Donnerstag, 14. April 2016

Kindheit von Kurt Cobain - Sein Leben als eine mögliche Ausdrucksform von Selbsthass

 
Der vierzehnjährige Kurt Cobain zu einem Jugendfreund: Ich werde ein Rocksuperstar, bringe mich um und mache einen flammenden Abgang.“ (Cross 2013, Position 780)


Ich selbst war ein Teenager, als die Band Nirvana mit ihrem Hit „Smells Like Teen Spirit“ ihren Durchbruch feierte und ein Stück weit die Mainstream Musiklinie veränderte. Ich hörte damals alles Mögliche an Musik. Ich war nie ein vergötternder, abgehobener Fan irgendeiner Band, aber ich war Fan einiger Bands, dazu gehörte eine Zeit lang Nirvana. 1994 hatte ich eine Karte für das geplante Konzert in Hamburg, was mein erster Livebesuch dieser Gruppe gewesen wäre.  Der Auftritt fiel aus, Kurt Cobain hatte sich erschossen...

Wenn ich die Musik von Nirvana heute zufällig im Radio höre, dann höre ich die Musik mit großer Distanz. Gut, ich bin kein Teenager mehr, der Musikgeschmack verändert sich. Aber es ist auch dieses offen Destruktive, das die Musik und vor allem die Texte/den Gesang durchzieht, das mich stört. Manche Melodien finde ich dagegen bis heute gut. Die Beschäftigung mit dem Sänger der Band, Kurt Cobain, ist somit ein Stück weit persönlicher, so man will, als wenn ich die Kindheit von Stalin & Co. bespreche. 

Als Student kaufte ich mir einmal ein Exemplar der „Tagebücher 1988 -1994“ von Kurt Cobain. Irgendwie hatte ich wohl immer noch Fragen offen. Warum hat Kurt Cobain so enorm destruktiv gelebt? Warum hat er sich erschossen? Wie war seine Kindheit? Wer war er überhaupt? Damals machte ich einige Notizen in den Tagebüchern, da kleine Details etwas zur Kindheit andeuteten. Aber an sich fand ich die Texte und Bilder einfach nur wirr, deshalb auch schwer zu lesen und wenig erkenntnisreich. Für diesen Text werde ich trotzdem kurz daraus zitieren.

Vor einigen Tagen sah ich in der ARD die Dokumentation „All Apologies - Kurt Cobain“ (06.04.2016, ARD) Diese Doku hat mich noch einmal motiviert, etwas genauer zu recherchieren. Man erfährt darin, dass Kurt Cobain in der trostlose Holzfällerstadt Aberdeen aufgewachsen ist, die durch den Niedergang der Holzindustrie fast zur Geisterstadt wurde. Ein destruktives Lebensgefühl lag also über der Stadt.
Kurt hatte eine relativ glückliche Kindheit, bis seine Eltern sich scheiden ließen.“, sagte eine Jugendfreundin von Kurt in der Doku. Nach der Scheidung lebte er bei seinem Vater und seiner Stiefmutter. „Von seinen Eltern fühlte er sich nicht akzeptiert“, hängt die Jugendfreundin noch an. Zeitweise war der wohl bereits ältere Kurt obdachlos, schlief unter Brücken oder im Krankenhausvorraum. Nachdem ich diese Informationen herausgefiltert hatte, wurde das Bild für mich bereits etwas klarer. Ich fragte mich aber immer noch: Reicht das aus? Kurt Cobain hatte eine derart destruktive, selbsthassende, „alles-egal“ Ausstrahlung, er war drogensüchtig und da war auch noch sein Selbstmord. Erklärt ein trostloses Umfeld, eine Scheidung, nicht akzeptiert werden und spätere kurzzeitige Obdachlosigkeit eine solchen Lebensweg – gepaart mit einer (angeblich) relativ glücklichen Kindheit in den ersten Lebensjahren?

