Montag, 3. März 2014

„Was, wenn es dein Kind gewesen wäre, Cate Blanchett?“

Was, wenn es dein Kind gewesen wäre, Cate Blanchett?“ schrieb Woody Allens Atoptivtochter Dylan Farrow u.a. in ihrem Offenen Brief in der New York Times, in dem sie den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater anklagt. (Ich hatte über ihre Missbrauchsvorwürfe gegen Allen bereits kurz berichtet.) Allen reagierte seinerseits mit einem Offenen Brief und stritt alle Vorwürfe ab.  Dylan sei von ihrer Mutter Mia Farrow dazu gebracht worden, ihn zu hassen.
Nun hat Cate Blanchett tatsächlich einen Oscar gewonnen, als beste Hauptdarstellerin in dem Woody Allen Film „Blue Jasmine“, der den sozialen und psychischen Abstieg einer gefallenen „High-Society-Dame“ nachzeichnet (Übrigens mal wieder ein Allen Film, der offenbar psychisch gestörte Menschen zum Inhalt hat, was Bände über Allen selbst spricht, wie ich finde.)
For so long, Woody Allen’s acceptance silenced me. It felt like a personal rebuke, like the awards and accolades were a way to tell me to shut up and go away.”, schrieb Dylan in ihrem Brief. Der Oscar für Cate Blanchett muss für sie ein weiterer großer Schlag gewesen sein. Ihr Brief vor der Oscarverleihung entstand wohl u.a. auch auf Grund der Hoffnung, dass Hollywood sich endlich positioniert und die Vorwürfe wegen Missbrauchs ernst nimmt. Es kam anders.
Cate Blanchett hätte bei der Verleihung zur echten Heldin werden können. Sie hätte den Brief von Dylan in ihrer Rede ansprechen und ihre Gefühle dazu ausführen können. Wenn ich mich in die Situation von Blanchett einfühle, dann bleibt als gesunde Reaktion auf einen Oscar eigentlich nur der Ausdruck des Unwohlseins damit, dem Misstrauen gegenüber Allen, Mitgefühl für Dylan und dem Gefühl, zukünftig nicht mehr mit Allen arbeiten zu wollen. Stattdessen kam eine sichtlich erfreute Blanchett, die Woody Allen dafür dankte, sie gecastet zu haben. Solche Abläufe machen mal wieder deutlich, wie ungemein tief die Identifikation mit Tätern geht.

Mittwoch, 26. Februar 2014

Gräueltaten unter Mao als Wiederaufführung von schwerer Kindesmisshandlung

Es ist erstaunlich. Wenn man um das weiß, was Kindern auch heute noch in vielen Teilen der Welt durch ihre Eltern angetan wird, so dass manchmal der Begriff „Kindesmisshandlung“ schon zu milde ist, dann bekommt man einen anderen Blick auf Berichte, die sich mit politischen und sozialen Entwicklungen befassen. Einen solchen Bericht las ich kürzlich auf Welt-Online unter dem Titel „Sagt endlich, dass Mao der größte Massenmörder war“.

In dem Artikel ließt man u.a. diese Passage:

„Eine Hauptwaffe der Kader war der Nahrungsentzug; da es außerhalb der Volksküchen nichts zu essen gab, war dieses Mittel leicht einzusetzen. Aber die schiere, brutale Gewalt war so allgegenwärtig wie der Hunger: Menschen wurden wegen geringster Vergehen mit Peitschen und Knüppeln traktiert, verstümmelt, lebendig begraben, mit gebundenen Händen und Füßen in Teiche geworfen, mit siedendem Wasser übergossen, in der Kälte nackt ausgezogen oder gezwungen, barhäuptig in der Gluthitze auszuharren. Man zwang Menschen, Urin zu trinken und Exkremente zu essen. Dikötter schätzt, dass von den 45 Millionen Toten des "Großen Sprungs" mindestens 2,5 Millionen durch brutale Misshandlung und Folter starben. Unter ihnen waren auch Kinder, Greise und schwangere Frauen.
All diese „politische“ Gewalt  - die ja übrigens schon auf Grund der Zahlen deutlich macht, dass unzählige „ganz normale“ Chinesen zu Massenmördern wurden – findet man genau in den beschrieben Ausformungen als Gewalt gegen Kinder; vor allem auch, je weiter man in der Geschichte zurückschaut, aber auch heute noch, auch bei einer Minderheit von Eltern in Deutschland (Ich arbeite gerade das Buch Deutschland misshandelt seine Kinder der Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Gudda durch, die in ihrem Buch erschreckende  Fallbeispiele vorstellen und dabei – was sie in Interviews erklärt haben – noch eher die weniger grausamen Fälle ausgesucht haben, weil diese den Lesenden nur schwer zuzumuten seien...).
Die zitierte Passage erinnerte mich zwangsläufig an psychohistorische Texte, die sich z.B. auf die mittelalterlichen Erziehungspraktiken in Europa beziehen.

Dass Menschen, die sich mit dieser politischen Gewalt wie im Welt-Artikel berichtet, befassen, i.d.R. keinen Zusammenhang zur Kindesmisshandlung erkennen, beruht darauf, dass sich 1. viele Menschen nicht annäherungsweise vorstellen können, welch folterähnliche Erziehungspraktiken durch Eltern angewandt werden und dass weltweit Eltern oftmals die größte Gefahr für Kinder darstellen und dass 2. oft die Zahlen über das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder gänzlich  unbekannt und nicht bewusst sind.

Ein aktueller  Lagebericht bzgl. der Gewalt gegen Kinder in China zeigt, dass in China immer noch hohe Raten an Gewalt festzustellen sind und elterliche Gewalt auch weiterhin legal ist. Die Zahlen in China sind allerdings schon fortschrittlicher, als die, welche man z.B. im Nahen Osten finden kann. Die Gewaltexzesse in China um 1960 wurden von Geburtsjahrgängen (ca. 1900-1940) angeordnet und ausgeführt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit weit aus destruktivere Kindheiten durchmachen mussten, als die Kinder im heutigen China.

Zuletzt noch der Hinweis auf die Kindheit von Mao selbst, die ich ausführlich besprochen habe und die voller Gewalt und Demütigungen war: http://kriegsursachen.blogspot.de/2008/10/31-ein-kurzer-abriss-ber-diktatoren-und.html



Montag, 24. Februar 2014

Gewalt gegen Kinder in Deutschland in Zahlen. 1910 bis heute

- zuletzt aktualisiert am 18.09.2015 -


In diesem Beitrag möchte ich  alle bis heute von mir gefundenen Studien zusammenfassen, die sich mit dem Ausmaß an (vor allem körperlicher) Gewalt gegen Kinder in Deutschland befassen. Einige Studien geben auch Aufschluss über psychische Gewalt und Vernachlässigung. Den Bereich Sexueller Missbrauch werde ich noch einen Extrabeitrag widmen, da es dazu etliche Einzelstudien gibt (nur bei zwei Studien habe ich unten die Zahlen dazu mit angegeben).

Vorab werde ich die für mich eindrucksvollsten Zahlen kurz hintereinander aufführen: Die Entwicklung der Gewaltfreiheit (nur körperliche Gewalt) in der Erziehung  (Die lange Besprechung diverser Studien  folgt dann im Anschluss. ) Ich habe für diese Vorabansicht nur Studien aufgeführt, bei denen die Geburtsjahrgänge aufgeführt sind. Einzelne andere Studien werden erst in der Langfassung besprochen. Die nachstehenden Zahlen zeigen eindrucksvoll eine Revolution der deutschen Kindererziehung. Aus einer Minderheit von Kindern, die ohne körperliche Elterngewalt aufwachsen durften, ist mittlerweile eine Mehrheit geworden. Eine bahnbrechende Entwicklung, ohne historisches Beispiel in Deutschland!

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Vorab habe ich versucht, diese Entwicklung in einem Diagramm anschaulich darzustellen. Für das Diagramm habe ich die Daten von Hävernick (1970), Pipping, Abshagen & Brauneck (1954), Wetzels (1997) und Hellmann (2014) genutzt; die beiden letzen Studien sind direkt miteinander vergleichbar, die beiden Ersteren nicht, allerdings zeigen die beiden Ersteren als einzige deutsche Studien Daten zwischen 1910 und 1932 auf, deswegen habe ich sie aufgenommen:

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Links jeweils die Geburtsjahrgänge und
rechts die Prozent, die nie körperliche Elterngewalt als Kind erlebt haben:


Hävernick (1970) (nur Hamburg)
1910-1939 = 11 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt
ca. 1940-1950 = 15-20 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt

Pipping, Abshagen &  Brauneck (1954)
ca.1928 und 1932: Hoch angesetzte 20 % (vermutlich aber deutlich weniger) erlebten keine körperliche Elterngewalt (Schätzung, da in der Studie Mehrfachnennung vom Erleben unterschiedlicher Schweregrade möglich waren und nicht erfasst wurde, wie viel Befragte nie Gewalt erlebt haben)

Wetzels (1997)
1933-1942 = 22,9 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt
1943-1952 = 22,8 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt
1953-1962 = 23,1 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt
1963-1971 = 29,1 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt
1972-1976 = 30,5 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt

BMI und KFN (2009)
ca. 1992-1993 = 42,1 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt

Ziegler (2013)
1997-2007 = 72 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt

Weller (2013) (nur Ostdeutschland)

1971-1974 = 53 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt
1993-1996 = 77 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt

Hellmann (2014)
ca. 1971 - 1980 = 44,9 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt
ca. 1981 - 1990 = 53,6 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt
ca. 1991 - 1995 = 61,7  % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt
ca. 2007*          = ca. 78 % erlebten  keinerlei körperliche Elterngewalt

* Besonderheit bei Hellmann (2014): Innerhalb der großen Studie wurde eine Gruppe von 1.586 Befragten, die mit Kindern (eigenes, Pflegekinder etc.) unter 18 Jahren in einem Haushalt lebten, gesondert zu eigenem Gewaltverhalten gegen das eigene Kind befragt. Ca. 78 % hatten bis zum Zeitpunkt der Befragung noch nie körperliche Gewalt angewandt. Die Befragten waren im Schnitt  ca. 33 Jahre alt (Geburtsdatum im Schnitt ca. 1978). Da aktuell Frauen in Deutschland ihr erstes Kind im Schnitt im Alter von 29 Jahren bekommen, betrifft die o.g. Zahl von 78 % entsprechend die Kinder, die um das Jahr 2007 geboren worden sind. Entsprechend nehme ich dieses Geburtsdatum in die o.g. Aufzählung auf. Die Zahl ist  abgegrenzt zu sehen, da sie im Gegensatz zu den anderen o.g. Zahlen weder exakt ist, noch sich auf eigene Opfererfahrungen bezieht, sondern auf Angaben der Eltern beruht. Die Studien von Ziegler (2013) und Weller (2013) zeigen ergänzend, dass diese von Hellmann (2014) erfassten ca. 78% keine Luftnummer ist, sondern höchst wahrscheinlich in die richtige Richtung zeigt.


Eine weitere  Studie - Bussmann, Erthal und Schroth (2009) - möchte ich hier gesondert vorstellen, da hier nur Eltern zu eigenem Gewaltverhalten (körperlich und psychisch) aber auch eigenen Gewalterfahrungen befragt wurden. 
Eigenes erlebter gewaltfreier Erziehungsstil (Hinweis: Keinerlei körperliche Gewalt und keine psychischen Bestrafungen) der befragten Eltern nach Jahrgängen (in Klammern gewaltfreie Erziehung der eigenen Kinder):

Vor 1962 = 9,2 % (22,4%)
1962-1967 = 9,5 % (26,9 %)
1968-1973 = 13,2 % (31,6%)
1973-1978 = 13,3% (28,4 %)
ab 1979 = 14,1 % (35,3 %)


Zwischenfazit:
Dieser Positivtrend ist erfreulich und steht allen Schreckensmeldungen - vor allem in den Medien -  bzgl. einem angeblichem Mehr an Fehlverhalten und (elterlicher) Gewalt gegen Kinder entgegen.  Die Kindheit in Deutschland wird Stück für Stück immer gewaltfreier. Dies kann mensch einfach mal so stehen lassen und sich auch einmal – mit dem Blick auch den historischen Verlauf von Kindheit – freuen. Nach diesem Optimismus folgen jetzt in diesem Text die Zahlen zum Ausmaß und auch zur Schwere der Gewalt gegen Kinder in Deutschland im historischen Verlauf. Diese Zahlen sind natürlich erschreckend, trotz des Positivtrends.

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Die erste mir bekannte Studie, die zahlenmäßig versucht hat zu erfassen, wie viel Prozent der Deutschen als Kind körperliche Gewalt erfahren haben und dabei auch Geburtsjahrgänge bis hin in das Jahr 1910 erfasst hat, stammt von dem Volkskundler Walter Hävernick (1970). Diese Studie habe ich ausführlich hier besprochen.
Für die Geburtsjahrgänge 1910-1939 wurden Daten von 97 Hamburger Familien gesammelt.
11 % erlebten nie Schläge in ihrer Familie
89 % erlebten Schläge (davon 16 % mit einer Peitsche)
49 % erlebten Schläge mit dem Rohrstock

Weitere Befragungen ergaben für die Geburtsjahrgänge ca. 1940-1950, dass ca. 80-85 % elterliche Schläge erlebten. Der Einsatz von Gegenständen wie dem Rohrstock (ca. 30 %) und vor allem auch der Peitsche (deutlich unter 5 %) war bereits rückläufig.

