Donnerstag, 6. August 2020

Der Fall Stephan Ernst entwickelt sich zu einem Paradebeispiel


Der Fall Stephan Ernst entwickelt sich langsam zu einem Paradebeispiel in vielerlei Hinsicht! 

Der Fall ist für mich „klassisch“  in dem Sinne, dass durch den aktuellen Prozess weitere Details über seine Kindheit an die Öffentlichkeit kommen. Ich habe in der Vergangenheit immer wieder erlebt, dass ich bzgl. solcher Art Täter Details zu destruktiven Kindheitserfahrungen fand, die sich im Laufe der Zeit - durch neue Berichte oder weitere vertiefende Recherche durch mich - immer schlimmer darstellten. Die destruktive Kindheit von Stephan Ernst hatte ich hier im Blog bereits am 24.06.2019 besprochen. Am Ende schrieb ich: „Wie so oft bei solchen Fällen gehe ich davon aus, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Wer aus Angst vor dem eigenen Vater mit einem Messer im Bett schläft, der wird vorher Etliches erlebt und erlitten haben. Sollte Stephan Ernst erneut begutachtet werden, werden wir evtl. noch ein erweitertes Bild über seine Kindheit erhalten.“

Und so kam es jetzt auch: Stephan Ernst hat aktuell (siehe dazu SPIEGEL-Online, 05.08.2020: Prozess nach Lübcke-Mord. Das neue Geständnis des Stephan Ernst von Julia Jüttner) im Prozess eine Kindheit voller Angst vor dem Vater beschrieben. Der Vater prügelte ihn und auch die Mutter wegen Nichtigkeiten und willkürlich. Nach der Prügel musste Stephan oft drei oder vier Stunden still auf einem Stuhl verharren, bis der Vater ihn zum Alkoholholen schickte. Die Infos über diese körperliche und auch psychische Gewalt sind neu, aber leider wenig überraschend. Seine Kindheit sei eine „Hölle aus Gewalt, Jähzorn und Einsamkeit“ gewesen. Seinen Vater habe er gehasst und gleichzeitig um dessen Liebe gebuhlt. 

Diese Kindheitshintergründe müssen sehr ernst genommen und auch sehr betont werden, gerade weil dies kein Einzelfall ist. Vielmehr zeigt die Studienlage, dass Rechtsextremisten i.d.R. stark als Kind belastet wurden, oft auch in der Art und Weise, die Ernst beschreibt.  

Dieser Fall ist aber auch ein Paradebeispiel in einer anderen Hinsicht. Denn Ernst und sein Verteidiger waren offensichtlich bemüht, die Radikalisierung dieses Menschen, die bis zum Mord von Walter Lübcke führte, zu erklären. Für die Familie von Walter Lübcke war dies unerträglich. Laut deren Anwalt würde es die Familie Lübcke zerreißen, dass der Hauptangeklagte sich als Opfer einer schwierigen Kindheit und als Opfer einer Radikalisierung darstellt und dann „mehr oder weniger der Eindruck entsteht, als ob so etwas in einer so furchtbaren Tat enden muss. Das ist für die Familie ganz ganz schrecklich, das hier heute miterleben zu müssen (…)“. 

Das ist genau die Gratwanderung, die mir persönlich auch immer wieder Bauchschmerzen bei diesem Thema macht. Ich sehe aber auch die Lösung: Wir dürfen Kindheitshintergründe nicht als Rechtfertigung oder Entschuldigung für Täterverhalten akzeptieren! Die Familie von Walter Lübcke muss überhaupt nichts verstehen, entschuldigen und einen Radikalisierungsprozess nachvollziehen. Sie hat ihr volles Recht auf Wut, auf Anklage und Ausdruck ihrer Verzweiflung. 

Aber: Wir müssen gesamtgesellschaftlich solche Kindheitshintergründe immer in die Ursachenanalyse mit einbeziehen, sogar als einen sehr gewichtige Punkt. Denn letztlich wollen wir solche Taten zukünftig verhindern. Die Prävention beginnt in der Kindheit! Dies als Gesellschaft zu ignorieren oder nicht zu thematisieren, wäre fahrlässig. Beide Seiten (Präventionsziele der Gesellschaft und Wut der Angehörigen und Opfer) sind beim Blick auf die Kindheiten der Täter nicht miteinander vereinbar und werden es auch niemals sein. Dies gilt noch einmal mehr mit Blick auf Massenmord, Krieg oder Genozid. 

Als Gewaltforscher finde ich es wichtig und wertvoll, neue Erkenntnisse über die Kindheit von Stephan Ernst bekommen zu haben. Als Mensch kann ich gar nicht so viel essen, wie ich brechen möchte, wenn ich seine Einlassungen vor Gericht höre. Es ist in seinem Fall auch nicht das erste Mal, dass er vor Gericht seine destruktive Kindheit erwähnt. Im Sommer 1995 stand Ernst wegen gefährlicher Körperverletzung, Brandstiftung und versuchten Mordes vor dem Landgericht Wiesbaden. Auf seine unglückliche Kindheit und den Alkoholismus des Vaters kam er schon damals zu sprechen (stern.de, 20.06.2019: "Hass auf alles und jeden": Auf den Spuren des Mannes, der Walter Lübcke ermordet haben soll) Verantwortungsvoll wäre es spätestens dann gewesen, in der Folge alle Hilfen und Therapien in Anspruch zu nehmen, die es gibt, um aus diesem Kreislauf der Gewalt auszutreten. Und nicht nur das: Hilfen sind nur Angebote, der Wille, sich zu verändern, muss von jedem Menschen in Eigenverantwortung kommen, sonst bringen alle Hilfsangebote gar nichts. Er hat sich aber für einen weiteren Weg der Gewalt entschieden und dafür muss er jetzt Verantwortung tragen. Zu diesem ganzen Thema habe ich auch bereits etwas in dem Beitrag „Fallbeispiel Beate Zschäpe: Opfer vom Opfer = kein Täter?“ geschrieben. Dies gilt auch hier: Stephan Ernst ist vor Gericht ein Täter, Punkt!

In einem ZEIT-Artikel zum aktuellen Fall Stephan Ernst wurde auch dessen Kindheit besprochen. Ein Leser schrieb im Kommentarbereich (Nr. 26): „Ich kann diese ewig gleiche Leier von der schweren Kindheit nicht mehr hören. Es gibt genügend Menschen, die ebenfalls eine schwere Kindheit hatten und trotzdem keine Menschen verletzen oder töten.“

Hier sind gleich zwei klassische Punkte erwähnt: 

1. Die „ewige Leier von der schweren Kindheit“. Ja, so ist das. Diese Geschichten kommen uns als „ewige Leier“ vor, weil diese Leier nun einmal real ist. Täter, Extremisten, Massenmörder usw. sind das Produkt einer schweren Kindheit. Weil dies so ist, tauchen entsprechende Berichte auch immer wieder auf. Das mag nichts Neues sein und irgendwann gar nerven, aber es bleibt real und relevant. Wir dürfen uns an diese Geschichten nicht gewöhnen, sie als Leier abtun und wegschließen. Wir müssen hinsehen und in der Folge im Hier und Jetzt bei der heutigen Kindergeneration mit Prävention anfangen. 

2. „Nicht alle einst gedemütigten und misshandelten Kinder werden zu Gewalttätern“, dazu habe ich in meinem Buch ein ganzes Kapitel verfasst (S. 341ff) und gleich angemerkt: „Und warum diese Feststellungen keine Gründe dafür sind, Kindheitseinflüsse gering zu reden!“ Meine Argumentation werde ich hier jetzt nicht erneut ausbreiten. Fest steht für mich, dass es darum geht, die Wahrscheinlichkeit für Täterverhalten zu reduzieren. Die Wahrscheinlichkeit für Täterverhalten wird durch massive Verletzungen in der Kindheit nachweisbar stark erhöht. Die vielen Menschen dazwischen, die trotz gleicher Kindheits-Hintergründe keine Täter und Extremisten werden, sind dabei im Grunde fast irrelevant (wobei es über sie auch einiges zu sagen gibt, was ich in dem genannten Kapitel in diesem Kontext auch getan habe). Wir machen aktuell ja auch die ganzen Coronamaßnahmen, obwohl die Mehrheit der Infizierten keine schweren Krankheitsverläufe zeigt.


Montag, 27. Juli 2020

3 Kindheitsbiografien von Rechtsextremisten und die Frage, warum psychoanalytische Arbeiten so selten in der Extremismusforschung besprochen werden


Damals, als Student der Soziologie (und im Nebenfach Politik) an der UNI Hamburg, habe ich mich immer wieder gewundert, warum in den Sozialwissenschaften selten auf psychoanalytische Arbeiten Bezug genommen wurde. Vor allem auch mit Blick auf Gewalt-/Kriegsursachen erschien es mir als ein großer Mangel, dass eine gewisse Scheu bzgl. psychologischer/psychoanalytischer Arbeiten vorherrschte (bzw. wohl auch immer noch vorherrscht). Für mich war es damals ein großes Glück, dass man in Hamburg als Soziologiestudent Sexualwissenschaft im Nebenfach studieren konnte. Dies war eine Möglichkeit, von Dozenten, die Psychoanalytiker waren, zu lernen (z.B. von Prof. Dr. Wolfgang Berner, der sich viel mit Perversionen und deren Ursachen befasst hat). 

Ich lese psychoanalytische Arbeiten stets auch kritisch, weil sie immer auch von Interpretationen leben. Trotzdem: Mir fehlt immer wieder die Zusammenarbeit zwischen psychologischen Fachleuten und Sozialwissenschaftlern. Letztere dominieren dabei die Forschung (zumindest die öffentlich und universitär wahrgenommene) über (Gruppen-)Gewalt, Krieg, politische Konflikte und Extremismus. 

Der Psychoanalytiker Josef Christian Aigner hat in seinem Buch „Der ferne Vater. Zur Psychoanalyse von Vatererfahrung, männlicher Entwicklung und negativem Ödipuskomplex“ (3. Aufl. 2013, Psychosozial-Verlag) viele interessante Aspekte angesprochen, die lesenswert sind. Mir war es eine Freude, wieder einmal ein rein psychoanalytisch geprägtes Buch zu lesen, in dem auch ausführlich auf Gewaltursachen eingegangen wird. Das Buch möchte ich allerdings gar nicht vertiefend besprechen. 
Hervorheben möchte ich den letzten Teil des Buches, in dem die Biografien von 3 (ehemaligen) rechten Skinheads besprochen werden. Die vorgestellten Biografien reihen sich ein, in die vielen Biografien von Extremisten, die ich hier im Blog bisher vorgestellt habe. 

Der Fall „Karl“:
Karl wurde im Alter von 14 Jahren auf Grund seiner Skinheadmitgliedschaft aus der elterlichen Wohnung geschmissen. Trotz dieser und weiterer belastender Erfahrungen fällt bei Karl eine starke Idealisierung seiner Eltern auf. Sein Vater war vor allem oft abwesend. Wenn er zu Hause war und sich von den Kindern gestört fühlte, übte er körperliche Gewalt aus. Aber auch von der Mutter habe es „saftige Schläge“ gegeben (S. 389). Karl war der einzige Junge und lebte mit drei älteren Schwestern und seiner Mutter auf Grund der oft väterlichen Abwesenheit im Grunde in einem reinen Frauenhaushalt. Als Junge habe er von der mütterlichen Gewalt „ordentlich was ab“ bekommen (S. 389). Die Mutter sei schon mal ausgerastet und der Vater strafte ergänzend zur körperlichen Gewalt mit grimmiger Miene und sei dann schlecht auf Karl zu sprechen gewesen. Vom Vater fühlt sich Karl nicht wahrgenommen. 

Der Fall „Olaf“:
Das Hauptproblem während seiner Kindheit war der Alkoholismus des Vaters. Die Familienatmosphäre sei dadurch schwer belastet gewesen. Seine Mutter habe ihn verwöhnt. Die drei älteren Schwestern hätten ihn auch geschlagen, wenn er nicht pariert habe, „das gehöre zur Kindheit halt einfach dazu, meint er mit deutlich spürbarer Verharmlosung dieser Demütigungserfahrung“ (S. 395). Vom Alkoholismus des Vaters abgesehen habe er eine „schöne Kindheit“ gehabt (S. 395). „Dieses Muster der `schönen Kindheit`, das oft quasi `korrigierend-beschwichtigend` nach bedrückenden Milieu- oder Situationsschilderungen auftaucht, ist uns in empirischen Arbeiten mehrfach begegnet und soll den Betroffenen (…) wohl helfen, die Schamkonflikte, die sich daraus für den Selbstwert ergeben, in Schach zu halten“ (S. 395f.) 
Demgegenüber stehen die Ängste, die Olaf schildert, wenn der Vater „halbtot“ im Vollrausch nach Hause kam und die „Szenen voller Lärm, Gewalt und Erbrechen“ (S. 396). Besonders beschämend sei für Olaf auch gewesen, wenn er den betrunkenen Vater irgendwo abholen oder für ihn Bier kaufen musste. Auch dass Olaf die Schule nicht geschafft hat, habe ihn beschämt. Dazu kamen verbale Demütigungen seitens des Vaters: „`Du bist blöd!` und solche Sachen und langsam hab` ich`s geglaubt, dass ich blöd bin“ (S. 397). Sein aktuelles Verhältnis zu seinen Eltern bezeichnet er als „normal“ (S. 400), was auch immer das bedeuten mag. 

