Freitag, 19. Februar 2021

3 Fallstudien über rechtsextreme Jugendliche

Es ist wirklich erstaunlich, dass ich nach all meinen Recherchen immer noch neue Forschungsarbeiten finde. Meine neue Quelle ist: 

Krall, H. (2007): Aggression und Gewalt bei rechtsextremen Jugendlichen — Perspektiven sozialpädagogischer Jugendarbeit. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, Volume 6, S. 99–113.

Dies ist somit die bis heute 27. Forschungsarbeit, für die Rechtsextremisten begutachtet/befragt wurden, die ich bisher gefunden habe!!

Der Autor ist Psychotherapeut und arbeitet sozialpädagogisch mit Jugendlichen u.a. in Wohnprojekten. In der o.g. Arbeit hat er 3 rechtsextreme Jugendliche vorgestellt, mit denen er gearbeitet hat. 

Der Fall „David“:

  • Scheidung der Eltern als er 5 Jahre alt war, die Ehe der Eltern war bereits Jahre zuvor belastet, was das Kind entsprechend mitbekommen haben wird. 
  • Der Kontakt zum Vater reduzierte sich nach der Trennung auf gelegentliche Besuche. Später sagte David, dass er seinen Vater hassen würde.
  • David reagierte nach der Scheidung aggressiv und musste nach Schulbeginn in der 1. Klasse auf Grund seines Verhaltens bereits die Schule wechseln
  • Die Mutter brachte David in der Folge für 1 Jahr bei ihrer Schwester unter, was eine erneute Trennungserfahrung bedeutete. 
  • Häufige Spannungen und Konflikte zwischen Mutter und Sohn, aber auch in der Schule.
  • Als David 11 Jahre alt war, holte die Mutter Hilfe beim Jugendamt. David sollte gegen seinen Willen in einem Heim untergebracht werden und rastetet in der Folge derart aus, dass er zunächst 3 Monate in eine Art Jugendpsychiatrie kam. Dort notierte man, dass David Zuhause keine Geborgenheit und keinen emotionalen Halt fand.
  • Danach kam er in einer betreuten Wohngemeinschaft unter, seine Mutter nahm ihn später allerdings wieder auf. Danach wiederholten sich die alten Muster und David wurde schließlich von der Mutter erneut in einer Jugendeinrichtung untergebracht. Später kam er dann zu seiner Mutter und deren neuen Partner zurück.
  • Mit 15 Jahren schloss er sich einer rechten Skinheadgruppe an
  • Als David 17 war, wurde er erneut Zuhause rausgeschmissen. 2 Monate später erhängte er sich unweit der mütterlichen Wohnung in einem Waldstück. 

Auch bei den anderen beiden Fällen – Marko und Gerit (beide in der rechten Skinheadszene aktiv) - zeigen sich sehr belastete Kindheitshintergründe. Über Marko fasst der Autor zusammen: „Emotionale Verwahrlosung, Ablehnung und Misshandlungserfahrungen hatten Markos Kindheit und Jugend geprägt“ (S. 106).

Gerits Eltern hatten sich früh getrennt, mit der Mutter gab es dauernd Konflikte, der Vater war sehr kontrollierend und abwertend gegenüber seiner Tochter und es deutet sich auch sexuelle Übergriffigkeit an (er ging einmal mit seiner 13 Jahre alten Tochter in Bordelle und sprach Prostituierte an). Mit 14 Jahren ist sie noch eskalierenden Konflikten mit der Mutter damit einverstanden, in einer betreuten Wohngemeinschaft unterzukommen. Dort wurde sie von einem Mann, den sie außerhalb kennengelernt hatte, vergewaltigt. Ein ähnliches Erlebnis hatte sie bereits 2 Jahre zuvor (also im Alter von 12 Jahren). 


Montag, 8. Februar 2021

Kindheit des Ex-Nazis Achim Schmid

Ich habe die Autobiographie des Ex-Nazis Achim Schmid durchgesehen:

Schmid, Achim (2016): Vergessene Erinnerung - Bis Alles in Scherben fällt: Autobiographie eines ehemaligen Rechtsextremisten. Edition widerschein. Kindle E-Book Version.

15 Jahre war Achim Schmidt ein Schwergewicht in der rechten Szene“ (Adler, S. (2019, 15. Dez.): Neonazi-Aussteiger Achim Schmid - Weg von diesem ganzen Hass. Deutschlandfunkkultur)  Er war außerdem einer der bekanntesten Rechtsrocker Deutschlands, Skinhead und gründete im Alter von 25 Jahren den „Klu Klux Klan“ in Deutschland. Mittlerweile lebt er in den USA und ist außerdem Botschafter für Exit Deutschland.

Seine Kindheit gleicht der von vielen anderen Nazis und auch Aussteigern. Als er 2 Jahre alt war, trennten sich seine Eltern und sein Vater zog aus. Schmid hat heute kaum noch Erinnerungen an ihn. Er konnte seinen Vater damals an manchen Sonntagen besuchen, daran erinnert er sich noch, ebenfalls an die Beerdigung des Vaters. Denn als Achim in der 2. Klasse war, starb sein Vater an Lungenkrebs. 

Achim lebte mit seiner alleinerziehenden Mutter in einem kleinen süddeutschen Dorf (ein „konservatives Bauerkaff“, wie er betont) mit ca. 500 Einwohnern. Die Familie war zugezogen und wurde von den Dorfbewohnern argwöhnisch beobachtet und auch ausgegrenzt. Achims Eltern hatten die einzige Kneipe im Dorf , was den Argwohn ebenso steigerte, wie die Herkunft der Mutter (sie stammte aus Köln) und der entsprechend andere Dialekt. Immerhin fand Achim einen besten Freund und hat gute Erinnerungen an die Zeit mit ihm. In dem Dorf scheint auch rechtes Gedankengut offen vertreten worden zu sein.

Zentral ist allerdings, dass Achims Mutter Alkoholikerin war! Schmid meint, dass seine Mutter kein glücklicher Mensch war. Nachmittags kam sie nach Hause, rauchte, trank Kaffee, löste Kreuzworträtsel, abends schloss sie sich in ihr Zimmer ein, schaute fern und trank. Der Alkoholismus der Mutter war ein weiterer Grund dafür, dass der Ruf der Familie im Ort nicht der beste war. „Aber sie versuchte mich trotzdem gut zu erziehen und hatte es letztlich immer gut gemeint“ (Schmid 2016, Position 287) Diese Idealisierungen bzw. Beschwichtigungen gleich im Nachsatz zu Berichten über elterliche Destruktivität (in seinem Fall der Alkoholismus der Mutter) habe ich so gefühlt schon über 100 Mal so gelesen. Und so erfährt man auch nicht darüber, wie der Erziehungsalltag mit seiner Mutter aussah. Hat sie Gewalt angewandt, gerade auch, wenn sie betrunken war? Gab es psychische Gewalt? Was hat Achim alles miterlebt? Diese Fragen bleiben offen. 

Man braucht allerdings nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, dass die Kindheit von Achim Schmid sehr belastet war. Als Jugendlicher kam er vor allem durch die Musik in Kontakt mit der rechten Szene und verspürte schnell ein Bedürfnis dazuzugehören. 


Montag, 25. Januar 2021

Kindheit des ehemaligen Neonazis Christian E. Weißgerber

Indirekt hatte ich hier im Blog bereits einmal kurz etwas über die Kindheit des ehemaligen Neonazis Christian E. Weißgerber geschrieben. Nun habe ich auch seine Autobiografie gesichtet: 

Mein Vaterland! Warum ich ein Neonazi war (2019, Orell Füsseli Verlag, Zürich)

Schon früh wurde Christian belastet. Seine Mutter floh vor dem Vater, als Christian noch ein Baby war und war seitdem weitgehend abwesend. Der alleinerziehende Vater neigte zu Wutausbrüchen, Gewalt und Psychoterror. Er war nicht liebevoll. Es gab auch keinen intensiven oder gar emotionalen Austausch in der Familie. Beim gemeinsamen Abendessen wurde meist geschwiegen.  Sein Vater wäre außerdem „der prädestinierte Wähler der Partei wütender Protestmännlichkeit: der AfD“ (S. 14). Insofern sind auch gewisse direkte oder indirekte politische Einflüsse durch den Vater auf Christian denkbar. 

In einer berichteten Szene wird sowohl die körperliche als auch die psychische Gewalt des Vaters sehr deutlich: „Ich bin damals vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Es ist ein Verhör, und meine drei Jahre ältere Schwester ist die einzige Zeugin. (…) Die Erinnerung an die Szenerie treibt mir noch heute Tränen in die Augen. (…)“, schreibt Weißgerber (S. 18). Die Kinder hatten die Erwartungen des Vaters nicht erfüllt. Christian gelobte Besserung, der Vater glaubte ihm nicht. Subtile Drohungen standen im Raum, Fragen, Druck. Die Schwester stand kurz davor zu weinen und unterdrückte dies. „Denn wer weint, hat etwas zu verbergen. Wer weint, wird immer gefragt, warum er weint, und muss Rede und Antwort stehen. (…) Aber es gibt für uns kein Entkommen, weder für sie noch für mich. Egal wie sehr wir beteuern, uns ab sofort mehr bemühen zu wollen, täglich besser staubzusaugen oder unsere Zimmer nach dem Spielen aufzuräumen – unser Vater beendete das Gespräch nicht. Es gibt nur einen Ausweg: irgendjemand muss den Mut der Verzweifelten aufbringen und meinen Vater provozieren, damit er endlich zum Strafvollzug übergeht und wir `befreit` werden, zumindest für diesen Sonntag. Eskalation als Selbstschutz. Das Urteil war ohnehin schon klar (…). Die Urteilsverkündung wird mit Schlägen beschlossen (…). Als allein richtender Erzieher und alleinerziehender Richter in einem hat er uneingeschränkte Macht über uns, unsere Körper, unsere kindliche Verletzlichkeit. Widerstand ist zwecklos.“ (S. 19).

Als Kind seien er und seine Schwester wie Sklaven behandelt worden (S. 20). All dies hatte auch Auswirkungen auf die Geschwisterbeziehung: Beide Geschwister übten auch gegenseitig Gewalt aus. Einmal musste die Schwester auf Grund eines Übergriffs durch Christian sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden (S. 28). Christian wurde daraufhin zur Strafe vom Vater verprügelt…

Auch in der Schule neigte Christan dazu, andere Kinder zu mobben. Dies gab ihm ein Gefühl von Stärke.  (S. 31) Bereits im Kindergarten fiel Christian durch Gewaltverhalten auf (S. 32). In seiner frühen Kindheit litt er außerdem unter Albträumen (S. 34). Er und seine Schwester hatten außerdem bereits in der Kindheit Suizidgedanken (S. 46). 

Nach etlichen Schilderungen über die destruktiven Umstände in der Familie (inkl. der abwesenden Mutter) schreibt er: „Wenn wir verstehen wollen, warum Menschen zu Nazis werden, müssen wir hinter die verschlossen Türen und Jalousien des `ganz normalem` deutschen Familienalltags blicken“ (S. 23). Ein sehr eindrucksvoller Satz, den ich mit Sicherheit erneut aufgreifen werde!

In einem Interview sagte Weißgerber - angesprochen auf seine destruktive Kindheit - dagegen folgendes: „Ich glaube nicht, dass häusliche Gewalt, die sehr sehr häufig vorkommt, der Hauptmotivationsgrund dafür ist, Nazi zu werden. Meine Schwester hat z.B. das Gleiche wie ich erlebt und ist nie in diese Richtung gegangen.“
Es ist gar nicht ungewöhnlich, dass Menschen mit Blick auf ihre Kindheit und deren Wirkungsweise hin und her schwenken. Wir sehen daran auch, wie schwer es manchmal ist, die Dinge von außen richtig einzuschätzen und wahrzunehmen. In seinem Buch hat er es gut getroffen. Bezogen auf all die Schilderungen über erlebtes Leid ist es nicht denkbar, hier eine ursächliche Verbindung nicht zu sehen. 

Im Interview dagegen beschwichtige Weißgerber. Und er nahm seine Schwester als Beispiel dafür, dass die Kindheitseinflüsse wohl nicht all zu gewichtig beim Thema Extremismus seien. Wie wir gleich sehen werden, beschreibt er im Buch einen sehr destruktiven Weg seiner Schwester. Ja, sie wurde keine Extremistin! Ihre Wut und ihren Selbsthass zeigte sie aber auf einem anderen Weg. Das ist genau das, was ich immer wieder betone: Destruktive Kindheiten drücken sich in vielfältiger Form aus, je nach Persönlichkeit, Geschlecht, Zufällen, Begegnungen, Milieu, Möglichkeiten usw. Eine Ausdrucksform kann Extremismus sein. 

Kommen wir zurück zum Buch. Das Jugendamt schritt ein, nachdem die Schwester um Hilfe gebeten hatte (S. 22) Die Schwester kam in eine Wohngruppe (S. 47). Christian blieb bei seinem Vater. 

An einer Stelle beschreibt er eindrucksvoll, wie beide Kinder unterschiedlich mit ihrem Leid umgingen: „Meine Schwester wurde magersüchtig und hat sich als Jugendliche geritzt. Ich bin Neonazi geworden. Beides Formen autodestruktiver Selbstermächtigung – ich selbst bestimme, wie ich meinen Körper zurichte, und bin zumindest der eigenen Wahrnehmung nach nicht mehr bloß jemand, der von anderen zugerichtet wird“ (S. 27) Und: „Ich war ein Nazi geworden, mit einem Körperpanzer, der mich emotional und kognitiv gegen alles Feindliche und Fremde in der Welt abschirmen sollte“ (S. 35)

Man sieht an diesem Beispiel deutlich, wie das Geschlecht auch einen unterschiedlichen Umgang mit den Erfahrungen bedingen kann: Christian floh in nach außen demonstrierter, männlicher Stärke, Macht und Gewalt, seine Schwester wollte dagegen „verschwinden“. 

