Ich habe eine
weitere Studie ausgewertet, die die deutsche Erziehungspraxis Anfang bis Mitte des
20.Jahrhunderts beleuchtet:
Pipping, Knut /
Abshagen, Rudolf / Brauneck, Anne-Eva (1954): Gespräche mit der Deutschen
Jugend. Ein Beitrag zum Autoritätsproblem. Helsingfords.
Insgesamt wurden
444 junge Menschen im Alter zwischen 18 und 22 Jahren zwischen Mitte1950 und
Anfang 1951 in ausführlichen, offenen Interviews befragt. Entsprechend
entstammten die Befragten den Geburtsjahrgängen zwischen ca.1928 und 1932. Die
Befragungen fanden in Niedersachen, Unterfranken und in Baden statt, jeweils
entsprechend verteilt auf drei Großstädte, drei Mittelstädte und Landkreise. Die
meisten Befragungen fanden in Schulen oder sonstigen öffentlichen Gebäuden
statt (ca. 60 %).
Ich möchte vorweg
eine Passage zitieren: „Demütigungen
aller Art hatten wir in Kauf zu nehmen. Selbst die Verweisung aus der Wohnung
mussten die Interviewer einfach überhören, um schließlich doch noch eine
Befragung zustande zu bringen. Die Unwürdigkeit und Peinlichkeit solcher
Situationen, die Unfreundlichkeit und Sturheit der Ablehnungen wurden von
manchen weiblichen Interviewern gegen ihre rational bessere Einsicht immer
wieder als Kränkung erlebt.“ (S.37)
Es war offensichtlich nicht leicht, innerhalb der deutschen Familien
Befragungen über Kindheit, Jugend,
Familienatmosphäre, Erziehungsstil, politische Einstellungen usw.
durchzuführen. Insofern möchte ich hier erwähnen, dass es 34,9 % Ausfälle gab
(insgesamt wurden 682 Jugendliche aufgesucht), von denen 24,4 % durch Weigerung
der Eltern, Weigerung des Probanden oder dessen wiederholtem Nichterscheinen
zum vereinbarten Interview zu Stande kamen. In wieweit dies das Ergebnis
verzerrte bleibt allerdings Spekulation.
Und noch ein Zitat,
das mir wichtig erscheint und für sich spricht: „Im ganzen gesehen war die Haltung der Jugend selbst
allerdings durchaus positiv. Oft kam unsere Befragungsmethode sogar einem echten
Bedürfnis nach menschlicher Aussprache entgegen. Für viele Probanden war es
offensichtlich das erste Mal, dass sich ein Erwachsener so ernst und
unvoreingenommen für ihre persönlichen Angelegenheiten interessierte. (…) Nicht
selten wurden die Interviewer von den Probanden um Rat und Hilfe in ihren
persönlichen Nöten gebeten.“ (S.49)
Die für mich
wichtigsten Ergebnisse:
Körperliche
Züchtigungen durch Lehrer
4,7 % erlebten
besonders brutale oder harte körperliche Züchtigungen (Mädchen fast doppelt so
häufig wie Jungen)
38,4 % erlebten
körperliche Züchtigungen (Jungen mit 44,9 % häufiger als Mädchen mit 29,5 %)
58,8 % erlebten
keine Züchtigungen
36 Einstellungen
der Eltern als Erzieher wurden genannt. Die am Häufigsten genannte Einstellung
war mit 301 Nennungen ( 67,79 % der Befragten) „Unbedingten Gehorsam fordern“
Strafverhalten der
Eltern (ausgesuchte Beispiele):
28 verschiedene
Strafformen wurden insgesamt erfasst. Wobei man vorweg darauf hinweisen muss,
dass pro Befragten nur vier verschiedene Aussagen (!) zum Strafverhalten
aufgenommen werden konnten. Pro Befragten wurden im Schnitt 2,64 Strafformen
angegeben.
Am Häufigsten genannte
wurden „Schwere körperliche Züchtigungen“ , mit 326 Nennungen, sprich 73,4 %
der Befragten erlebten schwere Züchtigungen. Jungen erlebten dies deutlich
mehr, nämlich ca. 85 % während Mädchen zu ca.62 % betroffen waren.