Der Fall „Walter“:
Walter war eines von 5 Kinder. Die Familie war arm und alles war sehr beengt. Die Stimmung zu Hause sei „beschissen“ gewesen und er und sein Bruder seien immer die „Prügelknaben“ gewesen (S. 405). Er habe Sitten wie im 15. Jahrhundert erlebt. Damit scheint er vor allem auch Gewalt zu meinen, die beide Elternteile ausübten. Ab dem 5. Lebensjahr seien „die Schläge mein Zuhause“ gewesen (S. 405). Der Vater sei brutal gewesen und die erlittene Gewalt war extrem. Er habe einst seinen Eltern erklärt, dass sie ins Gefängnis gekommen wären, wenn er ihr Verhalten damals angezeigt hätte. Als er bei den Skinheads landete, schmissen ihn seine Eltern raus. Zum Thema „Angst“ angesprochen assoziiert Walter sofort „Mutter, Vater“ (S. 406). 


Dies sind klassische Kindheitsbiografien von Rechtsextremisten. Die Frage bleibt, warum dies öffentlich im Zusammenhang von Rechtsextremismus so selten besprochen wird? 

Freitag, 24. Juli 2020

"Too Much and Never Enough": Die Kindheit von Donald Trump

Auf das das Buch „Too Much and Never Enough: how My Family Created the World's Most Dangerous Man“ (2020, Simon + Schuster, Kindle-Edition) der Trump-Nichte Mary L. Trump und erste Auszüge daraus bin ich schon einige Male in meinem Twitter-Account eingegangen. Jetzt habe ich das Buch gelesen und möchte es kurz besprechen. 

Für mich wichtig und von Interesse sind natürlich die Kindheitsbedingungen von Donald Trump und die Familienatmosphäre, die er erlebte. Die Kindheit von Donald Trump habe ich bereits ausführlich besprochen. Mary L. Trump bestätigt sehr viel von dem, was schon bekannt war: Die Beziehungen und der Umgang in der Familie Trump waren ein Alptraum und das vor allem für die Kinder. 

 Donald und sein Bruder Freddy (der Vater von Mary L., der starb, als sie 16 Jahre alt war) hätten von allen Trump-Kindern am meisten unter der Soziopathie des Vaters Fred Trump und der Erkrankung der Mutter Mary Trump gelitten (S. 12). 
    Dass bzgl. Fred Trump die Wörter „Soziopathie“ und im Buchverlauf auch mehrfach „Soziopath“ auftauchen, ist für mich neu, allerdings ganz sicher eine zutreffende Beobachtung. Da Mary L. Trump auch ausgebildete und aktiv arbeitende Psychologin ist, bekommt diese Diagnose besonderes Gewicht. Die nachhaltige Erkrankung (nach der Geburt ihres letzten Kindes) von Mary Trump (der Mutter von Donald) war bereits bekannt (ich habe dies auch in meinem verlinkten Text oben erwähnt). Wie schwer diese Erkrankung die Familie in der Folge belastete, war mir allerdings ebenfalls neu. 

 Nach der Geburt ihres letzten Kindes wurde eine Komplikation übersehen. Neun Monate später fand ihre damals 12 Jahre alte Tochter Maryanne (Donalds ältere Schwester) ihre Mutter blutüberströmt und kaum bei Bewusstsein im Badezimmer. Die Mutter kam sofort in ein Krankenhaus. Fred Trump teilte seiner Tochter Maryanne nüchtern mit, dass ihre Mutter die Nacht wohl nicht überleben werde. Etwas später meinte er zu ihr, sie solle zur Schule gehen, er würde ihr mitteilen, wenn sich etwas ändern würde (sprich die Mutter tot sei). Die Tochter, die die Nacht alleine und weinend in ihrem Zimmer verbrachte, ließ der Vater mit ihren Sorgen alleine (S. 20-22). Einen Soziopathen interessiert es schließlich nicht, wie es anderen Menschen geht. Aber: Die Mutter überlebte. Allerdings kam sie die nächsten 6 Monate immer wieder ins Krankenhaus und die Langzeitfolgen für ihre Gesundheit waren sehr ernst. 

Mary und Fred Trump waren von Anfang an schwierige Eltern, betont die Autorin. Aber nach den Krankenhausaufenthalten von Mary scheint sich die Lage zusätzlich sehr verschlechtert zu haben. Die Soziopathie von Fred wurde bereits besprochen; er war kein Ausgleich für die Mutter und auch keine Stütze für seine Kinder. Sich um die Kinder zu kümmern, sei nicht sein Job gewesen. 

Aber auch seine Frau schien sehr auf sich und ihr Wohlbefinden konzentriert gewesen zu sein. Sie wandte sich ihren Kindern nur zu, wenn es für sie wichtig war, nicht umgekehrt. „(…) she frequently put herself first. Especially when it came to her sons, she acted as if there were nothing she could do for them“ (S. 23). Während und nach ihren Operationen im Krankenhaus habe Mary Trump eine Leere im Leben ihrer Kinder hinterlassen. Sie war körperlich und emotional abwesend. Richtig erholt habe sie sich nie von dieser Zeit. Die älteren Kinder konnten die Situation zumindest verstehen. Donald (damals 2 Jahre alt) und Robert (damals 9 Monate alt) waren dagegen die verletzlichsten Kinder, so die Autorin. Die Großmutter väterlicherseits, die in der Nähe lebte, war ähnlich kalt wie ihr Sohn Fred und war keine Hilfe für die Kinder. Der Housekeeper war überfordert. Die wesentliche Sorge für die jüngeren Kinder fiel der 12-Jährigen Maryanne zu, die naturgemäß überfordert war. Mary L. Trump fasst zusammen: „The five kids were essenttially motherless“ (S. 24)  

Donald sei absolut abhängig von seinem Vater gewesen, der gleichzeitig eine Quelle für Terror war: „Child abuse is, in some sense, the expectation of ‘too much’ or ‘not enough’. Donald directly experienced the ‘not enough’ in the loss of connection to his mother at a crucial development stage, which was deeply traumatic“ (S. 25). Für mindestens ein Jahr war er von seiner Mutter getrennt und sein Vater versagte ihm Zuneigung und Ausgleich. Was Fred Trump von seinen Kindern wollte, war Gehorsam, „that was all“ (S. 26). Dies habe Donald für sein Leben geprägt, so die Autorin. 
    Das Hauptinteresse des Vaters lag bei seinem ältesten Sohn Freddy. Er sollte ein „Killer“ werden und in die Fußstapfen des Vaters treten. Allerdings erfüllte der Sohn nicht die Anforderungen des Vaters, weder charakterlich, noch in seinem Handeln. Dies führte zu väterlichen Demütigungen und die Autorin spricht bzgl. des väterlichen Verhaltens in diesem Zusammenhang von Misshandlung (auf emotionaler Ebene) (S. 41).
    Der deutlich jüngere Donald beobachtete die Beschämungen seines Bruders sehr genau und zog seine Schlüsse daraus. Zusammenfassend schreibt die Autorin, dass das oben erwähnte frühe Verlassenwerden und „witness his fathers`s abuse of Freddy, cut him off from real human connection“ (S. 50).  

Am Ende des Buches fasst die Autorin in ein paar Zeilen zusammen: „Every time you hear Donald talking about how something is the greatest, the best, the biggest, the most tremendous (…), you have to remember that the man speaking is still, in essential ways, the same little boy who is desperately worried that he, like his older brother, is inadequate and that he, too, will be destroyed for his inadequacy. At a very deep level, his bragging and false bravado are not directed at the audience in front of him but at his audience of one: his long-dead father“ (S. 202). 
    Hier wird deutlich, wie politisch Kindheit an sich und im Fall von Donald Trump im Besonderen ist! Seine Kindheit wirft weiterhin ihre Schatten und hat weittragende politische Folgen. 

Weitere Auszüge bzgl. der Kindheit von Donald Trump werde ich nicht besprechen (z.B. seine Unterbringung in einem Militärinternat als 13-Jähriger), weil ich dies schon in meinem oben verlinkten Text getan habe. 

Die Autorin erinnert sich an einer Stelle des Buches zurück an den Tag, als ihr Onkel als Gewinner der Wahl ausgerufen wurde. „Traumatisiert“ von dem Ergebnis wäre sie in ihrem Haus herumgewandert und sie hängt dem an: „It felt as though 62,979,636 voters had chosen to turn this country into a macro version of my malignantly dysfunctional family“ (S. 14). 
Dieser Satz ist ganz zentral! Denn wenn man um das hohe Ausmaß von Gewalt und Demütigungen gegenüber Kindern in den USA (siehe hier und hier) weiß, dann wird deutlich, dass das Wahlvolk und der gewählte politische Führer oft auch emotional verbunden sind. Wie oft habe ich in Interviews von Trump-Fans  gelesen, wie sie schwärmen: „Er ist wie wir, er redet wie wir!“? (siehe ein Beispiel hier: "Because he talks like us", sagte ein Anhänger, als er gefragt wurde, warum er Trump unterstütze) Ein Trump für sich wurde möglich durch seine destruktive Kindheit; aber es ist ganz sicher auch so: Trump auf politischer Ebene wurde möglich, durch die destruktiven Kindheiten seiner Anhängerschaft.  

Freitag, 10. Juli 2020

Gewalt und (Kindheits-)Biografie. Eine Studie mit 100 Befragten


Für folgende Studie wurden zwischen den Jahren 1994 und 1996 Interviews mit 100 jungen Menschen (Alter zwischen 15 und 25 Jahren – entsprechend die Geburtsjahrgänge zwischen ca.1969 und 1981) -; 75 männlich, 25 weiblich) geführt:
Böttger, Andreas (1998): Gewalt und Biographie. Eine qualitative Analyse rekonstruierter Lebensgeschichten von 100 Jugendlichen. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.

Die Stichprobe wurde in verschiedene Kategorien eingeteilt:
  • 10 Befragte wendeten keine Gewalt an.
  • Jeweils 10 Befragte wendeten legale Gewalt an (10 junge Polizisten – die befragten Polizisten aus dieser Studie habe ich kürzlich gesondert besprochen – und 10 Kampfsportler)
  • 70 Befragte wendeten illegale Gewalt in verschiedenen Kontexten an (Mitglieder lokaler, unpolitischer Gruppen, Hooligans, Rechtsextremisten, Punks und Jugendliche, die keiner Gruppe angehören).
Bezogen auf die o.g. 70 Gewalttäter und Gewalttäterinnen findet sich in der Arbeit eine gute Zusammenfassung zu deren Kindheitsbedingungen:
Anhand unseres Interviewmaterials ließ sich nun feststellen, dass die allermeisten Befragten, die illegale Gewalt ausübten, hinsichtlich ihrer Kindheit vorwiegend über problematische Bedingungen in der Erziehung berichteten. Von knapp zwei Dritteln der 70 illegal gewalttätigen Jugendlichen wurde eine Erziehung beschrieben, die im wesentlichen geprägt war durch sehr autoritäre Verhaltensweisen, die die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder rigoros einschränkten, oft ohne dass hierfür ein nachvollziehbarer Grund identifiziert werden konnte. In knapp einem Drittel wurde demgegenüber eine stark vernachlässigende Erziehung dargestellt, die sich zumeist mit einer großen emotionalen Distanz der Erziehenden zu den Kindern verbindet und bisweilen den Eindruck einer völligen Gleichgültigkeit erweckt. Nur in sehr wenigen Interviews wurde über eine im Ansatz demokratische, partnerschaftliche Form der Erziehung berichtet, in der die Eltern die Interessen und Sorgen der Kinder und Jugendlichen weitgehend erkannten und berücksichtigten. In den meisten Fällen einer übermäßig autoritären oder vernachlässigenden Erziehung wurde zudem Gewalt gegen die Kinder eingesetzt, wenn auch unterschiedlich in Ausmaß und Form; die einzelnen Gewalthandlungen der Erziehenden reichten dabei von – immerhin schmerzhaften – Ohrfeigen bis hin zu Misshandlungen und regelrechten Folterungen“ (S. 126f.).

Der Autor betont, dass auch bei der Gruppe der Befragten, die legal Gewalt ausübten, als auch bei den Nicht-Gewalttätigen hohe Raten von elterlicher Gewalt und auch Vernachlässigung zu finden waren. Er fand allerdings einen wesentlichen Unterschied: Den Befragten, die illegale Gewalt ausübten, wurde auffällig häufig durch Erziehende nahegelegt, sich in bestimmten Situationen selbst mit Gewalt durchzusetzen. Dazu gehörten auch Aufrufe, sich an anderen Jugendlichen durch Gewalt zu rächen (S. 129). Es kamen also eigene Opfererfahrungen mit einer gewaltbefürwortenden Erziehung hin zum Täterverhalten zusammen.

Außerdem fand man in der Studie Identifikationen mit dem gewalttätigen Verhalten der Erziehenden; die Gewalt der Eltern wurde rückblickend nicht selten als gerechtfertigt interpretiert (S. 131). Diese Art und Weise der Identifikation fand sich auch bei den Polizisten, die ja legal Gewalt ausüben (S. S. 132) - was ich in dem oben verlinkten Beitrag bereits besprochen habe.

Die Rechtsextremisten

Ein besonderes Augenmerkt möchte ich (weil ich im Blog dieses Gebiet immer wieder bespreche) auf die 10 befragten Rechtsextremisten (9 männlich, 1 weiblich) lenken. Neben Gewalterfahrungen im Elternhaus war auch auffällig, dass 7 von 9 männlichen Befragten nur ausgesprochen wenig Kontakt zu ihrem leiblichen Vater hatten. Sie waren überwiegend von Mutter und Stiefvater oder den Großeltern erzogen worden. In 4 Fällen bestand zum Vater überhaupt kein Kontakt mehr. Aber auch die beiden Befragten, die vom Vater erzogen wurden, berichteten, kein gutes Verhältnis zu ihm zu haben und ihn als sehr gewalttätig zu erleben (S. 260f.).