Sich selbst bezeichnet er als „Gefühlszombie“: „Die Erfahrungen in meiner Kindheit haben etwas in mir getötet, das ich vielleicht nie werde wiederbeleben können: eine Zärtlichkeit, ein grundsätzliches Vertrauen im Umgang mit anderen Menschen“ (S. 31). 


Studie: 10 ehemalige Rechtsextremisten aus Kanada

Für nachfolgende Studie wurden 10 ehemalige Rechtsextremisten (8 männlich, 2 weiblich) aus Kanada befragt:

Scrivens, R., Venkatesh, V.,  Bérubé, M. & Gaudette, T. (2019): Combating Violent Extremism: Voices of Former Right-Wing Extremists. Studies in Conflict & Terrorism. Onlineveröfentlichung 11. Nov. 2019. 

Die meisten der Befragten waren Mitglieder in gewalttätigen Gruppen, meinen aber, dass sie selbst nicht gewalttätig waren. 

Es gab offensichtlich keine systematische Befragung bezogen auf Kindheitserfahrungen. Allerding gibt es im Kapitel „Parents and Families“ ziemlich deutliche Aussagen, die für sich sprechen:  

Approximately three-quarters of the study participants noted that a fundamental first step in preventing youth from violent extremism starts at home with parents and more broadly with families. Consistently discussed here was the need for parents to get involved in their child`s life – a key component that was missing from approxmately three-quarters oft he participants` early upbringing. (…) 80 percent oft he interviewees did not have strong relationships with their families“ (S. 6). 

Da die Familien nicht sehr bzgl. des Lebens ihrer Kinder involviert waren, bemerkten viele auch nicht, dass sich ihre Kinder in Richtung Extremismus entwickelten. 

Ein Befragter beschreibt, dass er als Kind oft von seinen Eltern vernachlässigt wurde. 4 andere Befragte hätten ähnliche Geschichten über ihre Kindheit erzählt (S. 7). Somit wären bei 50 % der Befragten Vernachlässigungserfahrungen zu finden. 

Über sonstige Kindheitsbelastungen oder auch direkte Gewalterfahrungen scheint nicht gesprochen worden zu sein. Diese sind also auch nicht auszuschließen! 

Deutlich wird, dass die große Mehrheit der Befragten unter problematischen Bedingungen aufgewachsen ist. Familienersatz bot offensichtlich die extremistische Gruppe.


Dienstag, 19. Januar 2021

Kindheit des Metallica-Sängers James Hetfield und das Selbstbild "Stück-Scheiße"

Der Metallica-Sänger James Hetfield (als Jugendlicher war ich Fan der Band und ein Metallica-Konzert war das zweite Konzert, das ich bis dahin in meinem Leben gesehen hatte) ist für mich ein Paradebeispiel bezogen auf die vielfältigen, destruktiven Wirkungsmöglichkeiten von destruktiven Kindheitserfahrungen. 

In einem SPIEGEL-Interview („Ein böses Tonband in meinem Kopf“) sprach er relativ offen über seine mentalen Probleme und seine Kindheit. James Hetfield wuchs in einer strengen, christlich-fundamentalistischen Familie auf. Seine Familie war für ihn "kein sicherer Ort" und er fühlte sich als Kind unsichtbar. In seiner Kindheit erlebte er „alle möglichen Bestrafungen“, über die Details mag er nicht reden. Als James 13 war, verließ der Vater die Familie. Mit 16 starb seine Mutter. 

An einer Stelle im Interview werden die fatalen Folgen dieser Kindheit überdeutlich:
Das Problem ist, ich habe eine Persönlichkeit, die mir unablässig erzählt, ich sei ein Stück Scheiße. Nur wenn ich auf der Bühne stehe, passiert das Gegenteil. Da werde ich vom Stück Scheiße zum King Scheiße. Es ist ein ständiges Kippen.“

„Stück-Dreck“, „Stück-Scheiße“, „Nichts-Wert“, „Abschaum“, „Abfall“…. Das sind Botschaften, die misshandelte und gedemütigte Kinder routinemäßig direkt oder indirekt in sich aufnehmen. Ich betone dabei das Wort „routinemäßig“: Ab einem gewissen Ausmaß der Demütigungen, Herabwürdigungen, Beschämungen und Misshandlungen ist das ein Selbstbild, was sehr sehr viele Kinder entwickeln und ja, auch im Erwachsenenalter beibehalten.

Viele Menschen würden es nicht glauben, wie viele ihrer Nachbarn, Bekannte, Freunde, aber auch viele prominente Persönlichkeiten, die nach außen hin selbstsicher wirken und das Leben scheinbar stets in die Hand nehmen, in ihrer Tiefe Hetfields Satz schlummern haben: „Ich habe eine Persönlichkeit, die mir unablässig erzählt, ich sei ein Stück Scheiße“. 

Hetfield packte seine Wut in seine harte Musik und in Suchtverhalten. Er wurde nicht zum Massenmörder, Terroristen oder Diktator, wie so viele einst gedemütigte Kinder es ebenfalls NICHT werden. Würden alle einst gedemütigten Kinder ihre Wut und ihren (Selbst)Hass offen ausleben, oh Gott, das mag man sich nicht vorstellen. 

Hetfield hatte seinen eigenen Weg. Er bringt seine ihm eigene Genetik mit, sein Umfeld, sein Milieu, sein Geschlecht, seine Chancen, sein musikalisches Talent, seine zufälligen Begegnungen (z.B. mit dem Drummer der Band Lars Ulrich). Ein anderer Mensch, der in ähnlichen Umständen aufwuchs, wird vielleicht in der Tat zum christlichen Extremisten. Die meisten Menschen mit solchen Kindheitsgeschichten entwickeln allerdings psychische Probleme und/oder geben sich der Selbstzerstörung hin. 

Immer wieder versuche ich durch solche Beispiele darzustellen (und der klassischen Kritik bezogen auf Kindheitseinflüsse nach dem Motto Nicht alle misshandelten Kinder werden zu Terroristen und Massenmördern, deswegen kann Kindheit keine Ursache für solches Verhalten sein zu entgegen) , dass destruktive Kindheiten IMMER destruktiv wirken, in viele erdenkliche Richtungen, die durch diverse Einflüsse moderiert werden. Durch Psychotherapien, aber auch durch Begegnungen mit Menschen, die echte Wärme und einen Ausgleich bieten, können die Folgen abgemildert werden.

Lebenswege wie der von Hetfield zeigen deutlich, wie sich destruktive Kindheitserfahrungen später ausdrücken können. Das Gleiche gilt für Menschen, die sich in einer Menschengruppe in die Luft sprengen oder die zum Kriegsherrn werden. Für Letztere gilt, dass diese ausgelebte Destruktivität nicht möglich gewesen wäre, hätten sie eine liebevolle, gewaltfreie Kindheit erlebt. Genauso wäre Hetfield wohl kein Alkoholiker geworden und vermutlich sogar auch kein berühmter Songwriter, der sich in der Musik verliert. Am Ende des SPIEGEL-Interviews brachte er die Folgen seiner Kindheit auf den Punkt: „Diese Probleme sind ein Brunnen voller Benzin, aus dem ich schöpfe. Großartiges Songmaterial. Hoher Preis.“ 


Montag, 18. Januar 2021

Kindheit des Top-Terroristen Khalid Scheich Mohammed

Über die Kindheit des Top-Terroristen Khalid Scheich Mohammed (Chefplaner der Anschläge am 11. September 2001 in New York) habe ich einige wenige Infos gefunden, die allerdings eine deutliche Sprache sprechen. 

Meine Quelle ist: Miniter, R. (2011): Mastermind: The Many Faces of the 9/11 Architect, Khalid Shaikh Mohammed. Sentinel, New York. Kindle E-Book Edition. 

Khalid wuchs in eine einer streng muslimischen Familie auf (S. 16). Die Familie war aus Pakistan nach Kuwait immigriert. Der Vater arbeitete dort als Händler und in einer Moschee, geriet aber irgendwann in Streit mit einer einflussreichen Familie und verlor daraufhin seinen Job in der Moschee. 

Kurz vor Khalids Einschulung starb sein Vater (S. 15). Die Familie hatte schon vorher einen schwierigen sozialen Status und genoss in Kuwait nicht die vollen Bürgerrechte. Nach dem Tod des Vaters stand die Mutter mit insgesamt 9 Kindern alleine da! Hilfen vom Staat hatte sie nicht zu erwarten. Sie wusch weibliche Leichen und bereitete diese für die Beerdigung vor, um ihre Familie zu ernähren. Dieser Beruf bedeutete in dem Land einen niedrigen Status.   

Viel mehr erfährt man in der Quelle nicht über Kindheit und Familie von Khalid Shaikh Mohammed. 

Man braucht allerdings nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass 9 Kinder und ein toter Vater grundsätzlich Vernachlässigungserfahrungen für die Kinder mit sich bringen. Das Gefühl, ein sozialer Außenseiter zu sein, wird ganz sicher auch bei den Kindern angekommen sein. 

Über den Erziehungsstil erfährt man wie gesagt nichts. Allerdings wissen wir heute, dass die große Mehrheit der Kinder in Pakistan Formen von Gewalt in der Familie erlebt. Besonders schwere Formen von körperlicher Gewalt in der Familie erleben innerhalb von 4 Wochen sogar ca. 25 – 31 % der pakistanischen Kinder. Die Gesetzeslage schützt die Kinder bis heute nicht: Gewalt ist u.a. sowohl in der Familie, als auch im Kindergarten und in manchen Schulen legal. In den 1960er Jahren wird das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder sogar nach größer gewesen sein. 

Khalids Familie war konservativ und streng muslimisch. Rein statistisch und bezogen auf den familiären Hintergrund ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Kinder auch elterliche Gewalt erlitten haben. Die o.g. Infos zeigen bereits, dass Khalid traumatische Erfahrungen machen musste. Bei extremen Hassmenschen – das zeigen all meine Recherchen – finden sich oftmals vielfache Belastungen in der Kindheit. Ich gehe davon aus, dass dies auch für Khalid Scheich Mohammed gilt, auch wenn ich auf Grund der dürftigen Infos über die Familie ergänzend etwas mit Statistik und Wahrscheinlichkeit hantieren und somit etwas spekulieren muss. 


Mittwoch, 13. Januar 2021

Studie "The Racist Mind: Portraits of American Neo-Nazis and Klansmen"

Der Anfang 2020 verstorbene Psychologieprofessor Raphael S. Ezekiel hat ein außergewöhnliches Buch hinterlassen: The Racist Mind: Portraits of American Neo-Nazis and Klansmen (1996, Penguin Books).

Das Buch ist insofern außergewöhnlich, weil der Forscher sich einfach auf den Weg gemacht und mit Nazis gesprochen hat. Für Anfang der 1990er Jahre kann man dies wohl einfach erste Feldforschung nennen. Der Autor gibt in dem Buch vor allem lange Gesprächsauszüge wider. Man muss sich die Zeit nehmen und die Interviews durchlesen, um eine Systematik zu bilden. Denn das Buch ist keine klassische wissenschaftliche Arbeit mit durchdachter Methodik. Dies mag eine Schwäche der Arbeit sein. Zudem geht der Forscher auch nicht auf objektive Distanz, sondern er konfrontiert die interviewten Nazis immer wieder mit Widersprüchen, mit ihrer Ideologie (ohne die Personen, die vor ihm stehen, herabzuwürdigen) und auch seiner eigenen Sicht. Aber man merkt schnell, dass er durch seine spezielle Art der Gesprächsführung auch Vertrauen schafft, Augenhöhe, Raum, Dinge zu sagen und den Redefluss der Nazis anzuregen. Dies sehe ich als besondere Stärke des Buches, weil man viel von den Akteuren erfährt; vielleicht sogar mehr, als wenn hoch geschulte, objektive Fragesteller zu den gleichen Leuten geschickt worden wären.

Ezekiel hat drei damalige Nazi-Führungspersonen interviewt:
Tom Metzger, Dave Holland  und Richard Butler.

Metzger und Butler haben nicht viel über ihre Kindheit und Familie gesprochen. Über Metzger erfährt man nur, dass sich seine Eltern früh trennten und ein Stiefvater in sein Leben trat (S. 87). Bzgl. Butler betont Ezekiel, dass dieser nicht viel über seinen Vater sprechen wollte (S. 127). Allerdings ist sich Butler sicher, dass sein Vater Mitglied im Ku Klux Klan war. Mehr erfahren wir nicht über Familienhintergründe der beiden. 

Bzgl. Holland sieht dies etwas anders aus: Seine Mutter arbeitete in seiner Kindheit stets sehr viel und hatte zwei Jobs. Sein Vater trank ständig Alkohol (S. 106). Der Vater starb ca. 1974. Da weder Geburtsdatum von Holland, noch sein Alter zum Zeitpunkt des Interviews mitgeteilt wird, lässt sich nicht sagen, ob er zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters noch Kind, Jugendlicher oder Erwachsener war. 

