den 60er Jahren sowohl junge Menschen , als auch Erwachsene nach ihren Kindheitserfahrungen bzgl. Körperstrafen befragt. (siehe ausführliche Besprechung der Studie hier) Je nach befragter Gruppe betrug der Anteil der Mütter an den Körperstrafen zwischen 60 und 69 %. Hävernick selbst zitiert auch Pipping (1954) (siehe oben) und rundet den Anteil der Mütter als Strafende auf ca. 60 % ab. Er erwähnt auch, dass Mütter den Rohrstock genauso oft benutzten, wie die Väter und er keine im Verhältnis zum Vater milderen Straffformen beim weiblichen Geschlecht erkennen konnte. (vgl. Hävernick, 1970, S. 100+101)

Auch der Blick in die Geschichte zeigt, dass Frauen im erheblichen Umfang Kinder als „Giftcontainer“ für ihre Gefühle benutzten. DeMause hat darauf hingewiesen, dass bis zur Moderne vor allem Frauen (als Mütter, Großmütter, Tanten, Ammen, weibliche Dienerschaft, Hebammen usw.) für Kinder verantwortlich waren und Männer beim Heranziehen der Kinder meist gar keine Rolle spielten. Der Psychohistoriker zeigt an Hand einer Fülle von Beispielen auf, wie Frauen in der Geschichte routinemäßig ihre Kinder getötet, vernachlässigt, missbraucht und misshandelt haben. Diese Gewalt gegen die Kinder stand wiederum im engen Verhältnis zu eigenen, erheblichen Gewalterfahrungen der Frauen. (vgl. deMause, 2005, S.212-255)

Abschließend möchte ich noch auf einen Punkt hinweisen, der schon kurz in der Einleitung in einem Zitat von Bruno Preisendörfer angerissen wurde. „ "Warte nur, bis Papa nach Hause kommt" - wer aus meiner Generation kann von sich behaupten, dies nie aus dem Mund der Mutter gehört zu haben.“, schreibt der Autor. Dieser Satz ist nach meinem Empfinden quasi Sprachallgemeingut in Deutschland und jeder weiß auch heute noch, was damit gemeint ist. Bei amazon fand ich sogar ein Kinder-T-Shirt, das mit dem genannten Satz als Aufdruck versehen ist und dort zum Verkauf steht... 
Ingrid Müller-Münch (2012) hat für ihr Buch „Die geprügelte Generation“ ein Interview mit dem Autor Tilmann Röhring über dessen Kindheit geführt (siehe Kapitel 6). An einer Stelle sagte Röhring: „Ich kam aus der Schule. Und die Stiefmutter sagte, heute Abend bekommst du Prügel. Ich hatte gar nichts gemacht. Also fragte  ich, wieso, warum, um Himmelswillen? Damit du nicht über die Stränge schlägst, wurde mir erklärt. Können sie sich ein Kind vorstellen, was den ganzen Nachmittag zittert? Und dann kommt der Vater nach Hause. Man empfängt ihn draußen an der Garage. Er ist fröhlich, lacht und streichelt einen vielleicht sogar, geht ins Haus und eine halbe Stunde später wird man reingerufen, und man kriegt eine Tracht Prügel. Also, das ist furchtbar.“ Tilman Röhring wurde vom Vater mit einer Reitpeitsche durchgeprügelt und übrigens nicht nur auf Anweisung der Stiefmutter geschlagen, sondern zusätzlich auch aus eigenem Antrieb des Vaters. Diese Szene zeigt allerdings überdeutlich das ganze Grauen, dass diese angekündigte, delegierte „Züchtigung“ beim Kind auslöste. Den Schlägen ging die seelische Folter voran, stundenlang musste das Kind in dem Wissen leben, dass es abends Schläge erhalten würde. Diese Stiefmutter wäre in einer quantitativen Studienbefragung ziemlich sicher als „nicht-misshandelnder Elterneteil“ eingestuft worden. Dass sie die Gewalt delegierte und somit der „Auftragsschläger“ war, wäre nicht zur Sprache gekommen. Die Frage ist nur, wie viele Frauen früher (oder auch noch heute) körperliche Gewalt an den Vater delegierten?
Übrigens hat Müller-Münch im Kommentarbereich auf ihrer Homepage eine Umfrage eingerichtet, die die BesucherInnen nach den TäterInnen befragt. 629 BesucherInnen gaben als Täterin die eigene Mutter an, 555 BesucherInnen nannten den Vater als Täter. (Stand 09.06.2012) Auch hier wird das Bild bestätigt, dass ich in diesem Text ausgemalt habe.
 