Auffällig ist außerdem, dass von fast allen männlichen befragten Rechtsextremisten die Mutter sehr idealisiert wurde, trotz einzelner Berichte über problematische Punkte (teils inkl. Gewalttätigkeit der Mutter). Böttger kommentiert: „Die Unmöglichkeit, in der Kindheit zum Vater oder Stiefvater eine positive Beziehung herzustellen, hat offensichtlich bei den Jugendlichen dieser Teilgruppe zu einer Fixierung auf die Mutter als Bezugsperson geführt, die zum Teil so stark war, dass alle von ihr ausgehenden Probleme subjektiv verharmlost und entschuldigt wurden. Denn das Verhältnis zur Mutter zusätzlich in Frage zu stellen, hätte für die meisten den Verlust jeglicher Orientierung im Elternhaus bedeutet. (…) Möglicherweise erklärt sich aus dieser Konstellation auch der Ruf nach dem `starken Mann` und damit die Übernahme rechtsextremistischen Gedankenguts bzw. entsprechender Parolen (…)“ (S. 262).  Einflüsse in Richtung Rechtsextremismus kamen in einigen Fällen allerdings auch durch Familienmitglieder (auch den Großeltern), die die NS-Zeit in ein positives, teils verherrlichendes Licht rückten (S. 264). Ergänzend wurde in den meisten Fällen auch noch von einem problematischen Verhältnis zu Geschwistern berichtet (S. 263).


Weitere Details der gesamten Studie kann ich in diesem Rahmen nicht weiter besprechen. Deutlich wird, dass problematische Kindheitsgründe in viele Richtungen (auch politische) führen können. Ich betone hierbei immer auch die Bedeutsamkeit des „Zufalls“ bzw. von zufälligen Begegnungen und Gruppen, die sich im Wohnort formiert haben. Was die gesamte Studie sehr gut unterstreicht ist, dass Gewaltverhalten nicht aus dem Nichts kommt, sondern dass in der Kindheit deutliche Einflüsse zu finden sind.

Montag, 6. Juli 2020

Wie prägt Kindheit den Polizeiberuf?


In meinem Buch habe ich an Hand einiger Studien destruktive Kindheitserfahrungen von Soldaten und Soldatinnen besprochen. Hier im Blog habe ich ergänzend eine weitere Studie zu dem Thema besprochen, die ein sehr hohes Ausmaß von körperlicher Misshandlung in der Kindheit der befragten SoldatInnen sowie ein hohes Ausmaß von sexuellen Missbrauchserfahrungen fand. Nun sind SoldatenInnen und PolizistenInnen zwei unterschiedliche Berufsgruppen. Von den Strukturen her, den Gruppendynamiken, dem Staatsdienst, den potentiellen Gefahren usw. gibt es aber Ähnlichkeiten.  

Nicht erst nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd, der durch Polizeigewalt starb, habe ich mir Gedanken über PolizistInnen und deren Kindheitsbedingungen gemacht. Ich habe jetzt erneut etwas zu dem Thema recherchiert. Intensiv war meine Recherche nicht, aber es entstand schnell der Eindruck, dass es bisher nicht allzu viele Erkenntnisse dazu gibt. Was ich fand, werde ich gleich berichten. 

Vorweg noch ein Vorwort: Ich halte sehr viel von der Polizei (und habe sie auch manchmal in meinem Leben schon dringend gebraucht, z.B. bei einem nächtlichen Einbruch in meinen Geschäftsräumen oder als ich Kindesmisshandlung in einem Haus wahrnahm und die Beamten verständigte). Polizei in Deutschland ist für mich kein Feindbild, sondern Helfer. 

Trotzdem gibt es auch hierzulande immer wieder Fälle von Polizeigewalt, polizeiliches Fehlverhalten und Missbrauch von Macht. Mich interessiert, ob es bei diesem Problemfeld einen ursächlichen Zusammenhang zu Kindheitserfahrungen gibt? Und mich interessiert grundsätzlich, ob PolizistInnen in ihrer Kindheit ein höheres Ausmaß von autoritärer Erziehung und auch von elterlichen Körperstrafen erlebt haben, als im Bevölkerungsdurchschnitt zu finden ist (ähnlich, wie es bei den SoldatInnen feststellbar ist)? Die zweite Frage werde ich hier auf Grund fehlender großer Befragungen nicht klären können (nur Tendenzen lassen sich ausmachen). Die erste Frage lässt sich auf Grundlage folgender Studie schon ganz gut klären. 

137 Polizisten wurden für folgende Studie aus den USA befragt: 
DeVylder, J., Lalane, M. & Fedina, L. (2019): The Association Between Abusive Policing and PTSD Symptoms Among U.S. Police Officers. In: Journal of the Society for Social Work and Research. Volume 10, Number 2. S. 261-273. 

Die wesentlichen Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: je mehr belastende Kindheitserfahrungen (ACEs) und je mehr traumatische Erlebnisse während des Polizeidienstes gemacht wurden, desto höher waren die Traumasymptome bei den Befragten. Und die Polizisten, die zu missbräuchlicher Polizeiarbeit neigten (das waren 10,9 % der Befragten), hatten wiederum auch die im Vergleich zu den Polizisten, die nicht zu missbräuchlicher Polizeiarbeit neigten, meisten Traumasymptome. 

Daraus lässt sich nach meiner Lesart der Studie ableiten, dass weniger belastende Kindheitserfahrungen und weniger traumatische Erfahrungen im Dienst auch zu weniger missbräuchlicher Polizeiarbeit führen. Und natürlich lässt sich weitergedacht auch ableiten, dass man therapeutisch die Traumasymptome der Polizisten behandeln müsste, um missbräuchliche Polizeiarbeit zu verhindern.

Dazu muss man noch wissen, dass ACE Fragebögen i.d.R. bzgl. körperlicher Elterngewalt nur Misshandlungen erfassen. Solche Studien wie die oben besprochene ließen sich zukünftig noch verfeinern, wenn auch die anderen Formen von körperlicher Elterngewalt erfasst würden.

Bzgl. Kindheitserfahrungen von PolizistInnen in Deutschland fand ich nur eine Studie: 
Böttger, Andreas (1998): Gewalt und Biographie. Eine qualitative Analyse rekonstruierter Lebensgeschichten von 100 Jugendlichen. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden. 

Böttger hat 10 junge PolizistInnen (8 männl., 2 weibl.) befragt (Geburtsdatum ca. 1969-1974). Bzgl. der Kindheit fasst der Autor zusammen: „Die meisten Interviewpartner/innen haben nach ihren Erzählungen die Kindheit und Jugend im Elternhaus als positiv und angenehm erlebt. Dennoch gaben fast alle an, autoritär erzogen und in der Erziehung geschlagen worden zu sein, wobei immer der Vater dominierte und in einigen Fällen die Mutter vermittelnd wirkte“ (Böttger 1998, S. 300)

Was hier auffällt ist die Beschönigung der Kindheit und auch die Rechtfertigung der erlittenen Gewalt. Eine Befragte sagte: „Mein Dad hat ab und zu mal ausgeholt, dass er uns echt mal den Hintern versohlt hat, das kenn ich wohl, aber das war denn auch nur berechtigt. Zu dem Zeitpunkt natürlich nicht, aber im Nachhinein, wenn man noch mal drüber nachgedacht hat, war`s berechtigt“ (ebd., S. 300). Und der Autor merkt dem an: „Was am Beispiel dieser Polizistin auffällt (…) findet sich auch bei mehreren der männlichen Befragten: Die im Elternhaus erfahrene Gewalt wird retrospektiv als gerechtfertigt gedeutet. Das Fehlverhalten eines Kindes mit Schlägen zu bestrafen, wird nicht hinterfragt“ (ebd., S. 300f.). Die Gewalt im Elternhaus der PolizistInnen erfolgte konsequent immer bei bestimmten Anlässen und war nicht willkürlich. „Welche Auswirkungen dies auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben kann, zeigte sich besonders bei den Polizisten, die nach ihren Erzählungen bei der im Dienst ausgeübten Gewalt die Grenzen der Legalität überschritten hatten und dies im Interview rechtfertigten. Denn gerade sie erklärten, solche Formen subjektiv gerechtfertigter Gewalt besonders in ihrer Erziehung `kennengelernt` zu haben“ (ebd., S. 301). 

Ähnliches fand ich auch bei den Befragungen von SoldatenInnen: Die erlittene autoritäre Erziehung und elterliche Gewalt wurden als gerechtfertigt oder normal dargestellt, die eigenen Eltern blieben idealisiert. Nun ist dies an sich klassisch bei erlittener elterlicher Destruktivität. Trotzdem bleibt die Frage, ob diese Kindheitshintergründe die  Berufswahl mit beeinflusst haben? Sind die klaren Regeln, strengen Strukturen und auch die offizielle Legalität von Gewalt bei der Polizei ein Anziehungspunkt gerade auch für Menschen, die als Kind in einem ähnlichen Rahmen aufgewachsen sind?  Auf Grund der niedrigen Fallzahlen lässt sich dazu kein abschließendes Urteil fällen. 

Was Böttgers Studie allerdings auch bestätigt ist, dass die Polizisten, die ein hohes Ausmaß von elterlicher Gewalt erlitten hatten und dies gleichzeitig rechtfertigten auch diejenigen waren, die zu missbräuchlicher Polizeiarbeit neigten. Diese Tendenz fand sich so ähnlich auch bei der oben besprochenen Studie aus den USA.

Mehr Forschung in diesem Bereich ist notwendig! 

Zum Schluss noch ein Hinweis auf ein Interview (Merkur, 22.06.2020: „Was für eine kranke Gesellschaft“: Kriminologe vergleicht Polizeisystem der USA mit Deutschland), das kürzlich der Kriminologe Christian Pfeiffer zum Thema Polizeigewalt gegeben hat. Er sieht einige grundsätzliche Unterschiede zwischen dem Polizeisystem in Deutschland und dem Polizeisystem in den USA. U.a. wäre hierzulande die Ausbildung viel sorgfältiger und auf Kommunikation angelegt. Außerdem sind viele Polizisten in Deutschland weiblich, was sehr förderlich sei. „Aber der wichtigste Punkt überhaupt ist: In den USA halten es drei von vier Elternpaaren für richtig, ihre Kinder zu prügeln, bei uns weniger als ein Viertel. Wenn ein Kind geprügelt wird, prügelt es zurück. Unsere Polizei ist von Grund auf weniger gewalttätig als in den USA“, sagte Pfeiffer. Das ist eine These, der ich so auch zustimmen würde. Die Gewalt gegen Kinder in den USA ist viel weiter verbreitet und auch bzgl. der Schweregrade höher, als in Deutschland. Dies spiegelt sich in allen Gesellschaftsbereichen wider, auch bei der Gruppe der Polizei. 

Freitag, 3. Juli 2020

Spende meines Autorenhonorars an "Paten für Strassenkids"


Anfang 2019 habe ich mein Buch "Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen" im Mattes-Verlag veröffentlicht.

Der Mattes-Verlag ist ein kleiner Verlag und ich bin zudem kein bekannter Autor. Trotzdem habe ich für das Jahr 2019 ein Autorenhonorar für verkaufte Bücher in Höhe von immerhin 575,-€ erhalten.

Mir ist es ein besonderes Anliegen, dem Hamburger Projekt „Paten für Strassenkids“, bei dem ich schon seit Studentenzeiten Pate bin, diese Summe zu spenden (die Überweisung ging heute raus)!

Als ich jung war, habe ich als Zivi im Hamburger Projekt Jork mit Drogenabhängigen gearbeitet und dabei viel erlebt und gesehen. Die Kinder und Jugendlichen, die auf der Straße in Hamburg leben (und dabei oft auch Drogen nehmen) sind mir irgendwie immer noch nah. Im reichen Hamburg gibt es viel Elend und Leid und ich hoffe sehr, dass meine Spende die Arbeit des Vereins etwas unterstützt.

Dass diese Spende gerade auch durch mein Buch, das ich auch als großes Kinderschutzbuch verstehen, möglich wurde, macht mich besonders glücklich. Danke insofern auch an all die Leser und Leserinnen, die das Buch bisher gekauft haben (und Danke an dieser Stelle auch noch einmal dafür, dass die kleineren Fehler - vor allem Rechtschreib- und Flüchtigkeitsfehler -, die noch in der ersten Auflage vom März im Buch waren, geschluckt wurden und das Buch trotzdem sehr gelobt wurde ;-) )!

Donnerstag, 25. Juni 2020

Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung

(aktualisiert am 27.05.2022)

Die Professorin für Psychologie Birgit Rommelspacher hat sich in einer Arbeit mit einigen jungen Rechtsextremisten befasst:
Rommelspacher, B. (2006): »Der Hass hat uns geeint«: Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg aus der Szene. Campus Verlag, Frankfurt am Main. 

Im ersten Teil ihres Buches befasst sie sich mit der Sozialisation und auch Kindheit von 10 Rechtsextremisten (9 männlich, 1 weiblich). Ich möchte hier einen Punkt aufgreifen, der mir nicht zum ersten Mal innerhalb der Extremismusforschung begegnet ist. In dem Kapitel „Zur Rolle der Familie“ beginnt sie wie folgt: „Vielfach wird angenommen, dass die Jugendlichen Halt und ˈGeborgenheitˈ in rechten Gruppen suchen, weil sie diese zu Hause vermissen. Wie wir aber bereits gesehen haben, gibt es auch Rechtsextreme, die sich in ihrer Familie durchaus wohl gefühlt haben“ (Rommelspacher 2006, S 33).