Der zentrale Teil des Buches ist der Bericht über die Nazi-Gruppe Death's Head Strike in Detroit. Die meisten der 9 Interviewten waren junge Erwachsene oder noch Jugendliche. Die oft sehr destruktiven Kindheits- und Familienhintergünde werden dabei sehr deutlich. 

Paul (lokaler Anführer der Gruppe): Der Vater war oft betrunken und geriet häufig in Streit mit seiner Ehefrau. Dabei gab es auch körperliche Übergriffe gegen Pauls Mutter. Die Nachbarn bekamen die ständigen Streitigkeiten in der Familie mit und Kinder aus der Umgebung durften Paul nicht Zuhause besuchen (S. 173).    

Terri (17 Jahre alt): Ihre Mutter war ständig weg und arbeiten. Der Vater war lange Zeit abwesend. Bereits 2 Tage nach Terris Geburt trennten sich die Eltern. Als Terri 3 Jahre alt war, ließen sich die Eltern endgültig scheiden und Terri sah ihren Vater seitdem nie wieder (S. 195). Ihr Großvater wurde zum Vaterersatz. Dabei erstaunt eine Schilderung: „We lived with my grandparents till I was six. So really, my grandfather is my main father, really. Did all the necessary, like when it came to spanking und things, he did it, and I´m his little girl“ (S. 196) Terri sieht es als „väterlich“ und „notwendig“ an, körperlich bestraft zu werden. Dies spricht für eine starke Identifikation mit dem Aggressor. Es ist schockierend, wie die Erinnerung an den großväterlichen Vaterersatz im gleichen Atemzug mit Körperstrafen gekoppelt wird. Was war da los in dieser Familie?

Terris ganze Familie sei rassistisch gewesen, berichtet sie (S. 208). Als Jugendliche fiel Terri selbst durch Gewalttaten auf und kam nach einem Gerichtsverfahren und auch gewollt durch ihre Mutter als ca. 13-Jährige in eine Art Jugendheim für Straftäterinnen, aus dem sie dann nach Florida floh (S. 203). Auch Drogen waren ein Thema. Später lebte sie wieder bei ihrer Mutter, hatte wohl aber ständig Konflikte mit ihr. Wenn die Mutter einen neuen Freund hatte, so wollte sie die eigene Tochter nicht mehr um sich haben, berichtet Terri (S. 206). Irgendwann schmiss die Mutter die Tochter raus. Terri brachte sich durch, indem sie sich an irgendwelche Männer band. Einer davon war ein Biker, der die Jugendliche misshandelte. 

William (21 Jahre): Bereits als Fötus war William sehr belastet, denn seine schwangere Mutter trank Alkohol.  Er sei deswegen auch viel zu klein bei der Geburt gewesen (S. 222). Ezekiel fasst gleich zu Beginn seinen Eindruck von William zusammen: „A badly traumatized youn man who had been taken from his alcoholic mother at an early age, a person with no firm center of his own“ (S. 212). Seine Mutter sei nie in ihrem Leben glücklich gewesen, sagt William. Sein Vater war Kriegsveteran. Seine Familie sei außerdem rassistisch gewesen. Auf Grund der Ablehnung farbiger Menschen sei die Familie häufig umgezogen, um unter Weißen zu leben. Ab dem ca. 16. Lebensjahr wurde William in der „white power“ Bewegung aktiv. 

Sein Vater war gewalttätig und schlug die Geschwister von William. Er selbst sei damals noch zu klein gewesen und sei nicht geschlagen worden (S. 218). Als William ca. 6 Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. In der Folge sah William seinen Vater einige Jahre gar nicht und dann nur selten. Als William 7 Jahre alt war, gab es einen Gerichtsbeschluss und William kam unter Polizeizwang zu seinen Großeltern. Zunächst wurde er von der Polizei eingesperrt, weil er sich massiv gegen die Fremdunterbringung wehrte. Für William war dies offensichtlich eine traumatische Erfahrung. Ca. 4 Jahre sah William seine Mutter gar nicht mehr. Von den Großeltern kam er dann zu seiner älteren Schwester. Danach kam er zu seiner jüngeren Schwester in einen „trailer park“. Ab dem 15. Lebensjahr fing er an, Drogen zu nehmen und viel Alkohol zu trinken. Und er hatte Suizidgedanken. Als Jugendlicher lief er außerdem aus den diversen Fremdunterbringungen davon.

Raymond und Rosandra (Nazi-Pärchen): Über die Kindheiten der beiden erfährt man fast nichts. Allerdings deuten sich Belastungen und destruktive Lebensumstände an. Raymonds Vater war Kriegsveteran und Rassist. Raymonds Großvater, zu dem er eine besonders enge Beziehung hatte, war glühender Nazi und sprach mit Bewunderung über Adolf Hitler.
Ezekiel vermutet, dass Raymond sich als Kind alleine, vielleicht sogar auch verlassen gefühlt hat (S. 219).  Eine weitere schwere Belastung kam hinzu: Raymonds Bruder starb im Krieg in Vietnam (S. 244)

Auch Rosandra kam offensichtlich aus einer Nazi-Familie. Ihre Mutter bewunderte Adolf Hitler (S. 265). 

Francis (19 Jahre): Als Francis 4 Jahre alt war, erlebte er mit, wie sein 5 Jahre alter Bruder von einem Auto erfasst wurde und starb (S. 269)
Seinen Vater bezeichnet Francis als Idioten, „ass“ und „son of a bitch“ (S. 270, 279), der oft im Streit mit seiner Mutter lag. Der Vater war wohl sehr jähzornig, wenn die Kinder nicht taten, was er wollte, schmiss er Dinge nach ihnen. Außerdem zwang er die Kinder zu schweren Arbeiten. Bei Streitigkeiten flohen die Kinder oft aus einem Fenster nach draußen, als der Vater dies einmal mitbekam, verprügelte er die Kinder: „He beat all of our asses, all except for my mom`s“ (S. 279).  

Der Vater trennte sich von der Mutter, gerade als Francis im Kindesalter im Krankenhaus war und die Hälfte seiner Leber entfernt bekam.  In einer solchen Situation traf Francis die Trennung besonders. Nach der Trennung zahlte der Vater kein Geld zur Unterstützung. Die Mutter musste für 5 Kinder sorgen und arbeitete 7 Tage die Woche. 

Joey (16 Jahre): Seine Eltern trennten sich häufig. Zwei seiner Brüder starben, einer durch einen Unfall, der andere durch Suizid. Sein einer Bruder hatte Schizophrenie. Er kam eines Tages nach Hause, ging nach oben in seinen Raum und erschoss sich mit einem Gewehr. Joey hatte seinen Bruder entdeckt, überall im Raum war Blut, Gehirnteile, die Augen fehlten, der Kopf des Bruders war im Prinzip weg… (S. 286) Ein unfassbares Trauma für den Jungen! Später drehte Joey irgendwie durch, bedrohte seine Schwester und versuchte, durch Gas das Haus in die Luft zu sprengen (S. 287f). Er wurde dann – wohl in eine psychiatrische Einrichtung – eingesperrt, was er rückblickend auch gut fand.  

Eddie: „My dad was a warlord of a motorcycle gang which had two thousand chapters in the United States“ (S. 289). Sein Vater wurde dann irgendwann inhaftiert. Mehr erfährt man nicht, über Eddies Kindheit. 

Nolan (17 Jahre): Nolan hatte 6 Brüder und eine Schwester. Eine sehr große Familie, was nahelegt, dass nicht viel Zeit der Eltern für die einzelnen Kinder da gewesen sein wird. Als Nolan 2 Jahre alt war, verließ der Vater die Familie. Seitdem hat er seinen Vater nicht mehr gesehen (S. 301). Seine Mutter hat ihm erzählt, dass der Vater ein Alkoholproblem hatte. Es gab viele Streitigkeiten zwischen den Eltern in dieser Zeit und auch häusliche Gewalt gegen die Mutter. Die älteren Geschwister von Nolan sprachen nie über den Vater. Die Mutter hatte später einen Freund. Als Nolan ca. 7 oder 8 Jahre alt war, war dieser Freund betrunken und schlug Nolan (S. 302). Seine Mutter hätte daraufhin die Beziehung zu diesem Freund beendet.
Innerhalb seiner eigenen Familie, wie auch im sozialen Umfeld war Nolan isoliert, betont Ezekiel (S. 308) Es gab in der Umgebung kaum Möglichkeiten für Jugendliche. Die rassistische Gruppe bot offensichtlich ein Auffangbecken. 



Montag, 11. Januar 2021

Ein reiner Albtraum: Die Kindheiten der Brüder Chérif und Saïd Kouachi. Neue Infos

Regemäßige Leser*innen meines Blogs haben dies Art von „Erkenntnisdynamik“ schon einige Male hier miterlebt: 

In meinem Buch habe ich die Kindheiten der Brüder Chérif und Saïd Kouachi, die für den Terroranschlag auf Charlie Hebdo verantwortlich sind, besprochen und am Ende geschrieben: „Verwahrlosung, traumatische Verluste und Heimaufenthalte sind also belegt und weitere Verletzungen in der Kindheit nicht ausgeschlossen“ (S. 201). Bereits Anfang 2015 hatte ich die Kindheiten der Brüder außerdem in meinem Blog besprochen. 

Durch eine neue Quelle fand ich nun belegt, dass ich mit meiner o.g. Einschätzung Recht hatte: Die Kindheiten der beiden umfasste noch weit mehr Leid und Destruktivität, als ich bisher recherchiert hatte. In Anbetracht ihrer extrem kaltblütigen und unvorstellbaren Taten wundert mich dies nicht. 

Meine neue Quelle ist das sehr gute Buch „Home Grown: How Domestic Violence Turns Men Into Terrorists" (das ich bei Zeiten noch ausführlicher besprechen werde) der Journalistin Joan Smith (2019, Kindle E-Book Edition).

Die beiden Brüder bespricht die Autorin in einem kompletten Kapitel unter „The Unassuageable Rage of the Kouachi Brothers“. Wenn man die ganze Geschichte aus der Feder einer guten Journalistin liest und nur den Blick auf die beiden Kinder richtet (nicht auf die Terroristen, die sie wurden), dann wird einem wirklich schlecht und man möchte fast weinen. Diese beiden Kinder haben unfassbar traumatische Erfahrungen gemacht. 

Eine wesentliche und neue Info für mich ist, dass der Vater der beiden Brüder die Kinder schlug. Eine Schwester sagte gegenüber der Polizei aus: „My father used to beat us, my mother neglected us“ (Position 361) Traumatisierungen in früher Kindheit sind also sehr wahrscheinlich, noch deutlich bevor der weitere Leidensweg begann. Der Autorin nach starb der Vater 1991 an Krebs, dem SPIEGEL nach (siehe meine verlinkte Besprechung oben im Blog) starb er 1990. Auf das eine Jahr soll es nicht ankommen, beide Brüder waren noch Kinder und erlebten einen traumatischen Verlust. 

Zudem brach die Mutter anschließend unter der Last quasi zusammen und ihre Gesundheitszustand verschlechterte sich stetig. Sie hatte 5 Kinder (ein Kind von einem anderen Mann) zu versorgen und es gab oft kein Geld für das Mittagessen. Konservative muslimische Nachbarn beäugten die zerrüttete Familie zudem mit Argwohn, was den Kindern nicht verborgen geblieben sein wird. Es gibt Geschichten darüber, so Joan Smith, denen nach sich die Mutter in ihrer Not teils prostituierte, um die Kinder mit Essen versorgen zu können. Endgültige Beweise scheint es aber nicht dafür zu geben. Letztlich kann man diese „Geschichten“ auch einfach als weiteren Beleg für die große Not der Familie heranziehen. 

Eine Nachbarin und Sozialarbeiterin hat über den verwahrlosten Zustand der Kinder berichtet. Und sie hängt an „the boys were bullied, and she once witnessed a caretaker forcing Chérif to his knees and making him apologise für some minor offence“ (Poition 377). Hier wird nicht ganz deutlich, ob das „Mobbing“ bzw. psychische Gewalt auch durch andere Personen als Erziehungsberechtigten ausgeübt wurde. Da zudem der Vater tot war, kann in der beschriebenen Szene eigentlich nur die Mutter diejenige gewesen sein, die den Sohn auf die Knie zwang. 

Der Gesundheitszustand der Mutter hatte sich im Laufe der Zeit so sehr verschlechtert, dass sie die Ämter um Hilfe und Unterbringung ihrer beiden ältesten Söhne bat. Was dann passierte, war – so Joan Smith – außergewöhnlich: Chérif und Saïd wurden nicht bei Pflegeeltern oder in einem Heim in Paris untergebracht, sondern in einem Heim 300 Meilen entfernt in einer ländlichen Region, in der es gerade einmal 1400 Einwohner gab, die alle weiß und keine „Mulikulti“-Kultur gewohnt waren. Kinder aus dem Heim waren eh für die Bewohner deutlich zu erkennen, einmal mehr galt dies für zwei Jungen mit Migrationshintergrund aus Nordafrika. Die Jungen waren dort wohl Außenseiter, meint Smith. Die Mutter und auch die Geschwister hatten zudem keine Chance, die beiden zu besuchen. Es blieb bei Telefonaten. 

Anfang 1995 fand die Schwester der Brüder ihre Mutter tot in der Wohnung. Es wird davon ausgegangen, dass sie an einer Überdosis Drogen starb (abschließend geklärt scheint dies nicht zu sein). Chérif und Saïd wurden telefonisch über den Tod der Mutter informiert. 

