UNICEF hat vor Kurzem die bisher größte Studie zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der Welt veröffentlicht: United Nations Children’s Fund (2014): Hidden in PlainSight: A statistical analysis of violence against children. New York.
Erfasst wurde körperliche (inkl. Kindestötungen), sexuelle und psychische Gewalt. Das Thema Vernachlässigung wurde besprochen, aber weniger aussagekräftig und zahlenbasiert. Zunächst einmal muss ich schreiben, dass eine solch umfassende Studie überfällig war. Dass weltweit eine Mehrheit der Kinder Gewalt erlebt, ist spätestens jetzt umfassend in einem einzigen Papier ersichtlich. Gewalt gegen Kinder ist somit auch der häufigste Gewaltakt von Menschen gegen Menschen an sich.
Die Studie wurde in allen großen deutschen Medien besprochen. Allerdings wurden dabei selten tiefgehender die Zahlen besprochen, obwohl es ja gerade diese Zahlen sind, die uns alle aufschrecken sollten. Insofern halten die Medien sich auf eine Art an die Linie, die UNICEF mit dem Titel „Hidden in Plain Sight“ (in etwa „Verborgen vor aller Augen“) eigentlich angeprangert hat. Und einzig Caroline Fetscher vom Tagesspiegel hat auch die politischen Dimensionen erfasst, die das gewaltige Ausmaß der Gewalt gegen Kinder bedeutet. Am Schluss ihres Textes schreibt sie: „Waren Kinder es gewohnt, die Blitzableiter der Eltern zu sein, machen sie auch ihre Kinder zu Blitzableitern, und ganze Gruppen suchen sich für solche Funktionen „die Juden“, „die Zigeuner“, „die Ungläubigen“. Wo Gewalt gegen Kinder am meisten toleriert wird, gibt es Krisen und Kriege. Schon deshalb müsste die Präventionsrendite Politiker brennend interessieren.“
Auch ich kann nicht alle Punkte der Studie besprechen, ziehe aber die – wie ich meine – wichtigsten nachfolgend heraus:
- 6 von 10 Kindern (fast eine Milliarde Kinder) werden der Studie folgend regelmäßig von Erziehungspersonen geschlagen. (Dies ist der Durchschnittswert für alle tabellarisch aufgeführten Länder. Die meisten Kinder werden in Afrika und im Nahen Osten geschlagen.)
- Die meisten Kinder erleben zusätzlich psychische Gewalt. Überhaupt ist die psychische Gewalt in fast allen Ländern, die tabellarisch (S. 196ff) miteinander verglichen wurden, die häufigste Form von Gewalt gegen Kinder überhaupt. (Die meiste psychische Gewalt erleben Kinder in Afrika und in arabischen Staaten mit Werten ab ca. 80 % mit in der Spitze bis zu ca. 90 %; der Durchschnitt für alle erfassten Staaten beträgt ca. 7 von 10 Kindern)
- In 58 Ländern erleben 17 % der Kinder regelmäßig schwere körperliche Gewalt (Schläge gegen den Kopf, Ohren oder ins Gesicht oder harte wiederholte Schläge) durch Eltern/Pflegepersonen. In 23 Ländern (dazu unten mehr) erleben mindestens 20 % der Kinder schwere körperliche Gewalt; mit bis an die Spitze Werten von über 40 % bei einzelnen Ländern.
- Mit einem Gegenstand werden fast 30 % aller Kinder in den tabellarisch erfassten Ländern geschlagen.
- 120 Millionen Mädchen weltweit (mehr als eine von zehn) wurden vergewaltigt oder zu anderen sexuellen Handlungen gezwungen. Das größte Ausmaß an sexueller Gewalt gegen Mädchen findet sich in afrikanischen Ländern (mit mehr als 10 %), das geringste Ausmaß (weniger als 1 %) in Europa und den sogenannten CIS-Staaten (Russland und umliegende Staaten). Jungen werden ebenfalls Opfer von sexueller Gewalt, aber in einem deutlich geringeren Ausmaß. Nur in wenigen Ländern (z.B. Uganda mit 7 %) finden sich hohe Opferraten entsprechend der selben Definition, die bei Mädchen angesetzt wurde.