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Pipping, Abshagen & Brauneck (1954) haben 444 junge Menschen im Alter zwischen 18 und 22 Jahren  der Geburtsjahrgängen zwischen ca.1928 und 1932 befragt. (Ausführlich von mir hier besprochen.)
„Schwere körperliche Züchtigungen“ erlebten 73,4 % der Befragten (Jungen erlebten dies deutlich mehr, nämlich ca. 85 % während Mädchen zu ca.62 % betroffen waren.)
„Leichte körperliche Züchtigungen“ erlebten 41,9 % der Befragten. Da Mehrfachnennungen möglich war (bzw. die Studie nicht ausgewiesen hat, wie viel Prozent keine körperliche Gewalt erlebt haben), gehe ich davon aus, dass mindestens 80 % körperliche Gewalt erlebt haben. .

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Eine bundesdeutsche Repräsentativstudie, die 1992 durchgeführt wurde, kam  zu folgenden Ergebnissen: 74,9 % der Befragten gaben an, in ihrer Kindheit  körperliche Gewalterfahrungen seitens ihrer Eltern erlebt zu haben. 38,4 % wurden häufiger als selten körperlich gezüchtigt. elterliche Misshandlungen erlebten 10,6 %, 4,7 % häufiger als selten. (Wetzels 1997, S. 146+151).

Wetzels hat innerhalb der Studie auch nachgewiesen, dass körperliche Elterngewalt abnimmt. Von den befragten 16- bis 20-Jährigen (Geburtsjahrgang 1972-1976) hatten 30,5 % nie Gewalt erlebt, von den 21-29-Jährigen (Jahrgang 1963-1971) 29,1 %, von den 30-39-Jährigen (Jahrgang 1953-1962) 23,1 %, von den 40-49-Jährigen (Jahrgang 1943-1952) 22,8 % und  von den 50- bis 59-Jährigen (Jahrgang 1933-1942) 22,9 % (Wetzels 1997, S. 151). Die Misshandlungsrate ist allerdings nicht derart deutlich gesunken. Von dem jüngstem Jahrgang 1972-1976 erlebten 9,4 % Misshandlungen, der älteste Jahrgang 1933-1942 11,2 % .

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Ein Vergleich zwischen drei großen Jugendstudien (jeweils 1992, 2002 und  2005) zeigt, dass ca. 30 % (jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 29,6 % und 32 %) der Jugendlichen gewaltfrei (keine körperliche Gewalt und keine psychischen Bestrafungen) erzogen wurden. Die große Mitte sind die konventionell erzogenen, die leichte körperliche Bestrafungen und andere Sanktionen erfahren haben und in deren Erziehung weitgehend auf schwere körperliche Gewalt verzichtet wurde (36,4 %, 51,2 % und 46,7 %). Eine gewaltbelastete Erziehung (diese Gruppe weist bei allen Sanktionsarten – inkl. psychischer Gewalt – eine überdurchschnittlich hohe Häufigkeit auf, insbesondere auch schwere Körperstrafen) erlebten jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 19,3 % und 21,3 % (Bussmann 2007, S. 18).

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Eine aktuellere repräsentative Schülerbefragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) ergab, dass 42,1 % der Befragten (Jahrgang ca. 1992-1993) über keinerlei gewalttätige, körperliche Übergriffe der Eltern berichteten. 42,7 % erlebten leichte körperliche Gewalt. Insgesamt 15,3 % der Befragten geben an, vor ihrem zwölften Lebensjahr schwerer Gewalt durch Elternteile ausgesetzt gewesen zu sein; von diesen können – laut Definition der Studie –9 % als Opfer elterlicher Misshandlung in der Kindheit bezeichnet werden (BMI und KFN 2009, S. 52).

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Für die „Gewaltstudie 2013“ – unter der Leitung des Bielefelder Erziehungswissenschaftlers Holger
Ziegler (2013)
- wurden 900 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 16 Jahren (entsprechend Geburtsjahrgänge ca. 1997-2007) aus Köln, Berlin und Dresden befragt.

Insgesamt 22,3% wurden von Erwachsenen oft oder manchmal geschlagen, also erleben 77,7 % keine Gewalt. Allerdings zeigt die Aufschlüsselung in „Kinder ab sechs Jahre“ (28 % wurden geschlagen) und „Jugendliche ab12 Jahren“ (16,6 % wurden geschlagen), dass die Rate bzgl. Gewalterfahrungen in der Kindheit höher liegt, Insofern kann festgehalten werden, dass 72 % der Kinder keine elterliche Gewalt erlebten. 

Knapp 5% gaben an, zumindest manchmal von Erwachsenen so geschlagen zu werden, dass sie blaue Flecke hatten. (was insofern als Misshandlung anzusehen ist.) Von diesen Erfahrungen berichten jüngere Kinder (bis 11 Jahre) etwas häufiger als Jugendliche (6,7% vs. 3,5%).. Insofern gehe ich hier von einer Misshandlungsrate von 6,7 % in der Kindheit aus. 

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Im Jahr 2012 - Weller (2013) - wurden 862 junge Menschen im Alter von 16 bis 19 Jahren (Geburtsjahrgänge 1993-1996) in Ostdeutschland repräsentativ befragt. Ergebnis u.a.: 77 % gaben an, noch nie von ihren Eltern geschlagen worden zu sein (23 % wurden demnach geschlagen). Interessant ist auch, dass die Daten mit denen der Studie "Partner 3" aus dem Jahr 1990 verglichen wurden.  1990 gaben nur 53 % an, nie geschlagen worden zu sein.
Während 1990 30% ihren Vater als uneingeschränkt liebevoll  erlebten, sind es jetzt 42%, hinsichtlich der Mutter sagten das 1990 53%, 2013 65% 

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Die Studie von Hellmann (2014) habe ich gesondert ausführlich besprochen:

- Aktuelle KFN Studie über Gewalt gegen Kinder in Deutschland: Auf dem Weg zur gewaltfreien Gesellschaft

Ergänzend habe ich von Frau Hellmann Daten bzgl. der Häufigkeit der Gewalthandlungen genannt bekommen. Diese habe ich gesondert und ausführlich besprochen:

- Wie häufig und in welchen Schweregraden erleben Kinder in Deutschland körperliche Elterngewalt?

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Ende 2007 - Bussmann, Erthal & Schroth (2009) -wurden 1000 Eltern, die mit mind. einem Kind/Jugendlichen unter 18 Jahren  zusammenleben, befragt. (Ich gehe davon aus, dass das Kind der Befragten mindestens 2 Jahre alt ist, insofern gelten hier die Geburtsjahrgänge 1990-2005. Ich vermute allerdings auch, dass eher Eltern mit etwas älteren Kindern befragt wurden, so dass sich die Geburtenjahrgänge eher weniger auf den Bereich um 2005 finden.) 

68,4 % berichteten über Schläge auf den Hintern, 42,6 % von einem leichten Schlag ins Gesicht,  16,8 % versohlten den Hintern, 12,7 % verteilten schallende Ohrfeigen, 5,2 % schlugen mit Gegenständen und 9 % misshandelten ihre Kinder. Es ist interessant, dass die Eltern von mehr leichter Gewalt berichten (bei der schweren Gewalt stimmen die Zahlen wieder ungefähr überein), als befragte junge Menschen über eigens erlittene Gewalt. Ich vermute daher, dass die Zahl von 68,4 % Schlägen auf den Po durch so einige Eltern entstanden ist, die sehr seltenes, vielleicht sogar einmaliges (leichtes) Gewaltverhalten gegen das Kind berichtet haben, was diese Kinder im Rückblick gar nicht mehr erinnern, weil die Erziehung ansonsten gewaltfrei war.

An dieser Studie ist besonders interessant, dass die Eltern in Geburtenjahrgänge aufgeteilt wurden und sie auch zu eigenen Gewalterfahrungen befragt wurden. In der Studie wurden zusätzlich zu der körperlichen Gewalt auch psychische Bestrafungsformen abgefragt. Anschließen wurden drei Kategorien für die Kindererziehungspraxis gebildet. Die gewaltfreie Erziehung, die konventionell Erzogenen und die gewaltvolle Erziehung. Für den Vergleich der Geburtenjahrgänge wurde jeweils nur die gewaltfreie Erziehung (ohne jegliche körperliche Gewalt und psychische Bestrafungen) der besonders gewaltvollen Erziehung (Psychische Bestrafungen und mehr als einmal schwere körperliche Gewalt wie Misshandlung, Schläge mit Gegenständen und schallende Ohrfeigen) gegenübergestellt. Die älteste Elterngeneration (Geburtsjahrgänge vor 1962) erlebte die meiste schwere Gewalt und übte ihrerseits auch den selben Erziehungsstil häufiger bei eigenen Kindern an, als die jüngere Generation.

Eigenes erlebter gewaltvoller Erziehungsstil der befragten Eltern nach Jahrgängen (in Klammern die selbe gewaltvolle Erziehung der eigenen Kinder):
Vor 1962 = 55,5 % (18,8 %). 1962-1967 = 54,6 % (14,5%). 1968-1973 = 45,1 % (8,2%), 1973-1978 = 45,2% (14,1 %), ab 1979 = 38,1 % (12,8%)

Eigenes erlebter gewaltfreier Erziehungsstil (ohne jegliche körperliche Gewalt und psychische Bestrafungen) der befragten Eltern nach Jahrgängen (in Klammern gewaltfreie Erziehung der eigenen Kinder:
Vor 1962 = 9,2 % (22,4%). 1962-1967 = 9,5 % (26,9 %). 1968-1973 = 13,2 % (31,6%), 1973-1978 = 13,3% (28,4 %), ab 1979 = 14,1 % (35,3 %)

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Für eine große Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurden 10.264 Frauen im Alter von 16 bis 85 Jahren 2003 bzgl. diversem Gewalterleben und belastenden Erfahrungen befragt. Merkwürdig ist, dass über elterliche Gewalt in der Hauptuntersuchung nur sehr im Text versteckt berichtet wurde und dieses Gewalterleben im Inhaltsverzeichnis gänzlich gar nicht zu finden ist, obwohl diese Gewalt Menschen wesentlich prägt. Ausführlich fand ich die Ergebnisse nur in einem abgetrennten Teil der Studie  - Schröttle & Müller  (2004), S. 78-81 -, für den Prostituierte gesondert befragt wurden. Deren Berichte über elterliche Gewalt wurden mit den Berichten aus der Hauptuntersuchung verglichen. Somit konnte ich folgende Daten aufnehmen, die repräsentativ für die deutsche Frauenbevölkerung sind:

18 % hatten in ihrer Kindheit körperliche Übergriffe zwischen den Eltern/Pflegeeltern  miterlebt.

63 % erlebten körperliche Züchtigungen  durch Eltern/Pflegepersonen, 20 % sogar häufig oder gelegentlich.

8% gaben an, sie seien häufig oder gelegentlich von den Erziehungspersonen lächerlich gemacht oder gedemütigt worden

10% sagten sie seien häufig oder gelegentlich so behandelt worden, dass es seelisch verletzend war

11%, sie seien häufig oder gelegentlich niedergebrüllt worden

17%, sie seien häufig oder gelegentlich leicht geohrfeigt worden

6%, sie hätten häufig oder gelegentlich schallende Ohrfeigen mit sichtbaren Striemen bekommen

20%, sie hätten häufig/gelegentlich einen strafenden Klaps auf den Po bekommen

10%, sie hätten häufig/gelegentlich mit der Hand kräftig den Po versohlt bekommen

3%, sie seien häufig/gelegentlich mit einem Gegenstand auf den Finger geschlagen worden

6 %, sie seien häufig/gelegentlich mit einem Gegenstand kräftig auf den Po geschlagen worden

5%, sie hätten häufig/gelegentlich heftige Prügel bekommen

Insgesamt berichteten 10  % über mindestens eine Form von sexuellem Missbrauch vor dem 16. Lebensjahr.

8% berichteten in ihrer Kindheit und Jugend durch eine erwachsene Person sexuell berührt oder an intimen Körperstellen angefasst worden zu sein

3% sind gezwungen  worden, die erwachsene Person an intimen Körperstellen zu berühren

1% sind  gezwungen worden, sich selbst an intimen Körperstellen zu berühren

2% wurden zum Geschlechtsverkehr gezwungen und ebenfalls 2% wurden zu anderen sexuellen Handlungen gedrängt oder gezwungen

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In Anlehnung an die vorgenannte Studie bzgl. der Frauengesundheit wurden für eine Pilotstudie - Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004) - 266 Männer  (die Studie ist somit nicht repräsentativ) im Jahr 2003 ausführlich befragt. Bzgl. dem Gewalterleben in Kindheit/Jugend ausgeübt durch Eltern/Elternfiguren wurden drei Altersgruppen gebildet: „18-35 Jahre“, „36 bis Ruhestand“ (also ca. bis zum 65. Lebensjahr) und „im Ruhestand“; insofern wurden die Geburtsjahrgänge „1968-1985“, „ca. 1938- 1967“ und „vor ca. 1937“ erfasst.