Die Geschwister kamen nach dem Tod der Mutter zunächst gemeinsam mit Chérif und Saïd im Heim unter. Die beiden Jüngsten fanden aber bald eine Pflegefamilie und die Geschwister erlebten dadurch eine erneute Trennung.

Im heranwachsenden Alter wurden beide Brüder schnell delinquent. Im Jahr 2000 – 18 und 20 Jahre alt - kehrten beide Brüder das erste Mal nach dem Tod der Mutter nach Paris zurück. Chérif kam zunächst bei Verwandten unter, flog aber raus und musste wohl abwechselnd bei Freunden und auf der Straße schlafen (vgl. Position 422). Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, schreibt Smith, wie beide Brüder leichte Ziele für radikale Einflüsse werden konnten, nachdem Saïd seinen Bruder überredete hatte, mit in eine Moschee zu kommen. Später kamen noch radikale Einflüsse im Gefängnis - Chérif wurde inhaftiert – hinzu. Ihre Destruktivität zeigte sich auch deutlich in Form von Frauenhass, so Smith. Frauenhass ist etwas, was viele Extremisten verbindet. Smith betont diesen Zusammenhang eindrucksvoll. 

Was ich besonders interessant finde ist, dass - der Autorin nach - beide Brüder suizidal waren. Bereits im Jahr 2010 hatte Chérif einen Text verfasst, indem er einen Anschlag ausmalte. Der Tod der Attentäter war eingeplant. Dies war lange bevor es öffentliche Diskussionen um die Mohammed-Karikaturen gab und Charlie Hebdo zum Ziel wurde. Smith meint, dass die Mission von Anfang an als Selbstmordaktion geplant war. Dies würde auch die amateurhafte Flucht der Brüder nach dem Attentat erklären und ihr einfaches Auffinden durch die Polizei. Bei der anschließenden Schießerei kamen die Brüder um. Ihr Plan sei es von Anfang an gewesen, nicht zu überleben, so Smith (Position 453). 

Nach einem solchen Leben schien die islamistische Verheißung nach solcher Art Anschlägen direkt ins Paradies zu kommen wohl sehr verlockend. Davon abgesehen zeigt die Forschung, dass als Kind hoch und vielfach belastete Menschen ein extrem erhöhtes Suizidrisiko haben. Entschuldigen tut dies nichts! Aber wer kann ernsthaft im Angesicht einer solchen Kindheitsgeschichte behaupten, dass diese nicht ganz wesentlich für den ausgeübten Terror verantwortlich war? 

Lernen kann man daraus nur, dass Familien und Kinder wie die Kouachis bessere, frühzeitigere und nachhaltigere Hilfe bekommen müssen. Dort fängt Terrorismusprävention an!


Mittwoch, 6. Januar 2021

Kindheit von Alexander Lukaschenko

Kurzkindheitsbiografie, der nichts weiter hinzuzufügen ist: 

"Alexander Lukaschenko wird am 30. August 1954 in dem Dorf Kopys geboren. Über den Vater ist nichts bekannt. Die Mutter Ekaterina, die als Melkerin arbeitet, zieht den Jungen allein auf."
Und der Schriftsteller Wladimir ­Nekljajew wird wie folgt zitiert: "Ich kenne ihn sehr gut. Er hat von seiner Kindheit erzählt, und da habe ich verstanden, warum er sich allen anderen gegenüber anders verhält als gegenüber sich selbst. Er ist unter schrecklichen Bedingungen aufgewachsen. Er war das Schmuddelkind im Dorf. Wenn er irgendwo vorbeikam, bekam er einen Klaps auf das Hinterteil. Und er dachte sich: Wenn ich erwachsen bin, werde ich es euch allen zeigen!
(Barbara Oertel, 20.08.2020, "Machthaber Lukaschenko in Belarus: Der einsame Präsident", taz-online)

Kindheit von dem Diktator Suharto (Indonesien)

Der Diktator und Massenmörder Suharto führte lange Jahre Indonesien. Über seine Kindheit fand ich einige wesentliche Schlüsselinformationen.

Vorweg ein Hinweis: Suharto wurde 1921 geboren, einer Zeit, in der Kinder deutlich schlechter behandelt wurden, als heute. Aktuelle Daten aus Indonesien zeigen, dass die große Mehrheit der dortigen Kinder regelmäßig psychische und körperliche Gewalt im Elternhaus erlebt. Auch die Gesetzeslage ist in Indonesien noch sehr rückschrittlich: Gewalt gegen Kinder ist bis heute u.a. im Elternhaus, in Kindergärten und in Schulen legal. Ich habe in Suhartos Biografie keine Belege für elterliche Übergriffe gefunden (aber andere, schwere Belastungen). Historisch und statistisch und mit Blick auf seine Persönlichkeit und sein Handeln habe ich keine Zweifel, dass er als Kind auch direkte Gewalt erlitten hat. Diese „errechnete“ Gewalt muss zusammengedacht werden mit den Belastungen, die ich gleich aufzeigen werde.

Meine Quelle für die nachfolgenden Infos ist:
Elson, R. E. (2001): Suharto: A Political Biography. Cambridge University Press, Cambridge.

Suharto wurde in einer armen Familie geboren. Es sei keine glanzvolle („glittering“), sondern eher eine schroffe Kindheit gewesen, so wird aus seiner Autobiografie zitiert (S. 1). Suharto selbst erinnerte sich folgendermaßen an seine Kindheit: „I had to endure much suffering which perhaps others have not experienced“ (S. 1).
Bereits 5 Wochen nach seiner Geburt ließen sich seine Eltern scheiden. Zu vermuten ist entsprechend, dass sowohl während der Schwangerschaft, als auch direkt nach der Geburt eine sehr konfliktreiche Atmosphäre zwischen den Eltern vorherrschte. Davon abgesehen gibt es aber auch handfeste Belege für eine schwere Krise: Weder der Vater, noch die Mutter (Sukirah) scheinen, dem Autor nach, eine wichtige Rolle beim Aufwachsen von Suharto gespielt zu haben, „his father seems to have disappeared from his life (…) after the divorce, while his mother appear to have suffered from severe emotional difficulties, perhaps a nervous breakdown, following his birth“ (S. 2).
Noch bevor Suharto 40 Tage alt war, zog sich seine emotional angeschlagene Mutter sowohl innerlich, als auch physisch (sie zog - oder floh -  in ein Haus im Dorf) zurück. „Silent and unable to be found for a week, and with the family in a panic, at last she was discovered in a badly weakened condition. In such circumstances, with Sukirah unable to nurse her child and little immediate prospect of her raising him,  Suharto was given over to his paternal great-aunt (…)“ (S. 2).

Sein Vater heiratete erneut. Suharto zog erst ab seinem 4. Lebensjahr wieder zu seiner Mutter, die ebenfalls neu geheiratete hatte und zusammen mit ihrem neuen Mann 7 Kinder hatte. Ihre häufigen Schwangerschaften und die Lebensumstände bei seiner Mutter bedingten, dass wenig Zeit und Aufmerksamkeit für Sukirah da waren. Man möchte an dieser Stelle das Wort Vernachlässigung in den Mund nehmen.
Suhartos Vater war unzufrieden mit den Lebensumständen seines Sohnes. Im Alter von 8 Jahren wurde Suharto auf Anlass seines Vaters gezwungen, zu seiner Tante väterlicherseits zu ziehen und in dem Ort seine Schule zu beenden. Der Vater holte seinen Sohn heimlich und ohne die Mutter zu verständigen ab und brachte ihn in die neue Unterkunft (vgl. S. 2).
Nach ungefähr einem Jahr kehrte er allerdings wieder zu seiner Mutter zurück, sein Stiefvater holte ihn ab. Er blieb etwas weniger als ein Jahr und kam dann wieder zu seiner Tante zurück. Elson benennt dieses hin und her als „tug of war between parents“ (S. 3).
Suharto, so scheint es, musste ziemlich alleine mit dieser verwirrenden, bedrohlichen Welt und Situation in seiner frühen Kindheit umgehen. Später beschwor er die Vorteile für sein Leben, die ihm dieser frühe Leidensweg gebracht hätte (vgl. S. 3).

Ich sehe ein vernachlässigtes Kind, das einer emotional angeschlagenen und viel beschäftigten Mutter und einem rein taktisch agierenden (abwesenden) Vater gegenüberstand. Ich sehe schwere Trennungserfahrungen und ein traumatisiertes Kind. Zusammengedacht mit den an sich gewaltvollen Lebensumständen von Kindern in dieser Region (siehe Einleitung oben) zeigt sich erneut, dass als Kind geliebte Menschen keine Diktatoren werden.

Mittwoch, 23. Dezember 2020

Rückblick 2020 und Ausblick auf 2021

In meinem Anfang 2019 herausgebrachten Buch habe ich am Schluss formuliert, dass das ausgebreitete Thema für mich nun ein Stück weit ein Ende hat. 2019 und 2020 habe ich dann allerdings so viele Blogbeiträge veröffentlicht, wie lange nicht. Außerdem bin ich seit Anfang 2020 sehr aktiv bei Twitter und habe auch die Vorteile dieser Plattform schnell erfasst. 

Vor allem in den USA, in Großbritannien, aber mittlerweile auch zunehmend in anderen Teilen der Welt erreicht die sogenannte ACEsScience immer neue Höhen und Aufmerksamkeit. Sprich das Ausmaß von den „adverse childhood experiences“ (ACEs) wird in der Bevölkerung, aber auch in speziellen Populationen immer mehr ausgeleuchtet, und es werden Zusammenhänge zu diversen Problemlagen gefunden. Erst in diesem Jahr ist mir im Zusammenhang mit den ACE-Studien immer öfter das Wortpaar "trauma-informed" im englischsprachigen Raum aufgefallen:  trauma-informed society, trauma-informed schools, trauma-informed lawyers, trauma-informed  justice system, trauma-informed social work usw. In der Tat: Wir brauchen eine traumainformierte Gesellschaft in allen Bereichen. Nur wenn wir wirklich verstehen, können wir auch entsprechende Schrauben drehen. 

Steven Windisch und Kollegen haben 2020 den Text „Measuring the Extent and Nature of Adverse Childhood Experiences (ACE) among Former White Supremacists“ veröffentlicht. Das war für mich ein Highlight des Jahres, kommt doch dadurch in den USA der Fokus auf traumatische Kindheitserfahrungen als eine wesentliche Ursache für Terror und Extremismus mehr in den Blick. Ich bin sicher, dass dazu im englischsprachigen Raum weitere Forschungsprojekte folgen werden. Vielleicht traut sich ja auch ein renommierter Wissenschaftler, die Trump-Präsidentschaft unter diesen Gesichtspunkten zu analysieren? Das wäre zu begrüßen! 

Wo wir beim Thema sind: 2021 werde ich weiterhin versuchen, die aus Deutschland bekannten Extremismusstudien und ihre Ergebnisse weiter zu verbreiten (ich werde berichten, wenn mir dazu geplante Veröffentlichungen gelingen). Gepaart mit Informationen über einzelne Terroristen/Extremisten und gepaart mit den Informationen über die Kindheitshintergründe von 24 bekannten NS-Tätern, die ich mittlerweile recherchiert habe: Adolf Hitler, Rudolf Hess, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höss, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth, Reinhard Heydrich, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel, Alfred Jodl, Werner Best, Odilo Globocnik, Robert Ley & Alfred Rosenberg.

Ich habe das Gefühl, dass die Welt im Aufbruch bzgl. „meines Themas“ ist (der Durchbruch wird aber noch etwas dauern!). Junge Wissenschaftler wie Steven Windisch (aber auch andere) bringen neue Impulse ohne Scheuklappen. Die jüngere Generation wird – wenn meine Thesen stimmen – weniger innere Widerstände bzgl. des Themas haben, gerade weil diese Generation als Kind weniger belastet wurde, als die Älteren. 

Bzgl. der Entwicklungen in Deutschland bin ich grundsätzlich weiterhin optimistisch. Nur folgendes macht mir Sorgen: Die massive Steigerung der Krippen-Betreuungsquote für Kinder 0-2 (mit all ihren möglichen Folgen in der Zukunft) und die – so sehe ich das in meinem Umfeld – „Verplanung von Zeit der Kinder“ durch Ganztagsbetreuung, Kurse, Förderung, Termine usw. Die Freiheiten, die wir Kinder der 1980er Jahre hatten, habe ich in guter Erinnerung. Wir brauchten auch keinen Termin bei Freunden (und deren Eltern) vereinbaren: wir trafen uns einfach, weil wir Zeit hatten und weil wir selbstständig draußen unterwegs waren. 

Für die Kinder hoffe ich sehr, dass nach dem Corona-Jahr 2020 irgendwann 2021 wieder mehr Normalität eintritt und sie wieder unbeschwert zur Schule gehen und ihre Freunde treffen können. 

In diesem Sinne: Frohe Festtage und ein hoffentlich gutes neues Jahr 2021. 


Freitag, 18. Dezember 2020

Zwei Beispiele für politische Radikalisierung aus meiner Schulzeit

Heute Nacht bin ich um ca. 3 Uhr aufgewacht und mir fielen zwei Beispiele für eine politische Radikalisierung aus meiner Zeit am Gymnasium ein. Damit ich heute nicht wieder aufwache (denn ich mag meinen Schlaf), schreibe ich die Geschichte lieber auf. 

Ich nenne meine beiden Mitschüler von damals „Lars“ und „Knut“. Mit beiden stand ich nicht all zu eng in Kontakt bzw. war nicht mit ihnen befreundet, außerdem anonymisiere ich ihre Namen. Insofern habe ich kein schlechtes Gewissen, diese Geschichte hier aufzuschreiben.  

