Der Politologe Rik Coolsaet hat bzgl. europäischer Islamisten und Kämpfer in einem Text auf etwas hingewiesen, das mir hervorzuheben, besonders wichtig ist. In meinem Blog habe ich z.B. in Texten wie "Die Farben der Gewaltfolgen: Kinderbuchautor Janosch", "Die Farben der Gewalt: Ideologie ist niemals selbst Motivation für das Morden.", "Krieg als kurzfristige Transformation der Gewalt, die eh schon da ist?" oder auch "Kindheit und mögliche Lebenswege: Willi Voss" bereits versucht deutlich zu machen, um was es mir geht.
Für mich sind mörderische Extremisten letztlich nur ein (besonders auffälliger) Teil des Gesamtpaketes an Folgeerscheinungen von Kindesmisshandlung. Man muss - darauf habe ich hier und da bereits hingewiesen - Kindesmisshandlung (in all ihren Varianten und Formen) als eine Art von "Vergiftung" betrachten. Sie vergiftet die betroffenen Kinder und somit auch die später Erwachsenen. Ab einem bestimmten Grad der Gewalt und einer bestimmten Häufigkeit wirkt dieses "Gift" immer und nachhaltig. Wie sich die "Vergiftung" ausdrückt, hängt wiederum von unzähligen Faktoren (Geschlecht, Alter, sozialer Status und sozialer Rahmen, Intelligenz, Gene, Kultur, Religion, Besonderheiten der Zeit, technische Möglichkeiten, zufälligen Begegnungen usw. usf.) ab, die wir wahrscheinlich nie wirklich zu 100 % in ihrem Wirkungszusammenspiel werden erfassen können.
Diese Faktoren lenken bildlich gesprochen das Gift in diese und jene Ausdrucksform oder - was wohl häufiger ist - auch in mehrere verschiedene Ausdrucksformen. Die wichtige Schlussfolgerung daraus: Wenn sich ein Mensch, der als Kind misshandelt wurde, in einer Menge von Touristen in die Luft sprengt, dann bedeutet dies natürlich nach unserem empirischem Wissen nicht, dass sich alle als Kind misshandelten Menschen in die Luft sprengen würden. Ganz im Gegenteil. Solche Ausdrucksformen von Misshandlungserfahrungen und entsprechendem (Selbst-)Hass sind selten. Würden alle als Kind (schwer) misshandelten Menschen so agieren, wäre die Welt die reine Hölle.
Die anderen als Kind misshandelten Menschen laufen aber trotzdem mit ihrer inneren "Vergiftung" durch das Leben. So manche schaffen es auch, diese nach langer Therapie ein ganzes Stück weit los zu werden oder zu isolieren. Viele erleben aber im Alltag und ihrem Leben destruktive Folgen auf die eine oder andere Art. Und viele haben, sofern sie in ähnliche Gruppen und Dynamiken geraten würden, wie die Extremisten, durchaus ein inneres extremistisches Potential. Sie sind verführbar. In komplexen Situationen und außergewöhnlichen gesellschaftlichen Dynamiken wie z.B. der NS-Zeit zeigt sich deutlich, dass sich diese destruktiven Potentiale der Einzelnen zu einem Massenphänomen entwickeln können. Wäre die Mehrheit der Kinder um 1900 liebevoll und ohne Gewalt erzogen worden, wäre das NS-System nicht denkbar. Genauso sieht es heute bzgl. der extremistischen Gruppen aus. Könnten sie nicht auf "beschädigte, vergiftetet Seelen" zurückgreifen, sie fänden einfach keine Anhänger.
Nun, in dem Text Rik Coolsaet geht es nicht um die Kindheit der Extremisten. Er erwähnt diese gar nicht, aber das kennen wir ja schon... Trotzdem bringt er in einigen Sätzen die Dinge auf den Punkt.
Hier zunächst die Quelle: Coolsaet, Rik (2015). WHAT DRIVES EUROPEANS TO SYRIA, AND TO IS? INSIGHTS FROM THE BELGIAN CASE. EGMONT Paper 75. Gent: Academia Press.