Im Text führt sie dann aus, um welche Akteure es hier geht. Bei Kent Lindahl, Bert Altmann, Jörg Fischer, Jörg Schneider, Ingo Hasselbach und Stefan Michael Bar macht Rommelspacher diverse Problemlagen in Familie und Kindheit aus. „Aber es gibt auch andere, die von einer sehr guten Atmosphäre in ihrer Familie berichten, wie etwa Olsen, Büttner oder Greger. Auch Christine Hewicker fühlt sich von ihren Eltern angenommen. Sie wird als jüngstes und einziges Mädchen von ihren Brüdern verhätschelt und, wie sie sagt, von allen sehr geliebt. Die Situationen sind also unterschiedlich, und so verwundert es nicht, dass in der Forschung nichts Eindeutiges über den Zusammenhang zwischen familiärem Hintergrund und Zugang zum Rechtsextremismus gesagt werden kann“ (Rommelspacher 2006, S. 34).
    Ihre Positivbeispiele sind also: Peter Olsen, Nick Greger, Manfred Büttner und Christine Hewicker. Ihre Informationen über die Sozialisation all der oben genannten Akteure stammen oft aus Büchern oder Biografien, teils aber auch aus von Rommelspacher durchgeführten Interviews. Olsen, Greger und Büttner wurden von ihr interviewt, insofern kann ich dies nicht überprüfen. Ihre Infos bzgl. Christine Hewicker hat sie allerdings aus deren Autobiografie und diese habe ich mir angesehen. Dazu gleich mehr. Vorweg sei schon einmal angemerkt, dass Christine Hewicker so rein gar nicht als Positivbeispiel bezogen auf die Familiensozialisation taugt. (Nachtrag: Über die Kindheit von Nick Greger habe ich einen eigenen Blogbeitrag verfasst. Hier gibt es Auffälligkeiten in der Kindheit und viele Fragezeichen!)

Zunächst möchte ich eine kleine Rechnung durchführen. Im ersten Teil hat die Autorin wie schon gesagt 10 Akteure in den Blick genommen. Bei 4 fand sie in den Familien bzw. der Sozialisation keine Auffälligkeiten (40%). Bei 6 fand sie Auffälligkeiten (60%). Das ist schon mal eine deutliche Mehrheit, bei der Problemlagen festgestellt werden können. Die Kindheit von Kent Lindahl habe ich kürzlich auch hier im Blog besprochen und man kann sich ein umfassendes Bild von der massiv destruktiven Kindheit, die er erlitten hat, machen. Zu den anderen 5 Akteuren hier ein paar Infos (nach Rommelspacher 2006, S. 15-34):

Jörg Fischer erlebte seinen Vater als sehr gewalttätig. Der Vater verließ zudem früh die Familie. Jörg erkrankte als Kind an Diabetes und wurde von seiner Mutter angstbeladen von der Jugendpeergroup ferngehalten. Dadurch wurde er zum Außenseiter.

Jörg Schneider kommt aus einem gewalttätigen Elternhaus. Der Vater verließ irgendwann die Familie, die Mutter übte weiterhin Gewalt gegen Jörg aus. Die Mutter heiratete erneut. Der Stiefvater war ein Pakistani, der das Familienleben nach strengen islamischen Regeln neu ordnete. Als Jörgs Mutter schließlich zum Islam konvertierte, riss Jörg aus und kam in einem Heim unter.

Ingo Hasselbach, der in Ostberlin aufgewachsen ist, wehrte sich von klein auf gegen die Lebensformen in der DDR. Die sozialistische Lebensweise seiner Eltern lehnte er ab, besonders der Vater scheint dabei zentrale Konfliktfigur gewesen zu sein. Bereits als kleiner Junge wurde er von Hippies im Prenzlauer Berg aufgenommen. Später landete er bei den Punks. Seine Eltern nahmen von diesen Entwicklungen keine Kenntnis, was als solches bereits Fragen aufwirft. Von seinem Vater fühlte er sich nie als Mensch und Sohn ernst genommen. In einem Brief an den Vater schrieb er später u.a. „Man kann nicht einfach Kinder produzieren und dann so tun, als ob sie einen nicht mehr angingen“ (Rommelspacher 2006, S. 33) Bereits mit 13 Jahren wurde er als potentieller Störer des sozialistischen Systems erfasst. Später (der genaue Zeitpunkt wird nicht angegeben, vermutlich aber war er noch minderjährig) wurde er verhaftet und machte in Einzelhaft offensichtlich traumatische Erfahrungen, die seine Gefühle abstumpfen ließen. (Nachtrag: Die Kindheit von Ingo Hasselbach ist weitaus traumatischer verlaufen, als Rommelspacher es recherchiert hat, siehe dazu hier)

Stefan Michael Bar wurde nach der Geburt seinen leiblichen Eltern weggenommen und kam in ein Heim. Seine Mutter war bei der Geburt erst 15 Jahre alt, sein Vater ein junger Gastarbeiter aus Italien. Seine Adoptiveltern lehnte er später ab und wollte auf keinen Fall so werden wie sie. Nachdem er politisch zu denken anfing, sei er mit seinen Adoptiveltern nicht mehr klargekommen.

Über Bert Altmann führt die Autorin nicht viel aus, aber sie zählt ihn nicht zu den Akteuren, die eine positive Familienerfahrung machten.

Die o.g. Angaben über Kindheits- und Familienhintergründe von Rechtsextremisten sind klassisch und in dieser Form immer wieder in entsprechenden Studien zu finden. Vor allem sind diese und ähnliche Belastungen in entsprechenden Studien i.d.R. bei der Mehrheit der Befragten auszumachen. Dies gilt auch für die Arbeit von Rommelspacher und es erstaunt insofern sehr, dass sie 4 Positivbeispiele bzgl. der Familiensozialisation nennt und entsprechend wie oben zitiert kommentiert.

Kommen wir jetzt wie angekündigt zu Christine Hewicker


 2012 kam Hewickers Autobiographie unter dem Titel „Die Aussteigerin. Autobiographie einer ehemaligen Rechtsextremistin“ im ACABUS-Verlag Hamburg heraus. Diese Autobiographie war auch die verwendete Quelle für Birgit Rommelspacher, aus der heraus sie die positive Familiensozialisation der Akteurin abgeleitet hat.
In der Tat schwärmt Hewicker zunächst über ihre Kindheit und Familie. Sie sei verwöhnt und vergöttert worden und die Eltern hätten „uns Kinder liebevoll, aber mit strengen Regeln erzogen“ (Hewicker 2012, S. 9) Bei mir schlugen bei dem zitierten Satz sofort die Alarmglocken! Wenn „Liebe“ mit „Strenge“ in einem Satz genannt wird, so bedeutet dies erfahrungsgemäß nichts Gutes.

Aber auch andere Belastungen deuten sich bereits im ersten Teil des Buches an. Ihr Vater habe nie viel über sich erzählt und sei sehr introvertiert gewesen. Später fand Hewicker heraus, dass ihr Vater als Jugendlicher im Krieg aus den ostpreußischen Gebieten fliehen musste. Verwandte hatte ihr Vater damals aus den Blick verloren und ging davon aus, dass sie umgekommen waren, was aber nicht stimmte (Hewicker 2012, S. 9). Ihre Mutter hatte ebenfalls den Krieg erlebt und dabei auch Freunde und Schulkameraden verloren. Der Großvater mütterlicherseits hatte sich schon vor der Geburt von Christine erhängt. Insofern wird hier sehr schnell deutlich, dass diese Familie alleine aus ihrer Geschichte heraus sehr belastet war.

Ihre Eltern, so führt Hewicker weiter aus, seien sehr arbeitsam gewesen und wären hauptsächlich darauf konzentriert gewesen, den Kindern eine vernünftige Erziehung und eine gute Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen. Und sie hängt noch an, dass sie „eine glückliche Kindheit ohne viele Entbehrungen“ hatte und sie von ihrer gesamten Familie sehr geliebt wurde (Hewicker 2012, S. 11). Im Alter von 14 Jahren kam sie mit rechtem Gedankengut in Kontakt, das sich sehr schnell auch in ihrem Dorf ausbreitete. Ebenfalls wurden ihre Brüder in diesen Bann gezogen. Mit ihren Brüdern verbrachte sie u.a. Singabende bei der Wiking-Jugend, wogegen ihre Eltern nichts einzuwenden hatten (Hewicker 2012, S. 13, 17).
Der erste Teil der Autobiographie veranlasste offensichtlich Birgit Rommelspacher dazu, das positiv dargestellte Bild, das Hewicker wortstark zeichnet, zu übernehmen. Die Belastungen dazwischen (wie oben erwähnt) überging Rommelspacher, ebenso wie das Wort “streng“, das bezogen auf die Erziehung fiel.

Im weiteren Verlauf führt Hewicker dann aus, dass sie sich in der Schule regelmäßig geprügelt hätte, vor allem, um unterdrückten Kindern zu helfen, wie sie schreibt. Dies galt auch bezogen auf ihren an Leukämie erkrankten, jüngeren Bruder, den sie gegen ältere Schüler durch Prügeleien verteidigt habe (Hewicker 2012, S. 12). Hier fällt eine erneute, schwere Belastung ins Auge: Die potentiell lebensgefährliche Erkrankung des Bruders. Die vielfach selbst ausgeübte Gewalt fällt ebenfalls ins Auge, egal wie die Begründung aussehen mag. Einer ihrer Brüder prügelte sich ebenfalls sehr oft, vor allem auch, nachdem er immer mehr in rechte Kreise hineingezogen wurde (Hewicker 2012, S. 17).

Ihre Brüder übten auch eine starke Kontrolle über sie aus, vor allem auch, als sie anfing, sich für das andere Geschlecht zu interessieren. Teils wurden Verehrer ernsthaft von ihren Brüdern bedroht. „Ich war folglich sehr bestrebt, mich aus den Fesseln meiner älteren Geschwister zu befreien. Es begann eine Zeit, in der ich mich zu einer außerordentlich widerspenstigen, trotzigen, sturen, sehr schwierigen Tochter und Schwester entwickeln sollte. Je mehr mir verboten wurde, umso mehr kämpfte ich um meine vermeintliche Freiheit. Mit meiner Mutter stritt ich fast nur noch, und meinen Brüdern büxte ich aus, wann immer sich Gelegenheit bot. Ich entglitt meiner Familie endgültig, als ich Klaus-Dieter kennenlernte. Als ich 18 wurde, hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als meine Lehre abzubrechen und auszuziehen“ (Hewicker 2012, S. 196).

Das Bild von der liebevollen Familie bekommt aber nicht nur an dieser Stelle starke Brüche. Denn Hewicker berichtet auch von mütterlichen Misshandlungen. Als Jugendliche war sie der Kontrolle ihrer Brüder entwischt und feierte und knutschte mit einem männlichen Bekannten bis 2 Uhr nachts. Dann ging es zurück nach Hause. „Ich starb mehrere Tode, als ich im Esszimmer noch Licht brennen sah. Als wir die Tür öffneten, saß meine gesamte Familie mit finsteren Mienen am Tisch. Mein ältester Bruder wetterte schon los, noch bevor meine Mutter oder mein Vater etwas sagen konnten. (…) Kai sprang auf, schrie mich an und wollte mir eine schmieren, als sein Zwillingsbruder ihn gerade noch davon abhielt. (…) Noch in dieser Nacht wurde ich von meiner Mutter mit einem Teppichklopfer aus Bast verprügelt (…)“ (Hewicker 2012, S. 22) Danach erhielt sie Hausarrest.
    Sowohl die Brüder (durch Prügeleien, aber auch wie oben beschrieben; ihr Bruder Kai fand es offensichtlich angebracht und berechtigt, vor den Augen der Eltern auf seine Schwester loszugehen), als auch die Mutter fallen durch Gewalttätigkeiten auf. Christine hatte schon zu Beginn des Buches die „Strenge“ in der Erziehung nebenbei erwähnt. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Körperstrafen keine Ausnahme in dieser Familie waren.

Wir erinnern uns an dieser Stelle an meine kleine Rechnung zu Beginn. Passen wir sie also nach der Analyse der Kindheit von Hewicker an: Bei 70 % (7 von 10) der besprochenen rechten Akteure finden sich Auffälligkeiten in deren Kindheit und Sozialisation.

Ich kann irgendwie schon etwas nachvollziehen, dass Rommelspacher auf die Verklärung und Beschönigung von Hewicker hereingefallen ist. Andererseits: Bei gründlicher Durchsicht der Autobiographie hätte man dies auch merken können. Mein wesentlicher Antrieb dafür, diesen Text hier zu schreiben, ist allerdings nicht Frau Rommelspacher schlecht aussehen zu lassen. Ich möchte meine Kritik und meine Anmerkungen eher als Ratschlag und Mahnung an die Extremismusforschung verstanden wissen. 