Lars radikalisierte sich damals nach rechts und Knut nach links. 

Beginnen wir mit "Lars":

Lars war ein etwas pummeliger, unsportlicher junger Mann, der fanatischer HSV-Fan war. Er war ruhig, zurückhaltend und gab allgemein wenig von sich preis. Auf mich wirkte er auch sensibel. Richtig laut und aus sich rauskommend wurde er nur, wenn es um den HSV ging. In der Schule stand er etwas außerhalb. Ich würde ihn nicht direkt als Außenseiter bezeichnen, er lief halt einfach irgendwie mit und wurde wenig wahrgenommen. 

Der alleinerziehende Vater von Lars hatte eine hohe berufliche Position (und war damals in gewissen Kreisen auch prominent). Dies bedingte, dass der Vater oft wochenlang abwesend war. Eine Haushaltshilfe hielt die Wohnräume in Schuss. Ansonsten blieb Lars oft sich selbst überlassen. Über seinen Vater sprach er sehr distanziert, wenn er ihn überhaupt mal erwähnte. Dass sein Vater eine „wichtige Person“ war, erfuhr ich erst, als Lars sich damals etwas mit meinem damaligen besten Freund anfreundete und wir Lars dann auch mal zu Hause besuchten. Die Kehrseite des „alleine Seins“ war, dass Lars relativ viele Freiheiten genoss. Die Mutter von Lars war, meiner Erinnerung nach, irgendwie ein Tabu in der Familie. Sie war nicht da und über sie wurde nicht gesprochen. Lars war in meinen Augen ein sehr einsamer Jugendlicher. Die Trennung der Eltern hatte sich wohl schon in seiner Kindheit vollzogen. 

Lars kam dann durch den HSV mit rechten Hooligans in Kontakt. Es begann eine schleichende Radikalisierung. Seine Weichheit verschwand Stück für Stück. Er wurde nach außen härter und noch verschlossener. Allerdings kamen jetzt in Abständen plötzlich rechte Sprüche und stark antisemitische Äußerungen. Mein damaliger bester Freund distanzierte sich immer mehr von Lars (wie ich auch). Doch zum Geburtstagfeiern in einer Location wollte er Lars noch einmal einladen und nicht außen vorlassen. Lars kam dann aber nicht alleine, sondern mit ca. 4 seiner rechten Hooligan-Freunde, in der Hoffnung, dass es kostenlos Alkohol gab. Dies führte zum endgültigen Bruch mit ihm und ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.   

Bei Lars kamen einige klassische Faktoren in der Sozialisation, die zu Radikalisierung führen kann, zusammen. Trennung der Eltern und offenkundige Vernachlässigungserfahrungen und Einsamkeit (wobei nicht klar ist, was er sonst noch alles in dieser Familie erlebt und erlitten hat) gepaart mit einem zurückhaltenden Charakter führten zu einem starken Bedürfnis nach einem Anschluss an eine Gruppe und einem Dazugehören bzw. Familienersatz. Dies fand er zunächst als fanatischer Fußballfan. Ich selbst war 2 oder 3 Mal als ca. 14 Jähriger (also Anfang der 1990er Jahre) bei HSV-Spielen dabei, weil ein Freund von mir Fan war. Damals standen unten in der Westkurve ganz offen die Nazis und Skins. Nach jedem Ruf aus der Kurve „Sieg!“ hallte es von unten „Heil!“ hinterher (oft inkl. Hitlergruß). Dies wurde damals ganz offensichtlich toleriert. Farbige Spieler der Gegner, die am Ball waren, wurden mit Affenlauten begleitet (und das nicht nur von den Nazis). Im Bus gab es von einzelnen Fans Gesänge, wie man dem Gegner eine Fahrt nach Ausschwitz wünschte. Manche Fans hatten auf dem Weg ins Stadion Reichskriegsflaggen dabei. Kurzum: Ich wurde kein HSV-Fan. (Ich habe mir von einem aktuellen HSV-Fan sagen lassen, dass dies heute natürlich nicht mehr so sei)

Mir blieb dieser rechte Block der Fans immer in Erinnerung, weil mir das damals sehr Angst machte. Und jetzt kam Lars mit seiner Vorprägung und seinem Wunsch nach Gemeinschaft und wohl auch Stärke. Er war immer im Stadion, bei jedem Spiel. Es erklärt sich von selbst, dass er auch Kontakt zu rechten Hooligans finden konnte und auch fand. Wäre Lars stattdessen z.B. St- Pauli Fan geworden, hätte er vermutlich keine rechte Gesinnung entwickelt, sondern evtl. eine linke. Zufälle und Lebensentscheidungen prägen uns Menschen und auch die Richtungen, die wir einschlagen. Für mich steht aber ohne Zweifel fest: Hätte Lars Wärme und Zuspruch in seiner Familie erlebt (was offensichtlich nicht der Fall war), dann wäre er nicht in die politische Radikalität abgedriftet.


Kommen wir jetzt zu Knut, bei dem die Hintergründe ganz ähnlich waren:

Sein Vater war Vorstandmitglied einer großen Firma (inkl. Mercedes S-Klasse und bei Bedarf Chauffeur). Entsprechend war der Vater häufig abwesend. Bei Knut hatte ich keine vertiefenden Einblicke in die Familie, aber ich erinnere genau seine tiefe Abneigung gegen seinen Vater. Er hasst seinen Vater zutiefst und auf der anderen Seite hegte er auch ein Stück weit Bewunderung für ihn und wünschte sich Anerkennung, die er aber nicht bekam. Ich erinnere mich auch an eine Situation, in der Knut kurz in diese Bewunderung gegenüber seinem Vater einschlug oder ihn entschuldigen wollte. Seine Schwester zischte ihn dann an: „Du weißt, dass Papa ein Arschloch ist!“  

Knut baute sich Stück für Stück eine sehr linke und radikale Identität auf. Er war sehr extrovertiert und jeder in der Schule kannte ihn. Er war durch und durch politisch und radikal. In seine Kleidung baute er dann auch Punkelemente ein. Er lehnte den Staat ab. Er fing stark an zu trinken und traf sich für Saufgelage mit seinen ebenfalls radikalen Freunden. Für mich gipfelte das Ganze in einer Deutschstunde. Knut formulierte in dieser Stunde laut seine Thesen über die Welt und äußerte direkt, wie sehr er Menschen hasste und diese als lästig empfand (seine genaue Wortwahl kann ich nicht erinnern, er bezog sich dabei auch auf irgend einen radikalen Denker). Die Reaktion des Deutschlehrers hat mich damals sehr beeindruckt. Er war wirklich sehr emotional berührt. Er strafte Knut nicht ab, sondern äußerte seine echte Sorge und sein Unverständnis für diese Weltsicht. Knuts Vater (der ja für einen neoliberale, kapitalistische Weltsicht stand), wurde natürlich auch politisch zum Feindbild für Knut. Umgekehrt war es wohl genauso: Der Vater lehnte die radikal linke Sicht des Sohnes ab und ging noch mehr auf Distanz.  

Später traf ich Knut zufällig in einem Bus in Hamburg. Er hatte in den USA an einer Eliteeinrichtung studiert. Von seiner linken Ausrichtung war nichts geblieben, wohl aber seine Radikalität. Er berichtete stolz von seinem beruflichen Werdegang. Er sei jetzt Manager und wäre für das Entlassen der Mitarbeiter zuständig, was echt Spaß machen würde. Seine Formulierung war dabei ziemlich deutlich und war gepaart mit Wichtigtuerei und Sadismus. 

Beide Akteure sind meines Wissens nach nicht gewalttätig geworden. Wobei ich das auch nicht ausschließen könnte. Wären sie gewalttätige Extremisten geworden, dann hätte mich dies nicht gewundert. Das meine ich so. Es soll nicht bedeuten, dass ich ihr Verhalten entschuldigt hätte. Aber: Ich kannte beide. Ich hatte Einblick in ihre Familie und in ihre innere Unruhe, ihr „aus-der-Bahn-geworfen-Sein“, ihre innere Radikalität und ihr Bedürfnis nach Feindbildern. 


Freitag, 11. Dezember 2020

Kindheit des Rechtsterroristen und Massenmörders Brenton Tarrant


Nur wenige Tage nachdem der Rechtsterrorist Brenton Tarrant einen Massenmord in Christchurch (Neuseeland) an vorwiegend muslimischen Menschen verübt hatte, schrieb ich einen Beitrag über seine Kindheit. Ich mahnte, dass wir in Bezug auf Tarrants Satz in seinem Manifest „I had a regular childhood, without any great issues“ vorsichtig sein sollten. Bereits Anders Breivik (Vorbild für Tarrants Tat) hatte seine Kindheit in seinem Manifest idealisiert, obwohl er nachweisbar eine extrem traumatische Kindheit hatte. 

Am 08.12.2020 wurde der „Report: Royal Commission of Inquiry into the terrorist attack on Christchurch masjidain on 15 March 2019“ online veröffentlich (aktualisiert wurde der Report am 10.12.) 

Im „Chapter 2: The individual’s upbringing in Australia“ finden sich einige Details über Tarrants Kindheit und Familie, die mir vorher nicht bekannt waren. In meinem Text aus dem Jahr 2019 äußerte ich bereits die Vermutung, dass weitere Belastungen in seiner Kindheit zu finden sein werden. Seine Tat war derart kalt, grausam und im Grunde unvorstellbar, so etwas tun Menschen nicht, nur weil sie Trennungskinder sind und in der Schule gemobbt wurden. Da musste mehr passiert sein. 

Das für mich wichtigste neue Detail ist, dass Tarrants Mutter nach der Trennung von ihrem Mann (wobei der genaue Zeitraum der Trennung nicht klar ist; Brenton soll zwischen 7 und 10 Jahre alt gewesen sein) mit einem gewalttätigen Partner zusammenkam! 

Brenton und seine Schwester lebten nach der Trennung der Eltern zunächst bei ihrer Mutter. Brentons Mutter sagte nach der Tat ihres Sohnes aus, dass ihre Kinder durch die Trennung der Eltern, aber auch durch den Verlust ihres Hauses durch einen Brand und den Tod des Großvaters traumatisiert wurden (vgl. S. 168). Das Verhalten ihres Sohnes hätte sich nach der Trennung stark verändert, er sei vor allem sehr ängstlich geworden (Brenton selbst sagte ebenfalls aus, dass er ein sehr ängstliches Kind gewesen sei).  Vermutlich wird nicht nur die Trennung Auslöser für die starken Ängste gewesen sein, denn der neue Partner der Mutter war gewalttätig, sowohl gegen die Kinder als auch gegen die Mutter:
That relationship was violent, with the new partner assaulting Sharon Tarrant and the children. An apprehended violence order was taken out against his mother's partner to protect the individual. Lauren Tarrant, and later the individual, went to live with their father“ (S. 168).
Für Brenton Tarrant bedeutete dies gleich zwei belastende Kindheitserfahungen: Selbst erlittene Gewalt und das Miterleben von häuslicher Gewalt gegen Mutter und Schwester. Dies sind traumatische Erfahrungen für ein Kind. 

Ab dem 12. Lebensjahr habe Brenton laut Aussagen seiner Schwester stark an Gewicht zugenommen, was ihn zur Zielscheibe für Mitschüler machte. Er wurde in der Folge in der Schule gemobbt und hatte kaum soziale Kontakte oder Freunde. Bereits ab ca. den 6. oder 7. Lebensjahr verbrachte Brenton viel Zeit mit Computerspielen. Als Kind hatte er auch einen unkontrollierten Zugang zum Internet in seinem Zimmer. Er verbrachte immer mehr Zeit im Internet oder mit Computerspielen, was man wohl als Flucht vor der Realität deuten kann. Die Eltern scheinen hier nicht eingegriffen und Alternativen angeboten zu haben. Insofern deute ich dies auch als ein Zeichen für elterliche Vernachlässigung (wobei das Wort Vernachlässigung in dem Bericht nicht erwähnt wird). 

Als Brenton ca. 16 oder 17 Jahre alt war, wurde Krebs bei seinem Vater diagnostiziert, was auch die Kinder, die ja aus der mütterlichen Wohnung zu ihrem Vater geflohen waren, schwer belastete. Der Vater wurde zudem depressiv. „After the diagnosis Rodney Tarrant became increasingly depressed and his children did not cope well“ (S. 169). Die Gesundheit des Vaters verschlechterte sich so weit, dass er Palliativpflege brauchte. Im April 2010 brachte sich der Vater um (Brenton muss zu der Zeit ca. 20 Jahre alt gewesen sein). Brenton soll den leblosen Vater entdeckt haben und er schein evtl. auch in die Suizidabsichten des Vaters eingeweiht gewesen zu sein. Die Vermutung steht laut dem Report im Raum, dass Brenton seinen Vater beim Selbstmord unterstützt hat. Fest steht, dass der Tod des Vaters eine große Belastung für Brenton war. 

Die psychische Situation von Brenton Tarrant wird an einer Stelle recht gut zusammengefasst:
As the individual grew older, he told his sister that he thought he was autistic and possibly sociopathic. He also said that he did not care for people, including his own family, but knew that he should. His friendships with those outside his family were limited and we have seen no evidence that the individual was involved in sustained romantic or sexual relationships“ (S. 170). 