Es gibt dabei deutliche Unterschiede im (körperlichen) Gewalterleben der jüngsten Generation und den beiden älteren Gruppen. Wobei die älteste Gruppe wiederum über deutlich weniger Gewalt berichtet, als die mittlere. Dazu haben die Autoren der Studie u.a. geschrieben: „Es ist anzunehmen, dass die Nennungen jedoch um so mehr unter den realen Erlebnissen zurückbleiben, je mehr sie im historischen und milieuspezifischen Kontext als „übliches Erziehungsverhalten“ akzeptiert sind und damit in der „Normalität“ bzw. Alltäglichkeit verborgen sind.“ (S. 73) Sprich sie zweifeln die wahre Erfassung des Ausmaßes der Gewalt bzgl. den älteren Jahrgängen an. Vielleicht sollte noch erwähnt werden, dass die Teilnehmer per Interview befragt wurden und ältere Männer sich vielleicht besonders schwer damit tun, elterliche Gewalt gegenüber einem direkten Befrager auch als solche zu benennen.  

Hier nun die Ergebnisse (in Klammern jeweils die Geburtsjahrgänge „1968-1985“, „ca. 1938- 1967“ und „vor ca. 1937“

leicht geohrfeigt = 65,8 %, 77,8 %, 69,2 %

strafender Klaps auf den Po = 67,1 %, 77,8 %, 67,0 %

mit der Hand kräftig den Po versohlt = 25,0 %, 57,6  %, 41,8 %

mit Gegenstand  kräftig auf den Po geschlagen = 21,1 %, 43,4 %, 40,7 %

mit Gegenstand auf  die Finger geschlagen = 6,6 %, 24,2 %, 41,8 %

schallende Ohrfeigen mit sichtbaren  Striemen = 19,7 %, 36,4 %, 19,8 %

heftige Prügel = 10,5 %, 25,3 %, 19,8 %

lächerlich gemacht, gedemütigt = 52,6 %, 55,6 %, 33,0 %

niedergebrüllt = 52,6 %, 49,5 %, 29,7 %

so behandelt, dass es seelisch verletzend war = 40,8 %, 45,5 %, 25,3 %

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Eine weitere repräsentative Studie - Häuser, Schmutzer, Brähler & Glaesmer (2011) - befasst sich vornehmlich mit schwereren Gewalterfahrungen  (vor allem „körperliche Züchtigungen“ sind auf Grund der Fragestellungen nicht erfasst worden), die wiederum in die Kategorien „gering bis mäßig“, „mäßig bis schwer“ und „schwer bis extrem“ eingeteilt wurden. Die Studie wurde im April 2010 durchgeführt und es konnten die Daten 2.504 Personen (über 14 Jahre bis über 60 Jahre alt) ausgewertet werden.
Einige Ergebnisse: 

15,0 % der Personen der Gesamtstichprobe berichteten über emotionalen Missbrauch

12,0 % über körperlichen Missbrauch bzw. Misshandlungen

12,6 % über sexuellen Missbrauch

49,5 % über emotionale und 48,4 % über körperliche Vernachlässigung

1,6 % der Personen der Gesamtstichprobe berichteten über schweren emotionalen, 2,8 % über schweren körperlichen, 1,9 % über schweren sexuellen Missbrauch in Kindheit und Jugend. 6,6 % der Befragten gaben Auskunft über schwere emotionale und 10,8 % über schwere körperliche Vernachlässigung in Kindheit und Jugend.

31,8 % der Befragten berichteten über keine, 27,7 % über eine, 23,7 % über zwei, 8,3 % über drei, 4,6  % über vier und 3,7 % über fünf Formen des Missbrauchs.

85,5 % gaben keine, 8,9 % eine, 3,3 % zwei, 1,4 % drei, 0,8 % vier und 0,1 %  fünf schwere Formen des Missbrauchs an

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Schlussbemerkung

Im Grunde habe ich mein Anliegen bereits kurz in der Einleitung aufgezeigt. Mir geht es zum Einen darum, einmal alle erdenklichen Studien übersichtlich zusammenzufassen. Zum Anderen möchte ich deutlich machen, dass Gewalt gegen Kinder in Deutschland stetig rückläufig ist, dass sich dieser Trend seit den 1970er Jahren langsam zu beschleunigen scheint und dass wir ab den in den 1990er Jahren Geborenen sogar erstmalig in der deutschen Geschichte eine Kindergeneration aufwachsen sehen, die mehrheitlich keine körperliche Elterngewalt erlebt hat. (Die große Mehrheit der Kinder in Deutschland fühlt sich außerdem gut bis sehr gut, was eine Umfrage aus dem Jahr 2011 zeigte) Dieser stetigen und fast stillen Revolution wird viel zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht. (Dies bedeutet übrigens logischer Weise nicht nur ein Weniger von kindlichen Opfererfahrungen, sondern auch, dass wir immer weniger TäterInnen im Land haben.)

Es bleibt mir noch der Hinweis auf weitere aufschlussreiche Quellen. Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat die deutsche Kindheit um 1900 an Hand etlicher historischer Quellen als einen "Alptraum von Mord, Vernachlässigung, prügeln und Folter von unschuldigen, hilflosen menschlichen Wesen" bezeichnet. (deMause 2005; S. 140) Der Autor reiht in seinem Buch auf elf Seiten (deMause 2005, S. 140–150) einen erschütternden Bericht über den damaligen destruktiven Umgang mit deutschen Kindern an den anderen. Auch online gibt es Artikel von ihm, die diese damalige deutsche Kindheit beschreiben (und diese in einem starken ursächlichen Zusammenhang zu den kriegerischen Entwicklungen Anfang des 20. Jahrhunderts sehen.): "The Childhood Origins of the Holocaust" (2005) und "The Childhood Origins of World War II and the Holocaust" (Kapitel 6 des Online-Buches "The Origins of War in Child Abuse" veröffentlicht auch in mehreren Ausgaben des Journal of Psychihistory)
Die Geschichte der Kindheit reicht natürlich - auch für Deutschland - Jahrtausende zurück. Vor allem die Psychohistorie hat sich damit befasst. Demnach ist der "Alptraum" Kindheit in Deutschland um 1900 schon Teil eines stetigen psychoevolutionären Prozesses. Es gilt der Satz:  "Je weiter man in der Geschichte zurück geht, desto mehr sinkt das Niveau der Kindererziehung.“ (deMause 2005, S. 269)



Quellen

BMI – Bundesministerium des Inneren & KFN – Kriminologisches For-schungsinstitut Niedersachsen (2009). Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN. Hannover.

Bussmann, K.-D. (2007). Report über die Auswirkungen des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Bundesministerium der Justiz  (Hrsg.)

Bussmann, K.-D., Erthal, C., & Schroth, A. (2009). The Effect of Banning Corporal Punishment in Europe: A Five-Nation Comparison. Halle-Wittenberg: Martin-Luther-Universität.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004). Gewalt gegen Männer in Deutschland. Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland. Pilotstudie.

deMause, Lloyd. (2005). Das emotionale Leben der Nationen. Klagenfurt, Celovec: Drava Verlag.

Häuser, Winfried; Schmutzer, Gabriele; Brähler, Elmar; Glaesmer, Heide (2011).  Misshandlungen in Kindheit und Jugend: Ergebnisse einer Umfrage in einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung. In: Deutsches Ärzteblatt, Jahrgang 108, Heft 17.

Hävernick, Walter (1970). „Schläge“ als Strafe. Ein Bestandteil der heutigen Familiensitte in volkskundlicher Sicht. Museum für Hamburgische Geschichte. Hamburg.

Hellmann, D. F. (2014): Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. (Forschungsbericht Nr. 122). Hannover: KFN

Pipping, Knut, Abshagen, Rudolf , Brauneck, Anne-Eva (1954): Gespräche mit der Deutschen Jugend. Ein Beitrag zum Autoritätsproblem. Helsingfords.

Schröttle, M. , Müller, U. (2004). II. Teilpopulationen – Erhebung bei Prostituierten.  „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (Hrsg.).

Weller, Konrad (Hrsg.) (2013). PARTNER 4 Sexualität & Partnerschaft ostdeutscher Jugendlicher im historischen Vergleich. Merseburg.

Wetzels, Peter (1997). Gewalterfahrungen in der Kindheit – Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und deren langfristige Konsequenzen. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.

Ziegler, Holger (2013). Gewaltstudie 2013:  Gewalt- und Missachtungserfahrungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Universität Bielefeld.

Montag, 10. Februar 2014

Traumafolgekostenstudie: Was kostet (schwere) Kindesmisshandlung im Jahr? Antwort: 11 Milliarden Euro, mindestens!

Erst jetzt habe ich die Studie Habetha, S., Bleich, S.,  Sievers, C. Marschall, U., Weidenhammer, J., Fegert, J. M. (2012). Deutsche Traumafolgekostenstudie. Kein Kind mehr – kein(e) Trauma(kosten) mehr? Kiel: Schmidt & Klaunig. entdeckt.

Die Studie fragt vereinfacht gesagt: Was für Kosten entstehen durch Traumatisierungen in Kindheit und Jugend in Deutschland?

So weit ich gesehen habe wurden folgende Kosten aufgenommen.
Gesundheitsleistungen (Logopädie, ambulante psychotherapeutische Behandlung), sozialen Dienstleistungen (Erziehungsberatung, Sozialpädagogische Familienhilfe, Soziales Training, Kontinuierliche spielpädagogische Einzelförderung), Bildungsleistungen (Berufsvorbereitung, Ausbildungsförderung) und Produktivitätsverlusten (geringe berufliche Qualifikation, Arbeitslosigkeit).

Ausgehend von den in der Literatur verfügbaren Anhaltspunkten (bzw. vor allem unter Bezug auf eine Studie, die ich hier besprochen  habe.) wird von 7,8 Millionen in Deutschland von Kindesmisshandlung/-missbrauch bzw. Vernachlässigung in der Ausprägung „schwer/extrem“ Betroffenen ausgegangen. Nur ein Anteil von 21% wurde – aus in der Studie erläuterten Gründen -  für die Herleitung der Kosten mit einbezogen. Das  sind dann ca. 1,6 Millionen Menschen, welche die Traumafolgekosten für Gesamtdeutschland ausmachen. Dies ist eine sehr vorsichtige und sehr konservativ angesetzte Zahl, was die AutorInnen auch betonen. Es ergibt sich entsprechend jedes Jahr ein Betrag von 11,0 Mrd. Euro, der durch die Folgen von (schwerer) Kindesmisshandlung/-missbrauch und Vernachlässigung für die deutsche Gesellschaft anfällt!

Diese Zahl muss Mensch erst einmal sacken lassen. Vor allem auch, wenn Mensch von dieser Summe ausgehend weiterrechnet. Denn jeder, der sich mit der Thematik befasst, weiß, dass diese 1,6 Mio schwer misshandelte Menschen eine absolute Untergrenze darstellen, da auch viele mittelschwere Fälle durchaus mit Traumafolgen zu kämpfen haben und die herausgerechneten 6,2 Mio schwer Misshandelten natürlich an anderer Stelle auch Kosten produzieren werden, die hier nicht erfasst wurden. Zudem wird sich jeder mit der Thematik befasster Mensch klar sein, dass die oben aufgeführten Kosten nur ein Teilpaket des Ganzen sind. Sofern z.B. nur rein an Kriminalität (als Folge von Misshandlungserfahrungen) gedacht wird, werden ganz andere Kostendimensionen aufgeschlagen. Kindesmisshandlung kommt der Gesellschaft teuer zu stehen. Es ist ein menschliches Gebot, aber auch ein ökonomisches und erst recht ein politisches, Kinder vor Gewalt zu schützen. Die oben besprochene Studie wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Auftrag gegeben. Insofern ist – hoffentlich – zu erwarten, dass sich die Politik ihrer Aufgabe bewusst wird und dass das mit den „hohen Kosten für Kinderschutz“ gleich wieder vergessen werden kann. Denn Kinderschutz lohnt sich, auch finanziell.



Freitag, 7. Februar 2014

Schweizer Kampagne gegen Ausländer als destruktive Gruppenfantasie

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) hat kürzlich eine Volksinitiative „gegen Masseneinwanderung“ gestartet. In zwei Tagen findet die Abstimmung statt.
Für mich besonders erschreckend ist das Plakat, mit dem die Partei ihre Kampagne in der Öffentlichkeit bewirbt. Zu sehen ist ein Baum, dessen Wurzelen krakenähnlich die Schweiz umschlingen und diese langsam zerstören. „Die Schweiz im Würgegriff der durch die heutige Form der Personenfreizügigkeit nicht mehr kontrollierbaren Zuwanderung.“, ist dann auch auf den Seiten der Partei in einer Pressemitteilung in Bezug zu diesem Plakat zu lesen. „Die Folgen der masslosen Zuwanderung sind täglich spür- und erlebbar: zunehmende Arbeitslosigkeit (Erwerbslosenquote von 8,5% unter den Ausländern), überfüllte Züge, verstopfte Strassen, steigende Mieten und Bodenpreise, Verlust von wertvollem Kulturland durch Verbauung der Landschaft, Lohndruck, Ausländerkriminalität, Asylmissbrauch, Kulturwandel in den Führungsetagen und belastend hohe Ausländeranteile in der Fürsorge und in anderen Sozialwerken.“, ließt man weiter etwas sprachlos über diese platten Parolen einer gewichtigen politischen Partei in der Schweiz.
SPIEGEL-Online
kommentierte das Plakat u.a. so: „Die Schweiz geht kaputt, weil sie vor Wachstum strotzt.“ Lloyd deMause nennt solche Prozesse „Wachstumspanik“, etwas, das viel mit der Kindheit zu tun hat, weil gesellschaftliches Wachstum traumatische Kindheitserinnerungen triggern kann.

