Es ist erstaunlich. Wenn man um das weiß, was Kindern auch heute noch in vielen Teilen der Welt durch ihre Eltern angetan wird, so dass manchmal der Begriff „Kindesmisshandlung“ schon zu milde ist, dann bekommt man einen anderen Blick auf Berichte, die sich mit politischen und sozialen Entwicklungen befassen. Einen solchen Bericht las ich kürzlich auf Welt-Online unter dem Titel „Sagt endlich, dass Mao der größte Massenmörder war“.
In dem Artikel ließt man u.a. diese Passage:
„Eine Hauptwaffe der Kader war der Nahrungsentzug; da es außerhalb der Volksküchen nichts zu essen gab, war dieses Mittel leicht einzusetzen. Aber die schiere, brutale Gewalt war so allgegenwärtig wie der Hunger: Menschen wurden wegen geringster Vergehen mit Peitschen und Knüppeln traktiert, verstümmelt, lebendig begraben, mit gebundenen Händen und Füßen in Teiche geworfen, mit siedendem Wasser übergossen, in der Kälte nackt ausgezogen oder gezwungen, barhäuptig in der Gluthitze auszuharren. Man zwang Menschen, Urin zu trinken und Exkremente zu essen. Dikötter schätzt, dass von den 45 Millionen Toten des "Großen Sprungs" mindestens 2,5 Millionen durch brutale Misshandlung und Folter starben. Unter ihnen waren auch Kinder, Greise und schwangere Frauen.“
All diese „politische“ Gewalt - die ja übrigens schon auf Grund der Zahlen deutlich macht, dass unzählige „ganz normale“ Chinesen zu Massenmördern wurden – findet man genau in den beschrieben Ausformungen als Gewalt gegen Kinder; vor allem auch, je weiter man in der Geschichte zurückschaut, aber auch heute noch, auch bei einer Minderheit von Eltern in Deutschland (Ich arbeite gerade das Buch Deutschland misshandelt seine Kinder der Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Gudda durch, die in ihrem Buch erschreckende Fallbeispiele vorstellen und dabei – was sie in Interviews erklärt haben – noch eher die weniger grausamen Fälle ausgesucht haben, weil diese den Lesenden nur schwer zuzumuten seien...).
Die zitierte Passage erinnerte mich zwangsläufig an psychohistorische Texte, die sich z.B. auf die mittelalterlichen Erziehungspraktiken in Europa beziehen.
Dass Menschen, die sich mit dieser politischen Gewalt wie im Welt-Artikel berichtet, befassen, i.d.R. keinen Zusammenhang zur Kindesmisshandlung erkennen, beruht darauf, dass sich 1. viele Menschen nicht annäherungsweise vorstellen können, welch folterähnliche Erziehungspraktiken durch Eltern angewandt werden und dass weltweit Eltern oftmals die größte Gefahr für Kinder darstellen und dass 2. oft die Zahlen über das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder gänzlich unbekannt und nicht bewusst sind.
Ein aktueller Lagebericht bzgl. der Gewalt gegen Kinder in China zeigt, dass in China immer noch hohe Raten an Gewalt festzustellen sind und elterliche Gewalt auch weiterhin legal ist. Die Zahlen in China sind allerdings schon fortschrittlicher, als die, welche man z.B. im Nahen Osten finden kann. Die Gewaltexzesse in China um 1960 wurden von Geburtsjahrgängen (ca. 1900-1940) angeordnet und ausgeführt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit weit aus destruktivere Kindheiten durchmachen mussten, als die Kinder im heutigen China.
Zuletzt noch der Hinweis auf die Kindheit von Mao selbst, die ich ausführlich besprochen habe und die voller Gewalt und Demütigungen war: http://kriegsursachen.blogspot.de/2008/10/31-ein-kurzer-abriss-ber-diktatoren-und.html
Das weltweite, enorme Ausmaß vielfältiger Gewalt gegen Kinder und die An- oder auch Abwesenheit von Mitgefühl sind für mich zentrale Aspekte der Kriegsursachen-/Extremismusforschung, denen ich hier nachgehen möchte. Meine Grundfrage lautet: Wie politisch war und ist Kindheit?
Mittwoch, 26. Februar 2014
Montag, 24. Februar 2014
Gewalt gegen Kinder in Deutschland in Zahlen. 1910 bis heute
- zuletzt aktualisiert am 18.09.2015 -
In diesem Beitrag möchte ich alle bis heute von mir gefundenen Studien zusammenfassen, die sich mit dem Ausmaß an (vor allem körperlicher) Gewalt gegen Kinder in Deutschland befassen. Einige Studien geben auch Aufschluss über psychische Gewalt und Vernachlässigung. Den Bereich Sexueller Missbrauch werde ich noch einen Extrabeitrag widmen, da es dazu etliche Einzelstudien gibt (nur bei zwei Studien habe ich unten die Zahlen dazu mit angegeben).
Vorab werde ich die für mich eindrucksvollsten Zahlen kurz hintereinander aufführen: Die Entwicklung der Gewaltfreiheit (nur körperliche Gewalt) in der Erziehung (Die lange Besprechung diverser Studien folgt dann im Anschluss. ) Ich habe für diese Vorabansicht nur Studien aufgeführt, bei denen die Geburtsjahrgänge aufgeführt sind. Einzelne andere Studien werden erst in der Langfassung besprochen. Die nachstehenden Zahlen zeigen eindrucksvoll eine Revolution der deutschen Kindererziehung. Aus einer Minderheit von Kindern, die ohne körperliche Elterngewalt aufwachsen durften, ist mittlerweile eine Mehrheit geworden. Eine bahnbrechende Entwicklung, ohne historisches Beispiel in Deutschland!
