Gut 12 Jahre ist es mittlerweile her, dass ich – damals noch als Student - in das Thema Kindesmisshandlung sehr bewusst und mit sehr viel Elan eingestiegen bin. In der Zwischenzeit habe ich sehr viel erlebt und sehr viel gelernt. Und obwohl das Thema so viele Abgründe hat, ist meine Sicht auf die Zukunft immer optimistischer geworden. Vor 12 Jahren sah das noch ganz anders aus, weil mich die damals vorliegenden Zahlen über das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder quasi umgehauen haben. In dem nun 300. Beitrag in diesem Blog möchte ich diesem sich bei mir entwickelten Optimismus treu bleiben und einmal weit über das Jahr 2014 hinaus schauen.
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Über 150 Studien konnten nachweisen, dass körperliche Gewalt gegen Kindern diverse schädliche Folgen für die Kinder, die späteren Erwachsenen und letztlich die Gesellschaft bedeuten. Keine einzige Studie konnte irgendwelche Vorteile von Körperstrafen nachweisen. (Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children (2013). Summary of research on the effects of corporal punishment. S. 6+7)
Es gibt sicherlich mittlerweile einige tausend Studien, die sich mit den negativen Folgen von Kindesmisshandlung (sprich körperliche, psychische und sexuelle Gewalt sowie Vernachlässigung) befassen (Ich habe Dutzende davon gelesen). Mir ist allerdings keine große Studie bekannt, die im Grunde einmal die Fragestellung von Beginn an umdreht:
- Was für Folgen hat es eigentlich, wenn Kinder keine (elterliche) Gewalt erfahren und wenn sie nicht vernachlässigt werden?
- Was für Folgen hat es, wenn Kinder sogar ganz im Gegenteil besonders viel Fürsorge und Liebe erleben und ihre Eltern ihnen Sicherheit, Zusammenhalt, emotionale Verbundenheit, Interesse und Geborgenheit bieten?
Die Antworten auf diese Fragen leiten sich aus den vorhandenen Studien im Grunde dahingehend ab, dass man die beobachteten negativen Folgen von Kindesmisshandlung weitgehend streichen könnte (oder wissenschaftlicher ausgedrückt: Die negativen Folgen würden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich abmildern.)
Schaut man sich beispielsweise die Ergebnisse der großen amerikanischen "ACE Studie" an. kann man ohne Zweifel zusammenfassen, dass eine deutliche Reduzierung von belastenden Kindheitserfahrungen eine enorme Reduzierung von menschlichen Phänomenen und Gesundheitsbelastungen wie Depressionen, Selbstmord(versuchen), Halluzinationen, undeutlichen Kindheitserinnerungen, unerklärlichen (Krankheits-) Symptomen, Rauchen, Alkoholismus, Drogenkonsum, ernsthaften Problemen im Arbeitsleben und mit den eigenen Finanzen, Lebererkrankungen, Lungenerkrankungen, häufig wechselnde Sexualpartner, Übergewicht u.a. zur Folge hätte. (Siehe z.B. „The Relationship of Adverse Childhood Experiences to Adult Medical Disease, Psychiatric Disorders, and Sexual Behavior: Implications for Healthcare.“ In dem Buch: Lanius, R. & Vermetten E. (2009): The Hidden Epidemic: The Impact of Early Life Trauma on Health and Disease. Cambridge University Press. Oder gesammelte Artikel unter www.acestudy.org)
Beobachtete mögliche Folgen (auf diese wird auch in der oben erwähnten Übersicht über 150 Studien hingewiesen) wie geringere Empathie, erhöhte Aggressivität, antisoziales Verhalten, Gewalthandeln/Kriminalität, geringere kognitive Entwicklung, psychische und körperliche Schäden usw. oder wie in diesem Blog vor allem besprochen Krieg und Terror (verstanden als Folge von vor allem Kindesmisshandlung bzw. fehlender Liebe in der Kindheit) oder auch selbstschädigendes Verhalten wie Prostitution oder Umweltzerstörung usw. usf. all dies muss letztlich zu einem großen Gesamtkomplex gedacht werden. Wenn man sich diesen Gesamtkomplex an möglichen Folgeschäden anschaut, dann sind zukünftig sehr positive Effekte bzgl. der menschlichen Zivilisation zu erwarten, wenn es Kindern Stück für Stück immer besser ergeht und sie immer weniger Gewalt erleiden. (Ich stelle mir bildlich eine Entwicklung in diversen Bereichen vor, wie ich sie hier exemplarisch besprochen habe; nur dass die Kurven mit fortschreitender Zeit und dem damit verbundenen Gewaltrückgang gegen Kinder stets nach Unten zeigen.)