Für die Recherche besorgte ich mir das Buch „Der Himmel über Nirvana. Kurt Cobains Leben und Sterben“ von Charles R. Cross, der auch in der o.g. Doku oft zu Wort kam. Ich muss sagen, dass mich die Details über Kurt Cobains Kindheit geradezu umgehauen haben. Es ist erstaunlich, dass mich nach den langen Jahren der Recherche über Kindheit und Folgen von Kindesmisshandlung immer noch etwas umhaut. Mich haben die Informationen in dem Buch aus zwei Gründen umgehauen.
Erstens: Seine Kindheit war ein reiner Alptraum. Ich möchte in meinem Blog möglichst seriös arbeiten und habe auch einen gewissen wissenschaftlichen Anspruch. Mutmaßungen über Kindheitsgründe bleiben Mutmaßungen, solange man keine Belege vorlegen kann. Nach allem, was ich in den letzten Jahren gelesen und recherchiert habe, ist im Angesicht von extrem destruktiv agierenden Menschen allerdings eine gewisse Grundannahme nötig. Wer glaubt ernsthaft, dass Menschen wie Kurt Cobain oder andere Hasser und Zerstörer nur „hier und da“ Destruktivität als Kind erlebten? „Hier und da“ erklärt gar nichts! Das Verhalten von Menschen spricht bereits Bände über das, was sie selbst einst erlebten. Es war doch einfach nur logisch, dass jemand wie Kurt Cobain einen reinen Kindheitsalptraum erlebte. Wie hätte es anders sein können?
Zweites haben mich die Informationen umgehauen, weil ich sie bisher nirgends wahrgenommen habe. Auf Wikipedia stehen nur Oberflächeninfos über die Kindheit, selbst in der o.g. Fernsehdoku wurden enorm wichtige Details über seine Kindheit ausgespart, obwohl man ja mit dem besagten Biografen zusammengearbeitet hatte. Wie können so wichtige Details, wie ich sie gleich besprechen werde, öffentlich so wenig Beachtung finden? Unfassbar.

Fangen wir gleich mit einer wesentlichen Information an: Kurt wurde als Kind von seinem Vater Don misshandelt. „Don war kein Mann vieler Worte und er hatte nie gelernt, Gefühle auszudrücken.“ (Cross 2013, Position 602) und „Wie einst sein Vater mit ihm war auch Don streng mit seinen Kindern. Einer von Wendys Vorwürfen an ihren Mann war der, dass er von den Kindern ständig Tadelloses Betragen verlangte – ein unmöglicher Standard – und von Kurt erwartete, er solle sich wie ein `kleiner Erwachsener` benehmen.“ (ebd., Position 439) Entsprechend gab es für alltägliche Vergehen „öfter mal eine Tracht Prügel“. (ebd.) Und ergänzend gab es Drohungen:  „(…) Dons übliche – und beinahe täglich angewandte – Methode der körperlichen Züchtigung bestand darin, Kurt mit zwei gestreckten Fingern vor die Brust oder gegen die Schläfe zu stoßen. Das tat zwar nicht besonders weh, der psychologische Schaden jedoch war enorm: Die Stöße erinnerten seinen Sohn ständig daran, dass ihm jederzeit Schlimmeres blühen konnte, und verstärkten Dons Dominanz. Kurt begann sich immer öfter in den begehbaren Wandschrank seines Zimmers zurückzuziehen.“ (ebd.) Spott und Sarkasmus beherrschten den Familienalltag ebenso wie Geldsorgen und Streitigkeiten zwischen den Eltern.

Schließlich trennten sich die Eltern als Kurt neun Jahre alt war. Die Scheidung bezeichnet der Biograf als Krieg, „der mit all dem Hass, der Bosheit und den Rachegelüsten einer Blutfehde geführt wurde. Für Kurt kam das alles einem emotionalen Super-GAU gleich – kein anderes Erlebnis in seinem Leben hatte mehr Einfluss auf die Prägung seiner Persönlichkeit.“  (Cross 2013, Position 547) Im Juni des Scheidungsjahres schrieb Kurt an die Wand seines Schlafzimmers: „Ich hasse Mom, ich hasse Dad. Dad hasst Mom, Mom hasst Dad. Man möchte einfach nur noch ganz traurig sein.“ (ebd.)
Kurz nach der Scheidung wollte Kurt zu seinem Vater (der bei seinen eigenen Eltern lebte) ziehen und tat dies auch. Dies bedeutete auch, dass Kurt unter den Einfluss seiner Großeltern – Leland und Iris - kam (Wir erinnern uns: Kurts Großvater Leland war sehr streng mit seinem Sohn, Kurts Vater, umgegangen. Außerdem hatte Leland selbst eine schwere Kindheit in bitterer Armut verbracht, sein Vater war zudem früh gestorben). Sein Vater heiratet wenig später erneut, gegen den Willen von Kurt, was neue Konflikte hervorbrachte. Es ist schon aufschlussreich, dass Kurt unbedingt bei seinem Vater leben wollte, obwohl dieser ihn doch misshandelt und gedemütigt hatte.