Von der Schwierigkeit, die ganze Wahrheit über das erlebte Kindheitsleid zu erfahren


Es ist ein psychologisch bekanntes Phänomen, dass Menschen, die leidvolle Erlebnisse in der Kindheit machen mussten, diese rückblickend umdeuten oder beschönigen. Dies gilt umso mehr, wenn Familienmitglieder Täter oder destruktive Agitatoren waren. Wie oft habe ich selbst von schwer als Kind misshandelten Menschen gehört oder gelesen, die trotzdem meinen, dass ihre Kindheit doch im Grunde „normal“ verlaufen wäre und die Eltern doch eigentlich nette Leute sind, die sich nur um die Entwicklung der Kinder sorgten? Die Frage ist immer auch, wie Akteure ihre Kindheit überhaupt objektiv beurteilen können? Man kannte ja nur die eigene Kindheit und die war nun einmal die Normalität! Um all das (inkl. des Abwehrmechanismus Identifikation mit dem Aggressor) muss man wissen.
    Darum muss man noch viel mehr wissen, wenn man sich mit Gewalttätern und Extremisten befasst. Denn dass diese Menschen zu Extremisten und Gewalttätern wurden, sagt bereits viel über sie aus: Sie müssen z.B. Realitäten ausblenden können (u.a. die Realität ihrer Opfer). Und: Sie zeigen durch ihr Verhalten bereits ein hohes Maß an Identifikation mit Aggressoren. Dass Elternteile einst Aggressoren gewesen sein könnten, sollte immer mitgedacht werden. Zumal die Forschungslage mittlerweile ziemlich gut aufgestellt ist und sowohl Gewaltverhalten, als auch Extremismus in einem ursächlichen Zusammenhang zu destruktiven Kindheitserfahrungen gebracht werden konnten.
Ich selbst habe in meinem Buch ein ganzes Kapitel zu dem Thema verfasst: „Das Schweigen der Täter: Von der Schwierigkeit, die ganze Wahrheit über das erlebte Kindheitsleid zu erfahren“. Ich bin für ein grundsätzliches (begründbares) Misstrauen, wenn von einzelnen Akteuren (oder aus Teilen aus deren Umfeld), die durch schwere Gewalttaten aufgefallen sind, erklärt wird, dass in der Kindheit alles großartig, liebevoll und normal war. Mit diesem grundsätzlichen Misstrauen im Gepäck habe ich auch auf die Ausführungen von Birgit Rommelspacher reagiert und mir selbst die Autobiographie von Hewicker durchgelesen. Mein Misstrauen war in diesem Fall mehr als berechtigt.

Von den Problemen der Forschung, das Kindheitsleid der Täter in den Blick zu nehmen. Ein weiteres Beispiel: 


Es gibt weitere Beispiele für oben besprochene Prozesse: In einer Veröffentlichung über Extremismus schreibt der Sozialwissenschaftler Lazaros Miliopoulos unter dem Zwischentitel „Sind gestörte Familienverhältnisse typisch?“ zunächst einen Satz, den ich nur unterstreichen kann: „Im Falle des (heutigen) Rechtsextremismus ist die These der gebrochenen oder zerrütteten Familiensozialisation als Ursache von Radikalisierungsprozessen weitgehend unbestritten“ (Miliopoulos 2017, S. 109). Bzgl. Islamismus und Linksextremismus sehe dies allerdings anders aus.

Im Textverlauf schreibt der Autor dann zunächst, dass sich bei Führungsfiguren des Linksextremismus im 20. Jahrhunderts zwar durchaus Auffälligkeiten in gehäufter Form finden lassen (er nennt u.a. Stalin, János Kádár und Lenin), bei anderen aber wiederum nicht (er nennt u.a. Ceaușescu, Pol Pot, Mao, Tito, Trotzki). Dazu kann ich gleich anmerken, dass ich die Kindheiten von Mao, Tito und Ceaușescu recherchiert und u.a. in meinem Buch besprochen habe. Diese Kindheiten waren alles andere als „unauffällig“, sondern ein reiner Alptraum. Über Pol Pot habe ich ebenfalls recherchiert. Seine Kindheit liegt derart im Dunkeln, dass es kaum Sinn macht, diese als unauffällig zu bezeichnen. Man weiß schlicht fast nichts über Pol Pots Kindheit.
    Bzgl. dem Linksextremismus in Westdeutschland nach 1945 nimmt der Autor ebenfalls gehäufte Auffälligkeiten wahr (u.a. bezogen auf Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Horst Mahler, Bernward Vesper). Allerdings sei das Bild auch uneinheitlich und: „Überdies finden sich in narrativen Selbstdarstellungen und biografischen Darstellungen im Bereich des Linksterrorismus auch ˈHinweise auf im Großen und Ganzen unauffällige oder behütete familiäre Bedingungen ˈ (Gudrun Ensslin, Gabriele Rollnik, Till Meyer, Fritz Teufel und Wolfgang Grams)“ (Miliopoulos 2017, S. 111).
    Über Ensslin habe auch ich recherchiert und dies in meinem Buch angemerkt. Ihre Kindheit ist ebenfalls derart unbeleuchtet, dass man keine feste Aussage treffen kann, weder in die eine, noch in die andere Richtung. Man kann nur festhalten, dass sie bei beiden Eltern aufwuchs. Auch über Fritz Teufel habe ich recherchiert. Positive Erinnerungen über seine Kindheit machte er in einem Interview, in dem er deutlich „zugedröhnt“ wirkte. Für Drogenkonsum war er ja auch bekannt. (Teufel werde ich hier im Blog irgendwann noch gesondert besprechen). Seine Angaben halte ich unter diesen Umständen für fragwürdig. Die Kindheiten von Till Meyer und Wolfgang Grams habe ich hier im Blog ausführlich besprochen. Keinesfalls kann bei den beiden von einer unauffälligen oder behüteten Familiensozialisation die Rede sein!

Till Meyer selbst hat an einer Stelle seiner Autobiographie folgendes geschrieben: „An Beachtung und Liebe fehlte es mir nicht. Trotz ihrer großen Belastung hatte ich immer die besondere Zuwendung und Aufmerksamkeit meiner Mutter. Vielleicht, weil ich der Jüngste war.“ Diese Idealisierung von Kindheit und Eltern ist klassisch. Diese Aussage mag kurz dazu verleiten, Meyer eine unauffällige Kindheit zu attestieren. Zu dieser besonderen „Aufmerksamkeit“ seiner Mutter gehörte allerdings auch körperliche Gewalt.  Hier erstaunt, dass der Autor Lazaros Miliopoulos den Akteur Till Meyer in die Liste der Unauffälligen aufnimmt, obwohl er selbst einige Passagen vorher auf „Gewalterfahrungen bei Till Meyer“ hingewiesen hat (Miliopoulos 2017, S. 110) und sich somit selbst widerspricht.

Der Autor nimmt auch einige NS-Akteure kurz in den Blick und stellt sehr richtig auch Auffälligkeiten bei vielen (u.a. Hitler, Ribbentrop, Göring, Bormann) fest (wobei hier auch einiges lückenhaft ist), die ich auch in meinem Buch ausführlich besprochen habe. Aber erneut kommt das „Aber“ hinterher: „D.h. im Umkehrschluss aber nicht, dass solcherart Auffälligkeiten in jedem Fall zutrafen“ (Miliopoulos 2017, S. 111). Und dafür nennt er als Beispiele u.a. Heinrich Himmler, Julius Streicher, Hans Frank oder Ernst Röhm. In meinem Buch habe ich mich ausführlich mit den Kindheiten von Himmler, Frank und Streicher befasst und auch hier muss ich anmerken: Diese Kindheiten waren alles andere als unauffällig, sondern sehr von Destruktivität in verschiedenen Bereichen durchzogen.

Ein weiteres Beispiel aus der Gewalt-/Extremismusforschung:
Willems (1993) hat Gerichtsakten von 148 fremdenfeindlichen/rechten Tätern ausgewertet. Drei Täter-Typen (Hinweis: meine eigene Titelbezeichnung) bzgl. Familienkontext wurden aufgestellt (Willems 1993, S. 162f.): 

1. unbelastet/intakt
2. Konflikte mit Eltern/Leistungsdruck
3. zerrüttet/destruktiv/elterliche Gewalt

Bzgl. der anteiligen Gewichtung gibt es keine Angaben. Bzgl. dem dritten Typus wird zumindest von "vieler der Straftäter" gesprochen, was eine gewisse Tendenz aufzeigt: "Eheprobleme, Scheidung der Eltern, Konflikte innerhalb der Familie, Gewalt als erzieherisches Mittel, Alkoholprobleme in der Familie, häufig Heimaufenthalte, Überbelastung der Eltern mit der Erziehung sind Merkmale, die Kindheit und Jugend vieler der Straftäter kennzeichnen" (Willems 1993, S. 164). 

Eine für solche Art Täter typische Problemkonstellation im Elternhaus habe man nicht finden können: 
"Die Textauszüge zeigen, dass in einer Reihe von Fällen familiale Strukturen beschrieben werden, die eine ungestörte Entwicklung zu einer selbstbewussten und gefestigten Persönlichkeit erlauben sollten und keine Hinweise auf Belastungen, Probleme und Erziehungsdefizite geben, die als potentielle Ursache für Gewalttätigkeit angesehen werden können. (...) Es ergibt sich also kein eindeutiges oder typisches biographisches Muster und keinerlei Hinweise auf eine Dominanz problematischer Familienkonstellationen (´Vaterverlust`) oder einseitige Erziehungsstile (autoritär vs. antiautoritär) für die in unserer Analyse erfassten Täter fremdenfeindlicher Gewalt" (Willems 1993, S. 166). 

Ich für meinen Teil lese aus dieser Studie zunächst heraus, dass Gerichte Kindheitshintergründe nicht systematisch und umfassend erfassen (z.B. durch bewährte standardisierte Fragebögen). Gerichte können aber im Prozess Hinweise/Infos liefern.
Der unbelastete Typ wird z.B. durch Aussagen wie "ordentliche und saubere Wohnung" oder "Es entsteht der Eindruck, dass die Eltern ihren Sohn gern haben" oder: Das Verhältnis zwischen dem Angeklagten "und seinem Stiefvater wird von dem Angeklagten als gut eingeschätzt. Die Eltern gaben sich Mühe (...)" oder "Seine Mutter hat eine kontinuierliche Erziehungsarbeit geleistet" (Willems 1993, S. 163) untermauert.
Wer sich mit möglichen Kindheitsbelastungen innerhalb von Familien befasst, wird hier schnell feststellen, dass solcher Art "Ausschnitte" nicht geeignet sind, eine genaue und vor allem absolute Kategorie zu eröffnen. Mit der Definition "unbelastet" muss man sehr vorsichtig sein. Keine Trennung von Elternteilen ("intakte Familie"), ordentliche Wohnverhältnisse und Aussagen vor Gericht  al la "war alles normal/gut" sind nicht gleichbedeutend mit "100%ig keine Kindheitsbelastungen".

Abschließende Bemerkungen und Mahnung an die Gewaltforschung


Dieses „Aber“ werden wir bei diesem Thema niemals weg bekommen. Wir werden nie bei 100 % der Gewalttäter, Massenmörder und Terroristen destruktive Kindheiten nachweisen können. Oft wissen nicht einmal die eigenen Ehepartner die ganze Wahrheit über die Kindheit ihres Partners (vor allem, wenn diese Kindheit sehr belastend war). Und oft wissen auch die Akteure selbst nicht die ganze Wahrheit über ihre eigene Kindheit (Stichworte: Spaltung, Verdrängung, Erinnerungsverlust). Ich möchte hier jetzt nicht alles wiederholen, was ich zu diesem Thema bereits aufgeschrieben habe (siehe das genannte Kapitel in meinem Buch). Aber (um dem „Aber“ mit dem gleichen Wort zu entgegen): Wir wissen heute sehr viel, über die Mehrheit der Gewalttäter und auch Extremisten (siehe meinen Blog bzw. Inhaltsverzeichnis). Belastende Kindheitserfahrungen sind bei der Genese von Gewalt und Extremismus ein bedeutsamer Faktor.

Die Wissenschaft sollte sich von der lupenreinen Arbeit, die natürlich vom Grundsatz her ansonsten immer wünschenswert ist, beim Blick auf Kindheitshintergründe von Gewalttätern ein Stück weit verabschieden. Sie sollte sich viel mehr wissenschaftlich und faktenbasiert mit den Problemlagen befassen, die bei der rückblickenden Betrachtung von Kindheitserinnerungen (sowohl bei den Akteuren, als auch ihrer Familie) naturgemäß vorhanden sind. Und sie sollte diese Problemlagen in entsprechenden Texten auch aussprechen, selbst wenn bei einzelnen Akteuren positive Berichte über die Kindheit zu finden sind. Letzterem sollte mit einem gesunden Misstrauen begegnet werden. Es macht keinen Sinn, Kindheitseinflüssen z.B. beim Phänomen des Extremismus ihr Gültigkeit abzusprechen, weil man bei einem Teil der untersuchten Akteure nichts Auffälliges finden konnte. Ich spreche da aus Erfahrung, aber auch auf Grundlage von viel Fachwissen, das man sich aneignen kann.

Manchmal findet sich dieses „gesunde Misstrauen“ auch in Fachbeiträgen, so z.B. bei Heitmeyer & Müller (1995), die 45 rechte Gewalttäter analysiert haben. Sie schreiben an einer Stelle: „Es bleiben schließlich insgesamt acht Jugendliche bzw. junge Erwachsene übrig, deren Schilderung ihrer Familienverhältnisse und Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen das vorsichtige Fazit zulassen, dass sie keine subjektiv relevanten Desintegrationserfahrungen in der Familie gemacht haben.“ Der Hinweis auf das „vorsichtige Fazit“ ist hier genau richtig! Darum geht es mir in diesem Text. Mein „gesundes Misstrauen“ beim Thema Kindheit von Gewalttätern schlug aber auch wieder bei der Arbeit von Heitmeyer & Müller zu. So wurde der mütterliche Erziehungsstil von den Forschenden beim Fall „Harry“ in einer Übersicht als „demokratisch“ gekennzeichnet. In der detaillierten Darstellung berichtet Harry allerdings, dass es „schon mal ´n paar Backpfeifen oder so“ gab. Ob ein solcher Erziehungsstil wirklich demokratisch sein kann?