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Vorab habe ich versucht, diese Entwicklung in einem Diagramm anschaulich darzustellen. Für das Diagramm habe ich die Daten von Hävernick (1970), Pipping, Abshagen & Brauneck (1954), Wetzels (1997) und Hellmann (2014) genutzt; die beiden letzen Studien sind direkt miteinander vergleichbar, die beiden Ersteren nicht, allerdings zeigen die beiden Ersteren als einzige deutsche Studien Daten zwischen 1910 und 1932 auf, deswegen habe ich sie aufgenommen:
Links jeweils die Geburtsjahrgänge und
rechts die Prozent, die nie körperliche Elterngewalt als Kind erlebt haben:
Hävernick (1970) (nur Hamburg)
1910-1939 = 11 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
ca. 1940-1950 = 15-20 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
Pipping, Abshagen & Brauneck (1954)
ca.1928 und 1932: Hoch angesetzte 20 % (vermutlich aber deutlich weniger) erlebten keine körperliche Elterngewalt (Schätzung, da in der Studie Mehrfachnennung vom Erleben unterschiedlicher Schweregrade möglich waren und nicht erfasst wurde, wie viel Befragte nie Gewalt erlebt haben)
Wetzels (1997)
1933-1942 = 22,9 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
1943-1952 = 22,8 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
1953-1962 = 23,1 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
1963-1971 = 29,1 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
1972-1976 = 30,5 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
BMI und KFN (2009)
ca. 1992-1993 = 42,1 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
Ziegler (2013)
1997-2007 = 72 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
Weller (2013) (nur Ostdeutschland)
1971-1974 = 53 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
1993-1996 = 77 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
Hellmann (2014)
ca. 1971 - 1980 = 44,9 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
ca. 1981 - 1990 = 53,6 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
ca. 1991 - 1995 = 61,7 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
ca. 2007* = ca. 78 % erlebten keinerlei körperliche Elterngewalt
* Besonderheit bei Hellmann (2014): Innerhalb der großen Studie wurde eine Gruppe von 1.586 Befragten, die mit Kindern (eigenes, Pflegekinder etc.) unter 18 Jahren in einem Haushalt lebten, gesondert zu eigenem Gewaltverhalten gegen das eigene Kind befragt. Ca. 78 % hatten bis zum Zeitpunkt der Befragung noch nie körperliche Gewalt angewandt. Die Befragten waren im Schnitt ca. 33 Jahre alt (Geburtsdatum im Schnitt ca. 1978). Da aktuell Frauen in Deutschland ihr erstes Kind im Schnitt im Alter von 29 Jahren bekommen, betrifft die o.g. Zahl von 78 % entsprechend die Kinder, die um das Jahr 2007 geboren worden sind. Entsprechend nehme ich dieses Geburtsdatum in die o.g. Aufzählung auf. Die Zahl ist abgegrenzt zu sehen, da sie im Gegensatz zu den anderen o.g. Zahlen weder exakt ist, noch sich auf eigene Opfererfahrungen bezieht, sondern auf Angaben der Eltern beruht. Die Studien von Ziegler (2013) und Weller (2013) zeigen ergänzend, dass diese von Hellmann (2014) erfassten ca. 78% keine Luftnummer ist, sondern höchst wahrscheinlich in die richtige Richtung zeigt.
Eine weitere Studie - Bussmann, Erthal und Schroth (2009) - möchte ich hier gesondert vorstellen, da hier nur Eltern zu eigenem Gewaltverhalten (körperlich und psychisch) aber auch eigenen Gewalterfahrungen befragt wurden.
Eigenes erlebter gewaltfreier Erziehungsstil (Hinweis: Keinerlei körperliche Gewalt und keine psychischen Bestrafungen) der befragten Eltern nach Jahrgängen (in Klammern gewaltfreie Erziehung der eigenen Kinder):
Vor 1962 = 9,2 % (22,4%)
1962-1967 = 9,5 % (26,9 %)
1968-1973 = 13,2 % (31,6%)
1973-1978 = 13,3% (28,4 %)
ab 1979 = 14,1 % (35,3 %)
Zwischenfazit:
Dieser Positivtrend ist erfreulich und steht allen Schreckensmeldungen - vor allem in den Medien - bzgl. einem angeblichem Mehr an Fehlverhalten und (elterlicher) Gewalt gegen Kinder entgegen. Die Kindheit in Deutschland wird Stück für Stück immer gewaltfreier. Dies kann mensch einfach mal so stehen lassen und sich auch einmal – mit dem Blick auch den historischen Verlauf von Kindheit – freuen. Nach diesem Optimismus folgen jetzt in diesem Text die Zahlen zum Ausmaß und auch zur Schwere der Gewalt gegen Kinder in Deutschland im historischen Verlauf. Diese Zahlen sind natürlich erschreckend, trotz des Positivtrends.
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Die erste mir bekannte Studie, die zahlenmäßig versucht hat zu erfassen, wie viel Prozent der Deutschen als Kind körperliche Gewalt erfahren haben und dabei auch Geburtsjahrgänge bis hin in das Jahr 1910 erfasst hat, stammt von dem Volkskundler Walter Hävernick (1970). Diese Studie habe ich ausführlich hier besprochen.
Für die Geburtsjahrgänge 1910-1939 wurden Daten von 97 Hamburger Familien gesammelt.
11 % erlebten nie Schläge in ihrer Familie
89 % erlebten Schläge (davon 16 % mit einer Peitsche)
49 % erlebten Schläge mit dem Rohrstock
Weitere Befragungen ergaben für die Geburtsjahrgänge ca. 1940-1950, dass ca. 80-85 % elterliche Schläge erlebten. Der Einsatz von Gegenständen wie dem Rohrstock (ca. 30 %) und vor allem auch der Peitsche (deutlich unter 5 %) war bereits rückläufig.
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Pipping, Abshagen & Brauneck (1954) haben 444 junge Menschen im Alter zwischen 18 und 22 Jahren der Geburtsjahrgängen zwischen ca.1928 und 1932 befragt. (Ausführlich von mir hier besprochen.)
„Schwere körperliche Züchtigungen“ erlebten 73,4 % der Befragten (Jungen erlebten dies deutlich mehr, nämlich ca. 85 % während Mädchen zu ca.62 % betroffen waren.)