Es geht zudem um die Angst vor Identitätsverlust, was die Kampagne deutlich zeigt. Menschen, die selbst eine unsichere Idenität haben, weil sie sich als Kind nicht entfalten (nicht wachsen) durften, sondern gedemütigt und mit Gewalt erzogen wurden, werden sich von einer solchen Angstkampagne vermutlich besonders angesprochen fühlen.  Ich habe in einem Beitrag deutlich gemacht, dass bildliche Darstellungen von Bedrohungen in Form von krakenähnlichen Wesen sehr viel mit destruktiven Kindheiten zu tun haben. Die aktuelle Schweizer Kampagne ist durchzogen von Ängsten vor Identitätsauflösung, Fremdenfeindlichkeit und Angst vor Wachstum und Veränderungen. Hier scheinen sehr gewichtige emotionale Prozesse am Werk zu sein. Destruktive Kindheiten scheinen auch mitten in Europa weiterhin stark zu wirken.

Dienstag, 4. Februar 2014

Neue Studie: Gewalt gegen Kinder in Tansania

Eine neue Studie bestätigt erneut das hohe Ausmaß an Gewalt gegen Kinder in Afrika:
Hecker, T., Hermenau, K., Isele, D., & Elbert, T. (2013). Corporal punishment and children’s externalizing problems: A cross-sectional study of Tanzanian primary school students. Child Abuse and Neglect. doi: 10.1016/j.chiabu.2013.11.007.

409 Schulkinder wurden befragt. 95 % wurden mindestens einmal in ihrem Leben von einer Lehrkraft geschlagen. Ebenfalls 95 % berichteten über körperliche Gewalt durch Eltern oder Pflegepersonen. Die Mehrheit der Kinder, 82 %, wurde mit Stöcken, Gürteln oder anderen Gegenständen geschlagen. Fast ein Viertel der Kinder (24 %) wurde derart schwer geschlagen, dass sie Verletzungen davontrugen.

Zudem stellte die Studie signifikante Zusammenhänge zwischen Gewalterfahrungen und eigenem aggressivem Verhalten, Verhaltensstörungen und Hyperaktivität fest.  Entsprechend korrelierte prosoziales Verhalten negativ mit Gewalterfahrungen.


Quelle für die Zahlen siehe online auch hier: "TANZANIA: Study Shows Corporal Punishment Doesn't Improve Child's Behaviour"

Siehe ergänzend auch: Gewalt gegen Kinder in Tansania

Donnerstag, 16. Januar 2014

Gewaltvolle Kindheiten von Helmut Schmidt, Sigmar Gabriel, den Klitschkos und Arnold Schwarzenegger.

In der ARD-Dokumentation „Helmut Schmidt. Lebensfragen“ (am 23.12.2013 gesendet) hat der Altkanzler im hohen Alter Rede und Antwort über sein Leben gestanden. Dabei sagte er auch ein wenig etwas über seine Kindheit. (onine derzeit noch auf youtube)

Meine Verbindung mit den Eltern war damals nicht sonderlich eng.“, so Schmidt im Laufe der Doku.  (Was somit auch die Mutter einschließt, über die Schmidt in der Doku wenig berichtet.) Die Sendung beginnt gleich zu Anfang mit einer Szene zwischen Vater und Sohn. Der Vater will Helmut Fahrradfahren beibringen. Dabei ist er sehr streng,  nimmt keine Rücksicht auf Verletzungen durch einen Sturz und sagt zu dem verletzten am Boden liegenden Helmut „Was sagen wir da, was sagen wir? Da lach ich drüber! Aufstehen und weiter!
Seinen Vater beschreibt Schmidt so (und über sich selbst spricht er dabei in der dritten Person): „Abweisend, kühl, Schmusereien hat es nicht gegeben zwischen ihm und seinen beiden Söhnen.“
Nach der Frage des Interviewers, ob Schmidt sich an klassische Kinderängste erinnern könne, antwortet er zunächst mit einem bestimmten „Nein“. Der Interviewer hakt nach und zählt einige mögliche Ängste auf, am Ende auch Zornesausbrüche des Vaters. Schmidt hält kurz inne. „Bisweilen hatte ich Angst vor meinem Vater, vor den Prügeln, die ich kriegte.“ Der 1918 geborene Helmut Schmidt hatte allem Anschein nach eine damals  klassische deutsche Kindheit, was einen autoritären Erziehungsstil bedeutete.

Für mich war zudem auch aufschlussreich, was über die Kriegsjahre berichtete wurde. Nach der Frage, warum er sich Freiwillig für Einsatz zur Ostfront gemeldet hatte, antwortetet Schmidt, dass er nicht „als Feigling durch die Gegend laufen“ wollte, „Alle jungen Soldaten hatten inzwischen das Eiserne Kreuz  (…) und ich hatte das nicht, das war das ganze Motiv.“ Er äußert er sich anschließend  auch kurz selbstkritisch über seine damalige Verrücktheit.
Auf Nachfrage gibt Schmidt sofort zu, dass er Menschen im Krieg getötet hat, diese habe er aber nicht gesehen. Er habe Flugzeuge abgeschossen und Dörfer in Brand geschossen.  „Man hat den Feind selber kaum gesehen, man hat ihn nur geahnt.“  „Wenn man Dörfer in Brand geschossen hat, wusste man dann auch, dass Frauen und Kinder sterben würden.?“ fragt der Interviewer. Schmidt: „Das war einem nicht bewusst. Im Kriege ist in vielen Situationen das eigene Denken ausgeschaltet.
Ich will mir hier kein Urteil über Schmidt und dessen Taten im Krieg erlauben. Mir geht es um etwas anderes. Schmidt ist ein vielschichtiger Mensch, ein hochintelligenter Mann und ein echter Demokrat. In diesem Blog bin ich schon mal durch einen Leser aufgefordert worden, mich auch mit den Lebenswegen von (politischen)  Menschen zu befassen, die keine glückliche Kindheit hatten und trotzdem politisch konstruktiv (oder zumindest nicht zerstörerisch/kriegerisch) handelten. Ich denke, dass für einen solchen Lebensweg Helmut Schmidt ein gutes Beispiel ist, zumindest nach 1945.
Ich weiß nicht, wie es anderen Menschen geht, wenn sie Helmut Schmidt sehen und hören. Ich persönlich schätze sein weitschichtiges Denken und seine klare Sprache. Außerdem fährt er eine klare Linie und steht zu dem, was er denkt. Und er hat auch eine gewisse und sehr feste Moral, so scheint es mir. Aber mir fällt auch immer wieder auf, wie er sich emotionale Regungen verbietet, wie er diese zurückhält. Irgendetwas fehlt, denke ich immer, wenn ich ihn reden hören. Man ahnt immer, dass er emotional dabei ist, aber man sieht es nicht. Diese fehlende Emotionalität ist sicher zu einem nicht unwesentlichen Teil das Resultat von elterlicher Gewalt und der Distanz zum Kind, die Schmidt beschrieb, wie auch ergänzend den Kriegserfahrungen.  Zudem ist auch sein Kettenrauchen eine mögliche klassische Folge von solch traumatischen Erfahrungen.

Helmut Schmidt ging im Nachkriegsdeutschland demokratische Wege und verdient sicherlich für vieles Respekt.  Aber trotzdem erfüllt sein Handeln und Denken während der Kriegsjahre Grundannahmen dieses Blogs. Als junger Mensch wollte er freiwillig ganz Vorne an der Front dabei sein. Ihm fehlte ganz offensichtlich die emotionale Vorstellungskraft dafür, was Krieg bedeutet.  Diese emotionale Lücke ist eine klassische Folge von destruktiver Erziehung.

Kein Mensch geht ohne Folgen aus einer lieblosen Kindheit heraus. Gerade auch direkte elterliche Gewalt, die Schmidt erfuhr, hat immer Auswirkungen auf das Leben des heranwachsenden Menschen. Diese Folgen können wir, denke ich, auch bei Helmut Schmidt sehen. Wir sehen aber auch, dass Menschen immer Individuen sind und dass sie ihren Lebensweg je nach Möglichkeiten mitgestalten. Gewalterfahrungen in der Kindheit führen nicht automatisch zu  einem politisch (oder sonstigen) verbrecherischen Verhalten, das die entsprechende Persönlichkeit lebenslang durchzieht. Helmut Schmidt hat viel für Deutschland und die demokratischen Entwicklungen im Lande getan. Politisch war er alles andere als eine Gefahr für den Frieden oder die Demokratie. 

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Ein weiterer Politiker und dessen Kindheit machte vor kurzem Schlagzeilen: Sigmar Gabriel (derzeit Vizekanzler).

Als Sigmar drei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern und er musste gegen seinen Willen bei seinem Vater bleiben, einem überzeugten Nazi, der seinen Sohn oft verprügelte und ihn mit diversen Sanktionen und Strafen überzog. Beispielsweise verschenkte der Vater Sigmars gesamtes Spielzeug, nachdem der Sohn mit schlechten Noten nach Hause gekommen war. Erst als Sigmar 10 Jahre alt war, erstritt seine Mutter erfolgreich das Sorgerecht und Sigmar fühlte sich von ihr gerettet. (Allerdings entführte der Vater den Sohn zunächst und zwang diesen, seiner Mutter am Telefon zu sagen, er wolle beim Vater bleiben) Als Heranwachsender klaute Sigmar und zerstach Reifen, seine Mutter brachte ihn mit großer Mühe wieder in die richtige Bahn.  (verwendete Quellen Bild, 10.01.2013, "SPD-Chef Sigmar Gabriel. Die Geschichte seiner schweren Kindheit" und Tagesspiegel, 11.01.2013, "Mein Vater, der Nazi") Und auch an anderer Stelle werden die Folgen der Misshandlung sichtbar. Der Focus schreibt: „Der Sozialdemokrat hat seine Vergangenheit bewältigt, eines jedoch kann er nicht abschütteln – seinen Jähzorn, den ihm laut „Zeit“ auch enge Freunde nachsagen.“
Sigmar Gabriel war als Kleinkrimineller durchaus gefährdet, weiter abzurutschen und ganz andere Wege zu gehen. Er hatte das Glück, eine Mutter zu haben, die ihm half.

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Vitali Klitschko hat sich nach seinem Rückzug aus dem Boxsport stark politisch in der Ukraine engagiert und ist dort derzeit ein wichtiger Oppositionspolitiker.  Sein Bruder Wladimir Klitschko berichtete einst in einem Interview über seine Kindheit: „Als ich mal was ganz Schlimmes getan hatte, wusste ich, dass mir der Po versohlt wird. Also dachte ich: Wenn der Vater abends kommt, wird es hart. Aber ich dachte auch: Wenn die Mutter das schon geklärt hat, wird Vater gnädig sein. Dann habe ich den Gürtel aus einer Hose meines Vaters genommen und bin damit zur Mutter gegangen. Ich sagte ihr, dass ich etwas Schlimmes gemacht habe, und dass es nicht richtig war. Ich gab ihr den Gürtel in die Hand, guckte in ihre Augen und sagte: So, und jetzt schlag zu. Und dann habe ich ihr noch mit Tränen in den Augen gesagt: Komm, schlag! Mach es! Und dann ist unsere Mutter eingeknickt.“ (Tagesspiegel Online, 15.06.2011, "Politik ist ein Kampf ohne Regeln" ) Dieses Beispiel bracht er beiläufig, um zu erklären, wie er seine Mutter zum Mitwirken an den Dreharbeiten für den Film „Die Klitschkos“ überzeugen konnte. Die Interviewer gingen darauf nicht weiter ein. Mit dem Gürtel durch den Vater verprügelt zu werden, ist schwere körperliche Gewalt, ähnliches hat ganz sicher auch Vitali erlebt, der seinem Bruder auch nicht ins Wort fiel.
Die Klitschko Brüder haben beide einen Weg gewählt, um legal und in einem sportlichen Rahmen Gewalt auszuüben. Beide haben sich dabei eine sehr traditionelle Männlichkeit gebastelt, bei der Stärke und Dominanz zählt und Schwäche oder gar Ohnmacht nicht erwünscht ist. Wie Vitali sich politisch entwickelt, ist bisher nicht eindeutig vorhersehbar. Beide Brüder stehen eindeutig nicht für Gewalt (außerhalb des Ringes) und politischen Wahn.