Die Belastungen in Kindheit und Jugend werden auf Grundlage dieses Berichts mehr als deutlich. Für mich steht weiterhin die Frage im Raum, wie der Erziehungsstil der biologischen Eltern war. Haben auch sie (manchmal) Gewalt angewandt? Waren sie liebevoll und zugewandt oder das Gegenteil davon? Wir wissen es nicht. 

Was für sich fest steht ist, dass die Mutter-Sohn-Beziehung einen schweren Bruch erlitten hat. Sie war es, die einen gewalttätigen Mann in ihrem Haus gewähren ließ. Sie selbst erlitt Gewalt und ihre Kinder gleichfalls. Aus unserer erwachsenen Perspektive wissen wir um all die Schwierigkeiten, die von häuslicher Gewalt betroffene Frauen haben. Viele dieser Frauen haben auch als Kind selbst Gewalt erlitten (ob dies auch bei Brentons Mutter so war?). Solche Partner einfach rauszuschmeißen fällt diesen betroffenen Frauen, die ja oftmals auch massiv eingeschüchtert werden, nicht immer leicht. Kinder aber können die Situation nicht neutral erfassen und bewerten. Für sie ist es immer ein mütterlicher Verrat, wenn die Mutter keinen Schutz vor der Gewalt ihres Partners leisten, geschweige denn sich selbst schützen kann. So etwas hinterlässt immer tiefe Risse in der Beziehung zueinander. 

Abschließend noch der Hinweis, dass derartige Taten in der Regel von Männern verübt werden (von 172 vom „The Violence Project“ untersuchten Massenmördern in den USA waren nur 3 weiblich!). Frauen haben eher andere Wege, um solche kindlichen Belastungen auszudrücken (z.B. Selbstverletzung, Misshandlung der eigenen Kinder, psychosomatische Beschwerden usw., was im Übrigen auch für viele belastete Männer gilt, denn die meisten von ihnen werden keine Massenmörder). Traditionelle Männlichkeitsbilder und entsprechende Strukturen tragen sicher ihren Teil dazu bei, dass Massenmorde Männersache sind. Die Welt ist komplex und viele Einflussfaktoren müssen in Betracht gezogen werden. Aber: Der Fall Brenton Tarrant zeigt – mal wieder – eindrucksvoll auf, dass als Kind geliebte, gewaltfrei und fürsorglich behandelte Menschen keine Massenmörder werden. Der Fall zeigt aber auch auf, dass Prävention nicht nur bedeutet, solche Belastungen für Kinder zu verhindern, sondern auch, dass psychosoziale Hilfen greifen müssen, wenn Kinder solchen Belastungen ausgesetzt sind. Wer weiß, wenn Brenton Tarrant frühzeitig Hilfen bekommen hätte, vielleicht wäre all das Grauen dann nicht passiert. Das ist eine von vielen Lektionen, die wir aus diesem Fall ziehen können. 


Donnerstag, 10. Dezember 2020

7 (Kindheits-)Biografien (extrem) rechter Aussteiger*innen

Ich habe einen sehr interessanten Text gefunden, in dem systematisch die familiären Hintergründe von 7 ehemaligen Rechtsextremisten bzw. rechten Akteuren beleuchtet werden. Solche Texte findet man höchst selten! Destruktive Kindheitserfahrungen fallen mehrheitlich sehr ins Auge, sind aber nicht bei allen Akteuren eindeutig nachweisbar.  

Meine Quelle: Gary, S. & Kaufmann, F. (Hrsg.) (2020):  Biografien (extrem) rechter Aussteiger*innen und ihr Einsatz in pädagogischen Settings. Ein Werkstattbericht 2.0. CJD Hamburg. 


Heidi Benneckenstein (Ex-Neonazi) (über sie hatte ich auch schon einen Blogbeitrag verfasst):
in die rechtsextreme Szene hineingeboren; Trennung der Eltern, als sie 9 Jahre alt war; autoritärer Erziehungsstil des Vaters und väterliche Gewalt gegen die Kinder; Erziehung im Sinne von Leistungs- und Wettkampfsgedanken; „Verlierer“ wurden mit Ausgrenzung bestraft

Maximilian Kelm (Ex-Neonazi): im Grunde keine Infos über seine Kindheit. 

Johannes Kneifel (ehemaliger rechter und gewalttätiger Skinhead):
Aufwachen in widrigen Verhältnissen; Mutter leidet an Multipler Sklerose und ist bereits in Kneifels früher Kindheit stark eingeschränkt; Vater ist seit einem Unfall in seiner Jugend nahezu blind;  beide Elternteile sind arbeitslos; prekäre ökonomische Umständen;  Kneifel empfand Scham über die familiäre Situation; durch die Einschränkungen seiner Eltern bekam er nicht die elterliche Aufmerksamkeit, die er brauchte; die Eltern setzen kaum Grenzen und vermeiden Konflikte; elterliche Wertschätzung erhält er wenig; Johannes fühlt sich als Außenseiter und hat Schwierigkeiten, Freunde zu finden; mit 13 Jahren plagen ihn Selbstmordgedanken; die älteren Schwester meldet irgendwann die Familie beim Jugendamt, welches in der Folge auch familiäre Defizite feststellt; der 14-jährige Johannes wird zunächst in eine Jugendpsychiatrie eingewiesen, danach kommt er in ein Internat. 

Philip Schlaffer (Ex-Rechtsextremist):
Das Verhältnis zu seiner Familie in der Jugendzeit, insbesondere zu seinem Vater, beschreibt er als angespannt“ (S. 44). Als Bruch in seinem Leben empfindet er den Umzug der Familie nach England und später wieder zurück nach Deutschland;  später auf einer Gemeinschaftsschule fühlt er sich als Außenseiter; keine Details über Kindheit und Erziehungsstil der Eltern. Er betont in seinen Videos, dass er eine „normale“ Familie hatte, eine“ glückliche Kindheit“. Dies widerspricht den vorherigen Feststellungen. Bereits im Alter von 14 Jahren begann sein Einstieg in die rechte Szene. 

Franziska Schreiber (ehemals AfD-Mitglied):
in Dresden in einem „bunten, linken Haushalt“ aufgewachsen (S. 58); kein Details über ihre Kindheit. 

Christian E. Weißgerber (Ex-Neonazi):
Mutter floh auf Grund der Gewalttätigkeit ihres Mannes aus der Familie; Gewalt des alleinerziehenden Vaters bestimmte die Familie und richtete sich gegen die Kinder; Schwester holte sich Hilfe beim Jugendamt und wurde aus der Familie geholt; Christian blieb aus Mitleid beim Vater und war weiter der Gewalt ausgesetzt. 

Timo F. (Ex-Neonazi; Infos aus einem autobiografischen Roman):
„Seine Biographie ist geprägt von Gewalt, Beziehungsabbrüchen, dysfunktionalen Familienstrukturen (auf verschiedenen Ebenen) und dem beständigen und sich aus den genannten Faktoren speisenden (und selten erfüllten) Wunsch nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Anerkennung“ (S. 82). Zitat aus dem Buch: „Ich fühlte mich unendlich alleine auf der Welt. Ein störender Fremdkörper in ihrer kleinen glücklichen Familie. Wie diese fetten Brummer, die immer so lästig um einen herumschwirrten und bei denen man froh war, wenn sie irgendwann tot auf der Fensterbank lagen. Ich war der Brummer“ (S. 82). Mutter wechselt häufig die Partner und die Familie zieht häufig um. Timos Urgroßvater (bei dem die Mutter einen Großteil ihrer Kinderund Jugendzeit verbracht hat) war ehemalige Angehörigen der (Waffen-)SS und blieb von der Einstellung her auch ein Nazi. Prägung durch diese Einflüsse; auch Timos Mutter war rechts eingestellt.


Mittwoch, 9. Dezember 2020

Prostitution: Sind belastende Kindheitserfahrungen von Freiern auch eine Ursache dafür?

Bereits im Jahr 2013 schrieb ich in einem Blogbeitrag, der sich auf das Ausmaß von belastenden Kindheitserfahrungen von Prostituierten konzentrierte: „Zudem ist mir keine Untersuchung bekannt, die die Kindheiten von (männlichen) Zuhältern, Bordellbetreibern, Menschenhändler und auch von Freiern unter die Lupe nimmt. Dabei ist diese Gruppe ebenfalls von Interesse und auch die entsprechenden Kindheiten sind vermutlich alles andere als liebevoll verlaufen.“

Vielleicht gibt es dazu mittlerweile Studien (über Hinweise würde ich mich freuen)? Ich habe nicht die Kapazität, große Recherchen dazu zu unternehmen. Allerdings fand ich schon damals eine Studie, die einen Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und Freiertum nahe legt.

Ich schrieb damals am Ende des eingangs verlinkten Beitrags (mit Bezug auf die erwähnte Studie): „Indirekt wurde in einer großen Studie, für die über 10.000 asiatische Männer befragt wurden und die im Kern eigentlich das Verbrechen Vergewaltigung erforschen wollte, ein Zusammenhang zwischen gewaltvollen Kindheiten von Männern und deren Gang zu Prostituierten festgestellt. 64 % der Vergewaltiger und 77 % der Gruppenvergewaltiger waren Freier, dagegen nur 30,8 % der Nicht-Vergewaltiger. Die Nicht-Vergewaltiger hatten allerdings auch die im Vergleich zu den Vergewaltigern deutlich gewaltfreieren Kindheiten. Beispielsweise hatten als Kind 58,7 % der Vergewaltiger und 60,5 % der Gruppenvergewaltiger körperliche Misshandlungen (also schwere Gewalt gegen das Kind) erlebt, dagegen "nur" 31,4 % der Nicht-Vergewaltiger. Ähnliche Zahlenverhältnisse zeigten sich beim sexuellen Missbrauch, emotionaler Misshandlung/Vernachlässigung und dem Beobachten von körperlicher Gewalt in der Familie.“

Ich möchte dieses Thema heute erneut aufgreifen.

Wieder ist es so, dass die Studienlage eher indirekte Hinweise bezogen auf die These liefert, dass belastende Kindheitserfahrungen mit „Sexkauf“ in einem Zusammenhang stehen. Aber diese Hinweise sind ziemlich deutlich und sollten zu weiteren direkten Forschungen führen.

In sogenannten „adverse childhood experiences“-Studien wurde herausgefunden, dass erhöhte Belastungen in der Kindheit (Misshandlungs-/Missbrauchsserfahrungen, Vernachlässigung, suchtkranke Elternteile usw.) mit einem Anstieg von sexuell riskanten Verhalten (z.B. viele Sexualpartner, früher Sex in Jugend, Sex ohne Kondom) in einem Zusammenhang stehen. (z.B. „Adverse childhood experiences andsexual risk behaviors in women: a retrospective cohort study“ + „Early Adversity and Sexual Risk in Adolescence: Externalizing Behaviors as a Mediator“ + „Adverse childhood experiences, gender, and HIV risk behaviors: Results from a population-based sample“) Warum das so ist, ist eine andere Frage. Da der Gang zu Prostituierten auch als „sexuell riskantes Verhalten“ bezeichnet werden kann, nehme ich an, dass diese Ergebnisse auch auf Freier übertragen werden können.

Eine Studie möchte ich dabei besonders hervorheben: Anderson, K. G. (2017): Adverse Childhood Environment: Relationship With Sexual RiskBehaviors and Marital Status in a Large American Sample. Evolutionary Psychology, April-June 2017: 15(2), 1–11.
17.530 Männer and 23.978 Frauen aus 13 US-Staaten im Alter zwischen 18-54 Jahren wurden dafür befragt. Innerhalb der Studie wurden auch diverse andere Studien besprochen, die Zusammenhänge zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und sexuell riskantem Verhalten sowie einer frühen geschlechtlichen Reifung fanden. Wichtiger aber noch ist die Fragestellung der Studie. Denn eine Frage beinhaltete bezogen auf eine potentielle AIDS-Erkrankung das riskante Verhalten bezogen auf die letzten 12 Monate vor der Befragung: intravenöser Drogengebrauch, Behandlung auf Grund einer Geschlechtskrankheit, bezahlen oder bezahlt werden für Sex oder Analverkehr ohne Kondom.

Leider wurde der Punkt „für Sex bezahlt oder bezahlt werden“ nicht gesondert aufgestellt, aber er war immerhin enthalten. Das Ergebnis ist recht eindeutig: Für Männer erhöhte jeder einzelne ACE-Wert (insgesamt 7 ACE-Werte) die Wahrscheinlichkeit für sexuell riskantes Verhalten. Für Frauen erhöhten jeweils 5 ACE-Werte (u.a. Misshandlungen und sexueller Missbrauch in der Kindheit) die Wahrscheinlichkeit für sexuell riskantes Verhalten. Insofern lässt sich aus den Ergebnissen der Studie schließen (wenn auch mit einigen Beschränkungen), dass belastenden Kindheitserfahrungen mit dem Bereich Prostitution insgesamt („Sexkauf“ oder für Sex bezahlt werden) in einem Zusammenhang stehen. (ganz ähnlich aufgebaut - mit der gleichen Fragestellung bezogen auf das, was als sexuell riskantes Verhalten definiert wird - war auch die bereits oben verlinkte Studie Adverse childhood experiences, gender, and HIV risk behaviors: Results froma population-based sample“ + die Ergebnisse gehen in die gleiche Richtung!)