(Ich muss an dieser Stelle gleich anmerken, dass ich die Zahlen zur sexuellen Gewalt in diesem Fall etwas anzweifle. Methodik und Definitionen – vielleicht auch der Anspruch, Studien vergleichbar zu machen - scheinen hier stark zu wirken. Einzelstudien zeigen deutlich höhere Raten von sexueller Gewaltbetroffenheit. Was die UNICEF Studie allerdings bestätigt ist das starke regionale Gefälle. In Europa sind Mädchen am Sichersten vor sexueller Gewalt, in vielen afrikanischen Ländern ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sexuelle Gewalt erleben, am größten; das zeigen auch andere Studien. )
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Die UNICEF Studie hat leider einige Schwachstellen. Eine wesentliche Schwachstelle ist in meinen Augen, dass für viele Länder, für die statistisch vergleichbare Daten vorliegen, nur das Gewaltverhalten innerhalb eines Monats vor der Befragung (Befragung von Erziehungspersonen) erfasst wurde. Die Zahlen sagen demnach nichts über die Gewalterfahrungen in der gesamten Kindheit aus. Es ist allerdings klar zu sagen, dass die Studie entsprechend vor allem routinemäßig widerkehrendes Gewaltverhalten erfasst hat. Entsprechend zeigen nachfolgend von mir beispielhaft aufgeführte Zahlen grundsätzliches Erziehungsverhalten auf.
Ein weiterer Kritikpunkt meinerseits ist, dass nicht die Häufigkeit der Gewalt abgefragt wurde (täglich, wöchentlich oder einmal im Monat?) Dabei ist doch gerade die Häufigkeit von erlebter Gewalt auschlaggebend bzgl. der Schwere der Folgeschäden.
Zudem wurden Erziehungspersonen zum Gewaltverhalten befragt, die Kinder im Alter zwischen 2 und 14 Jahren haben. Wenn beispielsweise Eltern mit vielleicht 2 Jahre alten Kindern angeben, dass sie keine Gewalt angewendet haben, heißt dies nicht, dass das Kind gewaltfrei aufwächst. Vielleicht wird es erst ab 5 Jahren geschlagen. Zumindest wurden in der Studie auf Seite 103 drei Altersgruppen aufgestellt (2 -4, 5 – 9 und 10 – 14 Jahre) und Zahlen bzgl. körperlicher und /oder psychischer Gewalt aufgeführt. Diese Tabelle legt nahe, dass die im restlichen Teil der Studie oft genannten Durchschnittswerte nicht das reale Ausmaß an Gewalterfahrungen von Kindern angeben. Große Unterschiede in den Altersgruppen gibt es z.B. in Costa Rica, wo 56 % der 2 – 4 Jährigen Gewalt erlebten, aber nur 38 % der 10 – 14 Jährigen. Der Durchschnittswert für Costa Rica liegt entsprechend bei 46 %. In den meisten anderen Ländern sind die Zahlen nicht ganz so weit auseinander, aber auch dann gibt es statistische Einflüsse. In Afghanistan z.B. erlebten 63 % der 2 – 4 Jährigen Gewalt, die beiden anderen Altersgruppen waren jeweils zu 78 % betroffen. Der Durchschnittswert für Afghanistan beträgt in der Studie entsprechend 74 %.
Nachfolgend habe ich einmal die Zahlen zu den 23 Ländern zusammengestellt, die die höchsten Raten an schwerer körperlicher Gewalt aufweisen. Die meisten dieser Länder weisen auch ansonsten die mit höchsten Raten an körperlicher und psychischer Gewalt auf. (Und die meisten dieser Länder stehen für Krisen, schwere Konflikte und soziale Probleme) Vor allem ein besonders krisengeplagtes Land fällt dabei etwas heraus und besonders auf: Afghanistan. Bzgl. allgemeiner Raten von körperlicher und psychischer Gewalt liegt das Land eher im unteren Drittel. Mit ca. 38 % von (regelmäßiger) schwerer körperlichen Gewalt betroffenen Kindern gehört Afghanistan allerdings zu den Spitzenreitern an brutaler Gewalt gegen Kinder. Da die Folgeschäden für Kinder u.a. besonders vom Schweregrad der Gewalt abhängen, sind es gerade diese Zahlen, die bei der Bewertung von Ländern und der Situation der Kinder betont werden müssen.