Eine positive, konstruktive, gewaltfreie und liebevolle Elternschaft ist allem Anschein nach eine recht neue „Erfindung“ (letztlich wohl des 20. Jahrhunderts, wenn man dem Psychohistoriker Lloyd deMause folgt) und es werden wohl immer mehr Eltern, die sich diesem Ideal annähern oder es sogar erfüllen. Die so behandelten Kinder werden logischer Weise ihrerseits an ihrer Kinder weitergeben, was sie selbst erlebt haben.
Eine glückliche Kindheit ist natürlich mehr als die Abwesenheit von (elterlicher) Gewalt, aber die Abwesenheit der Gewalt ist der halbe Weg zu einer glücklichen Kindheit. Diese elterliche Gewalt geht nachweisbar in vielen Regionen auf der Welt Stück für Stück zurück. Und auch die Staaten, die jegliche körperliche Gewalt – teils auch seelische - gegen Kinder gesetzlich verbieten, nehmen Stück für Stück zu. In Deutschland ist die körperliche Gewalt gegen Kinder in den letzten Jahrzehnten bahnbrechend rückläufig, in Schweden (siehe z.B. hier) wird sie sogar in absehbarerer Zeit in einem ein-prozentigen Bereich liegen, in Finnland zeichnen sich ähnliche Entwicklungen ab. Es ist parallel und/oder in der Folge dieses Gewaltrückganges damit zu rechnen, dass sich auch die allgemeinen Eltern-Kind-Beziehungen immer positiver gestalten und sich Eltern und Kinder emotional immer weiter annähern.
Erstmalig in der Geschichte der Menschheit erleben wir (beginnend in Nordeuropa), dass die große Mehrheit einzelner Gesellschaften ihre Kinder ohne körperliche Gewalt erzieht. Ebenfalls ist der sexuelle Missbrauch von Kindern in Deutschland stark rückläufig. Auch die Sorge um Kinder nimmt allem Anschein nach immer mehr zu. Da dies ein ganz neuer Gesellschaftszustand ist, wissen wir im Grunde gar nicht, was da eigentlich auf uns zukommt. Was bedeutet es, wenn die große Mehrheit der Kinder eines Landes nicht mehr unter den schädlichen Folgen der (vor allem elterlichen) Gewalt leidet? Anders gedacht und gefragt: Denken wir einmal 50 oder 100 Jahre weiter. Die Entwicklung der Kindererziehungspraxis scheint sich immer mehr zu beschleunigen (im Westen vor allem ab den 1970er Jahren). Eine Frage, die bisher utopisch schien, wird immer dringlicher: Was kommt auf Europa zu, wenn Elterngewalt nahezu ausgestorben sein wird und auch die Kindesvernachlässigung rapide abnimmt? Wir müssen sogar fragen, was auf die Welt zukommt, wenn vielleicht in 200 oder 300 Jahren weltweit nur noch eine Minderheit der Kinder Gewalt durch ihre Eltern erlebt. Was ist in 500 Jahren, wenn sogar eine Mehrheit aller Kinder nicht nur keine Gewalt erlebt, sondern sogar besonders viel Liebe und elterliche Fürsorge?
Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat unterschiedliche Kindererziehungspraktiken idealtypisch aufgestellt. Am Ende steht in diesem Modell der „Helfende Modus“, den ich hier verkürzt wiedergebe:
Helfender Modus (Individualisierte Psychoklasse); Zeit: Postmoderne, ab 20. Jh.:
Die hauptsächliche Rolle der Eltern besteht in der Hilfestellung für das Kind in jeder Altersstufe, was viel Aufwand, Zeit und Energie bedeutet; das erste mal sind Kinder für die Eltern keine schwierige Aufgabe mehr, sondern eine Freude; sowohl Mutter als auch Vater sind vom Säuglingsalter an gleichwertig mit dem Kind befasst und helfen diesem, eine autonome, selbstbestimmte Person zu werden; die Kinder werden bedingungslos geliebt und werden nicht geschlagen; wenn Eltern unter Stress Fehler begehen und ihre Kinder z.B. anbrüllen, entschuldigen sie sich danach bei ihnen; diese so behandelten Kinder sind wesentlich empathischer gegenüber anderen Menschen in der Gesellschaft als frühere Generationen.
"Es ist keine Frage, dass, würde die Welt Kinder nach dem helfenden Modus großziehen, Kriege und alle anderen selbstdestruktiven sozialen Bedingungen, unter denen wir im 21.Jahrhundert immer noch leiden, getilgt sein würden, weil die Welt einfach mit individualisierten Persönlichkeiten gefüllt sein würde, die empathisch gegenüber anderen und nicht selbstdestruktiv wären." (deMause, 2005, S. 305)
Als ich zum ersten Mal bei deMause diese Stelle gelesen habe, konnte ich dies sofort nachvollziehen, fand es vor allem mutig und dabei auch irgendwie ungewöhnlich. Aber ein Teil von mir zweifelte immer noch etwas. „Ist dies nicht doch zu vereinfacht gedacht?“ Heute stimme ich deMause in diesem Punkt komplett zu: Ja, es ist so einfach. Wenn man heute diese Vorstellung von der zukünftigen menschlichen Entwicklung propagiert, wird man oftmals Kopfschütteln ernten. Dabei wird – davon bin ich überzeugt – ganz einfach die Zeit (vor allem auch die kommenden 50 Jahre in Europa, die ich hoffentlich noch miterlebe und mich schon im Jahr 2064 an diesen Text zurückdenken sehe.) zeigen, dass die menschliche Destruktivität auf allen denkbaren Gebieten auf Grund der sich entwickelnden Kindererziehungspraxis extrem rückläufig sein wird. Schon heute fällt es den Forschenden schwer zu verstehen, warum die menschliche Gewalt vor allem über einen längeren Zeitpunkt betrachtetet derart rückläufig ist. (siehe dazu z.B. Steven Pinker)
Der 1905 geborene deutsche Volkskundler Walter Hävernick mahnte noch 1970 in seiner Studie über die „Sitte“ des Schlagens von Kindern in seinem Schlusswort, man solle diese Sitte nicht als autoritär beschimpfen und die Einführung einer „freiheitlichen Gesinnung“ würde zu einer „Verwahrlosung und Verelendung des hilflosen Nachwuchses führen“ . “Darum“, so der Forscher weiter – offensichtlich mit Blick auf die aufkommenden Tendenzen der 68er Generation, das Schlagen von Kindern kritisch zu sehen – „ist es reine Theorie, wenn man sich vorzustellen versucht, was geschehen würde, wenn es wirklich zu einem schnellen und gänzlichen Erlöschen der Sitte käme, ohne dass eine ähnliche Kraft an ihre Stelle träte. Ein solcher schrankenloser Individualismus würde für den Menschen (…) eine Katastrophe unbegrenzten Ausmaßes sein: ohne Rückhalt in einer Gemeinschaft seinesgleichen würde er im Kampf aller gegen alle sich gegenseitig ausrotten.“ Hävernick vermutet sogar einen Zusammenhang zwischen dem Rückgang von Körperstrafen gegen Kinder und Jugendlichen und einem gewissen Anstieg der Jugendkriminalität im damaligen Deutschland, was er in seinem Buch bespricht.