Abschließend noch ein Gedanke: Wer sich allgemein mit den Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen befasst, wird schnell darauf stoßen, dass diese Erfahrungen die Wahrscheinlichkeit für Täterverhalten (inkl. häuslicher Gewalt gegen Frauen), verminderte Empathie und Moralvorstellungen, selbstschädigendes Verhalten, (Selbst-)Hass usw. erhöhen. Dass diese „Schablone“ auch auf Freier angewendet werden kann, ist mehr als naheliegend! Hat doch ihr Verhalten viel mit dem Ausblenden von Realitäten (dem Leid von Prostituierten), Hass, Bedürfnis nach Macht (oder bzgl. Sado Maso Fantasien auch mit inszenierter Ohnmacht), Kontrolle, Demütigungen von anderen Menschen, fehlender Selbstachtung und fehlender Moral zu tun. Ich bin davon überzeugt, dass das wissenschaftlich erwiesene hohe Ausmaß von leidvollen Kindheitserfahrungen von Prostituierten nur die eine Seite der Medaille ist. Die andere Seite beinhaltet höchst wahrscheinlich kindliche Ohnmachtserfahrungen der Freier, Zuhälter und Menschenhändler. Das soll deren Verhalten nicht entschuldigen, erklärt aber, wie man Prostitution präventiv verhindern kann: Mehr Kinderschutz und mehr Fürsorge und gute Lebensbedingungen für Kinder!

Freitag, 4. Dezember 2020

Kindheit von Robert Mugabe

Simbabwes langjähriger Regierungschef und Diktator Robert Mugabe erfüllt einige Punkte, die mir immer wieder bei Diktatoren aufgefallen sind: 

  1. Er ist männlich, denn eine Diktatur zu führen, war und ist in patriarchalen Gesellschaften stets Männersache. Als Führer verkörperte er nach außen traditionelle Männlichkeitsvorstellungen von absoluter Stärke und Entschlossenheit, sowie Härte im Kampf gegen seine „Feinde“. 
  2. Er war hoch intelligent und verbrachte bereits als Kind die meiste Zeit damit zu lesen, anstatt mit anderen Kindern zu spielen. 
  3. Er hatte eine sehr enge (aber keine gesunde) Mutterbeziehung, die Tendenzen von emotionalem Missbrauch und einer „Muttersöhnchen-Konstellation“ aufweist (siehe dazu auch das Buch „Muttersöhne“ von Volker Elis Pilgrim, dessen These ist, dass dies die entscheidende Gemeinsamkeit von Diktatoren und Massenmördern ist. Meine Recherchen über diverse Diktatoren stützen diese These. Ich halte aber auch weitere Belastungen in der Kindheit von großer Bedeutung und ebenfalls auch die Rolle der Väter). Und: Die Mutter hatte hohe Erfolgserwartungen gegenüber ihrem Sohn. 
  4. Er war als Kind vielfachen Belastungen ausgesetzt, die sich zu einem „Gesamttraumapaket“ kumulierten. 

Alle diese 4 Punkte fand ich oftmals bezogen auf Diktatoren bestätigt (siehe u.a. in meinem Buch)! 


Kommen wir jetzt zu Mugabes Kindheit:

Meine Quelle dafür ist: Holland, Heidi (2009): Dinner With Mugabe: The untold story of a freedom fighter who became a tyrant. Penguin Books, Johannesburg (South Africa). Kindle-E-Book Version. 

Robert erlebte als Kind den Tod zwei seiner älteren Brüder. Einer davon, Michael, war der Liebling der Familie. Nach Michaels Tod verließ der Vater die Familie und heiratete später erneut. Robert war zum Zeitpunkt dieser Trennung 10 Jahre alt und entwickelte in der Folge einen tiefen Hass gegen seinen Vater. Roberts Mutter wurde nach der Trennung von ihrem Mann depressiv (wobei Holland auch eine Quelle zitiert, nach der die Mutter schon VOR der Trennung und dem Verlust von 2 Kindern psychisch angeschlagen war. An einer Stelle im Buch – Seite 5 - spekuliert sie entsprechend auch, ob Robert von seiner belasteten Mutter als Baby vernachlässigt worden sein könnte). 

Robert war ein schüchternes, sensibles Kind, das jetzt zum mütterlichen Favoriten wurde. Er stützte seine Mutter, begleitetet sie täglich zur christlichen Messe und versuchte, seine Mutter glücklich zu machen (diese Geschichte gleicht übrigens fast 1zu1 den Kindheitserlebnissen von Francisco Franco). Gleichzeitig hatte die Mutter hohe (Leistungs-)Erwartungen an ihren Sohn Robert; sie trieb ihn an, viel zu lernen. Aber sie strafte ihren Sohn auch körperlich, wie Roberts Bruder Donato berichtet:
If his mother smacked him, Robert must thank her for correcting him; that's what she believed. (…) She smacked him maybe thrice and he thanked her every time. The other children used to tease him and he became lonely“ (S. 4) Diese mütterliche Gewalt in Kombination mit dem „Bedanken“ dafür durch ihren Sohn ist schon bemerkenswert. Hier wurde offensichtlich erfolgreich die kindliche Wahrnehmung verdreht! Erlittene Schmerzen und Demütigungen wurden „dankend“ entgegengenommen, denn Mutter konnte es ja nur zum „Wohle des Kindes“ tun, damit er seine Lektionen lernt…

Nach außen beschützte seine Mutter ihren Liebling dagegen vor jedem, auch den eigenen Geschwistern. Robert war indes ein Einzelgänger, der sich oft zum Lesen zurückzog. Seine Favoritenrolle bei seiner Mutter und auch dem Geistlichen vor Ort machte ihn zur Zielscheibe von Gleichaltrigen und seinen Geschwistern, die ihn gnadenlos hänselten (vgl. S. 6). 

Auf Seite 11 schreibt die Autorin kurz, dass Robert Mugabe eine „traumatische Jugend“ hatte. Dem ist im Grunde nichts weiter hinzuzufügen. Wie so oft bleibt mir nur anzumerken, dass als Kind wirklich geliebte und umsorgt aufgewachsene Kinder später keine Diktatoren werden.

(Abschließend noch der Hinweis auf den Länderreport über Simbabwe (von der Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children) und die dortigen Gesetze zum Thema Gewalt gegen Kinder + Studien zum aktuellen Ausmaß der Gewalt in dem Land. In dem Land sind Körperstrafen gegen Kinder u.a. in der Familie und Schule weiterhin legal!)


Donnerstag, 3. Dezember 2020

Islamistischer Terror - Die Kindheit von Arid Uka

Arid Uka verübte am 02.03.2001 den ersten islamistischen Anschlag in Deutschland (Mordanschlag auf US-Soldaten am Frankfurter Flughafen). Über seine Kindheit liegen mittlerweile einige Erkenntnisse vor: 

Mit seiner Geburt im Kosovo im Jahr 1990 einige Jahre vor dem Ausbruch des Kosovokrieges, nach der Scheidung seiner Eltern und der Auswanderung des Vaters nach Deutschland begann eine schwierige Kindheit. Arid Uka folgte als Säugling dem Vater nach Deutschland und verbrachte die ersten drei Lebensjahre ohne Mutter. Die Lebensverhältnisse normalisierten sich erst nach dem fünften Lebensjahr mit der Wiederheirat der Eltern und der Familienzusammenführung in Deutschland. In relativer Armut lebte die Familie mit drei Kindern in einem Stadtteil von Frankfurt am Main, der jahrelang als sozialer Brennpunkt galt“ (Ben Slama, B. (2020): Die psychologische Dimension von Radikalität, Extremismus und Terrorismus. In: Ben Slama, B. & Kemmesies, U. (Hrsg.): Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich - Phänomenübergreifend. Bundeskriminalamt (Polizei+Forschung, Band Nr. 54), S. 338).
Als Arid 17 Jahre alt war, verschlechterte sich die wirtschaftlich eh nicht einfache Situation der Familie nachdem der Vater schwer erkrankte. Arids Orientierungskrise (auch in der Schule brachen seine Leistungen ein) verschärfte sich dadurch. Im familiären Umfeld gab es kaum Unterstützung. Seine Zuwendung zum Islam begann in dieser Zeit. 

Ein weiteres, schweres Trauma kam in der Kindheit hinzu: „Bezüglich des Vergewaltigungsvideos (Anmerkung Sven Fuchs: Auslöser für seine Morde sei seinen Angaben zu Folge gewesen, dass er zuvor im Internet ein Video über die Vergewaltigung muslimischer Frauen durch US-Soldaten gesehen habe) gab Herr Leyggraf an, die starke persönliche Reaktion des Angeklagten sei durch ein eigenes Missbrauchserlebnis zu erklären. Der Angeklagte habe ihm erzählt, dass er als 6-7jähriger im Park von einem älteren Mann missbraucht worden sei.“ (INTERNATIONAL RESEARCH AND DOCUMENTATION CENTRE WAR CRIMES TRIALS, 19. Dezember 2011: Monitoring Report Nr. 8 Strafverfahren gegen Arid U.)

Das Missbrauchserlebnis im Park war offensichtlich traumatisch. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass ein solches Einzelerlebnis nicht ausreicht, damit ein Mensch zum terroristischen Mörder wird. Ein Kind, das sicher in seiner Familie aufwächst und fürsorglich/gewaltfrei behandelt wird und dem so etwas passiert, wird auch traumatisiert, ja. Aber die (Entwicklungs-)Grundlage wäre eine ganz andere! In der frühen Kindheit von Arid Uka deuten sich dagegen schwere Konflikte der Eltern an. Und er wurde von der Mutter jahrelang getrennt. Wie der Vater mit dem Säugling und Kleinkind umging ist nicht klar. Auch über den mütterlichen Erziehungsstil erfahren wir nichts. Der Mutter war es ja versagt, eine Bindung zum Kind aufzubauen. Auf ihren Sohn traf sie erst, als er 3 Jahre alt war. Ich vermute, dass in den ersten Lebensjahren einiges passiert sein muss. Dieser schwierige Start ins Leben kumulierte mit der sexuellen Missbrauchserfahrung. Häufig findet sich bei Extremisten genau das: Mehrfachbelastungen in Kindheit und Jugend. Ein Kind muss viel erleben und erleiden, damit der Hass wächst. 


Donnerstag, 26. November 2020

89 Maßnahmen der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus und KEIN Wort zum Thema Kinderschutz!

Die Bundesregierung hat am 25.11.2020 den „Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ veröffentlicht. Insgesamt werden 89 Maßnahmen aufgeführt, die wiederum verschiedenen Ministerien zugeordnet wurden. 1 Milliarde Euro wird zur Verfügung gestellt, um die Maßnahmen umzusetzen. 

Ich ahnte es schon nach den ersten Presseberichten und habe mir heute nun den Maßnahmenkatalog im Detail angeschaut: Es gibt keine einzige Maßnahme, die in Richtung Kinderschutz geht, keine! 

Dazu würde gehören: Prävention von Kindesmisshandlung in all ihren Formen und von häuslicher Gewalt in Verbindung mit „Elternbefähigungsprogrammen“. Dazu würde gehören, dass die Gesellschaft „traumasensibel“ und „traumainformiert“ wird. Das Wissen um Ausmaß und Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen (ACEs) muss gesamtgesellschaftlich zum Allgemeinwissen werden. Alle Menschen sollten darüber aufgeklärt werden, dass Psychotherapien helfen können, die Folgen von traumatischen Erlebnissen abzumildern und sie sollten wissen, wie man an solche Therapieplätze kommt. Der „Kreislauf der Gewalt“ gehört besprochen. Eltern (Elternführerschein?) sollten aufgeklärt werden, welche Verhaltensweisen Kinder schädigen und wie sich dies lebenslang auswirken kann. Eltern sollten darüber aufgeklärt werden, dass eigene destruktive Kindheitserfahrungen oft an die nächste Generation weitergebeben werden. Eltern sollten Hilfsangebote aufgezeigt werden. Alle wichtigen Infos zum Thema Kindesmisshandlung müssen standardmäßig in die Ausbildung von Lehrkräften und ErzieherInnen verankert werden. Und und und….! Es gäbe sooo viel zu tun, was Gewalt und Extremismus den Boden entzieht, aber kein Wort in dem Katalog der Bundesregierung! 

Und: Das schöne ist, dass diese Maßnahmen "nette Nebeneffekte" hätten: z.B. weniger Gesundheitsprobleme, weniger Suchtmittelmissbrauch, weniger Kriminalität und letztlich - das wird die Politik besonders interessieren - weniger gesamtgesellschaftliche Kosten. Eine von der WHO finanzierte Studie aus dem Jahr 2019 kalkuliert die jährlichen Kosten, die auf Grund belastender Kindheitserfahrungen (ACEs) entstehen, auf 581 Milliarden $ in Europa und 748 Milliarden $ in Nord Amerika. Was sind dagegen schon 1 Milliarde Euro aus dem aktuellen Maßnahmenkatalog der Bundesregierung?

Leider ist das gesamtgesellschaftliche Ausblenden von Kindheitserfahrungen meine Dauererfahrung bei dem Thema und gleichzeitig auch mein Antrieb für meine Arbeit in dem Bereich. In meinem Buch habe ich dazu bereits ausführlich etwas im Kapitel „Das große Schweigen“ geschrieben. 

Ein Paradebeispiel ist für mich auch das 2020 vom Bundeskriminalamt herausgebrachte „Handbuch Extremismusprävention“.  In dem über 750 Seiten starken Handbuch gibt es keinen Beitrag, der schwerpunktmäßig auf die familiäre Sozialisation und Kindheit von Extremisten schaut. Und nur in einem einzigen Beitrag (von Brahim Ben Slama) wird dieses Thema überhaupt in den Blick genommen und als mögliche Ursache für eine Radikalisierung verortet; allerdings auch nur mit wenigen, knappen Ausführungen, die im Gesamtkontext nicht ins Gewicht fallen. Der Extremismusforscher und Leiter des Institutes für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), Matthias Quent, hat Ende 2020 das Buch „Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten“ herausgebracht. Keine dieser 33 Fragen richtet sich auf die Kindheit und Familie. Die Frage, woher eigentlich der Hass kommt, wird in dieser Hinsicht nicht von Quent beantwortet. Die Beispiele ließen sich unzählige Male fortführen. 

