Samstag, 13. August 2016

Kindheit von Hillary Clinton (oder Kindheit der Clintons)

(aktualisiert am 09.11.2016)

Vor über einem Jahr recherchierte ich etwas im Internet und versuchte etwas über die Kindheit von Hillary Clinton herauszufinden. Ich fand nicht viel. Vor allem aber fiel mir auf, dass Frau Clinton routinemäßig schwärmerisch über ihre Mutter berichtete. Ich beließ es zunächst bei diesen Erkenntnissen.
Ich plante nun vor Kurzem einen Text, in dem ich den Bogen zu einem Thema spannen wollte, das ich im Blog bisher nicht explizit besprochen habe. Und zwar ist mir immer wieder (sowohl im Leben/Alltagserfahrungen, als auch in Büchern und Berichten, aber auch durch die Arbeit von Lloyd deMause) aufgefallen, dass sich Menschen oftmals gruppieren, die ähnliche Kindheiten durchgemacht haben (meist ohne bewusst darum zu wissen). Das gilt natürlich für extremistische Gruppen etc. oder Führungsapparate, teils vielleicht auch für Unternehmen, besonders auffällig aber auch bei Paaren.

Mein geplanter Text sollte die Frage enthalten, was es denn wohl ist, das Hillary Clinton und ihren Mann Bill Clinton verbindet? Bill Clinton ist als Kind nachweisbar schwer misshandelt und vernachlässigt worden, zudem erlebte er schwere häusliche Gewalt gegen seine Mutter mit, bis hin zu Tötungsversuchen (und es sieht so aus, als ob er dies nie aufgearbeitet hätte). Seine Kindheit war derart destruktiv, dass er auch in den USA zu einem kleinen Prozentsatz von Menschen gehört, die so einen Kindheitsalptraum erlebt haben. Meine nächste Frage hätte gelautet: Kann es sein, dass die Kindheit von Hillary wirklich so rosig war, wie es nach ersten Recherchen und ihren eigenen Aussagen nach erscheint? Oder gibt es da nicht doch eine dunkle Seite? Ich hätte wohl auch spekuliert, dass ich es für sehr unwahrscheinlich halte, dass jemand, der als Kind Glück, Liebe und Geborgenheit erlebt hat, sich in einen als Kind schwer traumatisierten Mann verliebt und diese Ehe Jahre hält. Dieser Satz klingt vielleicht hart, soll aber keine Abwertung von traumatisierten Menschen sein, sondern einfach die Dinge beschreiben, wie sie nun mal nach meiner Wahrnehmung wahrscheinlich oder entsprechend unwahrscheinlich sind. Ergänzend hätte ich angefügt, dass Hillary Clinton auf mich nicht gerade echt und menschlich wirkt und sie in der Vergangenheit durch destruktive Entscheidungen wie u.a. ihrem Ja zum Irakkrieg oder ihren Einsatz für den Krieg in Libyen und die Tötung von Gaddafi (was sie lachend mit den Worten "We came, we saw, he died" kommentierte) aufgefallen ist.

Nun, einen ausführlichen Text zum Thema „Menschen mit ähnlichen Kindheiten gruppieren sich“ muss ich noch mal nach hinten schieben. Wobei, im Fall des Paares Clinton bestätigt sich diese These nach einem neuen Rechercheansatz von mir nun doch. Einem Bericht der New York Times (19.07.2015) nach, herrschte in Hillarys Kindheit ein rauer Ton, Strenge und straffe Regeln in der Familie. Ihr Vater weckte seine Tochter auf, wenn sie schlecht in Mathe war und nahm sie in die Mangel, in dem er sie rechnen ließ. Und zu gute Leistungen kommentierte er mit „You must go to a pretty easy school.“ (ebd.) Wenn Hillary vergaß, den Deckel auf die Zahnpastatube zu schrauben, warf ihr Vater die Tube aus dem Fenster, auch im Winter und Hillary musste sie suchen. Gegenüber seiner Frau und den Kindern war der Vater zudem beißend sarkastisch. Und er war gewalttätig und schlug seine Kinder. „He hurled biting sarcasm at his wife and his only daughter and spanked, at times excessively, his three children to keep them in line, according to interviews with friends and a review of documents, Mrs. Clinton’s writings and former President Bill Clinton’s memoir.“ (ebd.) In deutscher Sprache hat meines Wissens nach nur die BILD (20.07.2015) diese Dinge aufgegriffen.

In der amerikanischen Dokumentation "Amerika hat die Wahl - Clinton gegen Trump" (von Michael Kirk, ausgestrahlt auf ARTE TV am 01.11.2016) wurde gesagt, dass die Mutter von Hillary unter ihrem Mann litt. Er beleidigte sie und ging respektlos mit ihr um. Es gab oft Streit im Hause der Familie. Carl Bernstein, Autor von  „ Hillary Clinton - Die Macht einer Frau“, sagt in der Doku: „Wenn er ihre Mutter in einem lauten Streit demütigte, lief Hillary in ihr Zimmer, hielt sich die Ohren zu und sagte: `Ich ertrag das nicht.`“ In der Dokumentation "Macht, Geld, Lügen. Clinton gegen Trump" (von Daniel Pontzen - ausgestrahlt im ZDF am 08.11.2016) kommt wieder Carl Bernstein zu Wort. Er sagt: "Hillarys Vater war ein schwieriger und sturer Mann, ein Menschenfeind, der die Mutter körperlich misshandelte." (Ebenso erlebte es Bill Clinton in seiner Familie bzgl. seines Stiefvaters, der seine Mutter misshandelte.)
Das zuvor erwähnte Buch von Bernstein gibt weitere vertiefende Einblicke oder besser gesagt: es legt Abgründe offen. „Hugh Rodham war ein bitterer, unerfülter Mann, dessen Kinder seinen unablässigen, herabsetzenden Sarkasmus und seiner misanthropischen Neigungen ertragen, seinen peinlichen Hang zur Sparsamkeit erdulden und schweigend hinnehmen mussten, wie er ihre Mutter demütigte und erniedrigte.“ (Bernstein  2007, S. 23) Die Beziehung der Eltern habe „geradezu krankhaft zerstörerische Züge“ gehabt, so Bernstein. (ebd., S. 24) Die destruktiven Verhaltensweisen von Hugh scheinen beständig zugenommen zu haben. Bernstein schreibt: „Als Hillary ins Teenageralter kam, schienen die schlechten Charakterzüge ihres Vaters endgültig die Oberhand gewonnen zu haben: Er konnte sich für fast nichts mehr begeistern und verlor jede Heiterkeit, während seine tyrannischen Ausfälle, seine schlechte Laune, die Klagelitaneien und seine Niedergeschlagenheit immer mehr zunahmen und er sich immer tiefer darin verstrickte.“ (ebd., S. 25) und „Das Leben im Hause Rodham hatte gewisse Ähnlichkeit mit einem militärischen Ausbildungslager, über das ein Spieß herrschte, der seine Schützlinge ständig heruntermachte und den man unmöglich zufriedenstellen konnte.“ (ebd., S. 27) Hugh „putzte jeden herunter, redete vollbrachte Leistungen klein, ignorierte Erfolge und legte die Latte für seine frustrierten Kinder immer höher, eine Methode, die er als `Charakterbildung` bezeichnete.“ (ebd., S. 27+28)

War seine Wut einmal geweckt, so war er furchterregend, und manchmal hatte es den Anschein, als könnte der ganze Haushalt jeden Augenblick bersten. Betsy und die wenigen Freundinnen, die Hillary mit nach Hause brachte, konnten sehen, wie schmerzlich erniedrigend das Leben mit Hugh Rodham für die Mutter war und dass Hillary unter den Wutausbrüchen ihres Vaters zusammenzuckte und unter seinem Geiz litt.“ (ebd., S. 29) Hillary, berichtet Bernstein, strengte sich furchtbar an, um einmal Anerkennung aus dem Munde ihres Vaters zu bekommen, wohl vergebens. (Mir kommt es so vor, als ob Hillary Clinton dies während ihrer politischen Karriere wiederholte. Sie war oft „nicht geliebt“, so sehr sie auch leistete, sich einbrachte und an Macht gewann. Zugespitzt zeigt sich dies im aktuellen Wahlkampf. Selbst wenn sie gewinnen sollte, sie scheint einfach ungemein unbeliebt in den USA zu sein.)
Die Wut des Vaters konnte auch handfester werden. Bernstein zitiert Hillary wörtlich bzgl. gewaltsamen Übergriffen auf die Kinder. Ihr Vater habe nicht mit der Rute gespart und an anderer Stelle sagte sie: „Gelegentlich ging es mit ihm durch, wenn er uns bestrafte. Dann brüllte er lauter oder griff insbesondere gegenüber meinen Brüdern zu härteren körperlichen Strafen (…). Doch selbst wenn er wütend war, zweifelte ich nie daran, dass er mich liebte.“ (ebd., S. 36+37) (Ihr Ehemann Bill Clinton idealisierte seinen gewalttätigen Vater genauso, wenn er über  (mit-)erlebte Misshandlungen berichtete, wieder eine Parallele.)

Ergänzend nahm ich die Autobiografie „Gelebte Geschichte“ von Hillary Rodham Clinton (2003) zur Hand. Hillary selbst beschreibt ihre Eltern wie folgt: „Hugh und Dorothy waren überzeugt davon, dass wir Härte brauchen würden, damit wir uns später auch unter widrigen Bedingungen behaupten könnten.“ (Rodham Clinton 2003, S. 28)
Bei all ihren Schilderungen über ihre Eltern fiel mir immer wieder auf, dass sie diesem Satzkonstrukt sinngemäß wie folgt treu blieb: „Härte? Ja. Aber nur zu meinem Besten! Meine Eltern lieben mich.“ Kritik gegenüber ihren Eltern und deren Erziehungsmaßnahmen findest man nicht in ihrer Autobiografie. Diese Sichtweise ist nicht ungewöhnlich, sondern ganz im Gegenteil geradezu klassisch für Kinder (und die später Erwachsenen), die destruktive Erziehungsmaßnahmen erlitten haben. Oft habe ich im Blog darüber berichtet. (Am Besten hat diesen Prozess der Identifikation mit dem Aggressor Arno Gruen beschrieben.)

Hillary gibt ein Beispiel über ihre Mutter Dorothy. Hillary wurde oft von einem Nachbarsmädchen gehänselt und belästigt, kam manches Mal weinend nach Hause. Sie war gerade mal vier Jahre alt. Ihre Mutter versperrte ihr eines Tages, an dem Hillary wieder einmal nach Hause geflüchtet war, den Weg und schickte sie raus. Sie gab ihr die Erlaubnis, sich gegen das Mädchen zu verteidigen, auch mit Gewalt. „Du musst lernen, dich zu verteidigen. In diesem Haus ist kein Platz für Feiglinge“, sagte sie. (ebd., S. 28)
Diese Szene wird von Hillary idealisiert. Sie nahm sie als Lehre dafür, Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg zu gehen und Stärke zu zeigen. Und sie verbucht sie als Erfolg, denn ab dem Tag – denn das vier Jahre alte Mädchen ging kämpferisch zu der Peinigerin zurück - wurde sie nicht mehr gehänselt und sogar Freundin des Mädchens. Ihre Mutter habe sich nach diesem Rausschicken der Tochter eigenen Angaben zu Folge schrecklich gefühlt und aus dem Fenster heraus beobachtet, wie die Tochter nach Gegenüber marschierte.
In diesem Bericht ist alles enthalten, um was es mir geht. Eine Mutter, die als mitfühlend dargestellt wird und ihre Härte nur zum Wohle des Kindes einsetzen würde. Um es gleich klarzustellen: Mich freut es für Hillary, dass das Ganze damals gut ausging. Zudem bin ich ganz dafür, Mädchen wie Jungen auch Wehrhaftigkeit mit auf dem Weg zu geben. (Ich als Elternteil von einem vier Jahre alten Mädchen hätte die Situation allerdings anders gelöst und wäre als Erwachsener zu den Nachbarn gegangen, um dort zu reden und ggf. auch auf den Tisch zu hauen. Wie auch immer.) Mir geht es um den Satz: „In diesem Haus ist kein Platz für Feiglinge.“ Mit dem Wissen um weitere (teils oben angerissene) Details aus der Familie und ihren Erziehungsvorstellungen, wird hier zentral deutlich, dass dem Mädchen keine Wahl gelassen wurde: Friss oder stirb; Leistung oder wir lassen Dich fallen; Härte bewundern wir, ansonsten gehörst Du nicht zu uns, Feigling...

