Sehr geehrte Damen und Herren des Vorstandes,
sehr geehrte Frau Dietz,
ich bin etwas unsicher, an wen ich mein Anliegen adressieren soll. Am liebsten würde ich es an alle Entscheidungsträger bei UNICEF senden. Ich richte diese Anfrage also an den Vorstand von UNICEF-Deutschland wie auch gesondert an die in Deutschland für Kinderrechte zuständige Mitarbeiterin Lena Dietz.
Vor etwas über einem Jahr wurde die Studie „Hidden in Plain Sight“ von UNICEF veröffentlicht.
Mir ist aufgefallen, dass in der entsprechenden deutschen Pressemitteilung (http://www.unicef.de/presse/2014/report-gewalt-gegen-kinder/56138), der deutschsprachigen Zusammenfassung der Studie (http://www.unicef.de/blob/56142/c4a3b7a18083ccea986417b86169d03f/zusammenfassung-unicef-report-hidden-in-plain-sight-data.pdf) wie auch in der englischsprachigen Originalstudie zwar auf die Folgen der (meist elterlichen) Gewalt gegen Kinder eingegangen wird, die politischen Folgen aber ausgeklammert wurden. Gesellschaftliche Folgen wurden durch UNICEF in der Studie maximal thematisch in Hinsicht auf die sozialen und ökonomischen Kosten wie auch bzgl. z.B. Kriminalität erfasst.
Bzgl. der möglichen individuellen Folgen oder Folgeschäden wurde in der Studie ein weites Feld eröffnet. Auch in dieser Hinsicht fehlte mir eine deutliche Übertragung, die auch bei der Leserschaft wie auch der Presse ankommt. Das Ausmaß der Gewalt ist in vielen Regionen extrem groß. Entsprechend weit verbreitet müssen auch die Folgeschäden in den entsprechenden Gesellschaften als Ganzes sein. Viele Probleme und soziale Schieflagen in der Welt stehen insofern in einem ursächlichen Zusammenhang mit leidvollen Kindheiten. Darauf wurde leider nicht mit deutlichen Worten hingewiesen.
„Gewalt zieht Gewalt nach sich. Wir wissen, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass misshandelte Kinder Gewalt als normal ansehen oder sogar akzeptieren und diese auch in der Zukunft gegen die eigenen Kinder anwenden.” wird der UNICEF-Exekutivdirektor Anthony Lake in der deutschsprachigen Zusammenfassung zitiert. Was ich nicht verstehe ist, warum diese Erkenntnis nicht ins Politische übertragen wurde? Auch Politiker waren einst Kinder, ebenso Soldaten, wie auch Beamte, Medienleute und all die anderen wichtigen Entscheidungsträger, die in einer Gesellschaft Wege bestimmen, öffnen oder auch versperren.
In der o.g. Studie wurden 23 Länder gesondert erwähnt und herausgestellt, weil dort mehr als 1 von 5 Kindern (bis in die Spitze sogar fast jedes zweite Kind wie z.B. im Jemen) besonders schwere elterliche Gewalt erlebt. Und das gilt, der Studie folgend, ja auch nur für das Gewalterleben innerhalb von vier Wochen, die Gewaltraten für die gesamte Kindheit wird entsprechend höher liegen. Ich habe der bewusstmachenden Übersicht halber nachfolgend einmal die Daten für diese 23 Länder aufgeführt:
Jemen
körperliche und/oder psychische Gewalt: 95 %
körperliche Gewalt: 86 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 43 %
psychische Gewalt: 92 %
Ägypten
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 82 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 42 %
psychische Gewalt: 83 %
Chad
körperliche und/oder psychische Gewalt: 84 %
körperliche Gewalt: 77 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 41 %
psychische Gewalt: 71 %
Afghanistan
körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %
körperliche Gewalt: 69 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 38 %
psychische Gewalt: 62 %
Demokratische Republik Kongo
körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %
körperliche Gewalt: 80 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 37 %
psychische Gewalt: 82 %
Zentralafrika
körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %
körperliche Gewalt: 81 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 36 %
psychische Gewalt: 84 %
Vanuatu
körperliche und/oder psychische Gewalt: 84 %
körperliche Gewalt: 72 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 35 %
psychische Gewalt: 77 %
Nigeria
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 79 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 34 %
psychische Gewalt: 81 %
Tunesien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt: 74 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 32 %
psychische Gewalt: 90 %
Niger
körperliche und/oder psychische Gewalt: 82 %
körperliche Gewalt: 66 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 31 %