(Nachtrag: siehe ergänzend auch den Beitrag Kindheit und Extremismus (mit Blick auch auf den NSU). Erneute Anregung für die Forschung (vom 04.09.2020)


Verwendete Quellen (Für Quellen, die ich bereits ausführlich im Blog besprochen habe, siehe die oben gemachte Verlinkung): 

Hewicker, C. (2012):  Die Aussteigerin. Autobiographie einer ehemaligen Rechtsextremistin. ACABUS-Verlag, Hamburg.

Miliopoulos, L. (2017): Biografische Verläufe im Extremismus: Ein kritischer Blick auf ihre Bedeutung für die Radikalisierungsforschung und die Extremismusprävention. In: Ralf Altenhof, Sarah Bunk, Melanie Piepenschneider (Hrsg.): Politischer Extremismus im Vergleich. Beiträge zur politischen Bildung. Lit Verlag, Berlin. S. 105-136.

Rommelspacher, B. (2006): »Der Hass hat uns geeint«: Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg aus der Szene. Campus Verlag, Frankfurt am Main.

Willems, H. (1993). Fremdenfeindliche Gewalt. Einstellungen, Täter, Konflikteskalation. Leske + Budrich, Opladen. 

Montag, 22. Juni 2020

Ein Neonazi steigt aus: Kindheit und Lebensweg von Kent Lindahl


Ich habe mir die Kindheit von dem Schweden Kent Lindahl angeschaut. Meine Quelle dafür ist:
EXIT. Ein Neonazi steigt aus (2001 im Deutschen Taschenbuch Verlag München erschienen)

Die Biografie von dem ehemaligen Nazis Lindahl ist schon etwas außergewöhnlich:
1. Er ist ziemlich intelligent (was man nicht über alle Straßenkämpfer-Nazis behaupten kann)
2. Er ist ein Aussteiger
3. Er hat seinen Lebensweg und vor allem auch seine Kindheit in einer Therapie aufgearbeitet
4. Er ist Gründer des schwedischen Aussteigerprogramms EXIT.

Aus diesen vier Punkten heraus (mit konzentriertem Blick auf Punkt 3.) ist dieser Lebensweg für mich von besonderem Interesse. Die ersten Sätze seiner Biografie haben es gleich in sich:
Ich kann mich nicht genau entsinnen, wann ich Nationalsozialist wurde oder Nazi, wie man sagt. Eine Rolle spielte jedenfalls das Fehlen von Wärme oder Nähe in meinem Elternhaus. Ich will nicht behaupten, dass sie mich nicht geliebt haben, selbst wenn vor allem mein Vater das nur sehr selten in Worten oder Taten zeigte. Dass Vater Alkoholiker war, machte die Sache nicht besser, auch nicht, dass ich ein ziemlich schwächlicher kleiner Junge mit Brille war – wie geschaffen, um vom ersten Schultag an gemobbt zu werden. Dass ich später die Seiten wechselte und selber mobbte, gehörte irgendwie auch zur Geschichte. Es war ein wichtiger Schritt in meiner Entwicklung hin zu Gewalt, zu elitärem Denken und zur Verachtung der, wie ich fand, Schwachen“ (S. 7).

Seine Eltern hätten sich nie geliebt, zwischen ihren gab es eine gefühlsmäßige Distanz und kaum Gesprächsstoff. Aber auch die Kinder wurden nie umarmt (S. 8). Die Familie an sich sei sehr schweigsam gewesen, man redete nicht viel miteinander (S. 10). Sein Vater sei als Kind ständig körperlich misshandelt worden. Er schlug aber nie seine eigenen Kinder. Wenn er stark getrunken hatte, wurde er allerdings laut und aggressiv. Lindahl kommentiert das Verhalten seines Vaters mit dem Wort Psychoterror (S. 9f.). Der gefühlsmäßige Abstand in der Familie ging soweit, dass der Vater stets alleine in den Urlaub fuhr, ohne Frau und/oder Kinder (S. 10). Als Kent noch sehr klein war, hatten seine Eltern eine schwere Ehekrise. Sein Vater hatte eine andere Frau kennengelernt und beschloss, sich scheiden zu lassen. Das Familienleben war in der Zeit reines Chaos. Kent wurde zu einem Nachbarehepaar gegeben, das zu Ersatzeltern - wie er sagt - wurde. Wie lange diese Krise anhielt, berichtet er nicht. Nur so viel: Seine Eltern trennten sich nicht (S. 11).

Vor Schulbeginn spielte Kent viel alleine. Mit Schulbeginn war er bevorzugtes Mobbingopfer (S. 13).
Besonders traumatische Erfahrungen machte Kent in einem Sommerferienlager, wo er 4 Wochen bleiben musste. Die Betreuer vor Ort achteten nicht gut auf die Kinder. Kent gehörte zu den Kleineren und die größeren Kinder sperrten die Kleineren häufig in eine Ort Fort ein oder fesselten sie und peitschen sie dann aus. Das Ganze fast täglich. Von den Eltern erhaltene Süßigkeiten mussten an die Großen abgetreten werden. Die Kleinen mussten zudem die Betten der Älteren machen usw. (S. 15-18).
    Das Schlimmste war für Kent der sexuelle Missbrauch, den er 2 Tage vor Abfahrt erlebte. Die älteren Jungen zwangen 3 Kleinere (einer davon Kent) in ihren Schlafraum. Ein kleiner Junge musste seinen Penis herausholen und Kent und ein anderer Junge mussten daran saugen. „Es war eklig! Was ich in dem Moment empfand, lässt sich nicht beschreiben. Ich flennte und kämpfte gegen den Brechreiz, wagte aber nicht zu rebellieren. Nach einem Monat in der Gewalt der Burschen tat man, was sie sagten. Und während wir dort auf schmerzenden Knien gegen die Ekelgefühle ankämpften, bildeten sie einen Kreis um uns, lachten, zeigten mit dem Finger auf uns und beschimpften uns: ˈDa, wie eklig die sind! Bäh!ˈ Wir waren absolut machtlos, wir konnten nichts machen, nicht einmal zu den Betreuern rennen und um Hilfe bitten. Dieser Besuch im Ferienlager hinterließ in mir tiefe Spuren. Teils, weil keiner von der Erwachsenen sah, was sie hätten sehen und wo sie hätten eingreifen müssen. Teils wegen der Erniedrigung“ (S. 18).
    Einer der Peiniger ging in die gleiche Schule wie Kent. Er verbreitete die Geschichte vom Lager in der Schule und Kent wurde daraufhin eine Zeit lang „Schwanzlutscher“ genannt (S. 19).

Kent Lindahl sieht diese Erlebnisse im Ferienlager als wesentlichen Faktor für seine destruktive Entwicklung an: „Die Erinnerung (…) war immerzu da, nicht bewusst, sondern wie eine in all den folgenden Jahren aus der Tiefe wirkende Triebfeder. In einem langen Zug nahm ich an allem und allen Rache“ (S, 19). Von außen betrachtet stimme ich dem nur zum Teil zu. Seine Kindheitserfahrungen in seiner Familie waren massiv belastend. Die Erlebnisse im Ferienlager kumulierten das Ganze sicher zu einer kritischen Masse, waren also sicher nicht alleiniger Auslöser für seinen rechtsextremen Weg der Gewalt, aber ein gewichtiger Mitauslöser. (Letztlich hat Lindahl den Einfluss seiner familialen Kindheit auch in dem oben eingangs zitierten Sätze selbst hervorgehoben.)

Nebenbei bemerkt: Das Thema Gewalt von Kindern gegen Kinder wurde in der Forschung bisher selten in den Blick genommen. Die Erlebnisse im Lager waren für Kent offensichtlich traumatisch, aber sie wären in standardisierten Fragebögen zur Erfassung von kindlichen Gewalterfahrungen wohl kaum ermittelt worden. Die älteren Kinder waren nämlich nicht 5 Jahre älter als Kent damals war; dieser Altersabstand wird häufig in Fragebögen als eine Bedingung dafür gesehen, um sexuellen Missbrauch zu erfassen. Fraglich ist auch, ob solche Fragebögen körperliche und psychische Gewalt durch die anderen Kinder erfasst hätten, sehr wahrscheinlich nicht.

Kents Weg zur Gewalt begann früh, bereits in der dritten Klasse. Es kam dann „zu dem ersehnten Rollentausch, auf den ich seit dem ersten Schuljahr gewartet hatte“ (S. 2) Nun wurde er zum Täter und mobbte kleinere Schüler. Mehr noch, er verprügelte sie. Aber hin und wieder wurde er auch wieder zum Opfer.

In der weiterführenden Schule kam Kent dann bereits ab der 7. Klasse mit Haschisch in Kontakt. Im Laufe der Zeit kamen dann harte Drogen hinzu (S. 47).

Für mich auch besonders interessant ist, wie Lindahl über seine Militärgrundübungszeit schreibt. „Ich mochte auch die Disziplin, die Zucht und Ordnung. Und draußen im Busch zu sein, gab mir einen Kick. Bei den Kampfübungen lag man da und hielt drauf und spürte, dass man lebte" (S. 58). Hier zeigt sich erneut, dass als Kind schwer verletzte Menschen im Militär auch mehr suchen können, als nur einen Job.

Auch als Skinhead genoss Kent Lindhal vor allem das Machtgefühl und die Angst, die alleine sein Auftreten verbreitete: „Die Leute reagierten unmittelbar. Entweder starrten sie mich an oder direkt durch mich hindurch, versuchten so zu tun, als sähen sie nichts. Aber ich bekam sofort die Stimmung mit – verdichtet, frustriert und aus Furcht verstummt. Ich hatte das verursacht! Was für ein Gefühl!“ (S. 85).

Später versuchte er in einer Therapie auch seine Gewalttaten und Tätereigenschaften aufzuarbeiten. Und die Arbeit für das Projekt EXIT seien seine Art, etwas wieder gut zu machen. Etwas „was man eigentlich nicht wieder gutmachen kann. Ein Versuch, allmählich inneren Frieden zu finden“ (S. 133). Denn Lindahl war in seiner Nazis-Zeit auch ein besonders brutaler Gewalttäter, dem es gänzlich egal war, was er anrichtete. Ganz offen berichtet er zum Ende des Buches hin, dass es ihm auch heute, wo er von der Gewalt und vom Extremismus abgefallen sei, immer noch schwer falle, Mitleid zu empfinden. Daran müsse er weiter arbeiten (S. 218). Es ist wohl so, dass nicht nur Opfererfahrungen das Gefühlsleben abstumpfen lassen, sondern auch Täterverhalten. Der beste Weg, letzteres nicht zu generieren, ist ersteres präventiv zu verhindern.

Montag, 15. Juni 2020

Das Leben in traditionellen Gesellschaften nach Jared Diamond


Selten habe ich ein Sachbuch gelesen, das mich derart gefesselt hat:
Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können von Jared Diamond (2013 im Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main erschienen)

Ich kann nicht das ganze Buch besprechen, sondern möchte vielmehr die Stücke herausstellen, die sowohl meine Thesen und Recherchen, die ich in meinem Buch bezogen auf traditionelle Gesellschaften ausgeführt habe, stützen, als auch die Stellen, die ich bisher nicht besprochen habe.

Mit den Begriffen „traditionelle Gesellschaften“ meint Diamond „Gesellschaften aus Vergangenheit und Gegenwart mit geringer Bevölkerungsdichte und kleinen Gruppen, die aus einigen Dutzend bis wenigen tausend Menschen bestehen. Sie leben vom Jagen und Sammeln oder von Ackerbau oder Viehzucht und haben sich nur in begrenztem Umfang durch den Kontakt mit großen, vom Westen beeinflussten Industriegesellschaften gewandelt“ (S. 17).
    Damit hat er eine relativ große Bandbreite im Blick. Was ich sehr interessant fand, ist seine Vorstellung davon, dass die „traditionelle Lebensweise“ im Grunde noch bis Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts im dörflichen Leben auch im Westen nicht ganz verschwunden war, sondern in wesentlichen Teilen z.B. der Welt entsprach, die Diamond bei seinen Expeditionen im traditionellen Neuguinea fand: „Jeder kannte im Dorf jeden, jeder wusste, was jeder andere tat, und äußerte seine Meinung darüber, die Menschen heirateten Partner, die nur wenige Kilometer entfernt geboren waren, und sie verbrachten mit Ausnahme der jungen Männer, die während der Weltkriegsjahre abwesend waren, ihr ganzes Leben im Dorf oder in seiner Nähe; Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Dorfes mussten so beigelegt werden, dass Beziehungen wieder hergestellt oder erträglich gemacht wurden, denn man musste für sein ganzes weiteres Leben in der Nähe der betreffenden Person wohnen. Mit anderen Worten: Die Welt von gestern wurde nicht ausgelöscht und durch die neue, moderne Welt ersetzt, sondern vieles von gestern ist uns bis heute erhalten geblieben. Das ist ein weiterer Grund, warum wir die Welt von gestern verstehen wollen“ (S. 18f.)