Hier nun die ausgesuchten Zahlen (kategorisiert nach den Prozentsätzen zur schweren körperlichen Gewalt innerhalb eines Monats vor der Befragung; entnommen Tabelle 5.2 auf Seite 97, Tabelle 5.4 auf Seite 99 und Tabelle ab Seite 196)
Yemen,
körperliche und/oder psychische Gewalt: 95 %
körperliche Gewalt: 86 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 43 %
psychische Gewalt: 92 %
Ägypten
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 82 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 42 %
psychische Gewalt: 83 %
Chad
körperliche und/oder psychische Gewalt: 84 %
körperliche Gewalt: 77 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 41 %
psychische Gewalt: 71 %
Afghanistan
körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %
körperliche Gewalt: 69 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 38 %
psychische Gewalt: 62 %
Demokratische Republik Kongo
körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %
körperliche Gewalt: 80 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 37 %
psychische Gewalt: 82 %
Zentralafrika
körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %
körperliche Gewalt: 81 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 36 %
psychische Gewalt: 84 %
Vanuatu
körperliche und/oder psychische Gewalt: 84 %
körperliche Gewalt: 72 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 35 %
psychische Gewalt: 77 %
Nigeria
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 79 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 34 %
psychische Gewalt: 81 %
Tunesien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt: 74 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 32 %
psychische Gewalt: 90 %
Niger
körperliche und/oder psychische Gewalt: 82 %
körperliche Gewalt: 66 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 31 %
psychische Gewalt: 77 %
Guinea-Bissau
körperliche und/oder psychische Gewalt: 82 %
körperliche Gewalt: 74 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 29 %
psychische Gewalt: 68 %
Liberia
körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %
körperliche Gewalt: 69 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 62 %
Mauretanien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 87 %
körperliche Gewalt: 78 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 82 %
Kamerun
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt: 78 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 87 %
Irak
körperliche und/oder psychische Gewalt: 79 %
körperliche Gewalt: 63 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 75 %
Kongo
körperliche und/oder psychische Gewalt: 87 %
körperliche Gewalt: 69 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 80 %
Staat Palästina
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt: 76 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 90 %
Algerien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 88 %
körperliche Gewalt: 75 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 25 %
psychische Gewalt: 84 %
Marokko
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 67 %
besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %
psychische Gewalt: 89 %
Syrien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 89 %
körperliche Gewalt: 78 %
besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %
psychische Gewalt: 84 %
Elfenbeinküste
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 73 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 23 %
psychische Gewalt: 88 %
Dschibuti
körperliche und/oder psychische Gewalt: 72 %
körperliche Gewalt: 67 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 22 %
psychische Gewalt: 57 %
Jordanien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 90 %
körperliche Gewalt: 67 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 22 %
psychische Gewalt: 88 %
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Ab Seite 106 in der UNICEF Studie wurden ergänzend einzelne Studien besprochen, die Zahlen zu europäischen Ländern wie u.a. Italien, Deutschland, Frankreich, Schweden, Großbritannien, aber auch Canada, USA oder China beinhalten. Die dort aufgeführten Daten sind nur bedingt mit den Daten über Schwellenländer vergleichbar, da letztere methodisch ganz anders aufgebaut sind. Grundsätzlich deutet sich klar an, dass körperliche Gewalt, dabei vor allem auch schwerere Formen, in Schwellenländern häufiger vorkommt, als z.B. in West-/Nordeuropa.
Die von UNICEF aufgeführten Studien zeigen eine eher etwas geringe Gewaltbetroffenheit von Kindern in den USA (demnach wird ca. jedes dritte Kind in den USA geschlagen). In Anbetracht dessen, dass ich diverse Studien für die USA zusammengestellt habe, die deutlich höhere Raten zeigen, halte ich die vorgestellten Zahlen für die USA nicht für allgemein gültig und wundere mich etwas über die Auswahl.
Auch für Kenia wurden Daten in diesem Anhang aufgestellt, die den Zahlen in den tabellarischen Aufstellungen für Schwellenländer entgegenstehen. In Kenia erleben demnach über 60 % der Kinder schwere körperliche Gewalt (eine Zahl fern ab der oben besprochenen Daten); 82 % der Mädchen und 97 % erleben leichtere Formen von körperlicher Gewalt. Diese Zahlen entsprechen auch dem, was ich hier im Blog über afrikanische Länder zusammengestellt habe (dabei vor allem zwei Studien vom "African Child Policy Forum"), wenn junge Erwachsene nach Gewalterfahrungen in der gesamten Kindheit befragt werden.
Dies läßt mich zum Schluss noch einmal wiederholen, dass die oben besprochenen Zahlen der UNICEF Studie (zum Gewalterleben innerhalb eines Monats vor der Befragung) die absolute Untergrenze an Gewalterfahrungen von Kindern weltweit angeben.
Hallo Sven
AntwortenLöschenAuf der Seite von UNICEF Schweiz gibt es eine Zusammenfassung der Studie auch auf deutsch (unten im Anhang):
http://www.unicef.ch/de/medien/medienmitteilungen/weltweiter-unicef-bericht-zu-gewalt-gegen-kinder
Gruss
Mario
Danke für den Hinweis, Marion.
AntwortenLöschenInteressant ist auch hier, dass in der Zusammenfassung durch UNICEF Schweiz unter "die wichtigsten Ergebnisse" die Zahlen zur psychischen Gewalt und zur körperlichen Gewalt (bei letzterer wurden nur die schweren Formen erwähnt) weggelassen wurden...
Und bei UNICEF Deutschland findet sich online in der Zusammenfassung exakt der selbe Text, auch hier fehlen diese wichtigen Zahlen...
AntwortenLöschenIch werde die Morgen gleich mal anschreiben :-)
Im Anhang an die Pressemitteilung hat UNICEF doch tiefergehnd die Studie zusammengefasst: http://www.unicef.de/blob/56142/c4a3b7a18083ccea986417b86169d03f/zusammenfassung-unicef-report-hidden-in-plain-sight-data.pdf Hatte ich erst übersehen.
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