Auf Platz zwei der
List stehen die „leichten körperlichen Züchtigungen“, mit 186 Nennungen, sprich
41,9 % der Befragten. Wobei hier die Mädchen etwas häufiger betroffen waren,
als die Jungen.
7,9 % berichteten
von schwerem Schimpfen
7,4 % berichteten
von qualifizierter körperlicher Züchtigung (worunter Züchtigungen „mit Hilfe
irgendwelcher Werkzeuge“ verstanden wurde)
4,95 % berichteten von
langandauerndem Liebesentzug
Leider lässt sich
aus den Zahlen nicht ablesen, wie viel Prozent der Befragten keine körperliche
Elterngewalt erlebt haben. Es lässt sich aber an Hand der Zahlen schätzen, dass
wohl nur ein sehr geringer Teil überhaupt keine körperliche Gewalt erlebt hat.
73,4% schwere Züchtigungen sind ja belegt, dazu kommen die Befragten, die nur leichte Züchtigungen oder ggf. auch nur
qualifizierte Züchtigungen angaben. Insofern werden mit Sicherheit weit über 80
% von körperlicher Elterngewalt betroffen gewesen sein. Da die Befragungen in
offenen Interviews durchgeführt wurden und die entsprechende Leitfragen für die
Interviewer lauteten „Wie wurden Sie von Ihren Eltern gestraft?“und „Gab es auch andere Strafen als Schläge?“, ist
zudem das Ergebnis bzgl. der „qualifizierten Züchtigungen (also mit einem
Gegenstand) ebenso fragwürdig. Die Studie von Hävernick zeigte, dass Schläge
mit Gegenständen weit verbreitet waren. Hävernick hatte allerdings innerhalb
der Studie auch das Ziel, konkrete Angaben dazu zu bekommen und hat sogar
diverse Gegenstände, die für Schläge benutzt wurden, unterschieden. Pipping und
seine Mitarbeiter haben erstens allgemeiner gefragt und zweitens war die Studie
nicht auf das Strafverhalten der Eltern konzentriert, letzteres war nur ein
Teilaspekt.
Leider wurden wie
gesagt auch nur vier Antwortmöglichkeiten bzgl. der Strafformen pro Befragten
mit einbezogen. Insofern weisen die Autoren darauf hin, dass andere Strafformen
(z.B. emotionaler Art) wohl ebenfalls in einem hohen Ausmaß vorkamen, diese
aber in ihrer Häufigkeit auf Grund der genannten Einschränkung nicht wirklichkeitsnah erfasst wurden. Insofern
wurde hier leider eine Chance verpasst, das Strafverhalten umfassend
darzustellen.
Pipping hat zudem
etliche Angaben über politische Einstellungen, Autoritätshörigkeit usw. erfragt
(die ich hier nicht alle wiedergeben kann) und schreibt in der Zusammenfassung:
„Die Haltung eines jungen Menschen zu den verschiedenen Autoritäten scheint in
einem bestimmten Zusammenhang mit den menschlichen Verhältnissen seines
Elternhauses zu stehen. Autoritär erzogene neigen offenbar mehr dazu, sich auch
Autoritäten auf anderen Lebensgebieten zu unterwerfen.“ (S. 420) Nachdem er
weiter auf die Rolle der Eltern eingegangen ist und u.a. die Auswirkungen
fehlender mütterlicher Wärme bespricht schreibt er seinen letzten Satz: „Gerade
die Verarmung des Gefühlslebens scheint aber ein spezifischer, wenn nicht der
entscheidende Zug der „autoritären Persönlichkeit“ zu sein.“ (S. 421)
Lieber Sven!
AntwortenLöschenDein Blog ist ja die reine Wohltat! Seit Alice Millers Büchern selbst habe ich nicht mehr so das Gefühl gehabt, dass mir jemand so aus der Seele spricht.
Ich schreibe gerade selbst an einer Diplomarbeit (Psychologie) über "das Selbstverständnis von Eltern im Bezug auf Kontrolle und Kontrollverlust in schwierigen Erziehungssituationen" - komplizierter Titel :-)
Aber ich glaube, Du bist ja dermaßen gut informiert, dass ich Dir mit meinen bescheidenen Beitrag vermutlich nicht viel Neues erzählen könnte.
Jedenfalls ein wichtiger und hoffentlich oft gelesener Blog!
WEiter so !!!
Alexandra