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Arnold Schwarzenegger – berühmter Schauspieler, Bodybuilder und ehemaliger Gouverneur -  von Kalifornien berichtete über seine Kindheit in Österreich erschütterndes:  „„Ich wurde an den Haaren gezogen. Ich wurde mit einem Gürtel verprügelt. (…) Damals wurde der Willen von vielen Kindern gebrochen. Das war die österreichisch-deutsche Mentalität.“ Immer, wenn er geschlagen worden sei, so im Artikel weiter, habe er sich gesagt: „Hier bleibe ich nicht mehr lange. Ich will hier weg. Ich will reich sein. Ich will jemand werden.“ (schwaebische.de, 05.08.2004, "Arnold Schwarzenegger spricht über Prügel-Vater")
Auch bei Schwarzenegger kann man – so meine Wahrnehmung – deutlich die Folgen der Kindesmisshandlung sehen.  Er bastelte sich eine harte und männliche körperliche Hülle und trat auf der Leinwand als gewaltvoller Actionheld auf, eine legale Art, Gewalt zu inszenieren. Als Gouverneur war er sehr umstritten, u.a.  weil er für die Todesstrafe stand und Gnadengesuche ablehnte.

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Alle vier vorgestellten Politiker sind sehr unterschiedliche Menschen und gingen sehr individuelle Wege.  Alle vier stehen im ersten Moment, wo man sich mit ihnen befasst, nicht für Gewalttäter oder gar politischen Wahn. Trotzdem lassen sich bei allen deutliche Folgen der Kindheitserfahrungen erkennen, bei jedem auf seine Weise und auch in unterschiedlichen Lebensabschnitten. (Um über weitere mögliche Folgen etwas sagen zu können, müsste man diese Menschen näher kennen.)  

Kindesmisshandlung hat immer (destruktive) Folgen, die sich von Mensch zu Mensch unterschiedlich gestalten.  Die Folgen hängen dabei vor allem auch von dem Ausmaß und dem erlitten „Gewaltmix“ ab.  Die unterschiedlichen Ausformungen und Ausdrucksformen dieser Folgen sind ein wichtiger Grund dafür, warum stets argumentiert wird, dass die meisten Menschen, die als Kind misshandelt wurden, nicht zu Amokläufern, Massenmördern oder Gewalttätern werden. Auf Grund dieser  Feststellung wird dann routinemäßig angezweifelt, dass die Kindheit von Gewalttätern eine bedeutsame Rolle spielt.  Das Ausblenden der komplexen Folgen von Kindesmisshandlung und der Komplexität von menschlichen Lebenswegen ist etwas, dem ich demnächst einen eigenen Beitrag widmen werde.

Noch ein Nachgedanke: Eines ist bisher unbeantwortet. Entsprechen die Kindheiten von PolitikerInnen denen der Normalbevölkerung (was in vielen Teil der Welt auch heute noch bedeutet, dass die Mehrheit der politschen Klasse als Kind Gewalt erfuhr) oder gibt es Unterschiede, vielleicht sogar in der Hinsicht, dass einst ungeliebte Kinder besonders häufig nach politischer Macht streben? Aussagenkräftige Befragungen von Parlamentsangehörigen in diesem Sinne sind mir bisher nicht bekannt, aber vielleicht kommt ja mal ein Forschender darauf, dahingehend eine Befragung durchzuführen.  

Montag, 13. Januar 2014

Ehrenpreis für Woody Allen als Zeichen für Täteridentifikation

Woody Allen wurde der diesjährige Golden-Globe-Ehrenpreis für sein Lebenswerk verliehen. Diese Nachricht ließ mich heute Morgen - als ich sie im Radio hörte – kurz zusammenzucken.

Missbrauchsvorwürfe gegen Allen gibt es schon seit Jahren. Aber gerade Ende letzten Jahres machte seine Adoptivtochter Dylan Schlagzeilen, weil sie über ihre Kindheitserinnerungen und den erlittenen Missbrauch durch ihren Stiefvater berichtete. Ebenso wurde öffentlich, dass auch weitere Kinder von Allen den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen haben. „Der jetzt 39-jährige Sohn Fletcher Previn (…) nahm sich sogar die Zeit, um aus jedem Familienfoto Allen mit Photoshop zu entfernen. Auch die Videos seien bearbeitet worden: `Wir können sie uns anschauen und das Gute sehen, ohne an das Böse erinnert zu werden`, erklärte er.“, berichtet die WELT.
Einen sehr deutlichen und hintergründigen Artikel findet man auch bei EMMA.

Für Allens Kinder ist es sicher nichts Neues, dass ihr Vater gesellschaftlich hoch geschätzt und geehrt wird. Der Golden-Globe-Ehrenpreis kommt zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt, kurz nach den Enthüllungen durch Dylan. Dieser Preis unterstreicht somit ganz besonders, dass sich viele Menschen lieber mit dem Aggressor identifizieren, als den Wahrheiten ins Gesicht zu schauen. Das ist etwas, was nicht nur im Fall Allen gesellschaftlich wie auch politisch relevant ist. Das „mit dem Täter identifiziert sein“ und „das Opfer nicht sehen wollen“ ist ein Grundproblem vieler Gesellschaften. Dieses Problem ist wiederum eine Folge der weit verbreiteten Gewalt gegen Kinder.

Montag, 6. Januar 2014

Aage Borchgrevink: "A Norwegian Tragedy". Ein Lehrstück über die tieferen Ursachen von Terror.

 
"Violence is the mother of change."

(Anders Behring Breivik in seinem "Manifest")


Das Buch des Autors Aage Borchgrevink über das Massaker von Utøya und Anders Breivik ist Ende letzten Jahres auch in englisch unter dem Titel „A Norwegian Tragedy. Anders Behring Breivik and the Massacre on Utøya“ im Polity Verlag, Cambridge (UK) / Malden (USA) erschienen. Die erste Veröffentlichung war in norwegischer Sprache im Jahr 2012 (Ich selbst konnte bisher das Buch nur indirekt an Hand eines Medienartikels besprechen, was sich jetzt dank der englischen Übersetzung ändert.)
Seit dem ist einige Zeit vergangen und man möchte meinen, dass die deutsche Presse zumindest nach der englischen Veröffentlichung das in Norwegen mit dem "Kritikerpreis" ausgezeichnete Buch ausführlich bespricht. Aber fehl gedacht. Online hat einzig die Bild unter dem gewohnt reißerischen Titel „Der Hass kommt von der Mutter“ einigermaßen ausführlich berichtet. Außerdem gibt es noch einen kurzen Bericht unter shortnews.  Das war es.

Ich bin insofern hoch motiviert, das deutschsprachige Internet um die wesentlichen Rechercheergebnisse des Autors zu bereichern. Der Fall Breivik ist einzigartig und ein Lehrstück für die Gewaltforschung, da dieser Massenmörder im Alter von knapp vier Jahren Anfang 1983 - nachdem seine Mutter, Wenche Behring, das „State Centre for Child an Youth Psychiatry“ (SSBU) erneut um Hilfe ersucht hatte – zusammen mit seiner Mutter drei Wochen lang stationär aufgenommen und von einen Fach-Team bestehend aus ganzen acht Personen beobachtetet und analysiert wurde.

Bereits Mitte 1981 hatte Breiviks Mutter das Sozialamt um Hilfe mit ihrem ca. 2 ½ Jahre alten Sohn gebeten, da sie überfordert war und ihren kleinen Sohn als ruhelos, gewalttätig und voller Eigenarten empfand. Anders wurde daraufhin für einige Zeit an den Wochenenden fremduntergebracht, bis die Mutter dies wieder auflöste. Mit ihrer Tochter dagegen war Wenche eng verbunden, attackierte aber ihren Sohn. (S. 28+29) Bereits während der Schwangerschaft wollte die Mutter Anders abtreiben, da sich bereits Probleme in ihrer Partnerschaft abzeichneten, sie verpasste aber den Stichtag. (S. 262) Während der Schwangerschaft empfand sie den Fötus bereits als schwieriges Kind, das rastlos war und sie trat. (Anmerkung: Sichwort "Fötales Drama" nach Lloyd deMause) Nach 10 Monaten Stillzeit stoppte sie diese, weil sie meinte, das starke und aggressive Saugen würde sie zerstören. (S. 262)

Der SSBU Bericht zeigte weiterhin folgendes:
Der vier Jahre alte Enders Breivik wusste in einem Spielzimmer nichts mit Spielsachen anzufangen, im Spiel mit anderen Kindern fehlte ihm Vorstellungskraft und Empathie und er konnte seine Gefühle nicht ausdrücken. (S. 29) 
Seine Mutter pflegte eine doppelte Kommunikation mit ihrem Sohn, stieß ihn von sich weg und zog ihn hinterher wieder eng an sich heran. Dies ging soweit, dass sie ihrem Sohn sagte, sie wünschte, er wäre tot und einem Mitarbeiter der Sozialbehörde ebenfalls sagte, dass sie ihren kleinen Sohn loswerden wolle, was auch immer sie damit meinte. Die Mutter dachte in schwarz und weiß, sah alles als Fehler Anderer, konnte nicht über sich selbst reflektieren, konnte ihrem Sohn keine deutlichen Grenzen setzen, ließ diesen oft alleine zu Hause, konnte nicht mit ihm umgehen, fühlte sich durch ihn provoziert  usw. (S. 28+31+32+259+263) Aage Borchgrevink kommentiert all dies mit dem Begriff „Emotionale Misshandlung“ (S. 31) und stellt dem Gutachten folgend die Vermutung in den Raum, dass Wenche Behring an einer Borderline Persönlichkeitsstörung leidet. (S. 33) Sie selbst war als Kind schwer belastet. Ihr Vater verstarb früh, sie selbst erlebte emotionale und körperliche Misshandlung und eine sehr gestörte Mutter-Tochter-Beziehung. (S. 264) Außerdem musste sie einige Jahre in einem Kinderheim verbringen. (S. 265)
Borchgrevink fasst noch mal die gestörte Mutter-Sohn-Beziehung zusammen: „Together, Anders and his mother wandered arround like aliens on Earth, visitors from another planet who could not understand what they should feel or what they should do in the playroom. They were united in a deeply ambivalent relationship, occasionally escaping restlessly to seek confirmation from the outside world, but always finding their way back to each other.” (S. 34)
Diese ambivalente oder auch symbiotische Beziehung beinhaltete auch, dass Anders durch seine Mutter sexualisiert wurde bzw. sie – dem Bericht des SSBU folgend – ihre "paranoiden aggressiven und sexualisierten Ängste vor Männern auf ihren Sohn projizierte." (S. 259+260; eigene Übersetzung) Sexueller Missbrauch konnte nicht nachgewiesen werden, steht aber im Raum. Borchgrevink zitiert dabei auch einen Medienbericht, der sich auf zwei unterschiedliche Quellen bezieht, die beide sexuellen Missbrauch nahelegen. (S. 256)
Wenche Behring berichtete den Mitarbeitern des SSBU auch, dass sie ihren Sohn schlug und er dann rief: „Es tut nicht weh, es tut nicht weh.“  (S. 262) Das Ausmaß der körperlichen Gewalt ist nicht belegt. Ich selbst vermute aber, dass das Kind sich schon früh emotional abschalten musste, um in dieser allgemeinen Atmosphäre der Gewalt und Vernachlässigung zu überleben. Ein solches Kind kann dann in der Tat keinen Schmerz mehr empfinden.

Das Team des SSBU war nach der Begutachtung der Familie extrem beunruhigt, machte sich Sorgen um mögliche ernsthafte psychische Folgen für Anders und forderte, dass der Junge von seiner Mutter getrennt werden müsse, etwas, das zur damaligen Zeit in Norwegen nur in extrem schwierigen Fällen gefordert wurde. (S. 26+27+32)
Nachdem Anders - von der Familie getrennt lebender - Vater sorgenvolle Warnmeldungen durch Nachbarn und auch den Bericht des SSBU erhalten hatte, wollte er gerichtlich das Sorgerecht erstreiten. Dies scheint ein Wendepunkt gewesen zu sein. Anders Mutter mobilisierte all ihre Kraft, um gegen ihren Ex-Mann zu kämpfen (S. 34), den sie schon vorher als Monster beschrieben hatte, weil er sie für verrückt hielt. (S. 27) Um es kurz zu fassen. Die Mutter gewann vor Gericht, behielt das Sorgerecht, eine staatliche Kinderschutzstelle besuchte die Familie noch einige male und fand nichts Ungewöhnliches vor, was Grund zur Sorge gab. Borchgrevink fragt sich zu Recht, ob die Mutter damals gezielt eine Fassade aufbaute. (S. 36)
Nach den Taten ihres Sohnes wurde sie befragt und gab falsche Angaben zu den damaligen Abläufen. Sie sagte u.a. aus, dass es keinerlei Befürchtungen bzgl. Anders Entwicklungen als Kind gab und dass die Begutachtung des SSBU ein Resultat des Sorgerechtsstreites mit ihrem EX-Mann war, obwohl es genau umgekehrt war. (S. 140) . Borchgrevink befasst sich am Ende des Buches u.a. mit den aktuellen Kinderschutzauffassungen in Norwegen und meint, dass Anders Breivik nach einem Gutachten wie des der SSBU Anfang der 80er Jahre heute von seiner destruktiven Mutter getrennt worden wäre. (S. 270) Doch damals waren die Zeiten und Einstellungen zu Kindern und Familie noch anders.