Sehr ausführlich beschreibt Hillary übrigens die Kindheit ihrer Mutter. Diese wurde schon sehr früh von ihren Eltern sich selbst überlassen. Sie bekam im Alter von drei oder vier Jahren Essensmarken für ein Restaurant in der Nähe, statt Mahlzeiten zu Hause. Zusammen mit ihrer Schwester wurde sie in der Verwandtschaft herumgereicht und war oft alleine. Als sich die Eltern scheiden ließen, wurde die achtjährige Dorothy zusammen mit der dreijährigen Schwester in einen Zug gesetzt und beide reisten alleine quer durch die USA zu den Großeltern nach Kalifornien.
Meine Mutter blieb zehn Jahre in Kalifornien. Ihren Vater sah sie selten, die Mutter nie. Der Großvater Edwin senior (…) überließ die Mädchen seiner Frau Emma, einer strengen Person (…). Sie hegte eine tiefe Abneigung gegen meine Mutter und ließ ihr nur dann Aufmerksamkeit zuteil werden, wenn es darum ging, ihre strikten Hausregeln durchzusetzen. (…) Als das Mädchen sich einmal an Halloween über die strengen Regeln hinwegsetzte und mit den anderen Mädchen von Tür zu Tür ging, um Süßigkeiten zu erbitten, wurde sie hart bestraft. Sie sollte ein Jahr lang auf ihrem Zimmer bleiben, das sie nur verlassen durfte, um zur Schule zu gehen. Sie durfte ihre Mahlzeiten nicht am Küchentisch einnehmen und auf dem Heimweg von der Schule nicht trödeln oder im Vorgarten verweilen.“ (ebd., S. 15, 16) Mehrere Monate musste Dorothy dies ertragen, bis eine Verwandte, die zu Besuch kam, das Ganze beendete. Im Alter von vierzehn Jahren verließ Dorothy ihre Großeltern und fand Unterschlupf bei einer Familie, die sie als Hausmädchen anheuerte.

Heute wissen wir viel über die unbewusste Weitergabe von Traumatisierungen an die folgende Generation. Dorothy gehört zu einer Generation, für die Therapie noch ein Fremdwort war. Es ist im Grunde unmöglich, dass eine so heftige (unbearbeitete) Kindheitsgeschichte nicht destruktiv auf ihre Kinder gewirkt hat. Woher sollen Empathie und Wärme kommen, wenn mensch als Kind so alleine gelassen wurde? Sicher erkennt man auch einen Fortschritt, denn sie schaffte es, ihre Kinder nicht alleine zu lassen, Die Ängste vor dem Leben hat sie meiner Meinung nach ganz sicher auf ihre Kinder übertragen. "Werde hart, denn das Leben ist hart", scheint mir die zentrale Botschaft zu sein, die diese Mutter ihren Kindern mit auf dem Weg gab. Ich bin nach den geschilderten Details sehr skeptisch, was schwärmerische Schilderungen von Hillary über ihre Mutter angeht. Ich denke, dass meine Skepsis nachvollziehbar ist.

Auch bzgl. ihrem Vater fallen Idealisierungen ins Auge. Die oben beschriebene körperliche Gewalt gegen die Kinder erwähnt Hillary nicht in ihrer Autobiografie, was schon einmal an sich Einiges aussagt. (Nebenbei bemerkt hat Hillary an einer Stelle auch verraten, dass ihr Vater wohl selbst als Kind Prügel erhielt. Sie berichtet von seinen Erzählungen. Er hatte während eines Ausflugs mit einem Freund einen Unfall mit einem Lastwagen. Seine Beine wurden eingequetscht und die Ärzte wollten sie amputieren. Seine Mutter verhinderte dies, die Beine konnten gerettet werden. Im Krankenhaus verlor er das Bewusstsein. "Als er wieder zu sich kam, hielt seine Mutter an seinem Bett Wache. Sie versicherte ihm, dass seine Beine gerettet seien und dass er eine ordentliche Tracht Prügel beziehen würde, sobald er wieder nach Hause käme." (ebd., S. 18) Unfassbar, einem Kind in einer solchen Situation mit Prügel zu drohen! Offensichtlich hat er später diese körperliche Gewalt an seinen Kindern wiederaufgeführt.)
Hillary schreibt: „Mein Vater war strikt in seinen Auffassungen und ausgesprochen starrköpfig. Sein Wort war in unserem Haus Gesetz, gleich wie extrem (…) seine Ansichten auch sein mochten.“ (ebd., S. 26,27) Oder: „Mein Vater war ein Mann mit Überzeugungen, die er vehement vertrat. In den angeregten und manchmal hitzigen Diskussionen beim Abendbrot ertrug die Familie seine Vorträge, in deren Mittelpunkt meist Kommunisten, dubiose Geschäftsleute oder korrupte Politiker standen – in seinen Augen die drei niedrigsten Lebensformen.“ (ebd., S. 28)

Was ich mit Idealisierung meine, wird an Hand folgenden Zitates deutlich (in dem es um die bereits erwähnte Situation mit der Zahnpastatube geht): „Vergaß eines von uns Kindern, die Verschlusskappe auf die Zahnpastatube zu schrauben, warf mein Vater diese aus dem Fenster, und wir mussten hinausgehen, und sei es bei Schnee, um in den Büschen vor dem Haus danach zu suchen. Auf diese Weise rief er uns immer wieder ins Gedächtnis, dass wir nichts vergeuden sollten, und sei es nur Zahnpasta, die aus einer unverschlossenen Tube quoll. Ich lernte diese Lektion gut. Bis heute gebe ich nicht gegessene Oliven in das Glas zurück, wickle auch den winzigsten Käserest noch in Frischhaltefolie und fühle mich schuldig, wenn ich irgendetwas wegwerfe. Er war ein harter Lehrmeister, aber wir wussten, dass er sich um uns sorgte und alles für uns tun würde.“ (ebd., S. 27)  Es macht mich fast etwas fassungslos, wie deutlich in diesem Zitat die Unterwerfung des Kindes wird, das seine eigene Sicht aufgibt und den (harten, strafenden) Vater idealisiert. Solche Art Sätze habe ich hunderte gelesen im Laufe meiner Beschäftigung mit den Folgen von Kindesmisshandlung und destruktiver Erziehung. Es ist immer das gleiche Muster. Doch wir reden hier über eine der mächtigsten Frauen der Welt und demnächst vielleicht sogar der Mächtigsten, die als Erwachsene immer noch in dieser Zwickmühle zu stecken scheint.  Diese Zwickmühle gilt für alle Kinder von destruktiven Eltern, weil natürlich sind sie auf die Liebe und den Schutz angewiesen. Werden sie von den Eltern verletzt oder bedroht, müssen die Eltern zum eigenen Schutz idealisiert werden. Leider geht dies oftmals auf Kosten der emotionalen Welt. Vielleicht ist genau das die Kälte, die viele Beobachter, wie auch ich, bei Hillary Clinton wahrnehmen?

Einen Tag vor dem Tod ihres Vaters (dieser hatte einen Schlaganfall erlitten und all ihre Gedanken kreisten um ihn in dieser Zeit) hielt Hillary Clinton eine Rede vor 14.000 Menschen. Sie zitierte darin den Politikberater Lee Atwater, der kurz vor seinem Krebstod einen Artikel  über das „spirituelle Vakuum im Herzen der amerikanischen Gesellschaft“ geschrieben hatte, was Hillary hervorhebt. (ebd., S. 214) In ihrer Rede zitierte sie ihn u.a. wie folgt: „Ich erwarb mehr Reichtum, Macht und Prestige als die meisten. Aber man kann alles erwerben, was man sich wünscht, und sich immer noch leer fühlen.“ (ebd., S. 214) Meinte sie damit auch sich selbst?

Insgesamt betrachtet würde ich sagen, dass die Kindheit von Hillary Clinton im Vergleich zu der ihres Mannes weniger destruktiv war. Allerdings wird klar, dass diese beiden Menschen nicht zufällig zusammengefunden haben. Beide verbinden ähnliche Kindheitserfahrungen. Zudem: Ein ähnliches Traumaniveau wie das von Bill vermute ich nach den o.g. Schilderungen auch bei der Mutter von Hillary. Menschen suchen manches mal Partner aus, die der Struktur der Eltern oder eines Elternteils  ähneln und reinszenieren auf die Art die Familiengeschichte.



Verwendete Quellen:

Bernstein, Carl (2007): Hillary Clinton. Die Macht einer Frau. Droemer Verlag, München.

BILD.de, 20.07.2015, "Warum Clinton ungern über ihren Vater spricht"

Pontzen, Daniel: Dokumentation "Macht, Geld, Lügen. Clinton gegen Trump" (ausgestrahlt im ZDF am 08.11.2016)

Kirk, Michael: Dokumentation: Amerika hat die Wahl - Clinton gegen Trump" (ausgestrahlt auf ARTE TV am 01.11.2016)

Rodham Clinton, Hillary (2003): Gelebte GeschichteEcon Verlag, München.

The New York Times, 19.07.2015, "Hillary Clinton Draws Scrappy Determination From a Tough, Combative Father" (von Amy Chozick)

Dienstag, 19. Juli 2016

Opferrituale. Ereignisse in der Türkei bestätigen psychohistorische Annahmen

Es ist ganz und gar erstaunlich…. Die Ereignisse in der Türkei bestätigen derzeit fast in Reinform psychohistorische Annahmen. Vorweg möchte ich noch einmal Details über die Kindheit von Recep Tayyip Erdoğan ergänzen (ich hatte hier im Blog seine Kindheit ja bereits besprochen.) Quelle für diese Ergänzung ist folgendes Buch: Akyol, Cigdem (2016): Erdogan: Die Biografie. Verlag Herder: Freiburg im Breisgau. (Kindle-EBook Version.)

Im Hause Erdoğan verhängte der Vater harte Strafen. Er habe, so die Biografin Cigdem Akyol, die strengen Regeln der Seefahrt mit nach Hause gebracht. Erdoğan sagte folgendes über seinen Vater: „Wir respektierten die Autorität. Wir hätten sonst auch gewusst, dass unser Vater uns andernfalls schwer dafür würde büßen lassen.“ Und „Wenn man fluchte, war die Rechnung dafür teuer. Deswegen hat unser Vater von Zeit zu Zeit mit uns abgerechnet.“ Erdoğan erzählte einst eine Anekdote aus seiner Kindheit. Er habe eine Nachbarin beschimpft. „Da hat sie sich mir vorgenommen. Je mehr ich fluchte, desto mehr gefiel ihr das, und sie schlug mich auf den Po. Sie schlug mich, und ich fluchte. Sobald mein Vater kam, der im Stadtteil sehr beliebt war, hat sie sich über mich beschwert. Davon wusste ich natürlich nichts. Mein Vater kam herein … möge er in Frieden ruhen … Er packte mich und hängte mich unter die Decke. Ob er mich dafür an den Händen oder unter den Achseln gefesselt hat, weiß ich nicht mehr. Ich blieb fünfzehn oder zwanzig Minuten hängen, bis mein Onkel kam und mich rettete. Danach war die Zeit des Fluchens für mich vorbei.“ (Akyol 2016, Kapitel „Ein strenges Elternhaus“, Position 731-737) Solche Maßnahmen, sagte er der Autorin folgend lächelnd, seien aber auch „sinnvoll gewesen“.  Erdogan würde seine strengen Eltern bis heute verehren und habe nie ein schlechtes Wort über sie gesagt. Vieles habe er schöngeredet oder romantisiert. (Akyol 2016, Kapitel „Ein strenges Elternhaus“, Position 720)

In meiner anderen Quelle über seine Kindheit (siehe Link oben) wurde gesagt, er sei kopfüber von seinem Vater aufgehängt worden. Sofern der Vater nicht vorhatte, ihn zu befreien (und das sieht so aus) und der Onkel ihn quasi gerettet hat ist die Frage, ob dies nicht auch an eine versuchte Kindestötung grenzte? Der kleine Junge scheint sich, das zeigen Erdoğans eigene Worte, in der Folge gefügt und unterworfen zu haben. Mehr noch, alles deutet auf eine starke Identifikation mit dem Aggressor hin. Heute ist er aber kein Kind mehr, sondern der Präsident der Türkei! Nichts deutet darauf hin, dass er diesen Kindheitsalptraum aufgearbeitet hat.

Ich habe vor Kurzem schon in einzelnen Radiobeiträgen gehört, dass Erdoğan nach dem aktuellen Putschversuch von einem „Geschenk Gottes“ sprach und nun das Militär „säubern“ wolle. Da klingelten bei mir bereits die Alarmglocken! Dann kamen noch Berichte über seine Wortwahl von einem „Virus“ hinzu und schließlich von einem „Krebsgeschwür“. Die "Säuberung aller staatlichen Institutionen von diesem Geschwür" werde weitergehen, sagte er und  "Denn dieser Körper, meine Brüder, hat Metastasen produziert. Leider haben sie wie ein Krebsvirus den ganzen Staat befallen." (Tagesspiegel, 17.07.2016, „Erdogan will Staat von Gülen-"Geschwür" säubern“) Das sind genau die Art von Fantasiewörtern, die Lloyd deMause in seinen Werken hervorhebt. Sie stehen für eine Wiederaufführung von Kindestraumata, aber auch für fötale Belastungen ("Fötales Drama“). Bzgl. Erdoğan ist erwiesen, dass er als Kind misshandelt wurde und das schwer. Derzeit werden die Stimmen in der Türkei lauter, die die Wiedereinführung der Todesstrafe fordern. Auch Erdoğan würde sich diesem Wunsch des Volkes nicht in den Weg stellen, wie er sagte. Es geht jetzt also auch noch um Menschenopfer...