„Leichte körperliche Züchtigungen“ erlebten 41,9 % der Befragten. Da Mehrfachnennungen möglich war (bzw. die Studie nicht ausgewiesen hat, wie viel Prozent keine körperliche Gewalt erlebt haben), gehe ich davon aus, dass mindestens 80 % körperliche Gewalt erlebt haben. .
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Eine bundesdeutsche Repräsentativstudie, die 1992 durchgeführt wurde, kam zu folgenden Ergebnissen: 74,9 % der Befragten gaben an, in ihrer Kindheit körperliche Gewalterfahrungen seitens ihrer Eltern erlebt zu haben. 38,4 % wurden häufiger als selten körperlich gezüchtigt. elterliche Misshandlungen erlebten 10,6 %, 4,7 % häufiger als selten. (Wetzels 1997, S. 146+151).
Wetzels hat innerhalb der Studie auch nachgewiesen, dass körperliche Elterngewalt abnimmt. Von den befragten 16- bis 20-Jährigen (Geburtsjahrgang 1972-1976) hatten 30,5 % nie Gewalt erlebt, von den 21-29-Jährigen (Jahrgang 1963-1971) 29,1 %, von den 30-39-Jährigen (Jahrgang 1953-1962) 23,1 %, von den 40-49-Jährigen (Jahrgang 1943-1952) 22,8 % und von den 50- bis 59-Jährigen (Jahrgang 1933-1942) 22,9 % (Wetzels 1997, S. 151). Die Misshandlungsrate ist allerdings nicht derart deutlich gesunken. Von dem jüngstem Jahrgang 1972-1976 erlebten 9,4 % Misshandlungen, der älteste Jahrgang 1933-1942 11,2 % .
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Ein Vergleich zwischen drei großen Jugendstudien (jeweils 1992, 2002 und 2005) zeigt, dass ca. 30 % (jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 29,6 % und 32 %) der Jugendlichen gewaltfrei (keine körperliche Gewalt und keine psychischen Bestrafungen) erzogen wurden. Die große Mitte sind die konventionell erzogenen, die leichte körperliche Bestrafungen und andere Sanktionen erfahren haben und in deren Erziehung weitgehend auf schwere körperliche Gewalt verzichtet wurde (36,4 %, 51,2 % und 46,7 %). Eine gewaltbelastete Erziehung (diese Gruppe weist bei allen Sanktionsarten – inkl. psychischer Gewalt – eine überdurchschnittlich hohe Häufigkeit auf, insbesondere auch schwere Körperstrafen) erlebten jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 19,3 % und 21,3 % (Bussmann 2007, S. 18).
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Eine aktuellere repräsentative Schülerbefragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) ergab, dass 42,1 % der Befragten (Jahrgang ca. 1992-1993) über keinerlei gewalttätige, körperliche Übergriffe der Eltern berichteten. 42,7 % erlebten leichte körperliche Gewalt. Insgesamt 15,3 % der Befragten geben an, vor ihrem zwölften Lebensjahr schwerer Gewalt durch Elternteile ausgesetzt gewesen zu sein; von diesen können – laut Definition der Studie –9 % als Opfer elterlicher Misshandlung in der Kindheit bezeichnet werden (BMI und KFN 2009, S. 52).
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Für die „Gewaltstudie 2013“ – unter der Leitung des Bielefelder Erziehungswissenschaftlers Holger
Ziegler (2013) - wurden 900 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 16 Jahren (entsprechend Geburtsjahrgänge ca. 1997-2007) aus Köln, Berlin und Dresden befragt.
Insgesamt 22,3% wurden von Erwachsenen oft oder manchmal geschlagen, also erleben 77,7 % keine Gewalt. Allerdings zeigt die Aufschlüsselung in „Kinder ab sechs Jahre“ (28 % wurden geschlagen) und „Jugendliche ab12 Jahren“ (16,6 % wurden geschlagen), dass die Rate bzgl. Gewalterfahrungen in der Kindheit höher liegt, Insofern kann festgehalten werden, dass 72 % der Kinder keine elterliche Gewalt erlebten.
Knapp 5% gaben an, zumindest manchmal von Erwachsenen so geschlagen zu werden, dass sie blaue Flecke hatten. (was insofern als Misshandlung anzusehen ist.) Von diesen Erfahrungen berichten jüngere Kinder (bis 11 Jahre) etwas häufiger als Jugendliche (6,7% vs. 3,5%).. Insofern gehe ich hier von einer Misshandlungsrate von 6,7 % in der Kindheit aus.
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Im Jahr 2012 - Weller (2013) - wurden 862 junge Menschen im Alter von 16 bis 19 Jahren (Geburtsjahrgänge 1993-1996) in Ostdeutschland repräsentativ befragt. Ergebnis u.a.: 77 % gaben an, noch nie von ihren Eltern geschlagen worden zu sein (23 % wurden demnach geschlagen). Interessant ist auch, dass die Daten mit denen der Studie "Partner 3" aus dem Jahr 1990 verglichen wurden. 1990 gaben nur 53 % an, nie geschlagen worden zu sein.
Während 1990 30% ihren Vater als uneingeschränkt liebevoll erlebten, sind es jetzt 42%, hinsichtlich der Mutter sagten das 1990 53%, 2013 65%
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Die Studie von Hellmann (2014) habe ich gesondert ausführlich besprochen:
- Aktuelle KFN Studie über Gewalt gegen Kinder in Deutschland: Auf dem Weg zur gewaltfreien Gesellschaft
Ergänzend habe ich von Frau Hellmann Daten bzgl. der Häufigkeit der Gewalthandlungen genannt bekommen. Diese habe ich gesondert und ausführlich besprochen:
- Wie häufig und in welchen Schweregraden erleben Kinder in Deutschland körperliche Elterngewalt?