Über Kurts Mutter Wendy erfährt man einiges, was ich gleich noch ausführen werde, allerdings wenig über ihren Erziehungsstil. Ihr Verhältnis zu ihrem Sohn muss entsprechend miserabel gewesen sein, wenn dieser lieber zu seinem gewalttätigen Vater zieht. In seinem Tagebuch blickt Kurt Cobain auf seine Highschool-Zeit zurück und wie er erstmal Pot rauchte. Beiläufig schreibt er: „Zufällig erreichte die seelische Misshandlung durch meine Mutter in diesem Monat ihren Höhepunkt. Es stellte sich heraus, dass mir Pot nicht mehr so gut half, meinen Sorgen zu entkommen. Mir machte es richtig Spaß rebellische Dinge zu tun, wie Alkohol zu klauen, Schaufenster einzuwerfen und Schlägereien anzufangen etc. Mir war sowieso alles egal. Im Monat darauf beschloss ich, nicht bloß auf meinem Dach zu sitzen und darüber nachzudenken runterzuspringen, sondern mich wirklich umzubringen, aber ich wollte nicht aus dieser Welt gehen, ohne zu wissen, wie es ist zu bumsen.“ (Drechsler & Hellmann 2002, S. 31) Eine Seite weiter erfährt man, dass er einem Selbstmordversuch nur entging, weil der heranfahrende Zug ein Gleis weiter vorbeifuhr, statt auf dem, wo er sich hingelegt hatte. Wie konkret die „seelischen Misshandlungen“ durch seine Mutter aussahen, erfährt man nicht. Diese im Zusammenhang mit Suizidgedanken zu benennen, spricht wohl für sich.
Seine Mutter Wendy neigte zu Zornesausbrüchen, heißt es in der Biografie, allerdings auch ohne konkret zu werden.  (Cross 2013, Position 515) Kurz nach der Trennung kam sie mit einem neuen Mann zusammen, der ebenfalls zu Jähzorn und Gewaltausbrüchen neigte. (ebd., Position 539) Später, ca. 1978, brach er Wendy im Streit sogar den Arm. Wendy neigte ab dieser Zeit dazu, sich heftig zu betrinken. (Cross 2013, Position 641) Für den Freund seiner Mutter, hatte Kurt nur blanke Wut übrig. „Er konnte seine Mutter nicht vor ihm beschützen, und der Stress, die Auseinandersetzungen der beiden miterleben zu müssen, ließ ihn um ihr Leben fürchten, womöglich auch um seins. Er bedauerte seine Mutter und hasste sie sogleich dafür, sie bedauern zu müssen.“ (Cross 2013, Position 649) Kurt wurde in der Folge schwierig im Umgang mit Erwachsenen an sich, quälte und mobbte aber auch einen Mitschüler so sehr, dass dieser nicht mehr in die Schule gehen wollte. Sein Vater brachte ihn darauf einige Zeit zu einem Therapeuten.

Der mittlerweile vierzehnjährige Kurt isolierte sich immer mehr von seiner Familie; zeigte aber auch deutlich, wie es in seinem Inneren aussah. Eines Tages „warf er die lebendige Katze (Anmerkung: eines Nachbarn) in den Kamin des elterlichen Hauses und lachte, als sie starb und es im ganzen Haus zu stinken begann.“  (Cross 2013, Position 829) Experimente mit Drogen begannen bereits in der 8. Klasse, ebenfalls häufiges Schule schwänzen. (Cross 2013, Position 803) Auf seinen eigenen Wunsch hin verließ Kurt im März 1982 – im Alter von fünfzehn Jahren – seinen Vater und seine Stiefmutter um „die nächsten paar Jahre in der ´Wildnis` von Grays Harbor herumzutreiben. Obwohl er zwei längere Stopps von je knapp einem Jahr einlegte, lebte er während der nächsten vier Jahre in zehn verschiedenen Häusern, bei zehn verschiedenen Familien.“ (Cross 2013, Position 875) Eine Station davon war sein Großvater väterlicherseits, ansonsten diverse Onkel und Tanten.
In einem Brief an seinen Vater schrieb Kurt einen im Grunde alles zusammenfassenden Satz: „Ich habe nie Partei für Dich oder meine Mutter ergriffen, denn während ich aufwuchs, empfand ich für Euch beide die gleiche Verachtung.“ (Drechsler & Hellmann 2002, S. 243)

Dies sind die wesentlichen Grundzüge seiner Kindheit und Jugend. Darüber hinaus gab es Suizide in seiner Familie oder Kurt sah als Jugendlicher auch einen Jungen, der sich an einem Baum erhängt hatte. All dies wird dieses Kind schwer traumatisiert haben.
In seiner Einleitung schreibt sein Biograf: „Er war einer, der anderen seinen Willen aufzwang, gleichzeitig aber von einem schier übermächtigen Selbsthass zerfressen war. Sogar die, die ihn am besten kannten, hatten das Gefühl, ihn im Grunde überhaupt nicht zu kennen (…).“ (Cross 2013,Position 167)
In seinem Tagebuch schrieb Kurt Cobain an einer Stelle über sich: „Ich benutze Versatzstücke anderer Persönlichkeiten, um meine eigene zu formen.“ (Drechsler & Hellmann 2002, S. 91)