Erdoğan ist nicht denkbar ohne große Teiles des türkischen Volkes, die ihn verehren und bewundern. Über die Türkei gibt es meines Wissens nach bisher wenig repräsentative Daten über die Verbreitung von Kindesmisshandlung. Gewalt gegen Kinder durch Eltern ist in dem Land weiterhin legal, ebenso gibt es keine expliziten Verbote von Körperstrafen an Schulen. Wir können bzgl. der Kindererziehung in diesem Land nicht von fortschrittlichen Standards ausgehen. Insofern spielt auch die Identifikation mit dem Aggressor im Volk eine Rolle. Die aktuellen Ereignisse in der Türkei machen mir wirklich Sorgen.

Der Theorie von Lloyd deMause nach sind Kriege, kollektive Paranoia und Opferrituale Antworten auf Wachstum, Fortschritt und schnelle gesellschaftliche Veränderungen. (Oder anders gesagt: Wachstum und Veränderungen wecken das Opfer in den Menschen und dessen unerträgliche Gefühle.) Auch dies trifft auf die Türkei zu, die vor allem unter Erdoğan in den letzten Jahren einen starken (nie dagewesenen) Modernisierungsschub erlebt hat (bei einer gleichzeitigen Rück-Traditionalisierung bzw. Islamisierung des Landes). Dieser Fortschritt des Landes ist in diversen Artikeln und Beiträgen nachlesbar. Ein Beispiel dafür ist z.B. ein Artikel auf WELT-Online: http://www.welt.de/wirtschaft/article131115977/Das-Meisterwerk-des-Sultans-Erdogan.html
Der türkische Aktienmarkt ist nach den Ereignissen eingebrochen, Touristen werden nach den aktuellen Aktionen die Türkei meiden, Investoren werden sich andere Länder suchen, politisch treibt die Türkei in die Isolation und moderne Vordenker und Reformer werden noch extremer mundtot gemacht. Insofern scheint das unbewusste kollektive Ziel, das allgemeine soziale und ökonomische Wachstum zu reduzieren, erreichbar; zu einem hohen Preis, wohlgemerkt.

Freitag, 24. Juni 2016

Brexit - "Warum nicht auch mal im Kollektiv Amok laufen?" Oder: Die Identitätskrisen von Nationen

Unter dem Titel "Wenn Länder Amok laufen" hat der ZEIT-Kolumnist Michael Thuman einige Sätze geschrieben, die die Sache auf den Punkt bringen:
"Warum nicht auch mal im Kollektiv Amok laufen? Die Briten machen es vor. (...) Die schreiende Irrationalität hat gesiegt. (...) Es ist die Identitätsfrage. (...) "Wer sind wir?" und "Was wird aus uns?" Es sind dieselben Fragen, die die Pegida-Demonstranten auf die Straßen treiben. Daraus sprechen Unsicherheit, Angst – und ein rabiater Nationalismus. Im Umkehrschluss wächst die Forderung nach Abschottung, Erlösung in der Gemeinschaft der Gleichgesinnten und Gleichgeborenen. Die ganze britische Kampagne ist wie Trumps Propaganda von der Identitätsfrage vergiftet."

Es geht um Identität bzw. um die Krise der eigenen Identität, um Erlösungswünsche, um Vergiftung, um Emotionen, um Irrationalität. Ja.

Die psychohistorische Theorie kann die aktuellen Prozesse gut in der Tiefe erklären, wie ich meine. Die ungefestigten, unsicheren Identitäten (auf Grund destruktiver Erziehungspraktiken und Ohnmachtserfahrungen) sind es, die derzeit emotional aufbegehren. Das liegt vor allem an der enormen Entwicklung in der Welt, am Fortschritt, Wachstum, Veränderungen, Flexibilisierung der Lebenswelten, Digitalisierung, am Abschütteln von alten Traditionen (dabei vor allem auch die Geschlechtsrollen), um Flüchtlinge, die Gesellschaften verändern usw. Menschen, die nicht frei, liberal, liebevoll und geborgen aufwachsen durften, werden dadurch besonders erschüttert. Der feste Halt und Rahmen fehlt, die eigene Identität droht gefühlt zu zerfallen (innerlich gefestigte Identitäten sind dagegen nicht so leicht durch äußere Einflüsse umzuhauen), man muss sich wehren und verteidigen, man muss „etwas“ tun. Vor 100 Jahren wäre es jetzt Zeit für einen Weltkrieg, da die gesellschaftlichen Prozesse (und lange Friedenszeiten + mehr an Freiheiten) enormen Druck aufgebaut haben, der sich entladen muss in "Rückschrittsprozssen", Selbstzerstörung und dem Kampf gegen Wachstum und Veränderung, sowie in der Suche nach Feinden und Sündenböcken.

Der Weltkrieg wird aber ausbleiben! Dafür hat sich die Kindererziehungspraxis bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung bereits zu sehr modernisiert. Entsprechend entlädt sich der Druck gedämpft und symptomartig in Einzeltaten wie auch der Verrohung von Sprache und Reden usw. Eben all die Dinge, die wir seit Monaten in den Medien verfolgen. Oder eben jetzt im Brexit, was schon eine größere Sache ist (aber immerhin hat fast jeder zweite Brite für den Verbleib in der EU gestimmt!). In den Regionen (Syrien, Afghanistan, Irak, Elfenbeinküste, Jemen usw.) , in denen immer noch die große Mehrheit der Menschen als Kind (vor allem durch Elternfiguren) routinemäßig geschlagen und gedemütigt wurde und wird, entlädt sich der gesellschaftliche Wachstums- und Veränderungsdruck weiterhin in Bürgerkriegen und Terror. Bei uns sind die Symptome Pegida, AFD, rechtsextreme Angriffe & Co., was im Vergleich eine deutlich mildere Reaktion ist, wenn auch trotzdem enorm destruktiv wirkend.

Große Konzerne wie Googel bzw. Alphabet, Apple & Co. haben angekündigt, die Welt in den nächsten 20 Jahren stark zu verändern. Im Westen werden die Menschen diese Revolution emotional aushalten (Einzeltaten, diverse Irrationalitäten und Krisen werden dabei nicht ausbleiben, aber es wird nicht zu vernichtenden Krisen oder gar Kriegen kommen), denn in 20 Jahren bestimmen weitgehend die Menschen das Leben, die relativ modern und liberal erzogen wurden. Um andere Regionen mache ich mir da mehr Sorgen, vor allem Indien, Afrika und den Nahen Osten, evtl. auch China. Wir werden sehen. 

Um nicht missverstanden zu werden. Es gibt diverse Einflüsse, die Krisen und Irrationalität hervorbringen. Das versteht sich für mich von selbst und ich merke dies i.d.R. nicht an. Aber Kindheitseinflüsse werden in den Analysen im Grunde immer ausgeblendet. Deswegen muss ich jetzt etwas dazu schreiben. Dabei ließe sich das Ganze sogar sozialwissenschaftlich nachweisen. Man müsste repräsentativ Brexit-Befürworter und Gegner nach ihren Kindheiten befragen, (Oder die Kindheit von z.B. Pegida-Anhängern mit der der Durchschnittsbevölkerung vergleichen.) Ich bin sicher, dass man signifikante Ergebnisse erhalten würde. Schon jetzt steht fest, dass der Brexit nicht ohne die Generation 50+ (noch deutlicher bei der Generation 65+) stattgefunden hätte ("Brexit-Referendum: Wer hat eigentlich wie gewählt"). Je jünger die Briten, desto mehrheitlicher waren sie für einen Verbleib in der EU. Und fest steht auch: Je jünger die Menschen in der EU, desto weniger elterliche Gewalt und Demütigungen und desto mehr Fürsorge und Liebe haben sie erlebt. Die Alten haben den Jungen die EU-Gemeinschaft geklaut. Zeit für einen Generationswechsel!

Mittwoch, 15. Juni 2016

Omar Mateen - Erste Spuren zu einer destruktiven Kindheit

Omar Mateen war ein gewalttätiger Mann. Das erlebte z.B. seine Ex-Frau schon Jahre vor dem aktuellen Massaker in Orlando. Omar misshandelte sie. Seine Ex-Frau sagte.„He would just come home and start beating me up because the laundry wasn’t finished or something like that.” (washingtonpost.com, 13.06.2016, „Gunman who killed 49 in Orlando nightclub had pledged allegiance to ISIS“)
Es ist erstaunlich, dass in der kurzen Zeit nach dem Massemord bereits zwei wesentliche Informationen über das Familienleben und die Kindheit von Omar vorliegen. Eine ehemalige Nachbarin sagte in einem Interview, dass Omar ein sehr rastloses und schwer zu kontrollierendes Kind gewesen sei. Seine Mutter schlug ihn häufig. „She said that Mateen’s mother `used to slap him a lot` when he got too rambunctious.“ (New YorK Daily News, 13.06.2016, „Former Long Island neighbor of Orlando gay club shooter recalls him as ‘restless’ kid“) Die Nachbarin hatte offensichtlich wenig Mitleid mit dem Kind, sondern eher mit den Eltern, denn sie fügte an:
Poor parents. You can tell when children behave like that, they bring it up with them.“ (ebd.)

Ebenso ist häusliche Gewalt im Hause Mateen belegt. Omars Mutter wurde 2002 inhaftiert, weil sie gewalttätig gegen ihren Ehemann wurde. (radaronline, 13.06.2016, „Violent Past exposed! Orlando Shooter`s Mom Arrested After Attack“ ) In einem anderen Bericht wurde ebenfalls über die Inhaftierung der Mutter geschrieben. Omars Mutter habe allerdings ausgesagt, ihr Mann hätte gedroht, sie zu töten. (TCPalm, 14.06.2016, „Domestic battery charge dropped against Omar Mateen’s mother“) Demnach hätte sie sich nur verteidigt.  Ob die Mutter von sich aus häusliche Gewalt ausübte oder der Vater der eigentliche Aggressor war, so oder so, beide Möglichkeiten bedeuten für die Kinder der Familie ein Aufwachsen in einer Atmosphäre der Gewalt.

Omars Vater hat nach der Tat seines Sohnes über Facebook verlauten lassen: „Es ist Sache Gottes, Homosexuelle zu bestrafen. Nicht die seiner Diener.“ (welt.de, 13.06.2016, „Vater des Täters verstört mit schwulenfeindlichem Video“) Das spricht nicht gerade für emotionalen Feinsinn, um es milde auszudrücken. Der Vater sei außerdem in der afghanischen Gemeinde für seine „ultrakonservativen Ansichten“ bekannt und in einem Video nannte er die radialislamischen Taliban „Kriegsbrüder“. (ebd.) Ein anderer Bericht geht ausführlich auf das teils bizarre politische Verhalten von Omars Vater ein: „Doch wo sieht sich Seddique Mateen selber? Nicht nur als Politiker, sondern gar als der nächste afghanische Präsident, wie er auf seinem Youtube-Kanal und auf Facebook proklamiert. Sogar als «Übergangsregierung» betitelt er sich. Seine Organisation, deren Grösse nicht eruiert werden kann, glaubt er als einzig möglicher Vermittler zwischen Taliban und den USA (…)“ (tagesanzeiger, 13.06.2016, „Der bizarre Vater“)

Dies alles sind erste wenn auch überdeutliche Oberflächeninformationen. Es ist zu vermuten, dass unter dieser Oberfläche Abgründe lauern. Die unvorstellbar grausame Hass-Tat von Omar Mateen erzählt ja an sich bereits etwas über den Täter. Wieder einmal bestätigt sich, dass geliebte und gewaltfrei erzogene Kinder nicht zu Massenmördern werden. Diese Täter kommen von genau der anderen Seite. Darüber sollten wir reden.


Mittwoch, 8. Juni 2016

DER SPIEGEL über die Kindheit von Friedrich II. und wiederum auch nicht....

Immer wieder kritisiere ich hier im Blog, wenn Experten oder Medien Kindheitshintergründe ausblenden. Jetzt ist mir ein Fall untergekommen, den ich so noch nicht erlebt habe! Das ist glatt einen Beitrag wert. Man könnte fast lachen, wenn es nicht im Grunde so ungeheuer nachlässig wäre. Der Fall ist einmalig, weil die Kindheitshintergründe ausführlich gesehen werden. Es geht um den Artikel "Mutters Söhnchen" im SPIEGEL (Nr. 16 / 16.04.2016, ab Seite 128). Der Autor beschreibt umfassend die extrem destruktive Kindheit von Friedrich II. (Preußen), teils mit Details, die mir neu waren. (Ich selbst habe die Kindheit von Friedrich II. hier umfassend beleuchtet). Der Artikel beginnt wie folgt:

"Wäre aus dem kleinen Friedrich ein Schwerverbrecher geworden, hätte die Nachwelt ihm sicher mildernde Umstände zugebilligt – der Junge hatte wahrlich eine schlimme Kindheit. Sein Vater verhöhnte und verprügelte ihn, ließ ihn einkerkern und beinahe exekutieren. Doch aus dem Kronprinzen wurde kein Mörder, sondern ein Monarch – und was für einer."

Das ist in der Tat neu! Die extrem schlimme Kindheit wird gesehen, ebenso das mörderische Potential, was daraus erwachsen kann. Friedrich II. (der fast ständig Krieg führte!) wird aber einfach als Staatsmann verehrt, seine kriegerische/mörderische Seite gleich in der Einleitung einfach verleugnet. Unglaublich, so etwas ist mir noch nicht untergekommen...