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Ende 2007 - Bussmann, Erthal & Schroth (2009) -wurden 1000 Eltern, die mit mind. einem Kind/Jugendlichen unter 18 Jahren zusammenleben, befragt. (Ich gehe davon aus, dass das Kind der Befragten mindestens 2 Jahre alt ist, insofern gelten hier die Geburtsjahrgänge 1990-2005. Ich vermute allerdings auch, dass eher Eltern mit etwas älteren Kindern befragt wurden, so dass sich die Geburtenjahrgänge eher weniger auf den Bereich um 2005 finden.)
68,4 % berichteten über Schläge auf den Hintern, 42,6 % von einem leichten Schlag ins Gesicht, 16,8 % versohlten den Hintern, 12,7 % verteilten schallende Ohrfeigen, 5,2 % schlugen mit Gegenständen und 9 % misshandelten ihre Kinder. Es ist interessant, dass die Eltern von mehr leichter Gewalt berichten (bei der schweren Gewalt stimmen die Zahlen wieder ungefähr überein), als befragte junge Menschen über eigens erlittene Gewalt. Ich vermute daher, dass die Zahl von 68,4 % Schlägen auf den Po durch so einige Eltern entstanden ist, die sehr seltenes, vielleicht sogar einmaliges (leichtes) Gewaltverhalten gegen das Kind berichtet haben, was diese Kinder im Rückblick gar nicht mehr erinnern, weil die Erziehung ansonsten gewaltfrei war.
An dieser Studie ist besonders interessant, dass die Eltern in Geburtenjahrgänge aufgeteilt wurden und sie auch zu eigenen Gewalterfahrungen befragt wurden. In der Studie wurden zusätzlich zu der körperlichen Gewalt auch psychische Bestrafungsformen abgefragt. Anschließen wurden drei Kategorien für die Kindererziehungspraxis gebildet. Die gewaltfreie Erziehung, die konventionell Erzogenen und die gewaltvolle Erziehung. Für den Vergleich der Geburtenjahrgänge wurde jeweils nur die gewaltfreie Erziehung (ohne jegliche körperliche Gewalt und psychische Bestrafungen) der besonders gewaltvollen Erziehung (Psychische Bestrafungen und mehr als einmal schwere körperliche Gewalt wie Misshandlung, Schläge mit Gegenständen und schallende Ohrfeigen) gegenübergestellt. Die älteste Elterngeneration (Geburtsjahrgänge vor 1962) erlebte die meiste schwere Gewalt und übte ihrerseits auch den selben Erziehungsstil häufiger bei eigenen Kindern an, als die jüngere Generation.
Eigenes erlebter gewaltvoller Erziehungsstil der befragten Eltern nach Jahrgängen (in Klammern die selbe gewaltvolle Erziehung der eigenen Kinder):
Vor 1962 = 55,5 % (18,8 %). 1962-1967 = 54,6 % (14,5%). 1968-1973 = 45,1 % (8,2%), 1973-1978 = 45,2% (14,1 %), ab 1979 = 38,1 % (12,8%)
Eigenes erlebter gewaltfreier Erziehungsstil (ohne jegliche körperliche Gewalt und psychische Bestrafungen) der befragten Eltern nach Jahrgängen (in Klammern gewaltfreie Erziehung der eigenen Kinder:
Vor 1962 = 9,2 % (22,4%). 1962-1967 = 9,5 % (26,9 %). 1968-1973 = 13,2 % (31,6%), 1973-1978 = 13,3% (28,4 %), ab 1979 = 14,1 % (35,3 %)
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Für eine große Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurden 10.264 Frauen im Alter von 16 bis 85 Jahren 2003 bzgl. diversem Gewalterleben und belastenden Erfahrungen befragt. Merkwürdig ist, dass über elterliche Gewalt in der Hauptuntersuchung nur sehr im Text versteckt berichtet wurde und dieses Gewalterleben im Inhaltsverzeichnis gänzlich gar nicht zu finden ist, obwohl diese Gewalt Menschen wesentlich prägt. Ausführlich fand ich die Ergebnisse nur in einem abgetrennten Teil der Studie - Schröttle & Müller (2004), S. 78-81 -, für den Prostituierte gesondert befragt wurden. Deren Berichte über elterliche Gewalt wurden mit den Berichten aus der Hauptuntersuchung verglichen. Somit konnte ich folgende Daten aufnehmen, die repräsentativ für die deutsche Frauenbevölkerung sind:
18 % hatten in ihrer Kindheit körperliche Übergriffe zwischen den Eltern/Pflegeeltern miterlebt.
63 % erlebten körperliche Züchtigungen durch Eltern/Pflegepersonen, 20 % sogar häufig oder gelegentlich.
8% gaben an, sie seien häufig oder gelegentlich von den Erziehungspersonen lächerlich gemacht oder gedemütigt worden
10% sagten sie seien häufig oder gelegentlich so behandelt worden, dass es seelisch verletzend war
11%, sie seien häufig oder gelegentlich niedergebrüllt worden
17%, sie seien häufig oder gelegentlich leicht geohrfeigt worden
6%, sie hätten häufig oder gelegentlich schallende Ohrfeigen mit sichtbaren Striemen bekommen
20%, sie hätten häufig/gelegentlich einen strafenden Klaps auf den Po bekommen
10%, sie hätten häufig/gelegentlich mit der Hand kräftig den Po versohlt bekommen
3%, sie seien häufig/gelegentlich mit einem Gegenstand auf den Finger geschlagen worden
6 %, sie seien häufig/gelegentlich mit einem Gegenstand kräftig auf den Po geschlagen worden
5%, sie hätten häufig/gelegentlich heftige Prügel bekommen
Insgesamt berichteten 10 % über mindestens eine Form von sexuellem Missbrauch vor dem 16. Lebensjahr.