In dem Kapitel „Es gab kein Paradies! Gewalt in vorzivilisatorischen Gesellschaften“ in meinem Buch bin ich auf das hohe Ausmaß von Gewalt als solches in traditionellen (Stammes-)Gesellschaften sowie auf Gewalt oder Gewaltformen gegen Kinder eingegangen. Außerdem habe ich quellenbasiert die positive Verklärung der alten Lebensweise kritisiert. Auch Jared Diamond bestätigt dieses Bild. Auch er rät davon ab, in ein Extrem zu verfallen und traditionelle Gesellschaften romantisch zu verklären: „Viele traditionelle Praktiken sind so, dass wir uns glücklich schätzen können, sie aufgegeben zu haben – dazu gehören Säuglingsmord, die Aussetzung oder Tötung älterer Menschen, immer wiederkehrende Hungergefahr, ein erhöhtes Risiko für Umweltgefahren und Infektionskrankheiten, aber auch die Aussicht, die eigenen Kinder sterben zu sehen und in ständiger Angst vor Angriffen zu leben“ (S. 20).
    Im traditionellen Leben gab es häufig einander ausschließende Territorien. Mitglieder anderer Gruppen oder Stämme, die diese Territorien betraten, mussten damit rechnen, getötet zu werden (S. 56f., 65). Die Menschen teilten andere Menschen in drei Kategorien ein: Freunde, Feinde und Fremde (S. 64f.) Wobei „Fremde“ jederzeit sehr schnell zu „Feinden“ erklärt werden konnten. (Dies hat übrigens selbst die traditionelle Völker stark idealisierende Jean Lindhoff - „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ - in ähnlicher Weise festgestellt, die an einer Stelle ihres Buches schildert, dass sie von den Yequanas meist als „Nicht-Mensch“ behandelt wurde, „dem man nicht dieselbe Achtung entgegenzubringen braucht wie einem wirklichen Menschen (einem Yequana) und von dem man auch nicht die Erwartung hegt, dass er sich wie ein solcher benehme.“ Die Einteilung war hier also noch einfacher: „Mensch“ und „Nicht-Mensch“. Oder wie Diamond es bzgl. eines kriegerischen Konfliktes in Neuguinea an Hand der Aussage eines Mannes vor Ort beschreibt: „Diese Leute sind unsere Feinde. Warum sollten wir sie nicht umbringen? – Sie sind keine Menschen“ (S. 149). )

Einleitend schreibt Diamond: „In der modernen westlichen Welt ist die Reisefreiheit für uns eine Selbstverständlichkeit geworden, früher jedoch war sie die Ausnahme. Im Jahr 1931 hatte noch kein Neuguineer, der in Goroka geboren war, das nur rund 170 Kilometer weiter westlich gelegene Wapenamanda besucht; von Goroka nach Wapenamanda zu reisen, ohne als unbekannter Fremder schon auf den ersten 15 Kilometern getötet zu werden, wäre undenkbar gewesen“ (S. 15).
    Neben feindlichen Beziehungen gab es zwischen benachbarten Gruppen allerdings auch Austausch durch Handel oder dadurch, dass Frauen zu einem Mann in ein anderes Dorf zogen. Es gab also durchaus auch Kooperationen und Friedenszeiten.

Allerdings sind kriegerische Konflikte im traditionellen Leben eine beständige Gefahr und ein vereinbarter Frieden ist brüchig, worauf Diamond an mehreren Stellen im Buch und insbesondere auch in dem „Kapitel 4: Ein längeres Kapitel über viele Kriege“ eingeht. Wichtig finde ich seine Feststellung, dass „Stammeskriege“ oft oder regelmäßig nicht zwischen verschiedenen Stämmen stattfanden, sondern innerhalb eines Stammes, das heißt zwischen Gruppen, die die selbe Sprache sprechen und dieselbe Kultur teilen (S. 143). Oder anders gesagt: Man kannte seine Feinde gut (teils sogar persönlich).

Mit Blick auf die Situation der Kinder bestätigt Diamond vieles von dem, was ich auch recherchiert habe: Z.B., dass Erwachsene Kinder nicht vor Gefahren im Nahbereich schützen. „Wenn beispielsweise ein Baby neben einem Feuer spielte, griffen die Erwachsenen nicht ein. Deshalb hatten viele Erwachsene in dieser Gesellschaft die Narben von Brandwunden, ein Überbleibsel ihres Verhaltens als Säuglinge“ (S. 205). Auch das Spielen der Kinder mit scharfen Messern und Gegenständen, heißen Töpfen oder Feuer wird nicht eingeschränkt. Ebenso beschreibt Diamond den Säuglingsmord und erwähnt unterschiedliche Gründe dafür. Er beschreibt aber auch Kindesmord an sich: Bei den Ache würde z.B. 14 % der Jungen und 23 % der Mädchen bis zum 10. Lebensjahr getötet (S. 211). Häufiger als der Säuglingsmord sei aber so etwas wie „wohlmeinende Vernachlässigung“ (S. 212): Der Säugling wird dann nicht aktiv getötet, sondern einfach schlecht oder gar nicht mehr ernährt und stirbt in der Folge.
    Außerdem beschreibt er die Praxis des „Wickelns“, die in ca. der Hälfte der traditionellen Gesellschaften üblich war (S. 218). Damit ist nicht gemeint, dass Kinder nur bezogen auf ihre Ausscheidungen gewickelt werden, sondern dass sie auch in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, was vor allem von Lloyd deMause immer wieder als eine für die Kinder folgenschwere Praxis beschrieben wurde.
    Kurz erwähnt wird von Diamond auch, dass in manchen traditionellen Gesellschaften „offene sexuelle Spiele zwischen Erwachsenen und Kindern“ üblich sind (S. 238).

Diamond geht allerdings davon aus, dass Körperstrafen gegen Kinder bei den Horden von Jägern und Sammlern nicht üblich waren. Bei traditionellen Viehzüchtern und Bauern hingegen würden Körperstrafen vorkommen. „Eine Teilerklärung könnte darin liegen, dass das Fehlverhalten eines Kindes bei Jägern und Sammlern in der Regel nur das Kind schädigt, sonst aber niemanden, weil solche Gesellschaften kaum Habseligkeiten besitzen“ (S. 229) Außerdem bestünden bei sesshaften Gruppen mehr Machtunterschiede.
    Ich bin nicht ganz sicher, ob Diamond bzgl. seiner These, dass Körperstrafen gegen Kinder bei Jägern und Sammlern unüblich waren, vollkommen recht hat.
    Wenn ich ein Kind nicht vom Feuer abhalte und sich das Kind dann schwer verbrennt, so nehme ich diese Verletzung billigend in Kauf. Ich lege zwar keine Hand an, verletze das Kind aber durch mein Nicht-Verhalten. Heute würde man Eltern, die so routinemäßig gegenüber ihren Kindern handeln, vermutlich das Sorgerecht entziehen. Außerdem hat Diamond das Thema Initiationsrituale komplett ausgelassen, bei denen Kinder häufig auch körperliche Verletzungen zugefügt werden. Ich selbst habe (u.a. in dem o.g. Kapitel meines Buches) sehr betont, wie grausam es für Kinder ist, mitzuerleben, wie andere Kinder (vor allem Säuglinge) getötet werden. Dies ist auch eine Art von „Misshandlung“, die sogar besonders schwer ist. Außerdem halte ich seine Sicht auf die „Gründe“ von Körperstrafen für fragwürdig: Kindesmisshandlung braucht oftmals keinen „Grund“ oder hat gar rationale Ursachen, sondern sie findet oft aus einem Mix aus Überforderung und „innerlichem Druck“ auf Grund eigens erlebter Ohnmachtserfahrungen bzw. traumatischer Erfahrungen statt. Und traumatische Erfahrungen dürften die frühen Menschen haufenweise gemacht haben.

Und noch eine Anmerkung: Mir scheint, dass Diamond bezogen auf das Thema Körperstrafen nicht wirklich gut informiert ist. Er meint, dass das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder von Generation zu Generation schwankend sei und schreibt weiter: „Wer als Kind geschlagen wurde, schwört sich, seinen eigenen Kindern nie solche barbarischen Grausamkeiten zuzufügen, und wer als Kind nicht geschlagen wurde, schwört sich, ein paar Prügel seien gesünder als die Manipulation der Schuldgefühle und anderer Einflüsse au das Verhalten, die an die Stelle der körperlichen Züchtigung treten, und Schläge seien besser, als Kinder völlig zu verziehen“ (S. 227). Diese Sicht geht an der Realität deutlich vorbei: Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die selbst als Kind geschlagen wurden, ihre eigenen Kinder schlagen, ist deutlich erhöht. Historisch sind zudem Schwankungen beim Thema Körperstrafen gegen Kinder bzgl. Gesellschaften, die schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, eher nicht zu finden. Vielmehr durchzieht die Gewalt gegen Kinder die menschlichen Gesellschaften wie ein roter Faden, was ich ausführlich in meinem Buch besprochen habe.

Trotzdem finde ich seine oben beschriebene Argumentation bzgl. der Jäger und Sammler im Grunde schlüssig, denn man wird in diese Gesellschaften keine als "Erziehung" getauften, routinemäßigen Körperstrafen wie z.B. in der Antike oder im 19. Jahrhundert finden. Dazu auch noch ein paar Gedanken: In Jäger und Sammler Gesellschaften hängt das Überleben vom Zusammenspiel der Gruppenmitglieder ab. Wer sich quer stellt, blockiert oder gar eine existenzielle Bedrohung für die Gruppe wird, dem bleibt eigentlich nur die Alternative, sich im Zweifel selbst zu schädigen. Wer ausgeschlossen wird, dem droht der Tod. Wer zurückgelassen wird, dem droht der Tod. Das gilt insbesondere auch für Kinder.
    Ein Kind kann in solchen Gesellschaften z.B. nicht trotzig sein, wenn die Gruppe aufbricht. Wenn es nicht mitgeht, wird es sterben. In Zeiten der „Schwarzen Pädagogik“ beispielsweise mit Blick auf das 19. Jahrhundert wollte man Kinder formen, erziehen, in eine Richtung drängen und man wollte vor allem auch Gehorsam und Unterwerfung. Und körperliche Gewalt war das Mittel dazu, diese Ziele zu erreichen (parallel führte man die eigens erlittene Gewalt an den Kindern wieder auf und fühlte sich mächtig). In Gesellschaften, in denen stets die Reaktion sofort kommt (z.B. Verbrennungen durch Spiel mit Feuer oder Zurückgelassenwerden), wenn man nicht lernt und sich anpasst, braucht es weniger offenen Zwang gegenüber Kindern. Der Zwang schwebt quasi stets über dem Kind, das muss weder ausgesprochen, noch angedroht werden. Dass zu starke Abweichungen von der Norm lebensgefährlich werden können, lernen die Kinder vor Ort bereits schnell durch die Tötung oder Nicht-Versorgung von „fehlerhaften“ Säuglingen (worüber ich auch in meinem Buch geschrieben habe).

Diamond nimmt sich allerdings auch viel Raum, um positive Dinge in traditionellen Gesellschaften herauszustellen (diesen Raum hatte ich in meinem Buch z.B. gar nicht): Darunter z.B. die lange Stillzeit, viel Körperkontakt zwischen Mutter und Kind; altersgemischte Kindergruppen, die miteinander spielen und interagieren; ein hohes Maß an Selbstständigkeit der Kinder, da sie alles miterleben und fast alles dürfen; viele soziale Vorbilder in der kleinen Gruppe usw., aber auch so etwas wie eine artgerechte Ernährung durch z.B. geringen Salzkonsum.

Der vielschichtige Blick auf alle Seiten der traditionellen Lebensweise ist etwas, dass sein Buch besonders auszeichnet (nicht ohne Grund lautet der Untertitel: „Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können“). Ich selbst neige auch in diesem Text hier dazu, die negativen Seiten des traditionellen Lebens zu betonen. Ich sehe mich selbst aber auch als eine Art Gewaltforscher und deswegen ist mein Blick da auch sehr konzentriert. Insgesamt betrachtet hat Diamond den Ansatz, dass er positive Dinge von gestern in Teilen und da wo möglich auch ins Heute übertragen möchte bzw. dazu anregt. Das ist eine sehr konstruktive Sicht auf die menschliche Welt, die nur zu begrüßen ist.

Abschließen muss ich aber erneut auf einen negativen Aspekt des „Gestern“ hinweisen, den der Autor in dem Kapitel „Umgang mit alten Menschen: lieben, aussetzen oder töten?“ behandelt hat. Mir war auch während meiner Recherche für mein Buch dieser Aspekt aufgefallen, allerdings habe ich ihn nicht verarbeitet, was ich hiermit nachhole. Denn wenn alte Menschen (oder auch Kranke) aus der Gruppe getötet oder ausgesetzt werden, so ist dies nicht nur grausam an sich, sondern potentiell auch traumatisch für Kinder, die dies miterleben (was wiederum Folgen für die weitere Entwicklung hat).
Diamond fragt aus Sicht der um das Überleben kämpfenden Kleingruppe gesprochen: „Wie wird man alte Menschen los, wenn sie zur Belastung geworden sind?“ (S. 251) Und er nennt 5 Methoden in traditionellen Gesellschaften dafür:

1. Die alten Menschen werden solange vernachlässigt und ignoriert, bis sie sterben
2. Man lässt alte Menschen absichtlich zurück, wenn die Gruppe weiterzieht
3. Die alte Person wird dazu aufgefordert oder ausgewählt, Selbstmord zu begehen.
4. Selbsthilfe zur Selbsttötung oder Mord auf Verlangen: Die alte Person verlangt (oder wird dazu ausgewählt), dass man sie umbringt, z.B. durch Erdrosseln, Erstechen oder lebendiges Begraben
5. „Die letzte weitverbreitete Methode besteht darin, das Opfer gewaltsam zu töten, ohne dass es selbst dabei mitwirkt oder zustimmt. Auch dazu wird das Opfer erdrosselt oder lebendig begraben, oder es wird erstickt, erstochen, mit einem Axthieb auf den Kopf oder durch Brechen von Genick oder Rücken getötet“ (S. 253).