psychische Gewalt: 77 %
Guinea-Bissau
körperliche und/oder psychische Gewalt: 82 %
körperliche Gewalt: 74 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 29 %
psychische Gewalt: 68 %
Liberia
körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %
körperliche Gewalt: 69 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 62 %
Mauretanien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 87 %
körperliche Gewalt: 78 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 82 %
Kamerun
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt: 78 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 87 %
Irak
körperliche und/oder psychische Gewalt: 79 %
körperliche Gewalt: 63 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 75 %
Kongo
körperliche und/oder psychische Gewalt: 87 %
körperliche Gewalt: 69 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 80 %
Staat Palästina
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt: 76 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 90 %
Algerien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 88 %
körperliche Gewalt: 75 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 25 %
psychische Gewalt: 84 %
Marokko
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 67 %
besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %
psychische Gewalt: 89 %
Syrien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 89 %
körperliche Gewalt: 78 %
besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %
psychische Gewalt: 84 %
Elfenbeinküste
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 73 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 23 %
psychische Gewalt: 88 %
Dschibuti
körperliche und/oder psychische Gewalt: 72 %
körperliche Gewalt: 67 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 22 %
psychische Gewalt: 57 %
Jordanien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 90 %
körperliche Gewalt: 67 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 22 %
psychische Gewalt: 88 %
Ist denn niemanden aufgefallen, dass gerade diese 23 Länder weitgehend die aktuellen politischen „Sorgenkinder“ umfassen? Wo Krieg herrscht oder herrschte, Terroristen rekrutiert werden, Demokratie ein ferner Traum ist und/oder sozial enorm instabile Verhältnisse bestehen usw.?
In der medialen Besprechung der Studie war Caroline Fetscher vom Tagesspiegel die Einzige, die deutliche Worte gefunden und auch die politischen Dimensionen erfasst hat, die das gewaltige Ausmaß der Gewalt gegen Kinder bedeuten. Am Schluss ihres Textes schreibt sie:
„Waren Kinder es gewohnt, die Blitzableiter der Eltern zu sein, machen sie auch ihre Kinder zu Blitzableitern, und ganze Gruppen suchen sich für solche Funktionen „die Juden“, „die Zigeuner“, „die Ungläubigen“. Wo Gewalt gegen Kinder am meisten toleriert wird, gibt es Krisen und Kriege. Schon deshalb müsste die Präventionsrendite Politiker brennend interessieren.“ (http://www.tagesspiegel.de/politik/unicef-studie-ueber-gewalt-gegen-kinder-blitzableiter-der-eigenen-eltern/10665534.html) Ich möchte ergänzen, dass Kriege und Krisen zunächst einmal natürlich gewaltbereite Menschen brauchen, dazu kommt aber auch, dass es Massen an Menschen braucht, die ohnmächtig verharren und das schon im Vorfeld der Eskalation. Auch hier wird eine weite Verbreitung von Kindesmisshandlung ihre Wirkung entfalten.
Der bekannte Psychoanalytiker Arno Gruen hat 2001 für sein Buch “Der Fremde in uns” den Geschwister-Scholl-Preis erhalten. In dem Buch wird eindrücklich dargestellt, wie elterliche Gewalt und Gehorsamsforderungen das Fundament für Kriege darstellen. Gruen zieht dabei in seinem Buch auch schwerpunktmäßig einen Zusammenhang zwischen Kindheit und NS-Zeit. Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat dies thematisch noch deutlicher formuliert und die Kindheit in Deutschland um 1900 nachgezeichnet - siehe online z.B. hier http://psychohistory.com/articles/the-childhood-origins-of-the-holocaust/ oder in seinem Buch “Das emotionale Leben der Nationen”. (Die deutschsprachige Psychohistorie ist unter www.psychohistorie.de erreichbar).
Merkwürdiger Weise gehören diese Erkenntnisse immer noch nicht zum Allgemeinwissen. Ich selbst habe meine Gedanken zu dem Thema in einem wissenschaftlichen Arbeitspapier unter dem Titel “Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an” für die UNI Köln (http://www.jaeger.uni-koeln.de/fileadmin/templates/publikationen/aipa/AIPA_2012_4.pdf) zusammengefasst.