Die gezeigten Daten und Fakten sind Realität und zeigen ein hohes Ausmaß von körperlicher Gewalt durch Mütter gegenüber ihren Kindern. Oft werden diese Zahlen dahingehend kommentiert, dass Frauen ja auch mehr Erziehungsaufgaben übernehmen würden und daher so häufig als Täterinnen in Erscheinung treten. Im Umkehrschluss wird damit quasi unterstellt, dass Väter weit aus häufiger als Täter auftreten würden, wenn sie in gleichem oder sogar in einem höheren Maß Anteil an der Erziehung nehmen würden. Dieser Hinweis übersieht, dass auch Väter jeden Tag die Gelegenheit haben, ihre Kinder zu schlagen (und sei es nur abends und am Wochenende). Und in noch früheren Zeiten waren sie quasi die „Besitzer“ von Frau und Kindern, konnten schalten und wallten wie es ihnen beliebt. Väter hatten historisch jederzeit die Machtmittel und auch Gelegenheit dazu, ebenso zuzuschlagen, wie die Frauen und häufig machten sie davon auch Gebrauch.  Insofern halte ich diese Einwände nicht für weiterführend. Dazu kommt, dass Gewalt gegen Kinder im Grunde wenig bis gar nichts mit Erziehung zu tun hat. Eltern haben die gesamte Geschichte hindurch behauptet, dass die Gewalt gegen Kinder "Erziehung", "Liebe" und "Fürsorge" wäre und nur "zum Besten" des Kindes geschehen würde. Im Kapitel 7 ihre Buches schrieb Müller-Münch (2012): Ich kann mir nicht vorstellen, "dass wir Kinder der 50er und 60er Jahre aus lauter Liebe und Fürsorge derart geschunden wurden. (...) Denn die mit Hilfe von Handfegern, Kochlöffeln, Teppichklopfern, Reitgerten, Peitschen und Rohrstöcken verabreichten Hiebe fühlten sich meiner Erinnerung nach so gar nicht nach Zuwendung und Zuneigung an." Vielmehr wissen wir heute u.a. dank AutorInnen wie Alice Miller, dass Gewalt gegen Kinder vielmehr eine Wiederaufführung eigener Kindheitserlebnisse darstellt. Die Kinder werden als Blitzableiter, "Giftcontainer" und Sündenböcke missbraucht, um sich kurzfristig erleichter und gut zu fühlen, um eigene Ohnmachtserfahrungen an ihnen auszuagieren. Diesen Zweck erfüllten die Kinder in der Geschichte durchgängig für beide Elternteile.
Auch der Hinweis auf Überforderung in der Erziehung, da Frauen diese zum größten Teil leisten, ist nicht erkenntnisgewinnbringend. Hohe Anforderungen und Stress in der Kindererziehung sind ganz normal. Führt dies zu einer derartigen Überforderung, dass Gewalt Anwendung findet, so ist dies letztlich bereits ein Zeichen mangelnder (emotionaler) Reife der Elternfigur und von fehlenden Fähigkeiten, sich Hilfe zu holen. Kürzlich las ich von einem Fall, in dem die Mutter und der Stiefvater - nach eigenen Angaben - aus "Überforderung" ihren sieben Jahre alten Sohn (oftmals auch nackt) über ein Jahr lang (!) in einen Keller gesperrt haben. Der Junge berichtet: "Mama hat mir Essen in den Keller geworfen und gesagt: Sonst verreckt er uns ja." (vgl. sueddeutsche.de, 06.04.2012) Nein, Eltern misshandeln nicht aus Überforderung, sondern auf Grund eigener emotionaler Defizit und vor allem eigenen Gewalterfahrungen.