Anders Breivik selbst sagte nach seiner Inhaftierung, dass er sich nicht an seine frühe Kindheit und auch nicht an die Zeit der Begutachtung durch den SSBU erinnern könne. (S. 266) ("I haven´t really had any negative experiences in my childhood in any way.”, schrieb der norwegische Attentäter auch in einem mit sich selbst geführten Interview innerhalb seines kranken „Manifestes“ auf Seite ca. 1387. Was letztlich nur eine klassische Folge von Kindesmisshandlung ist, da diese schmerzlichen Erinnerungen abgespalten werden.) Soweit ich mich an Medienberichte erinnere, hat Breivik auch vor Gericht nichts über seine traumatische Kindheit gesagt und seine Mutter zog – nach erster Einwilligung – die Entbindung von der Schweigepflicht der SSBU zurück, so dass die oben genannten Details vor Gericht nicht ausgeführt werden konnten.

Soweit ich es medial verfolgen konnte, hat auch Breiviks Schwester weitgehend geschwiegen und nichts über Details aus der Kinderzeit erzählt. Es drängt sich die Frage auf, was gewesen wäre, wenn es in diesem Fall nicht diese besonderen Ereignisse und Begutachtungen Anfang der 80er Jahre gegeben hätte? Die Antwort ist einfach: Wir hätten das Bild eines relativ normal aufgewachsenen  Jungen, der in einer ganz normalen Trennungsfamilie aufwuchs, wie so viele. All die Gewalt, Vernachlässigung und pathologischen Familienstrukturen wären niemals öffentlich geworden. Und die Öffentlichkeit hätte genauso wie unzählige Fachleute, die nach der Tat zu Wort kamen, mit offenen Mund und einem breiten „Wie konnte das geschehen?“ dagestanden. Aber halt, erinnern wir uns wieder daran, dass in den deutschen Medien das besprochene Buch und Breiviks Kindheit weitgehend ausgeblendet wurden (Im Gegensatz zum englischsprachigen und norwegischen Raum). Dies ist für mich absolut unverständlich und ich hoffe, dass noch manche Medien nachträglich berichten.

Interessant ist abschließend noch, dass (die Anfang 2013 verstorbene) Wenche Behring zusammen mit einer Journalistin Ende 2013 eine Biografie mit dem norwegischen Titel „Moren“ („Die Mutter“) über sich als Mutter herausgebracht hat. Kurz vor ihrem Tod soll sie noch entschieden haben, das Buch doch nicht zu veröffentlichen. (was nicht verwundert, wenn man dem oben besprochenen Buch folgt. Sie traf andauernd wechselende Entscheidungen, was typisch für Borderliner ist.) „Viel Neues erfährt der Leser nicht. Wie Breivik zum Terroristen wurde, bleibt auch nach der Lektüre unklar.“ beschrieb die WELT das Buch.
Breiviks Mutter kommentierte das Buch auf dem Sterbebett u.a. wie folgt: „Ich hatte mir ein Buch gewünscht, dass schlicht und einfach die Geschichte von mir und meinem Leben erzählen sollte, so dass niemand herumgehen und erzählen könnte, was für grausame Menschen wir gewesen seien", schreibt die WELT. Es ging ihr offensichtlich um Entlastung, nicht um Wahrheit, wenn man diese Zeilen liest.
Sind es nicht genau diese Mütter und Väter von Mördern und Gewalttätern, die u.a. dazu beitragen, dass die Öffentlichkeit im Dunkeln darüber gehalten wird, welche Abgründe sich in der Kindererziehung auftun, die einst praktiziert wurden? Der Fall Breivik ist in vieler Hinsicht ein Lehrstück. Vor allem sollte er eine Mahnung für Medien und Fachleute sein, Eltern von Mördern nicht alles einfach unhinterfragt zu glauben, wenn sie öffentlich erklären, wie gut es ihre Kinder bei ihnen doch hatten.

Das Buch des Autors Aage Borchgrevink ist für mich auch von einer besonderer Bedeutung, weil er am Ende selbst sagt, dass er nach der Recherche einen veränderten Blick auf die Ursachen von Terror bekommen hat. (S. 267) Und er wird noch mal besonders konkret, wie sich solche Terrorakte präventiv verhindern lassen:
In my opinion, however, the most important lesson from this tragedy is not about integration policy, the Internet, ideology or the police`s operating methods and resources (…). It is about child and family welfare policy. (…) The banality of evil in the case Breivik is the significance of childhood trauma in the hatred of a grown man. Countering hatred, radicalization und terrorism is also a matter of preventing children from being abused by their parents – a banal insight, perhaps, possibly so banal that it has been overlooked.” (S. 269)”


Siehe ergänzend: 

Attentäter Breivik: Natural born Killer?

Breiviks Vater gibt ein langes, aufschlussreiches Interview

Neues Buch über Anders Breivik mit ausführlichen Infos über seine Kindheit

Gedankliche Anmerkung: Manchmal ist es schon merkwürdig im Leben.  Die vorsitzende Richterin -Wenche Elisabeth Arntzen -, die über Anders Breivik urteilte, hat den selben Vornamen wie dessen Mutter.

Freitag, 13. Dezember 2013

Kindheit und Prostitution. Eine "Branche", die auf verschüttete Emotionen und Selbsthass aufbaut

"Eigentlich ist es ganz einfach." schreibt Alice Schwarzer am Ende ihres Textes mit dem Titel "Freiwllig? Es reicht!" (06.12.2013) "Stellen Sie es sich nur einen Moment lang vor: Sie liegen nackt auf einem Bett im "Laufhaus" oder "Studio". Oder sie stehen halbnackt an einen Baum gelehnt im Gebüsch an einer Ausfallstraße. Der Mann wird Ihnen danach einen Schein geben. 50 Euro , wenn es viel ist. 10 Euro, wenn es wenig ist. Er sagt "Na, Schätzchen" zu ihnen. Oder auch "Du alte Fotze". Er kann Sie anfassen. Am ganzen Körper. In Sie eindringen. In jede Öffnung. Das heißt: Anal kostet extra. Ins Gesicht abspritzen auch."

Es ist eigentlich wirklich ganz einfach zu verstehen, dass sich niemand wirklich freiwillig prostituiert. Prostitution ist eine große menschliche Niederlage für alle Beteiligten, für die Prostituierten, aber auch für Freier und Bordellbesitzer/Zuhälter. Und sie kann in meinen Augen nur funktionieren, weil Emotionen ausgeblendet werden, weil entmenschlicht wird, weil verdrängt wird und weil es unglückliche Menschen gibt. Wenn einem dies einmal klar geworden ist, muss Mann fragen, wie es denn eigentlich von Grund auf dazu kommt, dass Menschen Emotionen ausblenden, entmenschlichen und verdrängen können und unglücklich sind? Wer sich mit den Folgen von destruktiven Kindheitserfahrungen befasst, der wird schnell auf einen möglichen Zusammenhang kommen. Die möglichen Folgeschäden von Kindesmisshandlung sind der ideale Nährboden für Prostitution: Fehlendes Selbstbewusstsein/schwammige Identität, Fähigkeit belastende Erfahrungen psychisch abzuspalten, Selbsthass, selbstverletzende Tendenzen, Drogenkonsum, Verlust von Empathie, Fügen in die Opferrolle, schwammiges Bild von eigenen Grenzen, Selbstverleugnung u.a. 

Zu diesem Themengebiet gibt es mittlerweile auch eine Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten, von denen ich die vorstelle, die ich gefunden habe:

854 Prostituierte (die meisten davon Frauen) in 9 Ländern (Kanada, Kolumbien, Deutschland, Mexico, Südafrika, Thailand, Türkei, USA und Sambia) wurden für eine Studie befragt:
Farley, M.; Cotton, A.; Lynne, J.; Zumbeck, S.; Spiwak, F.; Reyes, M. E.; Alvarez, D.; Sezgin, U. (2003): Prostitution and Trafficking in Nine Countries: An Update on Violence and Posttraumatic Stress Disorder. In: Journal of Trauma Practice. 2(3/4): 33-74.

Ergebnisse u.a.:


59 % wurden als Kind körperlich durch Elternfiguren/Pflegepersonen misshandelt bis es zu Verletzungen oder Prellungen kam.

63 % wurden als Kind sexuell missbraucht

68 % erfüllten Kriterien für eine Posttraumatische Belastungsstörung
(Anmerkung: Wobei kindliche Gewalterfahrungen sicherlich eine gewichtige Ursache sind, aber auch Gewalterfahrungen während der Prostitution: 64 % wurden beispielsweise mit einer Waffe in die Prostitution gezwungen, 73 % wurden als Prostituierte körperlich angegriffen und 57 % vergewaltigt, von Letzteren 59 % mehr als fünf mal)

Von den vier Gewalttypen: Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung in Kindheit, Vergewaltigung als Prostituierte und körperlicher Angriff als Prostituierte erlebte nur 13 % aller Befragten keine einzige Gewaltform. (S. 45) Leider wurde nicht dargestellt, wie viel Prozent keine körperliche Misshandlung und/oder sexuellen Missbrauch erlitten haben. Auf jeden Fall ja diese 13 %. 25 % erlebten alle vier Gewaltformen, 26 % drei Formen, 20 % zwei und 16 % eine.
Interessant ist, dass in den drei westlichen Ländern sehr viel weniger Prostituierte über keine einzige erlebte Gewaltform berichteten (Kanada 2 %, Deutschland 6 %, USA 6 %). Dies lässt zwei gegensätzliche Dinge vermuten: 1. Vermutlich gibt es in anderen Regionen der Welt viel öfter existenzbedrohende Armut, so dass dieser Faktor mehr Gewicht hat, während im Westen Gewalterfahrungen in der Kindheit eine größere Rolle auf dem Weg in die Prostitution spielen 2. In anderen Regionen der Welt herrscht ein weit aus größeres Tabu über kindliche Gewalterfahrungen zu sprechen – dabei vor allem auch der sexuelle Missbrauch – als in Ländern wie Kanada, den USA und Deutschland, so dass diese Gewalt evtl. z.T. verschwiegen wurde und das Ergebnis verwässert wird.

In Deutschland wurden für diese Studie 54 Prostituierte befragt. 48 % wurden als Kind sexuell missbraucht und ebenfalls 48 % körperlich misshandelt.  (S. 43)

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110 Prostituierte wurden für eine deutsche Studie befragt:
Schröttle, M. ; Müller, U. (2004): II. Teilpopulationen – Erhebung bei Prostituierten.  „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (Hrsg.), S. 78-81.
 (Besonders aufschlussreich ist, dass diese gesonderten  Ergebnisse mit denen der größeren BMFSFJ- Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ verglichen wurden bzw. die Studie bzgl. Prostituierten war  ein Teil der größeren Studie. Die Ergebnisse der Hauptuntersuchung – die repräsentativ für die deutsche Frauenbevölkerung sind - sind zum Vergleich in Klammern angegeben. )

56 % hatten in ihrer Kindheit körperliche Übergriffe zwischen den Eltern/Pflegeeltern  miterlebt. (18 % bei den Befragten der Hauptuntersuchung)

73 % erlebten körperliche Züchtigungen  durch Eltern/Pflegepersonen, 52 % sogar häufig oder gelegentlich. (63 % bei den Befragten der Hauptuntersuchung; 20 % häufig oder gelegentlich)

36% gaben an, sie seien häufig oder gelegentlich von den Erziehungspersonen lächerlich gemacht oder gedemütigt worden (8% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

52%, sie seien häufig oder gelegentlich so behandelt worden, dass es seelisch verletzend war (10% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

55%, sie seien häufig oder gelegentlich niedergebrüllt worden (11% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

37%, sie seien häufig oder gelegentlich leicht geohrfeigt worden (17% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

30%, sie hätten häufig oder gelegentlich schallende Ohrfeigen mit sichtbaren Striemen bekommen (6% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

39%, sie hätten häufig/gelegentlich einen strafenden Klaps auf den Po bekommen (20% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

40%, sie hätten häufig/gelegentlich mit der Hand kräftig den Po versohlt bekommen (10% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

20%, sie seien häufig/gelegentlich mit einem Gegenstand auf den Finger geschlagen worden (3% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

34%, sie seien häufig/gelegentlich mit einem Gegenstand kräftig auf den Po geschlagen worden (6% bei den Befragten der Hauptuntersuchung),

37%, sie hätten häufig/gelegentlich heftige Prügel bekommen (5% bei den Befragten der Hauptuntersuchung)

Insgesamt berichteten 43 % über mindestens eine Form der nachstehend genannten Varianten von sexuellem Missbrauch.
39% in ihrer Kindheit und Jugend durch eine erwachsene Person sexuell berührt oder an intimen Körperstellen angefasst worden (Hauptuntersuchung 8%),

16% gezwungen worden, die erwachsene Person an intimen Körperstellen zu berühren (Hauptuntersuchung 3%),

7% gezwungen worden, sich selbst an intimen Körperstellen zu berühren (Hauptuntersuchung 1%),

13% zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden (Hauptuntersuchung 2%) und 13% zu anderen sexuellen Handlungen gedrängt oder gezwungen worden (Hauptuntersuchung 2%).


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In Hamburg wurde eine weitere Studie durchgeführt:
Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation bei Prostituierten: eine explorative Studie. Dr. Kovac, Hamburg. Ergebnis.‘

54 weibliche Prostituierte
Interviews
65 % als Kind körperlich misshandelt mit Verletzungsfolgen)
50 % sexuell missbraucht (vor dem 13. Lebensjahr)
Als Selbsteinschätzung nannten 83% der Befragten, in ihrer Kindheit traumatisiert worden
zu sein. 