Freitag, 3. Juni 2016

Serienmörder Frank Gust und wie Fachmensch an dessen Kindheitsalptraum vorbeisehen kann

In der Sendung „Markus Lanz“ vom 26.05.2016  habe ich aufmerksam und mit Interesse die Redebeiträge des geladenen Experten und Polizeipsychologen Adolf Gallwitz verfolgt. Ich empfand Herrn Gallwitz als sehr informierten und fundierten Fachmann bzgl. des Themas Mord bzw. Serienmord. An einer Stelle allerdings fragte Herr Lanz, wann der Wunsch in einem Menschen entstehen würde, andere zu quälen und umzubringen und er fügte an: „Woher kommt das, dieser Wille jemand anderen zu vernichten?

Der Experte antwortete an Hand des Fallbeispiels „Frank Gust“, der inhaftiert ist und diverse grausame Morde begangen und auch Tiere gequält hat (der Fall war mir persönlich vor dieser Sendung gar nicht bekannt). Er berichtete von Schlüsselerlebnissen in der Kindheit des Täters. Gust habe Tiere grausam getötet und dabei quasi sein Interesse und (sexuelle) Lust am Töten gefunden. Bzgl. der Frage des „Warum?“ sagte Gallwitz, es ginge oft auch um Geborgenheit. Die Sadisten hätten die Liebe der Mutter, wie sie sich es gewünscht hätten, nie bekommen und würden sie erzwingen wollen. Er ergänzte: „Sie wollten die Mutter daran hindern, dass sie aufhören kann, ihn lieb zu haben, weil er sich vielleicht subjektiv nie lieb gehabt gefühlt (kurze Pause) und deswegen dominieren sie Menschen, manchmal vielleicht bevorzugt Frauen.“ Nun, der Satz an sich ist etwas durcheinandergeraten und in sich verwirrend. In so einer Sendung kann das passieren, aber der Gehalt dessen, was Gallwitz bzgl. des Falls „Frank Gust“ rüberbringen wollte, kam durchaus an und ließ letztlich Fragezeichen im Raum. Braucht es also nicht viel, damit ein Mensch zum Mörder gar Serienmörder wird?

Ich muss gestehen, dass ich richtig ärgerlich wurde, als ich nach der Sendung kurz bei Googel „Frank Gust Kindheit“ eingab und gleich durch den ersten Treffer (http://www.peta.de/frankgust#.V1AH5Ltf3VI ) ein erstes erschütterndes Bild bekam.  Die Pädagogin und Kriminologin Petra Klages schrieb dem vorgenannten Link folgendes: „Gust erlebte in seiner Kindheit das, was viele Mörder und Serienmörder erleiden – er wuchs in einer lieblosen, kalten Familie auf und wurde außerhalb der Familie sexuell missbraucht, gefoltert, immer wieder vergewaltigt. Er veränderte sich, wurde zum notorischen Lügner, isolierte sich von seiner Umgebung und begann Tiere zu quälen und zu töten.“ Den Text kann man auch auf der Homepage von Petra Klages nachlesen: http://www.petra-klages.de/frank-gust.html

In dem Text schreibt die Fachfrau auch allgemein: „Mit ihren grausamen Taten reinszenieren sie häufig selbst erlittene Verletzungen ihrer kindlichen Psyche. Serienmörder und auch Mörder wachsen überproportional häufig innerhalb einer zerstörerisch wirkenden Familie auf. Häufig ist der Vater gewalttätig, es werden Drogen konsumiert, die Kinder werden vernachlässigt, körperlich und teilweise sexuell missbraucht. Aus Gewalttätigkeit entsteht verständlicherweise nur selten Positives, sondern produziert wiederum Gewalt.“

Auf der Seite hat Frau Klages auch einen Link zu einem Interview mit ihr und Frank Gust gesetzt. In dem Auszug fasst sie am Anfang zusammen, dass Frank Gust als Kind sexuell missbraucht wurde, in diversen, oft gewalttätigen Formen. Herr Gust gehe davon aus, dass seine Mutter und sein Stiefvater von dem Missbrauch wussten und davon profitierten. Fast täglich wurde Frank als Kind sexuell missbraucht, sein Hintern war aufgerissen und blutete oft „wie Sau“, sagte Gust. O-Ton Gust zu dem Missbrauch: „Das war für mich genauso normal, wie für andere Gleichaltrige Fußballspielen“.

Herr Gallwitz ist Experte (u.a. auch für Kindesmissbrauch), Gutachter, Psychologe, Profiler, Buchautor. Er arbeitet für die Polizei. Er war Dozent an der Hochschule für Polizei in Baden-Württemberg usw. Und er war bei Markus Lanz vor einem großen Publikum und wurden nach dem „Warum?“ bzgl. grausamer Taten gefragt. Dabei hat er sich bewusst für seine Antwort den Fall Gust gewählt und ist mit keinem Wort auf seine unglaublich schlimme Kindheit eingegangen. Etwas von zu wenig mütterlicher Liebe hat er erwähnt, aber „keine Liebe“ reicht nicht, um einen Menschen in einen Serienmörder zu verwandeln. Ich habe in den letzten Jahren unzählige andere Experten wahrgenommen, die in der Öffentlichkeit um das Thema Kindheit herum oder öfter noch ganz daran vorbeireden, wenn es um das „Warum?“ geht. Dieses Agieren von Expertenseite ist mit ein Grund dafür, warum die im Grunde längst erforschten Fundamente, aus denen heraus Mörder und Gewalttäter erwachsen können, nicht in der Gesellschaft zum Allgemeinwissen gehören.

Die Aussagen von Hern Gallwitz haben mich besonders geärgert, weil die Kindheitshintergründe des erwähnten Falles längst aufgedeckt wurden. Es sei denn, man glaubt den Angaben von Gust nicht, so wie offensichtlich der Psychiater Michael Osterheider, der mit Gust etliche Gespräche geführt hat. „`Gust hat alle möglichen Angaben gemacht, um darstellen zu können, wie schwer seine Kindheit gewesen ist. Nirgendwo konnten diese Hinweise objektiviert werden`´, sagt Osterheider. `Er hat einen Bruder, der in der gleichen Umgebung groß geworden ist, und der ist nicht straffällig geworden.` “ (faz.net, 11.07.2011, „Der böse Wolf“)

Die Mutter von Frank Gust ist nach eigenen Angaben als Kind selbst „ständig sexuell missbraucht“ worden. Sie sei gerade deswegen total fertig gewesen, als vor Gericht Berichte über den sexuellen Missbrauch an ihren Sohn in dessen Kindheit auftauchten. Sie habe ihren Sohn dann angeschrieben und ihr Sohn habe in seiner Antwort den Missbrauchsvorwurf widerrufen. (ZDF, „Mein Sohn, der Mörder“, ab ca. 20. Minute  ). Dies sei für sie als Mutter sehr wichtig gewesen, „dass das so nicht stehen bleibt.“.
Puh, als ich diese Aussage der Mutter gehört habe, musste ich erst einmal durchatmen. Der gesamte Bericht der Mutter ist sehr interessant, nicht so sehr bzgl. der Inhalte, sondern eher wie sie auf mich wirkt, vor allem in Situationen, wo sie emotional wirken möchte. Bei mir persönlich kommt nichts an Emotionen an, wenn diese Frau etwas sagt. Es ist mein persönlicher Eindruck. Sie wirkt auf mich sehr kalt. Dass sie selbst als Kind ständig sexuell missbraucht wurde, macht für mich die Aussagen ihres Sohnes noch einmal glaubhafter. Es ist fast schon klassisch, dass Mütter, die selbst sexuell missbraucht worden sind, oftmals keine Warnsignale wahrnehmen, wenn dies ihrem eigenen Kind passiert, gerade weil ihre eigenen Grenzen einst eingetreten wurden. Und natürlich neigen Menschen mit so einer Geschichte leider auch manches mal dazu, sich Partner zu suchen, die eine dunkle Seite haben, was wiederum die Aussagen von Frank bzgl. seines von ihm als kalt und streng erlebten Stiefvaters stützen würde. Deutlich gemacht hat die Mutter in ihrer oben zitierten Aussage, dass sie ihren Sohn unter Druck gesetzt hat. Ich knüpfe dies jetzt gedanklich weiter: Einen sexuellen Missbrauch darf es nicht geben, das ist nicht passiert, alles ist gut. Sind das nicht genau die Sätze, die man in der Fachliteratur über sexuellen Missbrauch immer wieder findet, wenn es um das familiäre Umfeld geht, das das Kind nicht schützen konnte oder wollte? Und wie oft kommt es vor, dass (auch erwachsene) Kinder ihre Vorwürfe zurückziehen, wenn sie Druck aus der Familie bekommen?

Ich verweise allerdings noch mal auf den oben zitierten Audioauszug, in dem Frank Gust über den Missbrauch eindeutig berichtet. Das klingt für mich sehr authentisch. Und es macht vor allem auch Sinn, denn er ist nun mal ein Serienmörder geworden und kein Ladendieb! Petra Klages schreibt an anderer Stelle: „Je stärker das Trauma, dem ein Täter in seiner Kindheit ausgesetzt war, desto fürchterlicher können seine Wut und seine eigenen Taten werden. Das hört sich fürchterlich banal an. Ist es aber nicht, denn es gibt sehr viele Arten, ein Kind zu zerstören. Manche wurden leider erst in der Neuzeit verstanden.“ (Klages, Petra (Hrsg.) (2011). Serienmord und Kannibalismus in Deutschland. Graz: Sammler Verlag. Kindle E-Book Edition, Position 190)
Die Taten deuten also an sich bereits auf Kindheitshintergründe hin, je nachdem wie grausam und in welchem Rahmen die Taten ausgeführt wurden. Dazu gibt es in der Kriminalpsychologie auch bereits explorative Forschungsansätze.

Ich habe noch etwas weiter recherchiert. Petra Klages hat in dem Buch "Brieffreundschaft“ mit einem Serienmörder (http://www.petra-klages.de/serienmord.html) Axel F. (Pseudonym, das sie für viele Mörder in ihren Arbeiten nutzt) ausführlich zu Wort kommen lassen. Hinter „Axel F.“ verbirgt sich sehr wahrscheinlich Frank Gust. Das Buch habe ich nicht gelesen, aber alle Berichte über das Buch stellen klar, dass die Kindheit des Serienmörders ein Alptraum war.
Als Buchbeschreibung steht unter vorgenannten Link: „Am Anfang ist da ein kleiner Junge, offensichtlich weich, liebebedürftig, meist  ausgeschlossen aus dem Kreis der Spielkameraden seines Bruders. Als der neue Stiefvater aber der Mutter Zärtlichkeit zu dem Sohn untersagt und ihm nur mit Härte begegnet, wird das Kind zum geeigneten Zielobjekt eines pädophilen Nachbarn. Auf perverse Weise nutzt dieser die Sehnsucht des Jungen aus,  groß und stark zu werden und all den Kränkungen seiner Umgebung zu entgehen. Was dann folgt,  ist die Hölle, ist Inferno. Es sind derart unglaubliche Geschichten, dass man immer wieder an ihnen zweifeln möchte - und doch zu dem Schluss kommt: Wenn auch nur die Hälfte stimmen mag, ist es des  Bösen immer noch zu viel.“
Es gibt auch eine private Rezension zu dem Buch, die es in sich hat: http://thanatischemanifestationen.blogspot.de/2014/04/review-brieffreundschaft-mit-einem.html

Demnach waren beide Eltern grausam zu „Axel. F“, später wurde er neben den Missbrauch durch einen Nachbarn auch an andere „Pädophile“ verkauft.

Nachdem, was ich oben dargestellt habe, hätten Herr Gallwitz bei Lanz antworten müssen:
Wissen Sie, nehmen wir den Fall Frank Gust. Frank erlebte als Kind nach eigenen Angaben einen Alptraum aus Gewalt, Kälte, Vernachlässigung und fast täglichem, schwerem sexuellen Missbrauch. Es gab keine Hilfe, keinen Trost. Das entschuldigt natürlich nichts und natürlich werden nicht alle missbrauchten Kinder später Serienmörder, aber es beantwortet vielleicht dennoch ihre Frage, lieber Herr Lanz.

(Einen Hinweis auf diesen Text habe ich Herrn Gallwitz zukommen lassen.)


Mehr zum Thema hier im Blog:

- James Gilligan: Gewalt 

- Jonathan H. Pincus: Was Menschen zu Mördern macht
 
- Stephen Harbort: Das Serien-Mörder-Prinzip.

- Basiswissen für die Kriminologie direkt aus dem Gefängnis: Das Kindheitsleid der Täter 

+ rechts in der Leiste diverse Massenmörder, deren Kindheit ich analysiert habe.