8% berichteten in ihrer Kindheit und Jugend durch eine erwachsene Person sexuell berührt oder an intimen Körperstellen angefasst worden zu sein
3% sind gezwungen worden, die erwachsene Person an intimen Körperstellen zu berühren
1% sind gezwungen worden, sich selbst an intimen Körperstellen zu berühren
2% wurden zum Geschlechtsverkehr gezwungen und ebenfalls 2% wurden zu anderen sexuellen Handlungen gedrängt oder gezwungen
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In Anlehnung an die vorgenannte Studie bzgl. der Frauengesundheit wurden für eine Pilotstudie - Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004) - 266 Männer (die Studie ist somit nicht repräsentativ) im Jahr 2003 ausführlich befragt. Bzgl. dem Gewalterleben in Kindheit/Jugend ausgeübt durch Eltern/Elternfiguren wurden drei Altersgruppen gebildet: „18-35 Jahre“, „36 bis Ruhestand“ (also ca. bis zum 65. Lebensjahr) und „im Ruhestand“; insofern wurden die Geburtsjahrgänge „1968-1985“, „ca. 1938- 1967“ und „vor ca. 1937“ erfasst.
Es gibt dabei deutliche Unterschiede im (körperlichen) Gewalterleben der jüngsten Generation und den beiden älteren Gruppen. Wobei die älteste Gruppe wiederum über deutlich weniger Gewalt berichtet, als die mittlere. Dazu haben die Autoren der Studie u.a. geschrieben: „Es ist anzunehmen, dass die Nennungen jedoch um so mehr unter den realen Erlebnissen zurückbleiben, je mehr sie im historischen und milieuspezifischen Kontext als „übliches Erziehungsverhalten“ akzeptiert sind und damit in der „Normalität“ bzw. Alltäglichkeit verborgen sind.“ (S. 73) Sprich sie zweifeln die wahre Erfassung des Ausmaßes der Gewalt bzgl. den älteren Jahrgängen an. Vielleicht sollte noch erwähnt werden, dass die Teilnehmer per Interview befragt wurden und ältere Männer sich vielleicht besonders schwer damit tun, elterliche Gewalt gegenüber einem direkten Befrager auch als solche zu benennen.
Hier nun die Ergebnisse (in Klammern jeweils die Geburtsjahrgänge „1968-1985“, „ca. 1938- 1967“ und „vor ca. 1937“
leicht geohrfeigt = 65,8 %, 77,8 %, 69,2 %
strafender Klaps auf den Po = 67,1 %, 77,8 %, 67,0 %
mit der Hand kräftig den Po versohlt = 25,0 %, 57,6 %, 41,8 %
mit Gegenstand kräftig auf den Po geschlagen = 21,1 %, 43,4 %, 40,7 %
mit Gegenstand auf die Finger geschlagen = 6,6 %, 24,2 %, 41,8 %
schallende Ohrfeigen mit sichtbaren Striemen = 19,7 %, 36,4 %, 19,8 %
heftige Prügel = 10,5 %, 25,3 %, 19,8 %
lächerlich gemacht, gedemütigt = 52,6 %, 55,6 %, 33,0 %
niedergebrüllt = 52,6 %, 49,5 %, 29,7 %
so behandelt, dass es seelisch verletzend war = 40,8 %, 45,5 %, 25,3 %
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Eine weitere repräsentative Studie - Häuser, Schmutzer, Brähler & Glaesmer (2011) - befasst sich vornehmlich mit schwereren Gewalterfahrungen (vor allem „körperliche Züchtigungen“ sind auf Grund der Fragestellungen nicht erfasst worden), die wiederum in die Kategorien „gering bis mäßig“, „mäßig bis schwer“ und „schwer bis extrem“ eingeteilt wurden. Die Studie wurde im April 2010 durchgeführt und es konnten die Daten 2.504 Personen (über 14 Jahre bis über 60 Jahre alt) ausgewertet werden.
Einige Ergebnisse:
15,0 % der Personen der Gesamtstichprobe berichteten über emotionalen Missbrauch
12,0 % über körperlichen Missbrauch bzw. Misshandlungen
12,6 % über sexuellen Missbrauch
49,5 % über emotionale und 48,4 % über körperliche Vernachlässigung
1,6 % der Personen der Gesamtstichprobe berichteten über schweren emotionalen, 2,8 % über schweren körperlichen, 1,9 % über schweren sexuellen Missbrauch in Kindheit und Jugend. 6,6 % der Befragten gaben Auskunft über schwere emotionale und 10,8 % über schwere körperliche Vernachlässigung in Kindheit und Jugend.
31,8 % der Befragten berichteten über keine, 27,7 % über eine, 23,7 % über zwei, 8,3 % über drei, 4,6 % über vier und 3,7 % über fünf Formen des Missbrauchs.
85,5 % gaben keine, 8,9 % eine, 3,3 % zwei, 1,4 % drei, 0,8 % vier und 0,1 % fünf schwere Formen des Missbrauchs an
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Schlussbemerkung
Im Grunde habe ich mein Anliegen bereits kurz in der Einleitung aufgezeigt. Mir geht es zum Einen darum, einmal alle erdenklichen Studien übersichtlich zusammenzufassen. Zum Anderen möchte ich deutlich machen, dass Gewalt gegen Kinder in Deutschland stetig rückläufig ist, dass sich dieser Trend seit den 1970er Jahren langsam zu beschleunigen scheint und dass wir ab den in den 1990er Jahren Geborenen sogar erstmalig in der deutschen Geschichte eine Kindergeneration aufwachsen sehen, die mehrheitlich keine körperliche Elterngewalt erlebt hat. (Die große Mehrheit der Kinder in Deutschland fühlt sich außerdem gut bis sehr gut, was eine Umfrage aus dem Jahr 2011 zeigte) Dieser stetigen und fast stillen Revolution wird viel zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht. (Dies bedeutet übrigens logischer Weise nicht nur ein Weniger von kindlichen Opfererfahrungen, sondern auch, dass wir immer weniger TäterInnen im Land haben.)