Zumbeck (2001) hat in ihrer Arbeit (S. 34-36) auch Ergebnisse diverser Studien (meist aus den USA) zusammengetragen, die ich hier ebenfalls kurz wiedergebe:

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Silbert & Pines (1981) USA
200 Prostituierte und ehemalige Prostituierte
Interviews
60 % sexuell missbraucht (vor dem 16. Lebensjahr); davon 47 % durch die Gewalt schwer verletzt.
50 % körperlich misshandelt
70 % emotional misshandelt
48 % erlebten Alkoholismus der Eltern
54 % erlebten häufig Streit zwischen den Eltern


Diana (1985) USA
Interviews
487 Prostituierte verschiedener Arbeitsfelder
38 % sexuell missbraucht


Earls &  David (1990) USA
Interviews
50 jugendliche Straßenprostituierte
26 % sexuell missbraucht
46 % körperlich misshandelt



Farley & Barkan (1998) USA
130 Straßenprostituierte (75 % Frauen, 13 % Männer, 12 % transgender)
Fragebogen
57 % sexuell missbraucht
49 % körperlich misshandelt



Bagley (1991) Kanada
Interviews
45 Ehemalige Prostituierte im Alter von 18 – 36
73 % schwerer sexueller Missbrauch

Perkins (1991) Australien
Fragebogen
128 Prostituierte verschiedener "Arbeitsfelder"
30,1 % sexueller Missbrauch

Yates, Macenzie, Pennbridge & Swofford (1991) USA
153 Jugendliche, die sich prostituierten (68 % Mädchen, 32 % Jungen)
Interviews
55,6 % sexueller Missbrauch
24,6 % körperliche Misshandlung


Quelle für alle o.g. Daten: Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation bei Prostituierten: eine explorative Studie. Dr. Kovac, Hamburg.

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Eine weitere deutsche Studie (Brückner, M. &  Oppenheimer:, C. (2006):  Lebenssituation Prostitution. Sicherheit, Gesundheit und soziale Hilfen. Königstein: Helmer.) liegt mir nicht direkt vor. Ich habe in diesem Fall auf die entsprechende Forschungsprojektbeschreibung der Autorinnen und auf eine Rezension zurückgegriffen.

Im Zentrum der Studie stand die Befragung von 72 Prostituierten.

53 % wurden als Kind sexuell missbraucht
74% der Befragten hatten bis zu ihrem 16. Lebensjahr Gewalt erlebt, sei es als selbst erlittener Übergriff oder zwischen den erwachsenen Bezugspersonen.



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Zusammenfassende Besprechung


Zunächst einmal fällt auf, dass sich die Wissenschaft mit den Kindheitserfahrungen von Prostituierten umfassend befasst. Es wird zu Recht ein Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen in der Kindheit und dem Weg in die Prostitution vermutet. Die Forschenden drücken sich bei der Besprechung der Ergebnisse meist vorsichtig aus. Ich persönlich bin da etwas weniger zurückhaltend. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Sexueller Missbrauch wurde meist signifikant häufiger berichtet, als dies für die Allgemeinbevölkerung gilt. Das gleiche gilt für die körperliche Misshandlung (Man bedenke, dass „Misshandlung“ die schwersten Formen von körperlicher Gewalt meint.) Eine repräsentative deutsche Studie für die Normalbevölkerung zeigte, dass u.a. 12  % über körperlichen Missbrauch bzw. Misshandlung und 12,6 % über sexuellen Missbrauch berichteten. Die vier oben besprochenen deutschen Studien bzgl. Prostituierten zeigen deutlich höhere Zahlen. (zwischen 43 % und 53 % sexuell missbraucht und 48 % bis 65 % körperlich misshandelt, bzgl. letzteren Zahlen ohne Daten von Brückner &  Oppenheimer (2006), die mir nicht komplett vorliegen.) Leider wurde in den meisten Studien zu wenig auf die Gebiete Vernachlässigung, emotionale Misshandlung, Drogen/Alkoholkonsum in der Familie und Gewalt zwischen den Eltern oder gegen Geschwister eingegangen. Um ein umfassendes Bild zu bekommen, müssten alle möglichen belastenden Kindheitserfahrungen einbezogen werden. Nur die Studie Silbert & Pines (1981) aus den USA und die deutsche Studie vom BMFSFJ (2004) fragten etwas breiter ab. Beide Studien zeigten, dass Prostituierte erheblich von verschiedenen Formen von Gewalt in der Kindheit belastet sind.  Dieser „Gewaltmix“ wirkt sich erwiesener Maßen besonders destruktiv auf die Entwicklung von Menschen aus.

Was in der Diskussion um Kindheitseinflüsse bzgl. Prostituierten auffällt ist, dass sich viele Berichte (vor allem in den Medien)  rein auf den sexuellen Missbrauch konzentrieren und den erwähnten „Gewaltmix“ außen vor lassen. Zudem ist mir keine Untersuchung bekannt, die die Kindheiten von (männlichen) Zuhältern, Bordellbetreibern,  Menschenhändler und auch von Freiern* unter die Lupe nimmt.  Dabei ist diese Gruppe ebenfalls von Interesse und auch die entsprechenden Kindheiten sind vermutlich alles andere als liebevoll verlaufen.

Insgesamt betrachtet komme ich zu dem Schluss, dass Kinderschutz und Förderung von Familien gewichtige Maßnahmen sind, um nachhaltig und langfristig gesehen etwas gegen Prostitution zu unternehmen. 



* Nachtrag:
Indirekt wurde in einer großen Studie, für die über 10.000 asiatische Männer befragt wurden und die im Kern eigentlich das Verbrechen Vergewaltigung erforschen wollte, ein Zusammenhang zwischen gewaltvollen Kindheiten von Männern und deren Gang zu Prostituierten festgestellt. 64 % der Vergewaltiger und 77 % der Gruppenvergewaltiger waren Freier, dagegen nur 30,8 % der Nicht-Vergewaltiger. Die Nicht-Vergewaltiger hatten allerdings auch die im Vergleich zu den Vergewaltigern deutlich gewaltfreieren Kindheiten. Beispielsweise hatten als Kind 58,7 % der Vergewaltiger und 60,5 % der Gruppenvergewaltiger körperliche Misshandlungen (also schwere Gewalt gegen das Kind) erlebt, dagegen "nur" 31,4 % der Nicht-Vergewaltiger. Ähnliche Zahlenverhältnisse zeigten sich beim Sexuellen Missbrauch, emotionaler Misshandlung/Vernachlässigung und dem Beobachten von körperlicher Gewalt in der Familie. (siehe ausführlich zu dieser Studie hier)

Samstag, 16. November 2013

SPD Parteitag und die "schallenden Ohrfeigen"

Schallende Ohrfeigen für deutsche Spitzensozis“, auf diesen Titel der Schweizer Handelszeitung wies mich kürzlich ein Leser hin. Diese „Prügelsprache“ in Medienkommentaren bzgl. politischer Ereignisse wie in diesem Fall zum SPD Parteitag in Leipzig ist keine Seltenheit, sondern taucht immer wieder auf. (Ich habe darüber bereits hier ausführlich geschrieben) Im aktuellen Fall fällt allerdings doch die Häufigkeit der entsprechenden Wortwahl auf.  Einige Beispiele:

„Wer wird abgewatscht?“  schrieb die ZEIT fragend am 15.11. bereits kurz vor der Wahl der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden

Ohrfeige für SPD-Generalsekretärin Nahles“ titelte der Focus.
In diesem Stile geht es weiter:

Ohrfeige für die Führungsriege“ (MDR)

Schallende Ohrfeige für Andrea Nahles auf SPD-Parteitag“ (Der Westen)

Schallende Ohrfeige für SPD-Spitze“ (Rhein-Zeitung)

 „Ohrfeige für SPD-Spitzen“ (tagesschau)

Sigmar Gabriel in Leipzig abgewatscht“ (BZ-Berlin)

Andrea Nahles und Olaf Scholz wurden gestern von den Delegierten des SPD-Parteitags geradezu abgewatscht“ (Weser-Kurier, im Bilduntertitel),

 „Wahlklatsche für Partei-Spitze„ (Bild, im bilduntertitel)

Watsche für Gabriel bei Wiederwahl zum Parteichef“ (NWZ-Online)

Die Delegierten watschen alle ab“ (Welt)

 "SPD-Parteitag: Klatsche für Hannelore Kraft" (express.de)

Dies sind nur einige Beispiele, ich habe noch weit mehr gefunden.

Mensch erkennt deutlich die "schallenden" Nachwirkungen der Prügel gegen die füheren Generationen. Unreflektiert wird die Prügelsprache gegenüber dem Kind in die bildliche politisch-journalistsiche Sprache übernommen.

Freitag, 15. November 2013

Die strenge Mutter von John F. Kennedy

Aktuell wird häufig über Kennedy berichtet, da es wohl neue Buchveröffentlichungen über ihn gab. Seine Schwester, Jean Kennedy-Smith, wurde im hohen Alter von 85 Jahren von SPIEGEL-TV interviewt. Und sie erwähnte auch die "Erziehungsmaßnahmen" ihrer Mutter:

"Unsere Mutter war streng. Wenn wir ungehörig waren, sperrte sie uns in ihren Kleiderschrank. Einmal saß ich schon eine ganze Weile drinnen, ich hatte ihre Schuhe und ihre Kleider längst durchgezählt, als die Tür aufging und Teddy dazu kam. Sie hatte mich einfach vergessen. Also saßen wir zusammen im Dunkeln und unterhielten uns darüber, was für eine gemeine Mutter wir haben." (SPIEGEL-Online, 15.11.2013)

Ich habe diesen Auszug den Schilderungen über Kennedys Kindheit hinzugefügt. Es ist unglaublich, wie die Kinder der Kennedys traumatisiert wurden. JFKs Doppelleben wird dadurch u.a. erklärbar.

Samstag, 9. November 2013

Reichspogromnacht vor 75 Jahren: Hasse Deinen Nächsten wie Dich selbst

Pfarrer Stephan Krebs aus Darmstadt hielt heute Morgen die Morgenandacht  im Deutschlandfunk, die ich zufällig hörte. Er erinnerte an die Reichspogromnacht der Nazis vor genau 75 Jahren und begann seine Andacht gleich mit dem Satz: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ Im Verlauf sagte er u.a. weiter:
Wer sich selbst nicht mag, wird auch andere kaum mögen können. Der lässt sich auch viel leichter verleiten andere zu hassen oder ihnen zumindest gleichgültig gegenüber zu stehen. So muss es vor 75 Jahren in Deutschland vielen ergangen sein. Damals unter der Herrschaft der Nazis (….) In weiten Teilen der Bevölkerung fehlte es an Mitgefühl und an Rechtsempfinden. Von Nächstenliebe keine Spur. (…)“
Diese uralte christliche Weisheit ist letztlich auch eine psychologische Wahrheit. Kaum einer hat dies so gut dargestellt und erläutert wie der Psychoanalytiker Arno Gruen. Auf diesen bin ich vor über 10 Jahren mit voller Wucht gestoßen, weil ich ein einziges Zitat in einem Buch eines Soziologen von ihm las, in dem es genau darum ging, dass Selbsthass auch die Ursache von Hass gegen Menschen ist. Und dieser Selbsthass entsteht wiederum dadurch, dass Kinder nicht sie selbst sein dürfen, sondern durch Gewalt, Erniedrigungen und Gehorsamsforderungen ihr eigenes Selbst abspalten und von da an von einem inneren Fremdsein und mehr oder weniger (offenen oder verdecktem) Selbsthass bestimmt sind. Das bedeutet umgekehrt (was wir heute mehr den je in der Gesellschaft beobachten und nachweisen können): Je weniger Gewalt, Erniedrigungen und Gehorsamsforderungen gegenüber Kindern stattfinden und desto mehr (elterliche) Liebe und Geborgenheit erfahren wird, desto weniger Selbsthass, desto mehr Selbstbewusstsein, Glück, Zufriedenheit und friedliche Gedanken, Verhaltensweisen und Wege. Was vor 75 Jahren in Deutschland stattfand, wird sich hierzulande nicht wiederholen, weil sich die Kindererziehungspraxis derart positiv weiterentwickelt hat, dass heute einfach die Basis für einen derartigen Massenhass fehlt.

Montag, 28. Oktober 2013

US-Drohnenkämpfer und der "Zombie-Modus"

Bei jedem Einsatz schaltet der Drohnenpilot Brandon Bryant auf „Zombie-Modus“ um, wie er sagte.
Die Berichte über schwer belastete bis hin zu traumatisierten Drohnenkämpfern häufen sich. Bryant hat 1.626 Menschen getötet, mehr als ein normaler Frontkämpfer je töten könnte...