Montag, 23. Mai 2016

Kindheit von Lenin

Lenin (eigentlich Wladimir Iljitsch Uljanow, im Text bleibe ich aber bei "Lenin") wird von verschiedenen Autoren als Diktator bezeichnet, teils auch als Massenmörder und natürlich als Wegbereiter zur stalinistischen Diktatur und Schreckensherrschaft. Vor allem seine Beteiligung am sogenannten „Roten Terror“  sprechen Bände.  Ebenso gilt das – von Lenin befohlene - Massaker an der Zarenfamilie im Jahr 1918 „als Symbol für die Grausamkeit des bolschewistischen Regimes“. (von Flocken 2015)

Ich hatte schon vor einiger Zeit vier Biografien über Lenin durchgearbeitet. Dabei sind mir vor allem Widersprüche bzgl. der Schilderungen über seine Kindheit aufgefallen. Die Autoren zeichnen oberflächlich ein scheinbar normales Bild einer „sorglosen Kindheit“ (Ruge 2010, S. 25) Doch stimmt dies so? Meine Grundthese lautet bekanntlich, dass als Kind geliebte Menschen keine Massenmörder und/oder Diktatoren werden. Bei der jetzt erneuten Durchsicht der vier Arbeiten zeigt sich mir, dass es auch in Lenis Kindheit nicht wirklich heiter zuging.

Der Biograf David Shub (1958) beschreibt wenig Erhellendes über Lenis Kindheit. Allerdings erwähnt der Autor beiläufig einiges, was mich aufhorchen ließ. Lenis Vater wird dem Urteil eines Freundes nach als „starker, charakterfester Mensch, der sehr streng gegen seine Untergebenen war“ beschrieben. (Shub 1958, S. 29) In einem Empfehlungsschreiben für die Universität schrieb der Direktor des Gymnasiums und (nach dem Tod des Vaters per Testament bestimmten) Vormund Lenins – Fedor Kerenskij – u.a. „Sowohl in geistiger wie in sittlicher Beziehung wurde er aus sorgfältigste erzogen (…) zuerst von beiden Eltern und nach dem Tod des Vaters von der Mutter, die ihre ganze Fürsorge und Aufmerksamkeit der Erziehung ihrer Kinder widmete. Religion und strenge Zucht bildeten die Grundpfeiler dieser Erziehung, ihnen verdankt Uljanow sein vorbildliches Betragen.“ (ebd., S. 32) Der Biograf Stefan T. Possony beschreibt Lenins Vater allgemein als einen „auf strenge Zucht bedachten Mann“. (Possony 1965, S. 19) Ein paar Seiten weiter schreibt der gleiche Autor widersprüchlicher Weise, Lenis Vater schien gegenüber den Kindern „nicht streng gewesen“ zu sein, „wenn er auch, was keinem Zweifel unterliegt, zurückhaltend und ohne Wärme war.“ (ebd., S. 25)
Was bedeutet in diesen Zitaten das Wort „streng“ oder „Zucht“? Der Vater war streng, die Mutter war streng, gut, aber was für ein Verhalten gegenüber den Kindern und was für Strafen beinhaltete dies? Diese Frage bleibt im Raum, gibt aber begründeten Anlass für Spekulationen (zumal Lenin im Jahr 1870 geboren wurde und wir heute wissen, was sich hinter Worten wie „streng“ und „Zucht“ bzgl. der damaligen Kindererziehung oftmals verbarg.)

Wolfgang Ruge schreibt, dass wenig über das Verhältnis Lenins zu seinem Vater bekannt sei, zu seiner Mutter habe Lenin allerdings stets ein gutes Verhältnis gehabt. (Ruge 2010, S. 26+27) Ebenfalls beschreibt Possony Lenis Mutter als „allen ihren Kindern eine zärtliche Mutter“. (Possony 1965, S. 19) Ob dieses Bild der Mutter der Realität entspricht, werden wir im Textverlauf vielleicht noch klären.

Eindeutig war das eheliche Verhältnis von Lenis Eltern sehr belastet. Lenins Mutter – Maria – bereute bald nach der Eheschließung ihre Wahl, da ihr Mann „außer seiner Arbeit im Institut für Adlige noch mehrere andere Ämter innehatte und nur selten zu Hause war. Er hatte Schwierigkeiten mit einigen seiner Schüler, war übellaunig und fühlte sich von seiner Frau gelangweilt. Die Schwester Anna ging auf Marias Klagen ein und tadelte Ilja wegen der Vernachlässigung seiner Frau und wegen seines mangelnden Interesses an einem Familienleben; aber Maria erkannte, dass es das Los vieler Ehefrauen wäre, einsam zu sein.“ (Possony 1965, S. 21) In der Folge scheint es erhebliche Spannungen in der Familie gegeben zu haben. „Maria war eine Zeitlang ohne Grund eifersüchtig und wurde immer reizbarer und launischer. Sie gab die Musik auf, stand spät auf und vernachlässigte ihren Haushalt. Seit ihrem Umzug nach Nishni-Nowgorod teilte das Ehepaar Uljanow nicht mehr das Schlafzimmer. Ilja schlief in seinem Arbeitszimmer und Maria im Schlafzimmer mit ihrem Kind.“ (Possony 1965, S. 22) In der Folge war Maria zukünftig froh, wenn ihr Mann das Haus verließ, schreibt Possony weiter. Wie mag sich diese Atmosphäre zwischen den Eheleuten auf die Kinder ausgewirkt haben?
Nichts desto trotz bekam das Paar acht Kinder, wovon allerdings zwei im Säuglingsalter verstarben. (Service 2000, S. 49) Da der Vater oft abwesend war und die Mutter so viele Kinder zu versorgen hatte, ist zu vermuten, dass die Kinder auch alleine auf Grund der Rahmenbedingungen vernachlässigt wurden.

Dass die Mutter sehr gefordert war zeigt auch ein weiterer Sachverhalt. Um die Zeit der Geburt Lenins nahm die Familie eine Bäuerin bei sich auf und in ihre Dienste. Sie zog den kleinen Lenin auf, schreibt Passony. (Possony 1965, S. 25) Über die Art und Weise des Umgangs mit dem Kind erfährt man leider nichts von dem Biografen, obwohl der Einfluss dieser Frau sicher bedeutsam war. Sie blieb bis zu ihrem Tod im Jahr 1890 in der Familie.

Über den Stand des Vaters in der Familie gibt es eine weitere, sehr aufschlussreiche Textstelle. Am 12.01.1886 starb Lenis Vater unerwartet während des Mittagsessens; Lenin war zu der Zeit 16 Jahre alt. „Die Hinterbliebenen waren nur wenig betroffen, da Iljas Tod keine bedeutenden Veränderungen im Leben seiner Familie zur Folge hatte.“ (Passony 1965, S. 26)

Auch der Biograf Robert Service berichtet widersprüchliches: „Die warme Geborgenheit in der Familie hielt Vladimir nicht davon ab, sich asozial gegen seine Geschwister zu verhalten. Es gab immer eine Spur von Bosheit in seinem Charakter.“ (Service 2000, S. 62) Ebenso passt nicht wirklich zu einer „warmen Geborgenheit“, dass die Erfolgserwartungen der Eltern „gewaltig waren“, wie Service schreibt. (ebd., S. 63) Der junge Lenin wurde einige Jahre lang von diversen Privatlehrern auf die Schule vorbereitet. (ebd., S. 64) Die Zeit auf dem Gymnasium wird für Lenin prägend gewesen sein. „Disziplin wurde rigoros durchgesetzt. Wie andere Schuldirektoren jener Zeit arbeitete Kerenskij mit Prügel, Arrest, Strafaufgaben und vielen Moralpredigten, auch wurden die Schüler am Simbirsker Gymnasium – wie an allen übrigen zaristischen Schulen – von den Lehrern zur Denunziation ihrer straffällig gewordenen Kameraden angehalten. Eine solche Schule war für die meisten Schüler unerfreulich. Die Disziplin war lästig, mitunter brutal, die Arbeitsbelastung enorm, der Stoff ohne jeden Bezug zum täglichen Leben.  Zwar blieben Vladimir die schlimmsten disziplinarischen Maßnahmen erspart, doch ist kaum anzunehmen, dass das Schulerlebnis keine negativen Spuren in seinem Bewusstsein hinterlassen haben sollte.“ (Service 2000, S. 66)

Wie ich oben im Text beschrieben habe, wurde dieser strenge Schuldirektor später - nach dem Tod des Vaters – der Vormund von Lenin. Lenins Eltern hielten offensichtlich sehr viel von diesem Mann und seinen Methoden. Vielleicht erzählt dieser Sachverhalt auch ein wenig davon, was im Hause Lenin unter „Strenge“ und „Zucht“ verstanden wurde. Dies bleibt natürlich Spekulation. Anders als bei anderen Diktatoren und Massenmördern finden sich keine genauen Informationen über elterliche (körperliche) Gewalt gegen die Kinder. Aber es finden sich auch – trotz mancher Deutungsausbrüche der Biografen -  keine Hinweise darauf, dass in Lenins Familie liebevoll und gewaltfrei erzogen wurde. Die oben zusammengetragenen Informationen sind eindeutige Indizien für eine wenig freiheitliche und emotional eng verbundene Familie.

Eine Textstelle ist für mich ganz besonders zentral! Sie beginnt erneut mit einem Widerspruch seitens des Biografen. Service schreibt zunächst bzgl. der Erziehung in Lenis Familie: „Strafen wurden selten für nötig erachtet.“ (ebd., S. 60) Um dann anzuschließen, Lenis Vater hatte „ein aufbrausendes Temperament, und seine Kinder fürchteten seine Missbilligung auch dann, wenn sein Beruf ihn zu langen Reisen durch das Gouvernement Simbirsk entführte. In solchen Zeiten bestrafte Maria Alexandrovna ein unartiges Kind damit, dass sie es auf einen Stuhl im Arbeitszimmer des Vaters verbannte, wo es mucksmäuschenstill sitzen musste. Dieser Stuhl hieß ´der schwarze Stuhl`. In Erinnerung blieb der Familie die Episode, wie Volodja (Anmerkung: Rufname für den kleinen Lenin), nachdem er irgend etwas angestellt hatte, auf den schwarzen Stuhl geschickt wurde, wo ihn die Mutter dann stundenlang vergaß. Bei allem Mutwillen wagte er nicht, aufzustehen oder sich zu rühren, bis die Mutter ihn wiederholte.“ (Service 2000, S. 60)
Ein Kind, das so viel Angst davor hat, sich vom angewiesen Platz stundenlang nicht zu rühren, muss vorher „etwas“ erlebt haben. Es muss Strafen, Drohungen oder anderes in der Familie erlebt haben, ansonsten ist diese enorme Angst nicht erklärbar. Das vorgenannte Zitat zeigt auch, dass Lenins Mutter eine für das Kind bedrohliche Rolle eingenommen hat und psychische Gewalt ausübte, entgegen den idealisierenden Schilderungen der Biografen.

Außer den oben genannten Kernereignissen ist ein weiteres Ereignis in Lenins Jugend von Bedeutung. Nachdem Lenis Bruder Alexander ein Attentat auf den Zaren geplant hatte, wurde er am 08.05.1887 hingerichtet. Dies traf den jungen Lenin nachhaltig und er schwur Rache. Nachdem Lenin die Nachricht vom Tod seines Bruders erhalten hatte, schrie er: „Das sollen sie büßen, das schwöre ich.“ (Shub 1958, S. 10) Später sollte er – wie oben bereits erwähnt – die Ermordung von Zar Nikolai II. und dessen Familie befehlen. Dieser war der Sohn von Alexander III., auf den Lenins Bruder Alexander ein Attentat geplant hatte. Nachdem ihr Sohn hingerichtet worden war, dachte Lenins Mutter zunächst an Selbstmord. (Service 2000, S. 90) Für die Familie war dies Ereignis offensichtlich traumatisch.

Die Kindheit und Jugend von Lenin ist nicht so gut beleuchtet wie die anderer Diktatoren. Ich denke allerdings, dass ich oben herausstellen konnte, dass der junge Lenin schwer belastet war, in mehrfacher Hinsicht. Am Ende dieses Textes stelle ich dies noch mal zusammenfassend dar:

- Strenge Eltern, die hohe Ziele für ihre Kinder hatten und entsprechenden Leistungsdruck ausübten
- Ein emotional enorm gespanntes Verhältnis zwischen beiden Eltern
- Ein abwesender und desinteressierter Vater, der zudem früh verstarb. (Wobei unklar ist, ob und wie sein Tod Lenin belastete)
- Eine Art Weggabe des Säuglings Lenin an eine Bäuerin, die im Haus wohnte und ihn großzog.
- Psychische Gewalt und Strafen
- Miterleben einer kalten und strafenden Schule
- Traumatisches Ereignis: Hinrichtung des Bruders

Dazu kommt, dass ich persönlich vermute, dass es auch Körperstrafen gab (vor allem seitens des Vaters, der als streng und aufbrausend beschrieben wurde, ggf. auch durch die Bäuerin, die Lenin  aufzog) und dass psychische Drohungen und Gewalt keine Seltenheit in der Familie waren, ansonsten wäre die starke Verängstigung des jungen Lenin wie oben beschrieben auf dem „schwarzen Stuhl“ nicht zu erklären. Auch spricht das grausame Verhalten von dem erwachsenen Lenin dafür, dass die Belastungen als Kind enorm waren und entsprechend folgenreich.


Quellen:

Possony, Stefan T. (1965). Lenin. Eine Biographie. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik.

Ruge, Wolfgang (2010). Lenin. Vorgänger Stalins. Berlin: Matthes & Seitz Verlag.

Service, Robert (2000). Lenin. Eine Biographie. München: Deutscher Taschenbuchverlag.