Es bleibt mir noch der Hinweis auf weitere aufschlussreiche Quellen. Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat die deutsche Kindheit um 1900 an Hand etlicher historischer Quellen als einen "Alptraum von Mord, Vernachlässigung, prügeln und Folter von unschuldigen, hilflosen menschlichen Wesen" bezeichnet. (deMause 2005; S. 140) Der Autor reiht in seinem Buch auf elf Seiten (deMause 2005, S. 140–150) einen erschütternden Bericht über den damaligen destruktiven Umgang mit deutschen Kindern an den anderen. Auch online gibt es Artikel von ihm, die diese damalige deutsche Kindheit beschreiben (und diese in einem starken ursächlichen Zusammenhang zu den kriegerischen Entwicklungen Anfang des 20. Jahrhunderts sehen.): "The Childhood Origins of the Holocaust" (2005) und "The Childhood Origins of World War II and the Holocaust" (Kapitel 6 des Online-Buches "The Origins of War in Child Abuse" veröffentlicht auch in mehreren Ausgaben des Journal of Psychihistory)
Die Geschichte der Kindheit reicht natürlich - auch für Deutschland - Jahrtausende zurück. Vor allem die Psychohistorie hat sich damit befasst. Demnach ist der "Alptraum" Kindheit in Deutschland um 1900 schon Teil eines stetigen psychoevolutionären Prozesses. Es gilt der Satz: "Je weiter man in der Geschichte zurück geht, desto mehr sinkt das Niveau der Kindererziehung.“ (deMause 2005, S. 269)
Quellen
BMI – Bundesministerium des Inneren & KFN – Kriminologisches For-schungsinstitut Niedersachsen (2009). Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN. Hannover.
Bussmann, K.-D. (2007). Report über die Auswirkungen des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.)
Bussmann, K.-D., Erthal, C., & Schroth, A. (2009). The Effect of Banning Corporal Punishment in Europe: A Five-Nation Comparison. Halle-Wittenberg: Martin-Luther-Universität.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004). Gewalt gegen Männer in Deutschland. Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland. Pilotstudie.
deMause, Lloyd. (2005). Das emotionale Leben der Nationen. Klagenfurt, Celovec: Drava Verlag.
Häuser, Winfried; Schmutzer, Gabriele; Brähler, Elmar; Glaesmer, Heide (2011). Misshandlungen in Kindheit und Jugend: Ergebnisse einer Umfrage in einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung. In: Deutsches Ärzteblatt, Jahrgang 108, Heft 17.
Hävernick, Walter (1970). „Schläge“ als Strafe. Ein Bestandteil der heutigen Familiensitte in volkskundlicher Sicht. Museum für Hamburgische Geschichte. Hamburg.
Hellmann, D. F. (2014): Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. (Forschungsbericht Nr. 122). Hannover: KFN
Pipping, Knut, Abshagen, Rudolf , Brauneck, Anne-Eva (1954): Gespräche mit der Deutschen Jugend. Ein Beitrag zum Autoritätsproblem. Helsingfords.
Schröttle, M. , Müller, U. (2004). II. Teilpopulationen – Erhebung bei Prostituierten. „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (Hrsg.).
Weller, Konrad (Hrsg.) (2013). PARTNER 4 Sexualität & Partnerschaft ostdeutscher Jugendlicher im historischen Vergleich. Merseburg.
Wetzels, Peter (1997). Gewalterfahrungen in der Kindheit – Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und deren langfristige Konsequenzen. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.
Ziegler, Holger (2013). Gewaltstudie 2013: Gewalt- und Missachtungserfahrungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Universität Bielefeld.
Montag, 10. Februar 2014
Traumafolgekostenstudie: Was kostet (schwere) Kindesmisshandlung im Jahr? Antwort: 11 Milliarden Euro, mindestens!
Erst jetzt habe ich die Studie Habetha, S., Bleich, S., Sievers, C. Marschall, U., Weidenhammer, J., Fegert, J. M. (2012). Deutsche Traumafolgekostenstudie. Kein Kind mehr – kein(e) Trauma(kosten) mehr? Kiel: Schmidt & Klaunig. entdeckt.
Die Studie fragt vereinfacht gesagt: Was für Kosten entstehen durch Traumatisierungen in Kindheit und Jugend in Deutschland?
So weit ich gesehen habe wurden folgende Kosten aufgenommen.
Gesundheitsleistungen (Logopädie, ambulante psychotherapeutische Behandlung), sozialen Dienstleistungen (Erziehungsberatung, Sozialpädagogische Familienhilfe, Soziales Training, Kontinuierliche spielpädagogische Einzelförderung), Bildungsleistungen (Berufsvorbereitung, Ausbildungsförderung) und Produktivitätsverlusten (geringe berufliche Qualifikation, Arbeitslosigkeit).
Ausgehend von den in der Literatur verfügbaren Anhaltspunkten (bzw. vor allem unter Bezug auf eine Studie, die ich hier besprochen habe.) wird von 7,8 Millionen in Deutschland von Kindesmisshandlung/-missbrauch bzw. Vernachlässigung in der Ausprägung „schwer/extrem“ Betroffenen ausgegangen. Nur ein Anteil von 21% wurde – aus in der Studie erläuterten Gründen - für die Herleitung der Kosten mit einbezogen. Das sind dann ca. 1,6 Millionen Menschen, welche die Traumafolgekosten für Gesamtdeutschland ausmachen. Dies ist eine sehr vorsichtige und sehr konservativ angesetzte Zahl, was die AutorInnen auch betonen. Es ergibt sich entsprechend jedes Jahr ein Betrag von 11,0 Mrd. Euro, der durch die Folgen von (schwerer) Kindesmisshandlung/-missbrauch und Vernachlässigung für die deutsche Gesellschaft anfällt!