Mir geht es um diese Textauszüge:
„For a significant number of them, drugs, petty crime and street violence have been part of their former life. From the sources mentioned, one gets the impression of solitary individuals, sometimes also estranged from family and friends, who at a certain point became angry as a result of their estrangement. Going to Syria is one of a number of possible outlets for their anger. ‘Anger with an Islamic dressing,’ the Dutch Middle East expert Paul Aarts opined.“ (S. 11)
"But more often than not, today’s foreign fighters are not fundamentalists in the real sense of the word: their knowledge of Islam is generally extremely superficial." (S. 11)
„Escape to Syria is one of a series of possible outlets, next to drugs and delinquency (not unexceptional for many Syria fighters), membership of street gangs, suicide or other deviant behaviour.“ (S. 18)
Religion spielt für die meisten heutigen europäischen Dschihadisten im Grunde keine Rolle. Ihr Extremismus ist nur ein möglicher destruktiver und oft auch selbst-destruktiver Weg von vielen möglichen, von denen viele Extremisten bereits einige gegangen sind: Drogen, Suizidgedanken, kriminelles Verhalten u.a. "Anger with an Islamic Dressing", das ist für mich der Kernsatz! Islamistischer Terror ist derzeit einfach die "Farbe" (oder Ausdrucksform der "Vergiftung"), mit der sich manch einer identifiziert, der 1914 vielleicht für den Kaiser in den Krieg gezogen wäre, der 1933 Hitler zugejubelt hätte oder der sich einfach in einem Waldstück umgebracht hätte. Hass bleibt Hass. Die Farben der Gewalt täuschen manch einem bzgl. der tieferen Ursachen. Wir müssen aber Auslöser, Gelegenheit, Gruppendynamiken und Ursachen trennen. (Auslöser, Gelegenheit, Gruppendynamiken werden von Forschenden und Experten oft zusammen als Ursachen betrachtet, was den Blick auf emotionale Faktoren verbaut.) Die eigentlichen Ursachen liegen in der Kindheit. Der Rest ist ein Rahmen, der zur Analyse gehört, sicher, aber der nicht die inneren Motivationen, den Selbsthass und die Bereitschaft zum Morden erklären kann.
Nebenbei bemerkt wissen wir heute dank vieler Studien so einiges über die destruktive Kindheit von Kriminellen. Diese Schablone können wir also auch auf diejenigen anwenden, die eine kriminelle Vorgeschichte haben und heute "geläuterte" Extremisten sind, was auf nicht wenige zuzutreffen scheint. Wir verfügen somit - neben den Fallbeispielen, die ich hier immer wieder im Blog besprochen habe - über eine empirische Grundlage und nicht nur über Mutmaßungen.
Zum Thema Empirie:
AntwortenLöschenWas Ich bei deiner Arbeit wirklich am "empirisch Aussagekräftigsten" finde, also das, was Ich die größte Beweiskraft zubillige, sind Phänomene von "Kollektivem Selbstmord", also wo eine gesamte Kultur/Gruppe in den Abgrund springt und es nicht nur auf Einzelpersonen beschränkt ist.
Aggression, Gewalt etc. kann man immer irgendwie Anders erklären (z.B. der Kampf um die Position als Leitwolf) und bei einzelnen Selbstmorden gäbe es dank Dawkins Egoistischem Gen auch andere Erklärungen. (Rattenstämme schicken z.B. um herauszufinden, ob ein Essen vergiftet ist, einige zum Probieren und wenn die dann Sterben war es vergiftet. Man kann bei menschlichen Selbstmorden irgendwie vermuten, dass da irgendein natürliches System falsch funktioniert.)
Nur, wenn eine gesamte Gesellschaft über die Klippe springt, dann ist das nicht mehr natürlich. Dann dient die Destruktivität nicht mehr dem Schutz der Reproduktionsfähigkeit der Gruppe, sondern es geht alles zu Bruch. Es gibt auf "Ökonomischer Ebene" keinen Vorteil aus der Destruktion.
Bei solchen gehäuften Phänomenen in Masse hast Du echt was gefunden, was Hand und Fuß hat.