Shub, David (1958). Lenin. Wiesbaden: Limes Verlag.

von Flocken, Jan (2015, 17.07.). Grausamkeit trieb Lenin zur Ermordung des Zaren. welt.de

Freitag, 29. April 2016

Neues Buch über Anders Breivik mit ausführlichen Infos über seine Kindheit


Ganz aktuell erschien das Buch "Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders" von Åsne Seierstad (von mir als eBook Kindle Version gelesen, Kein & Aber Verlag)

Das Buch enthält bzgl. der Kindheit von Anders Breivik für mich nicht viel Neues. Etwas ausführlicher als mir bereits bekannt wird in dem Buch auf die Vernachlässigung von Anders und seiner Schwester eingegangen, ebenso auf den oft offen geistig verwirrten Zustand der Mutter (Wenche). Eine Information schlug mir besonders ins Auge. Während des Aufenthaltes zusammen mit ihrem Sohn Anders zur Begutachtung in einer psychiatrischen Klinik (ich hatte bereits darüber berichtet) hörten die Ärzte Wenche ihren Sohn anschreien: „Ich wünschte, du wärst tot!“ (Position 386) Dass sie ihrem Sohn gegenüber solche Sätze gesagt hatte und ihn zweitweise auch abschieben bzw. zur Adoption freigeben wollte, war mir bereits bekannt. Dass sie diesen Satz auch innerhalb der Klink hörbar für Andere geschrien hatte, ist mir allerdings neu. Dadurch wird noch einmal deutlich, wie selbstverständlich ihre Ablehnung gegenüber ihrem Sohn war. Man mag sich gar nicht vorstellen, was alles zu Hause - in ihrem unbeobachteten Rahmen - passierte, wenn Wenche sich bereits so krass in dem Umfeld der Psychiatrie verhielt…

Die Autorin Seierstad geht sehr ausführlich auf die Mutter von Anders ein, was für mich neue Information bedeutet. Dass Wenche als Kind schwer belastet war, hatte ich bereits an anderer Stelle (siehe Link oben) kurz erwähnt. Das Bild wird durch „Einer von uns“ nun komplexer:

Wenche wurde gleich nach der Geburt in ein Kinderheim gegeben und blieb dort 5 Jahre. Dann schloss das Heim und sie kam zurück zu ihrer Familie, innerhalb der sie sich selbst überlassen blieb. Der Vater war oft abwesend, die Mutter ließ ihren Frust an der Tochter aus, schrie sie an, sie tauge zu nichts. Ein Bruder quälte und misshandelte sie ständig so sehr, dass Wenche es oft vorzog, außerhalb des Hauses zu bleiben oder sich versteckte. Auch die Kinder ihrer Umgebung grenzten Wenche aus, sie hatte keine Freunde. Mit 12 Jahren hatte sie ernste Suizidabsichten, nahm aber von dem Plan Abstand. Mit 17 Jahren verließ sie die Familie fluchtartig. Erst Jahre später besuchte sie erstmals wieder ihre Mutter, die mittlerweile ernsthaft psychisch krank geworden war und unter paranoiden Wahnvorstellungen und Halluzinationen litt. Das Pflegeheim sollte die Mutter nicht mehr verlassen, als sie starb, besuchte ihre Tochter die Beerdigung nicht. (Position 172-200)

Hier zeigt sich für mich noch einmal deutlich, dass der Fall Breivik viel mehr Kapitel aufschlägt, als nur die Geschichte eines misshandelten Jungen, der zum Massenmörder wurde. Auch seine Mutter hatte eine extrem schwere Kindheit. Die Verhaltensweisen und psychischen Zustände der Eltern von Wenche – die Großeltern von Anders – lassen wiederum die Vermutung zu, dass auch diese als Kind schwer belastet waren. Insofern kann man den Fall Breivik nicht isoliert betrachten. Der Fall ist auch ein Lehrstück über die Geschichte der Kindheit; über Eltern, die als Kind geschädigt wurden und wiederum ihre eigenen Kinder schädigen. Eines dieser schwer geschädigten Kinder wurde zum Massenmörder.
Ich habe das Buch „Einer von uns“ nicht durchgelesen, sondern nur gezielt nach Informationen gesucht. Mein Eindruck ist aber, dass die Autorin Wert darauf lag, die Ereignisse ohne eine Bewertung oder eigene Kommentare chronologisch in einer gut lesbaren Form wiederzugeben. Aage Borchgrevink (Link oben) ging da in seinem Buch anders vor und hat überdeutlich darauf hingewiesen, dass der Fall Breivik für ihn ein Lehrstück über Kindesmisshandlung und Prävention in Form von Kinderschutz ist.
Das Buch von Åsne Seierstad ist eine Chance. Erstmals wurde in deutscher Sprache ausführlich über die Kindheit von Anders Breivik geschrieben (bzw. das Buch wurde übersetzt). In der aktuellen Ausgabe der EMMA (Nr. 3, Mai/Juni 2016, S. 60+61) wurde das Buch ausführlich besprochen, ebenfalls die Kindheit von Breivik. Wer weiß, vielleicht führt das Buch endlich dazu, dass hierzulande der Kindheitsalptraum dieses Massenmörders bekannt wird, was 1. hilft, seine Taten zu erklären (nicht zu entschuldigen) und 2. die richtigen Ansätze für nachhaltige Terrorprävention aufzeigt: Mehr Kinderschutz.

Dienstag, 19. April 2016

Kindheit von Recep Tayyip Erdoğan

Ich habe nur kurz recherchiert, vielleicht gerade einmal 15 Minuten. Und schon habe ich einige Details über die Kindheit Erdoğans gefunden, die im Grunde bereits alles sagen:

"Erdoğan wuchs in kleinen Verhältnissen auf, in einem Hafenviertel, auf dessen Straßen das Gesetz des Stärkeren galt: Wer Schwäche zeigt, hat schon verloren. Wer beleidigt wird, muss zurückschlagen." (Focus.de, 14.04.2016, "So wurde der türkische Staatspräsident zu dem, was er ist")
Unter Verweis auf Recherchen des SPIEGEL wird in dem Artikel geschrieben, dass er nie einer Schlägerei aus dem Weg ging.

In einem FAZ Artikel wird Erdoğans Vater kurz und knapp in einem Satz beschrieben:  "Er war fromm, streng, autoritär." (FAZ, 05.08.2008, "Der Realo aus dem Hafenviertel")
"Erdoğans Erziehung war streng. Vor einigen Jahren berichtete er, wie er einmal von einer Nachbarin den Hintern versohlt bekam und darauf ein paar Flüche ausstieß – mit der Folge, dass er von seinem Vater zur Bestrafung an den Füßen mit dem Kopf nach unten aufgehängt wurde. Ein Onkel habe sich schließlich seiner erbarmt und ihn aus der misslichen Lage gerettet." (Die Presse, 10.08.2014, "Erdoğan, der Staatsmann aus dem Schlägerviertel")
Man kann sich vorstellen, dass weitere destruktive Erziehungsmaßnahmen im Hause Erdoğan keine Ausnahme gewesen sein werden. (Nachträglicher Hinweis: Noch mehr Details über seine Kindheit habe ich in dem Beitrag Opferrituale. Ereignisse in der Türkei bestätigen psychohistorische Annahmen zusammengetragen.)

Für mich sind diese Informationen keine Überraschung, da das Verhalten des türkischen Präsidenten bereits eine deutliche Sprache spricht. Ein autoritärer Charakter fällt bekanntlich nicht vom Himmel. Allerdings beunruhigen mich die Informationen, da es unwahrscheinlich ist, dass jemand, der derart als Kind geprägt wurde, von dem einmal eingeschlagenen Weg ablässt. Die Macht, die er inne hat und die er immer weiter auszubauen scheint, wird einem Menschen, der einst als Kind misshandelt wurde, weiter zu Kopf steigen. Im Hinterkopf wirkt die alte Ohnmacht und die verträgt sich nun mal nicht mit großer realer Macht.

----------

Nachtrag 01.12.2023:

In meinem Buch habe ich die Kindheit von Erdoğan vor allem auf Grundlage der Quelle Akyol, C. (2016). Erdoğan: Die Biografie. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau. (Kindle E-Book Version) besprochen. Die entsprechende Passage füge ich hier nachträglich ein:

Nach eigenen Aussagen habe sein Vater „von Zeit zu Zeit“ mit ihm und seinen Geschwistern „abgerechnet“. „Wir respektierten die Autorität. Wir hätten sonst auch gewusst, dass unser Vater uns andernfalls schwer dafür würde büßen lassen“ (Akyol 2016, Kapitel „Ein strenges Elternhaus“).
Einmal habe er als Kind eine Nachbarin beschimpft. „Da hat sie sich mir vorgenommen. Je mehr ich fluchte, desto mehr gefiel ihr das, und sie schlug mich auf den Po. Sie schlug mich, und ich fluchte. Sobald mein Vater kam, der im Stadtteil sehr beliebt war, hat sie sich über mich beschwert. Davon wusste ich natürlich nichts. Mein Vater kam herein. (...) Er packte mich und hängte mich unter die Decke. Ob er mich dafür an den Händen oder unter den Achseln gefesselt hat, weiß ich nicht mehr. Ich blieb fünfzehn oder zwanzig Minuten hängen, bis mein Onkel kam und mich rettete. Danach war die Zeit des Fluchens für mich vorbei“ (Akyol 2016, Kapitel „Ein strenges Elternhaus“).
Solche Maßnahmen, sagte Erdoğan der Biografin Çiğdem Akyol nach lächelnd, seien auch sinnvoll gewesen. Was neben seiner bis heute andauernden Verehrung für seine Eltern, über die er laut Akyol nie ein schlechtes Wort sagte, für eine starke Identifikation mit dem Aggressor spricht. 

Donnerstag, 14. April 2016

Kindheit von Kurt Cobain - Sein Leben als eine mögliche Ausdrucksform von Selbsthass

 
Der vierzehnjährige Kurt Cobain zu einem Jugendfreund: Ich werde ein Rocksuperstar, bringe mich um und mache einen flammenden Abgang.“ (Cross 2013, Position 780)


Ich selbst war ein Teenager, als die Band Nirvana mit ihrem Hit „Smells Like Teen Spirit“ ihren Durchbruch feierte und ein Stück weit die Mainstream Musiklinie veränderte. Ich hörte damals alles Mögliche an Musik. Ich war nie ein vergötternder, abgehobener Fan irgendeiner Band, aber ich war Fan einiger Bands, dazu gehörte eine Zeit lang Nirvana. 1994 hatte ich eine Karte für das geplante Konzert in Hamburg, was mein erster Livebesuch dieser Gruppe gewesen wäre.  Der Auftritt fiel aus, Kurt Cobain hatte sich erschossen...

Wenn ich die Musik von Nirvana heute zufällig im Radio höre, dann höre ich die Musik mit großer Distanz. Gut, ich bin kein Teenager mehr, der Musikgeschmack verändert sich. Aber es ist auch dieses offen Destruktive, das die Musik und vor allem die Texte/den Gesang durchzieht, das mich stört. Manche Melodien finde ich dagegen bis heute gut. Die Beschäftigung mit dem Sänger der Band, Kurt Cobain, ist somit ein Stück weit persönlicher, so man will, als wenn ich die Kindheit von Stalin & Co. bespreche. 

Als Student kaufte ich mir einmal ein Exemplar der „Tagebücher 1988 -1994“ von Kurt Cobain. Irgendwie hatte ich wohl immer noch Fragen offen. Warum hat Kurt Cobain so enorm destruktiv gelebt? Warum hat er sich erschossen? Wie war seine Kindheit? Wer war er überhaupt? Damals machte ich einige Notizen in den Tagebüchern, da kleine Details etwas zur Kindheit andeuteten. Aber an sich fand ich die Texte und Bilder einfach nur wirr, deshalb auch schwer zu lesen und wenig erkenntnisreich. Für diesen Text werde ich trotzdem kurz daraus zitieren.

Vor einigen Tagen sah ich in der ARD die Dokumentation „All Apologies - Kurt Cobain“ (06.04.2016, ARD) Diese Doku hat mich noch einmal motiviert, etwas genauer zu recherchieren. Man erfährt darin, dass Kurt Cobain in der trostlose Holzfällerstadt Aberdeen aufgewachsen ist, die durch den Niedergang der Holzindustrie fast zur Geisterstadt wurde. Ein destruktives Lebensgefühl lag also über der Stadt.
Kurt hatte eine relativ glückliche Kindheit, bis seine Eltern sich scheiden ließen.“, sagte eine Jugendfreundin von Kurt in der Doku. Nach der Scheidung lebte er bei seinem Vater und seiner Stiefmutter. „Von seinen Eltern fühlte er sich nicht akzeptiert“, hängt die Jugendfreundin noch an. Zeitweise war der wohl bereits ältere Kurt obdachlos, schlief unter Brücken oder im Krankenhausvorraum. Nachdem ich diese Informationen herausgefiltert hatte, wurde das Bild für mich bereits etwas klarer. Ich fragte mich aber immer noch: Reicht das aus? Kurt Cobain hatte eine derart destruktive, selbsthassende, „alles-egal“ Ausstrahlung, er war drogensüchtig und da war auch noch sein Selbstmord. Erklärt ein trostloses Umfeld, eine Scheidung, nicht akzeptiert werden und spätere kurzzeitige Obdachlosigkeit eine solchen Lebensweg – gepaart mit einer (angeblich) relativ glücklichen Kindheit in den ersten Lebensjahren?