Die gedankliche Verknüpfung von Kindheit und Politik wird nur von wenigen Menschen schwerpunktmäßig erforscht und besprochen. Spätestens seit Veröffentlichung der o.g. sehr wichtigen und aufrüttelnden UNICEF-Studie muss sich dies ändern. Ich möchte dringend anregen, dass sich UNICEF dieser Thematik annimmt. UNICEF ist nicht nur zuständig, sondern hätte auch die notwendigen Ressourcen und die entsprechende Öffentlichkeit dafür.
Nach meinem Eindruck sind die Ergebnisse der o.g. UNICEF-Studie in Deutschland medial weitgehend verpufft, nachdem alle großen Zeitungen kurz darüber geschrieben haben. Ich denke, dass eine Verknüpfung der Studienergebnisse mit politischen Prozessen evtl. mehr mediale Aufmerksamkeit gebracht hätte. Wenn sich führende UNICEF-Botschafter oder Verantwortliche vor die Presse stellen und deutlich anmerken, dass Kriege und Terror offensichtlich etwas mit Kindesmisshandlung zu tun haben, dann wäre das Medienecho sicher größer gewesen. Ich gehe sogar noch weiter: Wenn diese Botschaft bei politischen Entscheidungsträgern deutlich ankommen würde, wäre evtl. die politische Motivation höher, deutlich mehr in den Kinderschutz zu investieren, nicht nur aus humanitären, sondern ergänzend auch gezielt aus präventiven Gründen heraus. Den Zielen von UNICEF wäre somit sehr gedient.
Mich würde interessieren, wie UNICEF-Deutschland dazu steht?
Dieses Schreiben veröffentliche ich zeitnah auch in meinem Blog - www.kriegsursachen.blogspot.de - als Offen Brief, um meine LeserInnen darüber zu informieren. Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen. Sofern Sie ihr Einverständnis bzw. keine Ablehnung dazu signalisieren, werde ich diese dann auch im Kommentarbereich online veröffentlichen.
Viele Grüße und danke für Ihre wichtige Arbeit!
Sven Fuchs
Hier die Antwort von UNICEF vom 20.10.2015. Ich hatte glatt vergessen, diese hier zu posten. Die Antwort ist für mich natürlich unbefriedigend, weil sie so etwas wie Krieg und Terror als Folge von weit verbreiteter Kindesmisshandlung nicht anerkennt. Allerdings steckt zwischen den Zeilen ja auch der Hinweis, dass man, weil man "diplomatisch vorgehen" müsse, wenn es um Einfluss auf Regierungen ginge, sich da etwas zurückhalten möchte. Das kann ich verstehen. Letztlich geht es um den Schutz von Kindern, dieser geht vor allem.
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Sehr geehrter Herr Fuchs,
vielen Dank für Ihre E-Mail. Wir freuen uns, dass die UNICEF Studie ‚Hidden in plain sight‘ Sie so bewegt hat, denn je mehr Menschen sich des Problems bewusst sind, desto mehr wird sich diesbezüglich auch ändern. Das Problem häuslicher Gewalt ist bis heute nicht nur in Entwicklungsländern ein großes Problem, sondern wird auch in Industrieländern gern unter den Teppich gekehrt.
UNICEF arbeitet mit den Regierungen der betreffenden Länder zusammen daran, Kinderschutz gesetzlich zu stärken und auch das Justizsystem entsprechend aufzubauen. Auch arbeitet UNICEF in vielen Ländern daran, friedensbildende Maßnahmen in das Bildungssystem zu integrieren. UNICEF lässt eine politische Komponente also keineswegs außer Acht, sondern nutzt die Erkenntnisse die solche Studien in Bezug auf gesellschaftliche, soziale und ökonomische Auswirkungen bringen um auf gesellschaftlicher und politischer Ebene Änderungen zu bewirken. Als Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hat UNICEF einerseits großen Einfluss auch auf Regierungsebene, muss aber auch entsprechend diplomatisch vorgehen um diesen Einfluss auch optimal nutzen zu können. Doch hat die weltweite UNICEF Kampagne ‚End Violence‘ Millionen von Menschen in Industrie- wie auch in Entwicklungsländern erreicht http://www.unicef.org/endviolence/.
Mit freundlichen Grüßen
i.A. Wiebke Eckau
Spenderkommunikation
Bereich Kommunikation und Kinderrechte
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Deutsches Komitee für UNICEF
Höninger Weg 104, 50969 Köln