Im Kapitel „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie“ des Buches „Deutschland misshandelt seine Kinder“ (2014 erschienen) beschreiben die beiden Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat folgende Begebenheit:
"Am Institut für Rechtsmedizin der Charité werden häufig ägyptische Gastärzte geschult. Wenn sie unsere Vorträge über Kindesmisshandlung hören, zeigen sich viele von ihnen verwundert, dass Körperstrafen in Deutschland als Mittel der Kindererziehung verboten sind. «Bei uns darf man seine Kinder ja auch nicht totschlagen», sagte einmal ein ägyptischer junger Arzt zu uns. «Aber wie erzieht ihr eure Kinder denn, wenn ihr sie nicht schlagt?» und ein Kollege von ihm fügt hinzu: «Das ist doch schließlich mein Kind, das ich schlage, nicht das Kind meines Nachbar.» " (In Ägypten ist weiterhin ein extrem hohes Ausmaß an Gewalt gegen Kinder festzustellen.) Die Aussagen von Walter Hävernick machen exemplarisch für seine Generation deutlich, dass die Aussagen der ägyptischen Ärzte so oder so ähnlich auch noch im Deutschland der 50er und 60er Jahre zu finden waren. Was für einen gewaltigen Sprung haben doch die Väter und Mütter seitdem gemacht!
Diesen Sprung sehe ich auch in meiner eigenen Familie, angefangen bei meinen Großeltern über meine Eltern bis hin zu meinen Kindern bzw. mich als Vater. Jede Generation hatte es als Kind besser, als die davor. Ich selbst bin der Erste in meiner Familie, der z.B. nicht geschlagen wurde. Und meine Kinder haben einfach nur Glück mit mir und meiner Frau als Eltern (was nicht heißt, dass wir keine Fehler machen.). Wenn ich noch mal Kind sein dürfte, ich würde mir mich und meine Frau als Eltern wünschen. (Ich hoffe, dass unsere Kinder das dann später auch so sehen :-) .)
Zufällig wurden gerade gestern durch das BKA Zahlen zur Kindesmisshandlung im Jahr 2013 veröffentlicht und in der Folge in den Medien besprochen. Christian Pfeiffer (Direktor des KFN) fand deutliche Worte in seinem Kommentar über die aktuellen Hellfeldzahlen:
AntwortenLöschen"Alle Indikatoren, die wir erfasst haben, kommen zu dem selben Befund: Wir haben einen radikalen Wandel der elterlichen Erziehung ins Positive. Die Zuwendung ist gestiegen und die Tendenz zum Schlagen deutlich gesunken."
und
"Die Jugendgewalt in Deutschland ist seit 2007 um 41 Prozent rückläufig. Dass die Zuwendung der Eltern gestiegen ist und ihre Tendenz zum Schlagen deutlich gesunken, hat positive Wirkung in doppelter Hinsicht: Einerseits im starken Rückgang der Jugendgewalt, aber in den letzten zehn Jahren auch im Rückgang des Jugendselbstmordes um 33 Prozent."
(http://www.t-online.de/eltern/familie/id_69785780/kriminologe-christian-pfeiffer-gewalt-gegen-kinder-geht-zurueck.html)
Er ist somit einer der Wenigen in Deutschland, die öffentlich auf den Gewaltrückgang gegen Kinder aufmerksam machen und diesen in einen starken Zusammenhang zum Rückgang von Phänomenen wie Jugendgewalt und Selbstmord sehen.
Hallo Bianca,
AntwortenLöschendiese forsa Studie hatte ich auch schon damals hier im Blog besprochen. Sie bestätigt den positiven Trend: Abnahme der körperlichen Gewalt, dabei auch deutliche Abnahme der schweren Formen und ein Wandel in der Hinsicht, dass schläge von vielen Eltern nicht mehr als grundsätzliches erziehungsmitel angesehen werden.
ansonsten schicke mir doch nochmal deine Email, vielleicht ist die bei mir rausgespamt worden.