Es verwundert daher auch nicht, dass die Bundesregierung das Thema „Kindheit und Rechtsextremismus“ nicht auf dem Zettel hat. Sie wird von WissenschaftlerInnen beraten und leider gibt es da in Deutschland keinen Fokus auf die Kindheitsursprünge von Extremismus. Auch die NS-Zeit wurde bisher nicht wirklich umfassend aufgearbeitet, trotz der Ende der 1930er Jahre beginnenden Arbeiten um Horkheimer und seiner „Studien über Autorität und Familie“ und trotz des „Geschwister-Scholl-Preises“ 2001 für Arno Gruen und sein Buch „Der Fremde in uns“. 

Es ist zum Heulen!

Dabei ist das Ganze paradox! Es gibt mittlerweile etliche Forschungsarbeiten, die zentral die familiäre Sozialisation und Kindheit von RechtsextremistInnen in den Blick genommen und hieraus Schlüsse gezogen haben. Ergänzt wird dieses Bild durch einzelne, autobiografische Buchveröffentlichungen ehemaliger RechtsextremistInnen und mehr noch durch Medienberichte über einzelne rechte GewalttäterInnen (siehe auch meinen Blog). Kriminologische SchülerInnenbefragungen runden das Bild ab. Sie zeigen einen Zusammenhang zwischen destruktiver Erziehung und (rechts-)extremistischen Einstellungen auf.

Destruktive, ja oftmals sogar traumatische Kindheitshintergründe scheinen demnach DIE zentrale Gemeinsamkeit von RechtsextremistInnen zu sein. Ihre Kindheitshintergründe ähneln somit eher denen von (gut erforschten) Risikogruppen wie z.B. allgemeinen/unpolitischen (Gewalt-)StraftäterInnen oder PsychiatriepatientInnen.  

Diese „Sehen-Wollen“ und „Erkenntnisse-Sammeln“ bezogen auf die tieferen Ursachen von Gewalt und Extremismus auf der einen Seite (denn die Einzelarbeiten und Einzelstudien gibt es ja!) und dieses fehlende Sprechen darüber, die fehlende Öffentlichkeit, der fehlende Fokus der Wissenschaft und am Ende eben auch die fehlenden, nachhaltigen Maßnahmen auf der anderen Seite sind paradox, aber wahrscheinlich wiederum mit Kindheitserfahrungen zu erklären. Destruktive Kindheitserfahrungen sind derart weit verbreitet und haben unsere menschliche Geschichte stets dominiert, so dass wir nur Stück für Stück und gut dosiert darauf schauen können. Die Gesellschaft als Ganzes muss erst einmal so weit sein, dass sie es auch erträgt, wirklich hinzuschauen. Ich bin mir sicher, dass wir hier in Deutschland auf dem Weg sind. Es wird noch eine Weile, aber nicht mehr ewig dauern, bis der Damm bricht und das Thema breit auf den Tisch kommt, inkl. der psychohistorischen Aufarbeitung der NS-Zeit. Wir kennen das auch aus der Psychoanalyse: Die Wahrheit will einfach an Licht und sich ausdrücken. Dafür brauchen wir einen stabilen Rahmen und auch den Willen. Da sich in Deutschland Kindheit stetig entwickelt hat, friedlicher, gewaltfreier und demokratischer wurde und wird und seit den 1980er Jahren parallel das psychotherapeutische Angebot massiv ausgebaut wurde (und dadurch immer mehr Menschen ihre traumatischen Erfahrungen verarbeiten konnten), werden wir diesen Weg bald gehen können. Ich bin gespannt, wann es so weit ist. Aber, ich bin und bleibe auch sehr ungeduldig und trage meinen Teil zur Aufklärung bei: Steter Tropfen höhlt den Stein


Montag, 23. November 2020

Terror von Links - Die Kindheit von Peter-Jürgen Boock

Peter-Jürgen Boock war das erste (frühere) RAF-Mitglied, mit dem ich mich befasst habe. Ich wurde am 18.10.2007 auf ihn aufmerksam, als ich in dem Sender N-TV eine Dokumentation über den „Terror der RAF“ sah, in der auch Boock interviewt wurde. Er sagte dort aus, dass der Moment der Schleyer-Entführung und nachdem alles so „glatt gelaufen“ wäre, er sich so „lebendig gefühlt“ habe, wie nie zuvor in seinem Leben. Ich hatte damals bereits viel vom dem Psychoanalytiker Arno Gruen gelesen, der immer wieder beschrieben hat, wie sich einige Mörder im Angesicht des Leids anderer Menschen „lebendig“ fühlen. Gruen sah dabei ursächlich einen Zusammenhang zu destruktiven Kindheitserfahrungen. Insofern spekulierte ich alleine auf Grund der o.g. Aussage von Boock schon früh, dass bei Boock wahrscheinlich traumatische Kindheitshintergründe zu finden sind. 

Erstmals bestätigt fand ich diese Vermutung Anfang 2015, was ich in einem Blog-Beitrag kurz ausgeführt hatte. Allerdings gab es bis dahin nur oberflächliche Infos über seine Kindheit. Vertiefende Infos fand ich während meiner Recherchen für mein Buch. Auf Seite 189 habe ich darin kurz die destruktive Kindheit von Boock beschrieben: von der frühen Trennung von seinen Eltern, dem häufigen Alkoholkonsum des Vaters, der dann nicht selten grob wurde (was vermutlich auch Gewalt bedeutete) und von der - auf Antrag der Eltern – Unterbringung des 17-Jährigen Peter-Jürgen in einem geschlossen Jugendheim in Glückstadt, wo die Erzieher, wann immer sich die Gelegenheit bot, ihre Zöglinge mit Gummiknüppeln verprügelten. 

Nach der Buchveröffentlichung fand ich weitere Informationen. Wuschnik schreibt, dass Boock schon früh versuchte, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen (da war er ca. 16 Jahre alt). 1969, nach dem er auf Grund von Drogendelikten in Jugendarrest kam, unternahm er erneut einen Selbstmordversuch (Wunschik, Tobias (1997): Baader-Meinhofs Kinder: Die Zweite Generation der RAF. Westdeutscher Verlag, Opladen, S. 198). Diese Info alleine deutet auf schwere Belastungen hin. Und sie zeigt auch (ganz nach Arno Gruen), wie sehr Hass auf andere Menschen mit Selbsthass zu tun hat. 

Am 19.11.2020 wurde aktuell ein langes und interessantes Interview mit Peter-Jürgen Boock im „ZEIT-Magazin“ (Nr. 48) veröffentlicht. Es tun sich weitere Abgründe bezogen auf die Kindheit von Peter-Jürgen auf. (Ich habe dies, nebenbei bemerkt, schon mehrmals in der Vergangenheit mit Blick auf Massenmörder, Diktatoren oder Terroristen erlebt: Je länger man recherchiert, je mehr man über die Kindheit dieser Leute in Erfahrung bringt, desto schlimmer wird das Gesamtbild, das man erhält. Früher war ich dann immer geradezu platt, weil ich meine Thesen bestätigt fand („Gänsehaut“): „Das gibt es doch gar nicht!“. Heute und beim Fall Boock nehme ich die neuen Infos sehr nüchtern auf: „Natürlich hatte er eine solch schlimme Kindheit! Wie konnte es auch anders sein? Denn als Kind geliebt und geborgen aufgewachsene Menschen werden keine Terroristen!“) 

Hier nun die wesentlichen, neuen Infos aus dem o.g. ZEIT-Magazin-Interview: 

- Seine frühe Kindheit verbrachte Peter-Jürgen auf der Halbinsel Eiderstedt bei seiner Großmutter. Seine Eltern lebten und arbeiteten in Hamburg und kamen nur alle 2-3 Monate mal vorbei. Boock bezeichnet diese Zeit bei der Großmutter als glücklich. Was er im Rückblick übersieht und wohl sicher auch nicht selbst emotional einordnen könnte ist, dass er als kleines Kind einst von den Eltern verlassen wurde. Dies war ganz sicher eine schwere Belastung für das Kind, auch wenn er danach mit der Großmutter eine gute Zeit hatte. 

- Mit 7 Jahren zog er dann zu seinen Eltern nach Hamburg. Dies war wohl ein schwerer Schnitt, nicht nur wegen der Trennung von der Großmutter, denn als Sohn eines Beamten (sein Vater war Berufssoldat) und mit einem von den Eltern aufgezwungenen Anzug, den er tragen musste, wurde er zur Zielscheibe für andere Kinder, die ihn häufig verprügelten oder ihm auflauerten. 

- Mit ca. 10 oder 12 Jahren suchte er sich dann Freunde, die seinen Eltern nicht genehm waren, darunter auch der spätere Chef der Hamburger Hells Angels. Stück für Stück scheint er dann seinen Eltern entglitten zu sein. Auf die Frage, ob er einen brutalen Vater hatte, antwortete Boock: „Ja.“ Ich gehe insofern davon aus, dass der Vater auch Gewalt gegen seinen Sohn anwandte (was sich schon bei meinen vorherigen Recherchen andeutete – siehe oben). 

- Ein extremes Trauma erlebte er im Alter von 12 Jahren. Er besuchte einen Onkel und dessen Bekannter vergewaltigte Peter-Jürgen. Nachdem Peter-Jürgen seinem Onkel alles erzählt hatte, verprügelte dieser den Bekannten. Der Onkel rief auch die Eltern an und erzählte ihnen alles. Seine Eltern, so sagt Boock, reagierten zu Hause im Grunde gar nicht. Die Vergewaltigung und die Folgen daraus wurden totgeschwiegen. Daraufhin wollte Peter-Jürgen nur noch fliehen, was er auch immer wieder tat. 

- Seine Eltern ließen ihn dann zur Fahndung ausschreiben und er kam, nachdem er aufgegriffen worden war, nach Glückstadt in das Jugendheim (wie oben bereits geschildert). Dass in dem Heim Gewalt vorherrschend war, hatte ich ebenfalls bereits berichtet. Neu war für mich noch einmal der blanke Sadismus der Erzieher (laut Boock aggressive, ehemalige Kriegsversehrte und invalide Heringsfischer). Boock bezeichnet die dortigen Methoden als Folter. Die Erzieher stellten sich in zwei Reihen auf und die durchlaufenden Zöglinge wurden dann von beiden Seiten verprügelt. Besonders krass fand ich die Schilderungen über das „Mumienmachen“. Boock dazu: „Man wurde eingewickelt in so Leinenzeug, aus dem Segel gemacht wurde. Das wurde eingepinselt mit so einem Kalkzeug, das wir Zahnpasta nannten. Das zog sich dann langsam zusammen, bis man das Gefühl hatte zu ersticken. Es war grauenhaft. Es ging langsam, 20, 30 Minuten“ (ZEIT-Magazin, 19.11.2020, Nr 48, S. 20) 

- Später kam Peter-Jürgen dann in ein anderes Heim in Rengshausen und wurde auch dort gleich in einen Strafbunker gesteckt. Aus diesem Heim heraus wurde er dann von Baader, Ensslin und Proll quasi "rekrutiert". 

An dieser Stelle wird auch noch einmal die Bedeutung des Zufalls deutlich, etwas, was ich in meinem Buch bei der Genese von Tätern oder auch Terroristen sehr betont habe. Boock selbst sagt in dem Interview, dass er, wenn seine Eltern ihn nicht zur Fahndung ausgeschrieben hätten und er folglich nicht im Heim gelandet wäre, evtl. Konzertveranstalter geworden wäre, wie so viele der jungen Ausreißer, mit denen er damals in Holland in einer Kommune lebte. 

Natürlich wird nicht aus jedem misshandelten und traumatisierten Kind später ein Terrorist! Bei Boock kam der Zufall bzw. die Begegnung mit Baader & Co. dazu, ebenso der Zeitgeist und die damalige Stimmung im Land. Der Fall Boock zeigt aber, wie so viele andere auch (inkl. Boock habe ich mittlerweile die destruktiven Kindheiten von 16 RAF-TerroristInnen skizziert: siehe dazu in Dynamische Psychiatrie, Vol. 53 (2020), Heft 2-3 bzw. in meinem Buch und hier im Blog), dass destruktive Kindheitshintergründe die Wurzeln des Übels sind. Mit Blick auf seinen Fall kann man auch zugespitzt sagen, dass die Gesellschaft erntet, was sie sät. Die Gesellschaft steht in der Verantwortung, Kinder vor Gewalt und Übergriffen zu schützen und Hilfen anzubieten, wenn dieser Schutz nicht gelingen konnte. Wer wundert sich ernsthaft, wenn solch traumatisierte Menschen später Unheil bringen können? 

Boocks Kindheit soll und kann trotz allem nichts entschuldigen! Das werde ich nicht müde zu betonen. Wenn man das ganze Interview im ZEIT-Magazin ließt, wird allerdings auch deutlich, dass dieser Mensch auch durch seine Taten sich selbst und sein Leben bestraft und schwer belastet hat. Eigene Taten können weitere Traumatisierungen auch für die Täter bedeuten. Im Fall Boock wird dies mehr als deutlich.