Diese Zahl muss Mensch erst einmal sacken lassen. Vor allem auch, wenn Mensch von dieser Summe ausgehend weiterrechnet. Denn jeder, der sich mit der Thematik befasst, weiß, dass diese 1,6 Mio schwer misshandelte Menschen eine absolute Untergrenze darstellen, da auch viele mittelschwere Fälle durchaus mit Traumafolgen zu kämpfen haben und die herausgerechneten 6,2 Mio schwer Misshandelten natürlich an anderer Stelle auch Kosten produzieren werden, die hier nicht erfasst wurden. Zudem wird sich jeder mit der Thematik befasster Mensch klar sein, dass die oben aufgeführten Kosten nur ein Teilpaket des Ganzen sind. Sofern z.B. nur rein an Kriminalität (als Folge von Misshandlungserfahrungen) gedacht wird, werden ganz andere Kostendimensionen aufgeschlagen. Kindesmisshandlung kommt der Gesellschaft teuer zu stehen. Es ist ein menschliches Gebot, aber auch ein ökonomisches und erst recht ein politisches, Kinder vor Gewalt zu schützen. Die oben besprochene Studie wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Auftrag gegeben. Insofern ist – hoffentlich – zu erwarten, dass sich die Politik ihrer Aufgabe bewusst wird und dass das mit den „hohen Kosten für Kinderschutz“ gleich wieder vergessen werden kann. Denn Kinderschutz lohnt sich, auch finanziell.
Die Studie fragt vereinfacht gesagt: Was für Kosten entstehen durch Traumatisierungen in Kindheit und Jugend in Deutschland?
So weit ich gesehen habe wurden folgende Kosten aufgenommen.
Gesundheitsleistungen (Logopädie, ambulante psychotherapeutische Behandlung), sozialen Dienstleistungen (Erziehungsberatung, Sozialpädagogische Familienhilfe, Soziales Training, Kontinuierliche spielpädagogische Einzelförderung), Bildungsleistungen (Berufsvorbereitung, Ausbildungsförderung) und Produktivitätsverlusten (geringe berufliche Qualifikation, Arbeitslosigkeit).
Ausgehend von den in der Literatur verfügbaren Anhaltspunkten (bzw. vor allem unter Bezug auf eine Studie, die ich hier besprochen habe.) wird von 7,8 Millionen in Deutschland von Kindesmisshandlung/-missbrauch bzw. Vernachlässigung in der Ausprägung „schwer/extrem“ Betroffenen ausgegangen. Nur ein Anteil von 21% wurde – aus in der Studie erläuterten Gründen - für die Herleitung der Kosten mit einbezogen. Das sind dann ca. 1,6 Millionen Menschen, welche die Traumafolgekosten für Gesamtdeutschland ausmachen. Dies ist eine sehr vorsichtige und sehr konservativ angesetzte Zahl, was die AutorInnen auch betonen. Es ergibt sich entsprechend jedes Jahr ein Betrag von 11,0 Mrd. Euro, der durch die Folgen von (schwerer) Kindesmisshandlung/-missbrauch und Vernachlässigung für die deutsche Gesellschaft anfällt!
Diese Zahl muss Mensch erst einmal sacken lassen. Vor allem auch, wenn Mensch von dieser Summe ausgehend weiterrechnet. Denn jeder, der sich mit der Thematik befasst, weiß, dass diese 1,6 Mio schwer misshandelte Menschen eine absolute Untergrenze darstellen, da auch viele mittelschwere Fälle durchaus mit Traumafolgen zu kämpfen haben und die herausgerechneten 6,2 Mio schwer Misshandelten natürlich an anderer Stelle auch Kosten produzieren werden, die hier nicht erfasst wurden. Zudem wird sich jeder mit der Thematik befasster Mensch klar sein, dass die oben aufgeführten Kosten nur ein Teilpaket des Ganzen sind. Sofern z.B. nur rein an Kriminalität (als Folge von Misshandlungserfahrungen) gedacht wird, werden ganz andere Kostendimensionen aufgeschlagen. Kindesmisshandlung kommt der Gesellschaft teuer zu stehen. Es ist ein menschliches Gebot, aber auch ein ökonomisches und erst recht ein politisches, Kinder vor Gewalt zu schützen. Die oben besprochene Studie wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Auftrag gegeben. Insofern ist – hoffentlich – zu erwarten, dass sich die Politik ihrer Aufgabe bewusst wird und dass das mit den „hohen Kosten für Kinderschutz“ gleich wieder vergessen werden kann. Denn Kinderschutz lohnt sich, auch finanziell.
Freitag, 7. Februar 2014
Schweizer Kampagne gegen Ausländer als destruktive Gruppenfantasie
Die Schweizerische Volkspartei (SVP) hat kürzlich eine Volksinitiative „gegen Masseneinwanderung“ gestartet. In zwei Tagen findet die Abstimmung statt.
Für mich besonders erschreckend ist das Plakat, mit dem die Partei ihre Kampagne in der Öffentlichkeit bewirbt. Zu sehen ist ein Baum, dessen Wurzelen krakenähnlich die Schweiz umschlingen und diese langsam zerstören. „Die Schweiz im Würgegriff der durch die heutige Form der Personenfreizügigkeit nicht mehr kontrollierbaren Zuwanderung.“, ist dann auch auf den Seiten der Partei in einer Pressemitteilung in Bezug zu diesem Plakat zu lesen. „Die Folgen der masslosen Zuwanderung sind täglich spür- und erlebbar: zunehmende Arbeitslosigkeit (Erwerbslosenquote von 8,5% unter den Ausländern), überfüllte Züge, verstopfte Strassen, steigende Mieten und Bodenpreise, Verlust von wertvollem Kulturland durch Verbauung der Landschaft, Lohndruck, Ausländerkriminalität, Asylmissbrauch, Kulturwandel in den Führungsetagen und belastend hohe Ausländeranteile in der Fürsorge und in anderen Sozialwerken.“, ließt man weiter etwas sprachlos über diese platten Parolen einer gewichtigen politischen Partei in der Schweiz.
SPIEGEL-Online kommentierte das Plakat u.a. so: „Die Schweiz geht kaputt, weil sie vor Wachstum strotzt.“ Lloyd deMause nennt solche Prozesse „Wachstumspanik“, etwas, das viel mit der Kindheit zu tun hat, weil gesellschaftliches Wachstum traumatische Kindheitserinnerungen triggern kann.