Für die Recherche besorgte ich mir das Buch „Der Himmel über Nirvana. Kurt Cobains Leben und Sterben“ von Charles R. Cross, der auch in der o.g. Doku oft zu Wort kam. Ich muss sagen, dass mich die Details über Kurt Cobains Kindheit geradezu umgehauen haben. Es ist erstaunlich, dass mich nach den langen Jahren der Recherche über Kindheit und Folgen von Kindesmisshandlung immer noch etwas umhaut. Mich haben die Informationen in dem Buch aus zwei Gründen umgehauen.
Erstens: Seine Kindheit war ein reiner Alptraum. Ich möchte in meinem Blog möglichst seriös arbeiten und habe auch einen gewissen wissenschaftlichen Anspruch. Mutmaßungen über Kindheitsgründe bleiben Mutmaßungen, solange man keine Belege vorlegen kann. Nach allem, was ich in den letzten Jahren gelesen und recherchiert habe, ist im Angesicht von extrem destruktiv agierenden Menschen allerdings eine gewisse Grundannahme nötig. Wer glaubt ernsthaft, dass Menschen wie Kurt Cobain oder andere Hasser und Zerstörer nur „hier und da“ Destruktivität als Kind erlebten? „Hier und da“ erklärt gar nichts! Das Verhalten von Menschen spricht bereits Bände über das, was sie selbst einst erlebten. Es war doch einfach nur logisch, dass jemand wie Kurt Cobain einen reinen Kindheitsalptraum erlebte. Wie hätte es anders sein können?
Zweites haben mich die Informationen umgehauen, weil ich sie bisher nirgends wahrgenommen habe. Auf Wikipedia stehen nur Oberflächeninfos über die Kindheit, selbst in der o.g. Fernsehdoku wurden enorm wichtige Details über seine Kindheit ausgespart, obwohl man ja mit dem besagten Biografen zusammengearbeitet hatte. Wie können so wichtige Details, wie ich sie gleich besprechen werde, öffentlich so wenig Beachtung finden? Unfassbar.

Fangen wir gleich mit einer wesentlichen Information an: Kurt wurde als Kind von seinem Vater Don misshandelt. „Don war kein Mann vieler Worte und er hatte nie gelernt, Gefühle auszudrücken.“ (Cross 2013, Position 602) und „Wie einst sein Vater mit ihm war auch Don streng mit seinen Kindern. Einer von Wendys Vorwürfen an ihren Mann war der, dass er von den Kindern ständig Tadelloses Betragen verlangte – ein unmöglicher Standard – und von Kurt erwartete, er solle sich wie ein `kleiner Erwachsener` benehmen.“ (ebd., Position 439) Entsprechend gab es für alltägliche Vergehen „öfter mal eine Tracht Prügel“. (ebd.) Und ergänzend gab es Drohungen:  „(…) Dons übliche – und beinahe täglich angewandte – Methode der körperlichen Züchtigung bestand darin, Kurt mit zwei gestreckten Fingern vor die Brust oder gegen die Schläfe zu stoßen. Das tat zwar nicht besonders weh, der psychologische Schaden jedoch war enorm: Die Stöße erinnerten seinen Sohn ständig daran, dass ihm jederzeit Schlimmeres blühen konnte, und verstärkten Dons Dominanz. Kurt begann sich immer öfter in den begehbaren Wandschrank seines Zimmers zurückzuziehen.“ (ebd.) Spott und Sarkasmus beherrschten den Familienalltag ebenso wie Geldsorgen und Streitigkeiten zwischen den Eltern.

Schließlich trennten sich die Eltern als Kurt neun Jahre alt war. Die Scheidung bezeichnet der Biograf als Krieg, „der mit all dem Hass, der Bosheit und den Rachegelüsten einer Blutfehde geführt wurde. Für Kurt kam das alles einem emotionalen Super-GAU gleich – kein anderes Erlebnis in seinem Leben hatte mehr Einfluss auf die Prägung seiner Persönlichkeit.“  (Cross 2013, Position 547) Im Juni des Scheidungsjahres schrieb Kurt an die Wand seines Schlafzimmers: „Ich hasse Mom, ich hasse Dad. Dad hasst Mom, Mom hasst Dad. Man möchte einfach nur noch ganz traurig sein.“ (ebd.)
Kurz nach der Scheidung wollte Kurt zu seinem Vater (der bei seinen eigenen Eltern lebte) ziehen und tat dies auch. Dies bedeutete auch, dass Kurt unter den Einfluss seiner Großeltern – Leland und Iris - kam (Wir erinnern uns: Kurts Großvater Leland war sehr streng mit seinem Sohn, Kurts Vater, umgegangen. Außerdem hatte Leland selbst eine schwere Kindheit in bitterer Armut verbracht, sein Vater war zudem früh gestorben). Sein Vater heiratet wenig später erneut, gegen den Willen von Kurt, was neue Konflikte hervorbrachte. Es ist schon aufschlussreich, dass Kurt unbedingt bei seinem Vater leben wollte, obwohl dieser ihn doch misshandelt und gedemütigt hatte.

Über Kurts Mutter Wendy erfährt man einiges, was ich gleich noch ausführen werde, allerdings wenig über ihren Erziehungsstil. Ihr Verhältnis zu ihrem Sohn muss entsprechend miserabel gewesen sein, wenn dieser lieber zu seinem gewalttätigen Vater zieht. In seinem Tagebuch blickt Kurt Cobain auf seine Highschool-Zeit zurück und wie er erstmal Pot rauchte. Beiläufig schreibt er: „Zufällig erreichte die seelische Misshandlung durch meine Mutter in diesem Monat ihren Höhepunkt. Es stellte sich heraus, dass mir Pot nicht mehr so gut half, meinen Sorgen zu entkommen. Mir machte es richtig Spaß rebellische Dinge zu tun, wie Alkohol zu klauen, Schaufenster einzuwerfen und Schlägereien anzufangen etc. Mir war sowieso alles egal. Im Monat darauf beschloss ich, nicht bloß auf meinem Dach zu sitzen und darüber nachzudenken runterzuspringen, sondern mich wirklich umzubringen, aber ich wollte nicht aus dieser Welt gehen, ohne zu wissen, wie es ist zu bumsen.“ (Drechsler & Hellmann 2002, S. 31) Eine Seite weiter erfährt man, dass er einem Selbstmordversuch nur entging, weil der heranfahrende Zug ein Gleis weiter vorbeifuhr, statt auf dem, wo er sich hingelegt hatte. Wie konkret die „seelischen Misshandlungen“ durch seine Mutter aussahen, erfährt man nicht. Diese im Zusammenhang mit Suizidgedanken zu benennen, spricht wohl für sich.
Seine Mutter Wendy neigte zu Zornesausbrüchen, heißt es in der Biografie, allerdings auch ohne konkret zu werden.  (Cross 2013, Position 515) Kurz nach der Trennung kam sie mit einem neuen Mann zusammen, der ebenfalls zu Jähzorn und Gewaltausbrüchen neigte. (ebd., Position 539) Später, ca. 1978, brach er Wendy im Streit sogar den Arm. Wendy neigte ab dieser Zeit dazu, sich heftig zu betrinken. (Cross 2013, Position 641) Für den Freund seiner Mutter, hatte Kurt nur blanke Wut übrig. „Er konnte seine Mutter nicht vor ihm beschützen, und der Stress, die Auseinandersetzungen der beiden miterleben zu müssen, ließ ihn um ihr Leben fürchten, womöglich auch um seins. Er bedauerte seine Mutter und hasste sie sogleich dafür, sie bedauern zu müssen.“ (Cross 2013, Position 649) Kurt wurde in der Folge schwierig im Umgang mit Erwachsenen an sich, quälte und mobbte aber auch einen Mitschüler so sehr, dass dieser nicht mehr in die Schule gehen wollte. Sein Vater brachte ihn darauf einige Zeit zu einem Therapeuten.

Der mittlerweile vierzehnjährige Kurt isolierte sich immer mehr von seiner Familie; zeigte aber auch deutlich, wie es in seinem Inneren aussah. Eines Tages „warf er die lebendige Katze (Anmerkung: eines Nachbarn) in den Kamin des elterlichen Hauses und lachte, als sie starb und es im ganzen Haus zu stinken begann.“  (Cross 2013, Position 829) Experimente mit Drogen begannen bereits in der 8. Klasse, ebenfalls häufiges Schule schwänzen. (Cross 2013, Position 803) Auf seinen eigenen Wunsch hin verließ Kurt im März 1982 – im Alter von fünfzehn Jahren – seinen Vater und seine Stiefmutter um „die nächsten paar Jahre in der ´Wildnis` von Grays Harbor herumzutreiben. Obwohl er zwei längere Stopps von je knapp einem Jahr einlegte, lebte er während der nächsten vier Jahre in zehn verschiedenen Häusern, bei zehn verschiedenen Familien.“ (Cross 2013, Position 875) Eine Station davon war sein Großvater väterlicherseits, ansonsten diverse Onkel und Tanten.
In einem Brief an seinen Vater schrieb Kurt einen im Grunde alles zusammenfassenden Satz: „Ich habe nie Partei für Dich oder meine Mutter ergriffen, denn während ich aufwuchs, empfand ich für Euch beide die gleiche Verachtung.“ (Drechsler & Hellmann 2002, S. 243)

Dies sind die wesentlichen Grundzüge seiner Kindheit und Jugend. Darüber hinaus gab es Suizide in seiner Familie oder Kurt sah als Jugendlicher auch einen Jungen, der sich an einem Baum erhängt hatte. All dies wird dieses Kind schwer traumatisiert haben.
In seiner Einleitung schreibt sein Biograf: „Er war einer, der anderen seinen Willen aufzwang, gleichzeitig aber von einem schier übermächtigen Selbsthass zerfressen war. Sogar die, die ihn am besten kannten, hatten das Gefühl, ihn im Grunde überhaupt nicht zu kennen (…).“ (Cross 2013,Position 167)
In seinem Tagebuch schrieb Kurt Cobain an einer Stelle über sich: „Ich benutze Versatzstücke anderer Persönlichkeiten, um meine eigene zu formen.“ (Drechsler & Hellmann 2002, S. 91)

Jemand, der solche massive Verletzungen als Kind erlitten hat, kann keine eigene Persönlichkeit aufbauen und ist daraufhin von Selbsthass durchzogen. Arno Gruen hat viel darüber geschrieben.
Für mich ist das Rätsel um Kurt Cobain aufgeklärt. Ein Teil seines Erfolges beruht meiner Meinung nach auch darauf, dass Menschen in eine Nicht-Persönlichkeit (oder ein „falsches Selbst“) alles Mögliche hineinprojizieren können.  Kurt Cobain gab ein absurdes Statement in einem Interview ab oder schrieb einen bizarren Songtext, schon spekulierten alle wie er das gemeint haben könnte und was das über die Rebellion der Jugend aussagt usw. Aber vielleicht war es einfach so, wie er es sagte: Ohne Leben, ohne Gefühl, leer und ohne Sinn.

Um diesen Beitrag abzurunden und zum Bloggrundthema zurückzukommen. Jemand wie Kurt Cobain hatte musikalisches Talent. Dies leitete ihn auf einen bestimmten Weg. Auch ohne dieses Talent wäre sein Weg selbstdestruktiv gewesen. Wäre das gleiche Kind mit dem gleichen Kindheitsrahmen im Irak aufgewachsen, wäre er ein idealer Selbstmordattentäter. In Berlin wäre er vielleicht Linksextremist geworden. Als Kind reicher Eltern wäre er vielleicht jemand, der durch Geld und Macht andere Menschen niedermacht. Die Möglichkeiten sind so vielseitig, wie es Menschen gibt. Sein Weg wäre in allen erdenklichen Kontexten bei diesen extremen Kindheitshintergründen aber auf jeden Fall destruktiv und zerstörerische geworden.  Zumindest ohne Hilfe und Therapie. Das ist der Punkt.
Die meisten als Kind misshandelten Menschen werden keine Terroristen und Kriegstreiber. Dieser Fakt heißt aber nicht, dass sie nicht auch auf ihre eigene Art und je nach ihren Möglichkeiten ihre „Vergiftung“, ihren Hass ausdrücken. Kurt Cobain ist ein Beispiel dafür.


Quellen:

ARD  Dokumentation „All Apologies - Kurt Cobain“ (06.04.2016, ARD)

Cross, Charles R. (2013). Der Himmel über Nirvana. Kurt Cobains Leben und Sterben. Koch International / Hannibal Verlag. Kindle Edition.