Ich habe schon Berichte über diese Drohnenkämpfer gelesen, die deutlich machen, dass diese Art des Krieges den Feind nicht unsichtbarer und ferner macht, sondern diese Piloten ihnen manchmal näher kommen, als dies ein Kämpfer je könnte. Manchmal werden die „Ziele“ wochenlang beobachtet, die Drohnenkämpfer lernen sie kennen, sehen ihre Gewohnheiten, ihre Besuche, ihren Tagesrhythmus und dann kommt der Befehl zum Abschuss… Das besonders verrückte dabei ist zudem, dass diese Kämpfer tagsüber aus ihrem zivilen Leben heraus zu ihrem „Job“ gehen, dort töten und anschließend zu Hause gemeinsam mit Kind und Frau zu Abend essen. Dies kann in der Tat (wie letztlich auch jede andere Art von gezieltem Tötungsakt) nur funktionieren, wenn diese Menschen auf innerliche abgespaltene  Elemente zurückgreifen oder gar in eine andere Persönlichkeit wechseln können. Auf „Zombie-Modus“ umschalten nannte dies Bryant. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass dieser Soldat als Kind elterliche Gewalt erfahren hat, wahrscheinlich sogar in schwerer Form. Gesund aufgewachsene, als Kind geliebte Menschen haben keinen „Zombie-Modus“ auf den sie zurückgreifen können.

Samstag, 19. Oktober 2013

Martin Miller: Das wahre "Drama des begabten Kindes". Eine kritische Besprechung

Ich habe jetzt das Buch „Das wahre `Drama des begabten Kindes`. Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken“ von ihrem Sohn Martin Miller veröffentlich 2013 im Kreuz Verlag gelesen. Der Hauptgrund für mich, das Buch zu lesen, war letztlich der Untertitel und einige Interviews, die Martin Miller gab. Der Untertitel macht bereits die Sicht des Sohnes deutlich (was er auch in Interviews wiederholte). Er sieht Alice Miller und deren destruktiven Umgang mit ihm vor allem vor dem Hintergrund ihrer Traumatisierungen im Krieg. Diese Konzentration auf diesen Punkt sehe ich hingegen kritisch. Aber dazu im Textverlauf mehr. Ein weiterer Grund für mich, das Buch durchzusehen, war, dass die Gefahr besteht, dass das Buch dahingehend missbraucht wird, Alice Millers Bücher und ihre Thesen grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Nach dem Motto: Einer die derart bösartig mit ihren Kindern umging, kann mensch doch eh nichts glauben, schon gar nicht, wenn sie über Kindheit und Kinderschutz schreibt.

Martin Miller bringt mit einem Satz sein ganzes Anliegen auf den Punkt: „Es war nicht schön, der Sohn von Alice Miller zu sein. Im Gegenteil. Und trotzdem war meine Mutter eine große Kindheitsforscherin.“ (S. 25) Ihm geht es vor allem um seine ganz persönliche Geschichte, darum, die Schweigemauer darum abzubrechen und endlich öffentlich zu machen, wie schlimm es ihn als Kind mit dieser hoch verehrten Frau erging. Dazu hat er das volle Recht. Gleichzeitig betont er, dass das Werk seiner Mutter von enormer Bedeutung ist (auch für seine eigene Arbeit als Psychotherapeut). Wer Millers Werk auf Grund dieses Buches nun grundsätzlich ablehnt, der hat weder den Wahrheitsgehalt ihrer Thesen noch das Anliegen ihres Sohnes verstanden.

Ich möchte nur kurz skizzieren, was Martin Miller als Kind erlitten hat, da es mir vordergründig darum geht, den Untertitel des Buches zu kritisieren. Um es zusammenzufassen: Martin Millers Kindheit war ein Albtraum. Sein Vater war ihm gegenüber verachtend, cholerisch, autoritär und misshandelte ihn körperlich. Zudem fühlt sich Martin durch seinen Vater in sehr verschleierter Weise auch sexuell missbraucht.  Alice Miller schützte ihren Sohn nicht vor den Quälereien durch den Vater. Zwischen den Eltern herrschte zudem fast immer Streit bzw. geradezu ein Ehekrieg. Alice scheint als Mutter oft abwesend, sehr beschäftigt, vernachlässigend und herzlos gewesen zu sein. Am ersten Schultag ihres Sohnes kam sie nicht auf die Idee, ihn zu begleiten, was er ihr später vorwarf. Die Eltern sprachen miteinander nur polnisch, was Martin nicht verstand, er  hatte nur (Schweizer-)Deutsch gelernt, was seine Isolation noch verstärkte.
Seine Mutter gab Martin sofort nach der Geburt zu einer Bekannten zur Pflege. Nach zwei Wochen holte seine Tante ihn zu sich, da Martin sich in einem sehr schlechten Zustand befand;  rückblickend sagte eine Verwandte: „Wenn wir dich nicht geholt hätten, wärest du gestorben.“ (S. 117) Dort blieb er ca. ein halbes Jahr, seine Eltern blieben Fremde für ihn. Mit ca. 6 Jahren wurde Martin für zwei Jahre in ein Kinderheim gegeben, nachdem seine Schwester mit einem Downsyndrom geboren worden war und die Familie daraufhin förmlich explodierte, wie Martin schreibt. (S. 72). Auch als Martin erwachsen war, verfolgte ihn seine Mutter weiter. „Sie gab mir tatsächlich das Gefühl, ein Monster zu sein, das sie vernichten wollte.“ (S. 24) Alice Miller hatte ihren erwachsenen Sohn später zudem in eine Therapie gedrängt. Sie bekam Tonbandaufnahmen der Therapiestunden geschickt und versuchte auf deren Grundlage wiederum ihren Sohn zu manipulieren. Ein ungeheuerlicher Verrat. Nachdem der Konflikt mit seiner Mutter weiter eskalierte, stand Martin schließlich kurz vor dem Suizid.

Alice Miller war als Mutter eine Katastrophe und hat total versagt, was sie in späteren Briefen an ihren Sohn auch zugestand. Der Sohn betrachtet all die Familienprobleme vor allem vor dem Hintergrund des Holocaust (Alice Miller war Jüdin und wurde in Polen verfolgt. Ihr Vater starb im Getto) und ihrer Traumatisierung im Krieg. Daher auch der Untertitel des Buches. Ich sehe dies kritisch. Mehr noch, ich fühle mich geradezu verpflichtet, etwas dazu zu schreiben, weil Martin Miller als Sohn von Alice Miller durch diese Tendenz in seinem Buch etwas ausblendet, worüber seine Mutter ihr Leben lang geforscht und geschrieben hat: Die ungemein destruktiven Folgen von elterlicher Destruktivität.

Das Buch beginnt mit einem Brief von Alice Miller an ihren Sohn im Jahr 1987. Sie schrieb:
Warum brauchte ich 30 Jahre, um die Augen zu öffnen? Warum brauchte ich 60 Jahre, um zu sehen, wie grausam, zerstörerisch, ausbeuterisch, durch und durch verlogen und lieblos meine Mutter war? Dass sie systematisch die Liebe und das Leben in mir zerstörte und später das Gleiche mit meiner Schwester und meinem Neffen tat? Weil die Verdrängung der Schmerzen aus der Kindheit so unheimlich stark + weil ich, um sie aufrechtzuerhalten, lernen musste, nichts zu merken, nicht zu fühlen + den verlogenen Versicherungen, sie würden mich `lieben`, zu glauben. (…) Meine Mutter war ein grausamer Mensch, sie hat das Leben ihrer beiden Kinder ohne eine Spur des schlechten Gewissens zerstört und hielt sich für liebend und sorgend. “ (S. 10, 11) Nur wenige Seiten weiter schreibt ihr Sohn Martin: „Heute bin ich davon überzeugt, dass die Unfähigkeit Alice Millers, für mich eine liebende Mutter zu sein, in dem fest abgekapselten Trauma der Verfolgungsjahre von 1939 bis 1945 begründet liegt.“ (S. 22) Ab Seite 31 geht er dann auf ihre Familie und Kindheit etwas vertiefend ein und bleibt dabei zunächst auf der Ebene, die seine Mutter ihn immer vermittelte. Die streng religiöse jüdische Erziehung, die von Alice Miller als autoritär und stumpf erlebt wurden, beschreibt auch der Sohn. Und er schreibt, wie bei ihm Wut und Verbitterung ankam, wenn seine Mutter darüber berichtete. (vgl. S. 32) Erst ab Seite 42 kommt Martin etwas mehr auf den Punkt, dass seine Mutter als Kind einsam war, ihre Eltern als schlimm empfand und Züchtigungen (was auch immer das genau an Gewalt bedeutet haben mag) der Mutter ausgeliefert war.  Gleich danach beginnt das Kapitel „Verleugnetes Trauma- die Überlebende“ (S. 47ff), in dem es um die Holocaust-Erfahrungen seiner Mutter geht. 
Und auch im restlichen Teil des Buches nimmt die schlimme Kindheit von Alice Miller kaum oder eigentlich gar keinen Platz mehr ein. Und das, obwohl er erneut einen Brief seiner Mutter abdruckt, der deutlicher nicht sein könnte und, in dem sie u.a. schreibt: 
Ich habe mich in viele Menschen einfühlen können, nur in meinen Sohn konnte ich es nicht . (…) Hätte ich mich in seine Lage einfühlen können, dann hätte ich mich so erkennen müssen, wie ich zu ihm war: ahnungslos, kalt, hart, kritisierend, korrigierend, erzieherisch (…). Ich musste sehen, dass ich mit meinem ersten Kind fast genauso war wie meine Mutter mit mir. Trotz meiner Ausbildung ist es mir nicht gelungen, diesem Schicksal zu entgehen.“ (S. 132) Martin kommentiert dies nicht, sondern eröffnet gleich auf der nächsten Seite 133 das Kapitel „Der Sohn als Verfolger – die Macht des Kriegstraumas“  (Auf der Buchrückseite hat der Verlag übrigens die Inhaltsangabe mit dem groß gedruckten Satz "Im Schatten des Krieges" kommentiert; eigentlich hätte es heißen müssen: Im Schatten der Eltern und des Krieges.) Das Buch endet schließlich nach weiteren diversen Ausführungen mit einem Nachwort des Traumatherapeuten Oliver Schubbe, der sich getreu der Aufmachung des Buches auf die Nachwirkungen kriegsbedingter Traumatisierungen auf die nächste Generation konzentriert und nur allgemein auf Kinderschutz und die entsprechenden Mahnungen von Alice Miller hinweist. 

Es ist zusammenfassend absolut erstaunlich und geradezu nachlässig, dass nun gerade der Sohn von Alice Miller die destruktive Kindheit seiner Mutter nicht nur nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern sie an die Seite schiebt, zugunsten ihrer Kriegstraumatisierungen. (Auf Seite 65  + 66 fragt sich Martin auch, warum sein Vater ihm Gewalt antat und fügt an, dass dieser wohl die Spannungen in der Beziehung zu seiner Mutter auf diese Art an ihm ausagierte. Er kommt gar nicht auf die Frage, ob sein Vater als Kind auch misshandelt worden ist, was mehr als wahrscheinlich ist.) Komplett fehlt auch ein verknüpfender Hinweis oder Gedanke. Die Frage, wie sich kindliche Traumatisierungen im Elternhaus UND Kriegstraumatisierungen miteinander zu einer gefährlichen Masse verknüpfen können, taucht gar nicht auf. Alice Miller erlebte den Holocaust ab ihrem 16. Lebensjahr. Ihre Psyche und ihr Gehirn waren in sofern schon sehr weit entwickelt. Der Holocaust traf allerdings auf einen Menschen, der als Kind ungeliebt war. Alice Miller muss das  Leben und die Welt als einen einzig dunklen und grausamen Ort erfahren haben. Kaum ein Forschender, der sich mit den Folgen von Kriegstraumatisierungen befasst, stellt die Frage, wie als Kind geliebte Menschen traumatische Erfahrungen wie Krieg verarbeiten. Ich persönlich vermute sehr stark, dass es deutliche Unterschiede bzgl. den Menschen gibt, die als Kind durch Eltern ungeliebt waren.  Wer als Kind elterliche Liebe, Geborgenheit und Glück und keine elterliche Gewalt erfahren hat, besitzt einen unschätzbaren Schatz und ein Gefühlsleben, an das sich auch nach z.B. Kriegserfahrungen wieder erinnert werden bzw. auf das  erneut aufgebaut werden kann. Hätte eine als Kind geliebte Alice Miller, die allerdings zum Holocaust-Opfer wurde, ihren Sohn genauso destruktiv behandelt? Meine Vermutung; Nein, das hätte sie nicht. Erst der Misch aus beiden traumatischen Erfahrungen tötete ihr Gefühlsleben in so weit ab, dass sie ihren Sohn derart psychisch misshandeln konnte und sein Leiden nicht sah, nicht nachfühlen konnte.

Abschließend möchte ich noch schreiben, dass Alice Miller und ihr Verhalten gegenüber ihren Kindern  ein weiteres Lehrstück dafür ist, wie aus Opfern TäterInnen werden können. Dass eine so bedeutsame Kindheitsforscherin ihre eigene Geschichte an ihren Kindern wiederaufführte, zeigt die ungeheure destruktive Kraft von Lieblosigkeitserfahrungen. Alice Miller und das Zeugnis ihres Sohnes haben in tragischer Weise die Thesen belegt (Entwicklung vom Opfer zum Täter), die Miller ihr Leben lang bearbeitet und veröffentlicht hat. Das Buch ihres Sohnes ist wiederum bzgl. dem starken Einfluß von Kindheitserfahrungen auf eine Weise blind geblieben.