Was kann eine Nomadengesellschaft oder eine Gesellschaft, in der Nahrung nicht für die ganze Gruppe reicht, sonst mit ihren alten Menschen machen? Die Opfer haben während ihres ganzen Lebens zugesehen, wie alte oder kranke Gruppenmitglieder ausgesetzt oder getötet wurden, und haben das Gleiche vermutlich bereits ihren eigenen Eltern angetan. Es ist die Form des Todes, mit der sie rechnen, und in vielen Fällen wirken sie daran mit“ (S. 253f.)

Wenn man all dies zusammen denkt, dann ist das Leben in traditionellen Gesellschaften immer und stets mit dem Tod bedroht: Schon bei der Geburt (Mädchen werden vermehrt getötet, ebenso Albinos, Zwillinge oder sonst wie "auffällig" Kinder) oder wenn die Gruppe in existenzielle Not kommt (auch dann sind sogar ältere Kinder möglicherweise eine Last, die man loswerden muss), durch Krankheiten, nicht zu vergessen auch die hohe Müttersterblichkeit bei der Geburt (was wiederum die Wahrscheinlichkeit extrem erhöht, dass der Säugling getötet wird), wilde Tiere, durch das Pfeilgift der eigenen Waffen, durch befeindete Gruppen, Fremde usw. und ganz sicher, wenn man krank oder alt wird. Das ist unsere Geschichte! Und das steckt uns ganz sicher auch noch in den Knochen. 

Heutige moderne Gesellschaften haben ganz sicher noch ihre Fehler, aber wir dürfen auch stolz auf das sein, was wir erreicht haben: Alte und Kranke werden gepflegt und am Leben erhalten; Kinder, die mit „Fehlern“ zur Welt kommen, werden am Leben gelassen und gehören dazu; es wird viel für behinderte Menschen getan, einfache Infekte und Krankheiten sind heute keine tödlichen Gefahren mehr, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (etwas, das, wenn man Diamonds Ausführungen folgt, im Grunde von Anfang an zum Menschsein gehörte und was auch damals teils überlebenswichtig war, weil Fremde und Nachbarn oftmals real eine tödliche Gefahr darstellen konnten) wird heute vielfach begegnet und es werden Lösungen gesucht; fremde Kulturen und Völker rücken immer mehr zusammen und sind in einem Austausch usw. usf. Also: Wir sind auf dem Weg!

Donnerstag, 11. Juni 2020

Kindheit von Hitlers Chefideologen Alfred Rosenberg


Ich habe mich mit der Kindheit von Alfred Rosenberg befasst. Meine Quelle dafür ist:
Piper, Ernst (2015): Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. Allitera Verlag, München. 
(Ergänzend habe ich das Buch Alfred Rosenberg. Der Wegbereiter des Holocaust. Eine Biographie (2016) von Volker Koop gelesen, in dem sich im Grunde fast keine Infos zur Kindheit finden. Insofern habe ich das Buch von Koop ausgeklammert.)

Sein Name ist nicht ganz so bekannt, wie die Namen anderer NS-Täter. Allerdings war Rosenberg ein Nazis der ersten Stunde, (besonders die ersten Jahre) enger Gefährte Hitlers und wurde bei den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher angeklagt und zum Tode verurteilt. Er war also kein unbedeutender Akteur.

Alfred Rosenberg wurde am 11.01.1893 in Estland geboren. Seine Mutter starb, als Alfred noch keine 2 Monate alt war. Sein Vater starb im Alter von 42 Jahren im Jahr 1904, Alfred muss zu der Zeit ca. 11 Jahre alt gewesen sein. Zwei Tanten väterlicherseits wurden zu Alfreds Pflegemüttern. Ein Jahr später, 1905, starb auch noch die Großmutter. 1908 wurde sein Elternhaus von den Erben verkauft. Insofern verlor Alfred (damals ca. 15 Jahre alt) auch sein vertrautes Heim (Piper 2015, S. 20).
    Alfred hatte auch einen älteren Bruder, der ebenfalls früh (im Alter von 41 Jahren) im Jahr 1929 verstarb. Was im Angesicht der ganzen Tragödien erstaunt ist, dass Alfred Rosenberg zu seinem Bruder wohl kein gutes Verhältnis hatte. Er notierte rückblickend: „Mit ihm haben mich nicht viele Gefühle verbunden“ (Piper 2015, S. 21) Er konnte auch nicht das exakte Todesjahr seines Bruders angeben und erinnerte auch einen um ein Jahr abweichenden Altersunterschied, was die fehlende Verbundenheit nochmals verdeutlicht.
    Man sollte annehmen, dass solche Todesfälle zwei Brüder zusammenschweißen, was aber offensichtlich nicht der Fall war. Dies wirft die Frage auf, ob es in der Familie schon vorher Konflikte und problematische Verbindungen gab?

Über den Erziehungsstil, Gewalterfahrungen oder Gewaltfreiheit erfährt man nichts in der verwendeten Quelle. Wie immer weise ich an dieser Stelle auf die hohe Wahrscheinlichkeit für autoritäre Erziehung und Körperstrafen gegen Kinder um das Jahr 1900 herum hin. Fest steht, dass Alfred Rosenberg traumatische Verluste in seiner Kindheit erlebte, was ihn ganz sicher geprägt haben wird. Bzgl. der von mir bisher untersuchten NS-Täter (siehe Inhaltsverzeichnis unter "NS-Täter") fällt immer wieder auf, dass sich Mehrfachbelastungen in der Kindheit finden (i.d.R. eine nachweisbar strenge-autoritäre Erziehung + z.B. Todesfälle in der Familie oder sonstige schwere Belastungen z.B. in Internaten, durch Außenseitertum usw.). Für Rosenberg konnte ich wie geschildert nichts über seine Erziehung herausfinden. Allerdings ist auch er mehrfachbelastet: Tod der Mutter und Tod des Vaters, Verlust des Elternhauses + schwieriges Verhältnis zum Bruder. Wie viel kann ein Kind ertragen, bevor es innerlich und emotional „abschaltet“? Was ist, wenn zu diesen ganzen leidvollen Erfahrungen auch noch damals übliche autoritäre Erziehungsmaßnahmen kamen? Was ist, wenn der Säugling, von dem die Mutter gestorben war, nicht warmherzig und gut versorgt wurde?  Diese Fragen werden wir wohl nicht beantworten können. Erneut bleibt mir abschließend zu unterstreichen, dass sich bei bekannten NS-Tätern i.d.R. keine unbelasteten Kindheiten finden lassen.

Donnerstag, 4. Juni 2020

Belastende Kindheitserfahrungen in den USA: Neue Daten


(aktualisiert am 05.06.2020)

Nicht erst nach der Trump-Präsidentschaft und den derzeitigen Eskalationen (an denen wiederum D. Trump nicht unwesentlich beteiligt ist) nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd geben viele Entwicklungen in den USA aus unserer europäischen Sicht Rätsel auf. Ich bin davon überzeugt, dass ein vertiefender Blick auf die Kindheitshintergründe der US-Amerikaner einen gewichtigen Teil des Rätsels auflösen. Die sehr traumatische Kindheit von Donald Trump habe ich hier im Blog bereits besprochen. Natürlich wirft diese Kindheit auch ihre Schatten auf den erwachsenen Trump und sein Verhalten. Oder anders gesagt: Hätte Donald Trump eine fürsorgliche, liebevolle und gewaltfreie Kindheit und Jugend erlebt, dann wäre aus ihm niemals ein rechtspopulistischer Hassredner und Menschenfeind geworden, davon bin ich überzeugt. Grundsätzlich fällt auf, dass viele US-Präsidenten der letzten Jahrzehnte als Kind schwer belastet waren. In meinem Buch (bzw. teils auch hier im Blog) habe ich die destruktiven Kindheiten von John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, George H. W. Bush, George W. Bush und Bill Clinton (ergänzt um die Kindheit seiner Frau Hillary Clinton) bereits besprochen. In der Vergangenheit habe ich außerdem Daten zur Kindheit in den USA gesammelt (die teils aus heutiger Sicht schon wieder veraltet sind). Diese Daten möchte ich hiermit etwas auf den aktuellen Stand bringen: 

Merrick und Kollegen (2018) haben ACE-Daten (ACEs = Adverse Childhood Experiences) von insgesamt 214.157 Befragten ausgewertet. Dies ist die bisher größte Datenauswertung von belastenden Kindheitserfahrungen in den USA! Alle erwachsenen Altersgruppen sind repräsentiert. Die Ergebnisse seien hier kurz vorgestellt: 
  • 34,42 % erlebten vor dem 18.  Lebensjahr emotionale Misshandlungen in ihrer Familie
  • 17,94 % erlebten körperliche Misshandlungen in ihrer Familie. 
  • 11,6 % erlebten Formen von sexuellem Missbrauch (durch Familienmitglieder, Bekannte oder Fremde).
    In den Familien bzw. im jeweiligen Haushalt wurde darüber hinaus folgendes miterlebt: 
  • 17,51 % erlebten häusliche Gewalt mit
  • 27,56 % erlebten Suchtmittelmissbrauch mit
  • 16,53% erlebten psychisch kranke Haushaltsmitglieder
  • 27,63 % erlebten elterliche Trennung oder Scheidung
  • 7,9 % erlebten die Inhaftierung von einem Mitglied des Haushalts
  • 38.45% der Befragten berichteten von 0 ACEs
  • 23.53% der Befragten berichteten von 1 ACE
  • 13.38% der Befragten berichteten von 2 ACEs
  • 8.83% der Befragten berichteten von 3 ACEs
  • 15.81% der Befragten berichteten von 4 oder mehr ACEs

Finkelhor und Kollegen (2019) haben vier repräsentative Studien aus den USA vorgestellt. Die Ergebnisse ergänzen die oben vorgestellten Daten zur körperlichen Misshandlung um Formen von körperlicher Gewalt gegen Kinder, die nicht als reine Misshandlung eingestuft werden können (im Englischen = spanking). Zunächst ist anzumerken, dass es einen Positivtrend in den USA gibt. 2014 wurden 49 % der Kinder im Alter zwischen 3 und 11 Jahren im Elternhaus innerhalb des Jahres vor der Befragung körperlich bestraft. 1995 wurden noch 65 % und in den Jahren 1985 und 1975 jeweils 77 % der Kinder geschlagen (Finkelhor et al. 2019, S. 1995). 
   Diese Zahlen zeigen wohlgemerkt nur das Gewalterleben innerhalb eines Jahres, nicht für die gesamte Kindheit! Zudem werden kleinere Kinder deutlich häufiger körperlich bestraft, als ältere Kinder, was auch die genannte Studie zeigt: So wurden in der Befragung 2014 deutlich über 60 % der 3- bis 4-Jährigen geschlagen. Dadurch, dass andere Altersgruppen weniger geschlagen werden, ergibt sich der o.g. Durchschnittswert von 49 % für 2014. Da auch die älteren Kinder einmal 3 und 4 Jahre alt waren wird deutlich, dass auch die Befragung 2014 zeigt, dass eine Mehrheit der Kinder in den USA elterliche Gewalt erlebt hat. (Weitergedacht bedeutet dies, dass auch die o.g. Durchschnittswerte für die Studien 1995, 1985 und 1975 genau das sind: Durchschnittswerte und keine Angaben über das Gewalterleben für die gesamte Kindheit, das deutlich höher liegt.)
   Es darf auch nicht vergessen werden, dass die großen Mehrheiten, die noch in den 1970er und 1980er Jahren geschlagen wurden, heute Erwachsene sind und das Leben und den Alltag (inkl. den politischen) in den USA gestalten. Außerdem muss darauf hingewiesen werden, dass es starke regionale Differenzen im Gewaltaufkommen gibt. Die jüngeren Kinder (0-9 Jahre) aus der Studie 2014 wurden häufiger im Süden (59%) und Mittleren Westen (49%) der USA geschlagen. Im Nordosten und Westen der USA lag die Rate dagegen jeweils bei 40% (Finkelhor et al. 2019, S. 1994f.). (Ist es reiner Zufall, dass in den USA Staaten mit hohen Gewaltraten gegen Kinder eher sogenannte rote Staaten (also politisch konservativer) sind und dass die Staaten mit niedrigeren Gewaltraten eher blaue Staaten (also politisch liberaler) sind?)

Es steht außer Frage, dass etliche weitere Einflussfaktoren in den Blick genommen werden müssen, um destruktive Prozesse in den USA deuten und verstehen zu können. Was mich aber immer wieder erstaunt ist, dass die o.g. Kindheitshintergründe bei der Bewertung dieser Prozesse fast immer ausgeklammert werden. Das ist eine fahrlässige Lücke! 



Quellen:

Merrick, M. T., Ford, D. C., Ports, K. A., & Guinn, A. S. (2018): Prevalence of Adverse Childhood Experiences From the 2011-2014 Behavioral Risk Factor Surveillance System in 23 States. In: JAMA pediatrics, 172(11), S. 1038–1044.

Finkelhor, D., Turner, H., Wormuth, B. K., Vanderminden, J. & Hamby, S. (2019): Corporal Punishment: Current Rates from a National Survey. In: Journal of Child and Family Studies. Volume 28, Issue 7, S. 1991–1997.