Drechsler & Hellmann (2002). Kurt Cobain. Tagebücher. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Kindheit von Extremisten vor einem Millionenpublikum diskutiert, aber nicht genug

Unter dem Titel „Terror im Namen Gottes - hat der Islam ein Gewaltproblem?“ wurde am 11.04.2016 die ARD Sendung „Hart aber Fair“ ausgestrahlt. Ab ca. Minute 49 wurde ich hellhörig. Der Moderator Frank Plasberg leitete einen kurzen Infofilm folgendermaßen ein: „Wie passiert das eigentlich? Wann entscheidet sich ein Mensch, der hier mitten in der Gesellschaft geboren worden ist, sich zu radikalisieren? Was macht ihn so anfällig? (…) Das BKA hat dazu eine interessante Studie gemacht.“
Bei dem Satz „Was macht ihn anfällig?“ hatte ich diesmal bereits ein komisches Gefühl. "Kommt da jetzt etwa was?", dachte ich. Normalerweise kommt nach solchen Sätzen nichts, was in meinen Augen die wirklichen Ursachen beleuchtet. Ich hielt kurz den Atem an und tatsächlich kam danach der Satz mit dem BKA. Dann sah ich die Zahl bzgl. 39 befragter Extremisten (die BKA Studie habe ich im Blog hier besprochen) und mir war klar, was jetzt kommt.

Es wurden dann in der Tat die Gemeinsamkeiten zwischen Rechtsextremisten, Linksextremisten und Islamisten herausgestellt: Eine kaputte, schwierige Familien (Trennung/Todesfälle, Alkohol/Drogen und/oder Gewalt).
Das Fazit der Studie wurde bei „Hart aber Fair“ wie folgt zitiert: „In welchem Extremismus diese Personen (…) landen, ist letztlich reiner Zufall.“ und „Überspitzt gesagt: Ein Islamist aus Dinslaken hätte in Sachsen genauso gut ein Rechtsradikaler oder in bestimmten Stadtteilen Berlins oder Hamburgs ein Linksradikaler werden können.“

Daraufhin bekam der anwesende Präsident des BKA - Holger Münch - das Wort: „Die Studie ist klein. Aber schon nach 30 Interviews gab es eigentlich keine neuen Informationen mehr. Diese Muster waren immer identisch.“, sagte er u.a.
Der Historiker Michael Wolffsohn fügte dann gleich kritisch an, dass der Muslim aus Dinslaken nicht zu den Linksradikalen und nicht zu den Rechtsradikalen gehen wird.  „Das ist keine wissenschaftliche Studie!“, sagte er. Immerhin versuchte Grünenfraktionschefin Katrin Göring-Eckhardt noch einmal zu erklären, dass die Ergebnisse der Studie schon hilfreich und der Prozesse der Radikalisierung identisch seien. 

Für mich war diese Sendung ein kleiner Erfolg. Immerhin wurde vor einem Millionenpublikum das Thema Kindheit von Extremisten aufgemacht. Dies kommt immer noch so selten bzw. fast gar nicht vor, dass ich dieses Ereignis hier mit diesem Blog-Beitrag hervorheben möchte. Irgendwann wird das Thema zu einer Selbstverständlichkeit werden, wenn es um Gewaltursachen geht.

Was mich störte: Die Diskussion um die BKA Studie wurde
1. von dem Einwand des Herren Wolffsohn gestört. Komisch, irgendwie gibt es bei solchen Diskussionen - auch im kleineren Rahmen oder in Onlineforen etc. - immer mindestens eine Person, die sofort dazwischenfeuert und der Sache die Luft rauben möchte, bevor sie überhaupt richtig vordergründig diskutiert und auch emotional verstanden wird. Ich habe noch nie erlebt, dass das Thema mal einfach angenommen oder auch mal kurz inne gehalten wurde. Danach findet man selten zur Spur zurück, weil man sich mit dem „Störfeuer“ befassen muss.

2.  Das Thema Kindheit wurde zwar eröffnet, aber nicht wirklich in den Vordergrund gestellt! Mir fehlten ein paar emotional kräftige Sätze was die Kindheitserlebnisse angeht. Worte wie „Probleme im Elternhaus“ sind da zu schwach, berühren nicht, werden der Realität auch nicht gerecht. Über den Hass als Ausdruck des aufgestauten Hasses in der Kindheit wurde kein Wort verloren. Auch das Wort Kinderschutz als ein wesentlicher Zweig für Prävention von Extremismus fiel nicht. Ebenfalls stand nicht die Frage im Raum, ob als Kind geliebte Menschen überhaupt Extremisten werden könnten. Solche Diskussionen sind ein Fortschritt, das erwähnte ich zuvor. Aber sie helfen in dieser Form nicht, den Nebel zu lichten. Die Menschen müssen verbal innerhalb solcher Diskussionen mit dem Kopf auf das Thema gestoßen werden, sonst drehen sie sich wieder weg.

Dienstag, 5. April 2016

Internationale Statistiken des Gewaltrückgangs

Dank des psychohistorischen Newsletters der GPPP bin ich auf eine Datensammlung aufmerksam geworden, die es wirklich in sich hat! Bzgl. diverser Themen findet mensch auf der entsprechenden Homepage übersichtliche Zahlen und Daten.

Steven Pinkers Arbeit habe ich hier im Blog mehrfach erwähnt, habe aber seine Tabellen nicht kopiert oder ausführlich zitiert. In folgendem Text über Mordraten im historischen Vergleich sind auch Statistiken von Pinker aufgeführt, aber auch die anderer Forschender: http://ourworldindata.org/data/violence-rights/homicides/

Dazu kommen Daten über Kriege:

http://ourworldindata.org/data/war-peace/war-and-peace-before-1945/
http://ourworldindata.org/data/war-peace/war-and-peace-after-1945/

Daten über Terror

http://ourworldindata.org/data/war-peace/terrorism/

Und noch einmal besonders interessant (das Thema hatte ich auch gerade in einem Beitrag besprochen): Gewaltraten in Stammesgesellschaften im Vergleich mit Gewaltraten in moderneren Staaten: http://ourworldindata.org/data/violence-rights/ethnographic-and-archaeological-evidence-on-violent-deaths/

In der Datensammlung gibt es auch einige Daten, die sich auf Kinder beziehen. Es gibt zwar keine Daten über Gewalt und Vernachlässigung gegenüber Kindern, aber Tabellen, die einen stetigen Rückgang der Kindersterblichkeit zeigen http://ourworldindata.org/data/population-growth-vital-statistics/child-mortality/,  einen stetigen Rückgang der Raten von Kinderarbeit http://ourworldindata.org/data/economic-development-work-standard-of-living/child-labor/ und einer Zunahme von der Beschäftigung mit Kinderrechten (vor allem ab 1970)  http://ourworldindata.org/data/violence-rights/cascade-of-rights/.

Die Verbesserung der Situation von Kindern steht - nach der psychohistorischen Theorie - in einem direkten starken Zusammenhang mit dem Gewaltrückgang in der Welt insgesamt, wie auch mit der zivilisatorischen Entwicklung und dem Fortschritt an sich (der wiederum auf die Kinderfürsorge zurückwirkt). 

Montag, 4. April 2016

Europäische Dschihadisten. Extremismus als eine von vielen destruktiven "Farbauswahlen"

Der Politologe Rik Coolsaet hat bzgl. europäischer Islamisten und Kämpfer in einem Text auf etwas hingewiesen, das mir hervorzuheben, besonders wichtig ist. In meinem Blog habe ich z.B. in Texten wie "Die Farben der Gewaltfolgen: Kinderbuchautor Janosch", "Die Farben der Gewalt: Ideologie ist niemals selbst Motivation für das Morden.", "Krieg als kurzfristige Transformation der Gewalt, die eh schon da ist?"  oder auch "Kindheit und mögliche Lebenswege: Willi Voss" bereits versucht deutlich zu machen, um was es mir geht.

Für mich sind mörderische Extremisten letztlich nur ein (besonders auffälliger) Teil des Gesamtpaketes an Folgeerscheinungen von Kindesmisshandlung. Man muss - darauf habe ich hier und da bereits hingewiesen - Kindesmisshandlung (in all ihren Varianten und Formen)  als eine Art von "Vergiftung" betrachten. Sie vergiftet die betroffenen Kinder und somit auch die später Erwachsenen. Ab einem bestimmten Grad der Gewalt und einer bestimmten Häufigkeit wirkt dieses "Gift" immer und nachhaltig. Wie sich die "Vergiftung" ausdrückt, hängt wiederum von unzähligen Faktoren (Geschlecht, Alter, sozialer Status und sozialer Rahmen, Intelligenz, Gene, Kultur, Religion, Besonderheiten der Zeit, technische Möglichkeiten, zufälligen Begegnungen usw. usf.)  ab, die wir wahrscheinlich nie wirklich zu 100 % in ihrem Wirkungszusammenspiel werden erfassen können.
Diese Faktoren lenken bildlich gesprochen das Gift in diese und jene Ausdrucksform oder - was wohl häufiger ist -  auch in mehrere verschiedene Ausdrucksformen. Die wichtige Schlussfolgerung daraus: Wenn sich ein Mensch, der als Kind misshandelt wurde, in einer Menge von Touristen in die Luft sprengt, dann bedeutet dies natürlich nach unserem empirischem Wissen nicht, dass sich alle als Kind misshandelten Menschen in die Luft sprengen würden. Ganz im Gegenteil. Solche Ausdrucksformen von Misshandlungserfahrungen und entsprechendem (Selbst-)Hass sind selten. Würden alle als Kind (schwer) misshandelten Menschen so agieren, wäre die Welt die reine Hölle.

Die anderen als Kind misshandelten Menschen laufen aber trotzdem mit ihrer inneren "Vergiftung" durch das Leben. So manche schaffen es auch, diese nach langer Therapie ein ganzes Stück weit los zu werden oder zu isolieren. Viele erleben aber im Alltag und ihrem Leben destruktive Folgen auf die eine oder andere Art. Und viele haben, sofern sie in ähnliche Gruppen und Dynamiken geraten würden, wie die Extremisten, durchaus ein inneres extremistisches Potential. Sie sind verführbar. In komplexen Situationen und außergewöhnlichen gesellschaftlichen Dynamiken wie z.B. der NS-Zeit zeigt sich deutlich, dass sich diese destruktiven Potentiale der Einzelnen zu einem Massenphänomen  entwickeln können.  Wäre die Mehrheit der Kinder um 1900 liebevoll und ohne Gewalt erzogen worden, wäre das NS-System nicht denkbar. Genauso sieht es heute bzgl. der extremistischen Gruppen aus. Könnten sie nicht auf "beschädigte, vergiftetet Seelen" zurückgreifen, sie fänden einfach keine Anhänger.

Nun, in dem Text Rik Coolsaet geht es nicht um die Kindheit der Extremisten. Er erwähnt diese gar nicht, aber das kennen wir ja schon... Trotzdem bringt er in einigen Sätzen die Dinge auf den Punkt.

Hier zunächst die Quelle: Coolsaet, Rik (2015). WHAT DRIVES EUROPEANS TO SYRIA, AND TO IS? INSIGHTS FROM THE BELGIAN CASE. EGMONT Paper 75. Gent: Academia Press.

Mir geht es um diese Textauszüge:

For a significant number of them, drugs, petty crime and street violence have been part of their former life. From the sources mentioned, one gets the impression of solitary individuals, sometimes also estranged from family and friends, who at a certain point became angry as a result of their estrangement. Going to Syria is one of a number of possible outlets for their anger. ‘Anger with an Islamic dressing,’ the Dutch Middle East expert Paul Aarts opined.“ (S. 11)

"But more often than not, today’s foreign fighters are not fundamentalists in the real sense of the word: their knowledge of Islam is generally extremely superficial." (S. 11)

Escape to Syria is one of a series of possible outlets, next to drugs and delinquency (not unexceptional for many Syria fighters), membership of street gangs, suicide or other deviant behaviour.“ (S. 18)

Religion spielt für die meisten heutigen europäischen Dschihadisten im Grunde keine Rolle. Ihr Extremismus ist nur ein möglicher destruktiver und oft auch selbst-destruktiver Weg von vielen möglichen, von denen viele Extremisten bereits einige gegangen sind: Drogen, Suizidgedanken, kriminelles Verhalten u.a. "Anger with an Islamic Dressing", das ist für mich der Kernsatz! Islamistischer Terror ist derzeit einfach die "Farbe" (oder Ausdrucksform der "Vergiftung"), mit der sich manch einer identifiziert, der 1914 vielleicht für den Kaiser in den Krieg gezogen wäre, der 1933 Hitler zugejubelt hätte oder der sich einfach in einem Waldstück umgebracht hätte. Hass bleibt Hass. Die Farben der Gewalt täuschen manch einem bzgl. der tieferen Ursachen. Wir müssen aber Auslöser, Gelegenheit, Gruppendynamiken und Ursachen trennen. (Auslöser, Gelegenheit, Gruppendynamiken werden von Forschenden und Experten oft zusammen als Ursachen betrachtet, was den Blick auf emotionale Faktoren verbaut.) Die eigentlichen Ursachen liegen in der Kindheit. Der Rest ist ein Rahmen, der zur Analyse gehört, sicher, aber der nicht die inneren Motivationen, den Selbsthass und die Bereitschaft zum Morden erklären kann.

Nebenbei bemerkt wissen wir heute dank vieler Studien so einiges über die destruktive Kindheit von Kriminellen. Diese Schablone können wir also auch auf diejenigen anwenden, die eine kriminelle Vorgeschichte haben und heute "geläuterte" Extremisten sind, was auf nicht wenige zuzutreffen scheint. Wir verfügen somit - neben den Fallbeispielen, die ich hier immer wieder im Blog besprochen habe - über eine empirische Grundlage und nicht nur über Mutmaßungen.