 
(Abschließend noch der Hinweis, dass Mütter auch in den Bereichen Vernachlässigung, emotionale Gewalt/emotionaler Missbrauch auch sehr häufig beteiligt sind, vermutlich sogar durchaus öfter als Väter.  Vielleicht finde ich irgendwann die Zeit, auch dazu Zahlen zu recherchieren.)

 

Verwendete Quellen:
Bette, J.-P. L. F. (2006): PTBS, häuslicheGewalt und Kinderarbeit - eine Epidemiologische Untersuchung von Schulkindernin Kabul, Afghanistan. Diplomarbeit im Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2005
): Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland

Bundesverein zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen e.V. (Hrsg.), Fachzeitschrift „prävention", 2/2004: Mädchen und Frauen alsTäterinnen

Child Welfare Information Gateway (2006): The Importance of Fathers in the Healthy Development of Children

deMause, Loyd (2005): Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec. (siehe entsprechenden Text auch online in englisch)

Finkelhor, David / Douglas, Emily D. 2005: Child Maltreatment Fatalities Fact Sheet. (veröffentlicht für das "Crime against Children Research Center")

Hävernick, Walter (1970): „Schläge“ als Strafe. Ein Bestandteil der heutigen Familiensitte in volkskundlicher Sicht. Museum für Hamburgische Geschichte. Hamburg.

Heyne, Claudia (1993): Täterinnen: offene und verdeckte Aggressionen von Frauen. Kreuz Verlag, Zürich.

Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachen (2009): Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. Forschungsbericht Nr. 107. Hannover.

LE MONDE diplomatique, 09.04.2010, „Erzieherische Gewalt“ (von  Bruno Preisendörfer)  

Mantell, D. M. (1978): Familie und Aggression. Zur Einübung von Gewalt und Gewaltlosigkeit. Eine empirische Untersuchung. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.

Ministry of Women and Child Development. Government of India (2007): Study on Child Abuse: India 2007.. New Delhi. 

Müller-Münch, Ingrid (2012): Die geprügelte Generation. Cotta`sche Buchhandlung, Stuttgart.

Pipping, Knut / Abshagen, Rudolf / Brauneck, Anne-Eva (1954): Gespräche mit der Deutschen Jugend. Ein Beitrag zum Autoritätsproblem. Helsingfords.

Save the Children Sweden (2005): What children say: Results of comparative researchon the physical and emotional punishment of children in Southeast Asia and thePacifi

Speizer IS, Goodwin MM, Samandari G, Kim SY, Clyde M. (2008): Dimensions of child punishment in two Central American countries: Guatemala and El Salvador. Rev Panam Salud Publica.

sueddeutsche.de, 06.04.2012, "Mama hat mir Essen in den Keller geworfen"

The African Child Policy Forum (2006): Violence Against Girls in Africa: ARetrospective Survey in Ethiopia, Kenya and Uganda. Ethiopia. (Hauptautorin: Joanna Stavropoulos)

The African Child Policy Forum (2010): Childhood scars in Africa: a retrospective study on Violence against girls in Burkina Faso, Cameroon, Democratic Republic of Congo, Nigeria and Senegal.
 
United Republic of Tanzania, (2011): Violence Against Children in Tanzania. Findings from aNational Survey 2009. (Durchgeführt unter der Mithilfe von United Nations Children’s Fund, U.S. Centers for Disease Control and Prevention, Muhimbili University of Health and Allied Sciences)

Welt-Online, 05.06.2012, "Als Frau in Afghanistan lernst du, dich zuhassen"

Wetzels, Peter (1997): Gewalterfahrungen in der Kindheit - Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und deren langfristige Konsequenzen. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.