Es geht zudem um die Angst vor Identitätsverlust, was die Kampagne deutlich zeigt. Menschen, die selbst eine unsichere Idenität haben, weil sie sich als Kind nicht entfalten (nicht wachsen) durften, sondern gedemütigt und mit Gewalt erzogen wurden, werden sich von einer solchen Angstkampagne vermutlich besonders angesprochen fühlen. Ich habe in einem Beitrag deutlich gemacht, dass bildliche Darstellungen von Bedrohungen in Form von krakenähnlichen Wesen sehr viel mit destruktiven Kindheiten zu tun haben. Die aktuelle Schweizer Kampagne ist durchzogen von Ängsten vor Identitätsauflösung, Fremdenfeindlichkeit und Angst vor Wachstum und Veränderungen. Hier scheinen sehr gewichtige emotionale Prozesse am Werk zu sein. Destruktive Kindheiten scheinen auch mitten in Europa weiterhin stark zu wirken.
Für mich besonders erschreckend ist das Plakat, mit dem die Partei ihre Kampagne in der Öffentlichkeit bewirbt. Zu sehen ist ein Baum, dessen Wurzelen krakenähnlich die Schweiz umschlingen und diese langsam zerstören. „Die Schweiz im Würgegriff der durch die heutige Form der Personenfreizügigkeit nicht mehr kontrollierbaren Zuwanderung.“, ist dann auch auf den Seiten der Partei in einer Pressemitteilung in Bezug zu diesem Plakat zu lesen. „Die Folgen der masslosen Zuwanderung sind täglich spür- und erlebbar: zunehmende Arbeitslosigkeit (Erwerbslosenquote von 8,5% unter den Ausländern), überfüllte Züge, verstopfte Strassen, steigende Mieten und Bodenpreise, Verlust von wertvollem Kulturland durch Verbauung der Landschaft, Lohndruck, Ausländerkriminalität, Asylmissbrauch, Kulturwandel in den Führungsetagen und belastend hohe Ausländeranteile in der Fürsorge und in anderen Sozialwerken.“, ließt man weiter etwas sprachlos über diese platten Parolen einer gewichtigen politischen Partei in der Schweiz.
SPIEGEL-Online kommentierte das Plakat u.a. so: „Die Schweiz geht kaputt, weil sie vor Wachstum strotzt.“ Lloyd deMause nennt solche Prozesse „Wachstumspanik“, etwas, das viel mit der Kindheit zu tun hat, weil gesellschaftliches Wachstum traumatische Kindheitserinnerungen triggern kann.
Es geht zudem um die Angst vor Identitätsverlust, was die Kampagne deutlich zeigt. Menschen, die selbst eine unsichere Idenität haben, weil sie sich als Kind nicht entfalten (nicht wachsen) durften, sondern gedemütigt und mit Gewalt erzogen wurden, werden sich von einer solchen Angstkampagne vermutlich besonders angesprochen fühlen. Ich habe in einem Beitrag deutlich gemacht, dass bildliche Darstellungen von Bedrohungen in Form von krakenähnlichen Wesen sehr viel mit destruktiven Kindheiten zu tun haben. Die aktuelle Schweizer Kampagne ist durchzogen von Ängsten vor Identitätsauflösung, Fremdenfeindlichkeit und Angst vor Wachstum und Veränderungen. Hier scheinen sehr gewichtige emotionale Prozesse am Werk zu sein. Destruktive Kindheiten scheinen auch mitten in Europa weiterhin stark zu wirken.
Dienstag, 4. Februar 2014
Neue Studie: Gewalt gegen Kinder in Tansania
Eine neue Studie bestätigt erneut das hohe Ausmaß an Gewalt gegen Kinder in Afrika:
Hecker, T., Hermenau, K., Isele, D., & Elbert, T. (2013). Corporal punishment and children’s externalizing problems: A cross-sectional study of Tanzanian primary school students. Child Abuse and Neglect. doi: 10.1016/j.chiabu.2013.11.007.
409 Schulkinder wurden befragt. 95 % wurden mindestens einmal in ihrem Leben von einer Lehrkraft geschlagen. Ebenfalls 95 % berichteten über körperliche Gewalt durch Eltern oder Pflegepersonen. Die Mehrheit der Kinder, 82 %, wurde mit Stöcken, Gürteln oder anderen Gegenständen geschlagen. Fast ein Viertel der Kinder (24 %) wurde derart schwer geschlagen, dass sie Verletzungen davontrugen.
Zudem stellte die Studie signifikante Zusammenhänge zwischen Gewalterfahrungen und eigenem aggressivem Verhalten, Verhaltensstörungen und Hyperaktivität fest. Entsprechend korrelierte prosoziales Verhalten negativ mit Gewalterfahrungen.
Quelle für die Zahlen siehe online auch hier: "TANZANIA: Study Shows Corporal Punishment Doesn't Improve Child's Behaviour"
Siehe ergänzend auch: Gewalt gegen Kinder in Tansania
Hecker, T., Hermenau, K., Isele, D., & Elbert, T. (2013). Corporal punishment and children’s externalizing problems: A cross-sectional study of Tanzanian primary school students. Child Abuse and Neglect. doi: 10.1016/j.chiabu.2013.11.007.
409 Schulkinder wurden befragt. 95 % wurden mindestens einmal in ihrem Leben von einer Lehrkraft geschlagen. Ebenfalls 95 % berichteten über körperliche Gewalt durch Eltern oder Pflegepersonen. Die Mehrheit der Kinder, 82 %, wurde mit Stöcken, Gürteln oder anderen Gegenständen geschlagen. Fast ein Viertel der Kinder (24 %) wurde derart schwer geschlagen, dass sie Verletzungen davontrugen.
Zudem stellte die Studie signifikante Zusammenhänge zwischen Gewalterfahrungen und eigenem aggressivem Verhalten, Verhaltensstörungen und Hyperaktivität fest. Entsprechend korrelierte prosoziales Verhalten negativ mit Gewalterfahrungen.
Quelle für die Zahlen siehe online auch hier: "TANZANIA: Study Shows Corporal Punishment Doesn't Improve Child's Behaviour"
Siehe ergänzend auch: Gewalt gegen Kinder in Tansania