Jemand, der solche massive Verletzungen als Kind erlitten hat, kann keine eigene Persönlichkeit aufbauen und ist daraufhin von Selbsthass durchzogen. Arno Gruen hat viel darüber geschrieben.
Für mich ist das Rätsel um Kurt Cobain aufgeklärt. Ein Teil seines Erfolges beruht meiner Meinung nach auch darauf, dass Menschen in eine Nicht-Persönlichkeit (oder ein „falsches Selbst“) alles Mögliche hineinprojizieren können.  Kurt Cobain gab ein absurdes Statement in einem Interview ab oder schrieb einen bizarren Songtext, schon spekulierten alle wie er das gemeint haben könnte und was das über die Rebellion der Jugend aussagt usw. Aber vielleicht war es einfach so, wie er es sagte: Ohne Leben, ohne Gefühl, leer und ohne Sinn.

Um diesen Beitrag abzurunden und zum Bloggrundthema zurückzukommen. Jemand wie Kurt Cobain hatte musikalisches Talent. Dies leitete ihn auf einen bestimmten Weg. Auch ohne dieses Talent wäre sein Weg selbstdestruktiv gewesen. Wäre das gleiche Kind mit dem gleichen Kindheitsrahmen im Irak aufgewachsen, wäre er ein idealer Selbstmordattentäter. In Berlin wäre er vielleicht Linksextremist geworden. Als Kind reicher Eltern wäre er vielleicht jemand, der durch Geld und Macht andere Menschen niedermacht. Die Möglichkeiten sind so vielseitig, wie es Menschen gibt. Sein Weg wäre in allen erdenklichen Kontexten bei diesen extremen Kindheitshintergründen aber auf jeden Fall destruktiv und zerstörerische geworden.  Zumindest ohne Hilfe und Therapie. Das ist der Punkt.
Die meisten als Kind misshandelten Menschen werden keine Terroristen und Kriegstreiber. Dieser Fakt heißt aber nicht, dass sie nicht auch auf ihre eigene Art und je nach ihren Möglichkeiten ihre „Vergiftung“, ihren Hass ausdrücken. Kurt Cobain ist ein Beispiel dafür.


Quellen:

ARD  Dokumentation „All Apologies - Kurt Cobain“ (06.04.2016, ARD)

Cross, Charles R. (2013). Der Himmel über Nirvana. Kurt Cobains Leben und Sterben. Koch International / Hannibal Verlag. Kindle Edition.

Drechsler & Hellmann (2002). Kurt Cobain. Tagebücher. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

1 Kommentar:

  1. Michael Kumpmann15. April 2016 um 15:37

    Kurt Cobain war übrigens interessanterweise Teil des "Fänger im Roggen" Phänomens:
    http://isabelgg.blogspot.de/2006/12/catcher-in-rye.html
    http://www.theguardian.com/music/musicblog/2010/jan/29/jd-salinger-rock-star
    https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=2&cad=rja&uact=8&ved=0ahUKEwjZ-4nV4JDMAhUGKywKHeBjAc4QFggpMAE&url=https%3A%2F%2Fmorcanbooksandfilms.com%2F2014%2F04%2F25%2Fthe-catcher-in-the-rye-enigma%2F&usg=AFQjCNEeiSe1TNdQY7IgQVnVtiGE2j1suA&sig2=mgYC7mfLci5_f_vS3H_O6Q

    Falls Du die Sci Fi Serie Ghost in the Shell geguckt hast, wo mehrere Mörder den Fänger im Roggen bei sich trugen, das basiert auf Tatsachen.

    Der Fänger im Roggen ist ein Buch über einen Jungen, der quasi von seinen Eltern Vernachlässigt wird, die Welt als Grausam und die Erwachsenen als inhärent Korrupt und Betrügerisch empfindet und deshalb davon träumt, die Kinder vor der "grausamen Realität" zu schützen.

    Seltsamerweise haben extrem viele Mörder oder Selbstmörder dieses Buch obsessiv verehrt. Der Typ, der John Lennon erschoss, trug das Buch während der Tat sogar bei sich, um die Tat quasi dem Buch zu weihen. Der, der auf Ronald Reagan schoss, ebenfalls. Auch ein Mörder eines Supermodels hatte dieses Buch bei sich, genau so wie der Ökoterrorist Ted Kaczinsky, Lee Harvey Oswald (OK. Der hat wahrscheinlich niemanden umgebracht. ;) LOL ), Charles Manson und viele Andere. Und Kurt Kobain nahm das Buch vor seinem Selbstmord auch ständig mit und zog sich sogar genau so an wie der Protagonist aus dem Buch.

    Irgendwie bietet diese Geschichte des vernachlässigten Jungen und Außenseiters extremes Identifikation

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