Das weltweite, enorme Ausmaß vielfältiger Gewalt gegen Kinder und die An- oder auch Abwesenheit von Mitgefühl sind für mich zentrale Aspekte der Kriegsursachen-/Extremismusforschung, denen ich hier nachgehen möchte. Meine Grundfrage lautet: Wie politisch war und ist Kindheit?
Freitag, 25. Januar 2019
"Ein schreckliches und ein großartiges Buch": Mein Buch ist ab sofort bestellbar!
Mein Buch ist ab sofort bei gängigen Onlinebuchhändlern (und wohl auch gängigen Buchhandlungen) vorbestellbar (z.B. amazon, Thalia, buch7 oder buecher.de) und wird voraussichtlich ab dem 20.02.2019 auslieferbar sein.
Der Mattes-Verlag hat sich für keine Bilder auf dem Cover entschieden, weil dies den Inhalt des Buches zu sehr einengen würde. Titel und Untertitel sagen dagegen bereits sehr viel aus und diese stehen entsprechend im Vordergrund. Statt einer Inhaltsangabe wurde vom Verlag ein Auszug aus der Buchrezension von Dr. Ludwig Janus auf der Buchrückseite eingefügt:
»Das Buch des Psychohistorikers Sven Fuchs ist zugleich ein schreckliches und ein großartiges Buch, eine Pflichtlektüre für alle, die sich für mehr Verantwortung in den sozialen Beziehungen, der Politik und im Umgang mit Kindern einsetzen möchten. Es bietet einen faktenreichen Überblick über die Gewalt im Umgang mit Kindern in Vergangenheit und Gegenwart. Gerade, weil die heutige Erziehung weniger gewaltorientiert ist, ist ein solcher vorurteilsfreier Blick auf die Dimension von Gewalt und Missbrauch in den Eltern-Kind-Beziehungen überhaupt möglich. Dass historische und auch noch gegenwärtige Kindheiten ein Albtraum und eine Hölle sein konnten und waren, wird von uns meist noch nicht wirklich realisiert. In diesem Sinne ist das Buch ein Augenöffner und verlangt dem Leser viel Bereitschaft ab, die unfassbare Dimension von Gewalt in den Eltern-Kind-Beziehungen wahrzunehmen.« (Ludwig Janus, Jahrbuch für psychohistorische Forschung Bd. 19)
Mein Buch sei „ein schreckliches und ein großartiges Buch“ fasst Janus zusammen. Dies trifft es sehr gut und es trifft vor allem auch meine eigene Gefühlslage sehr passgenau. Mein Buch ist für mich kein Werk, das ich stolz herumzeige und es mit Freude bekannt mache. Es bleibt immer auch ein schreckliches Buch, weil das Grundthema einfach schrecklich, belastend und erschreckend ist und bleibt. Ein Buch zu schreiben, war dabei sicherlich auch ein Stück weit eine intellektuelle Herausforderung für mich. Diese Herausforderung angenommen zu haben, hat mir auch Spaß gemacht. Ich freue mich natürlich, dass ich dieses Buchprojekt geschafft habe und ich wünsche mir vor allem, dass das Buch etwas bewegt und vielleicht sogar auch zu mehr Kinderschutz motiviert. Ich bin von dem Inhalt meines Buches zutiefst überzeugt und habe ein Buch geschrieben, das mir bisher in der Buchlandschaft fehlt und das einfach aus meiner Sicht eine zwingende Notwendigkeit ist. Der Grundinhalt meines Buches sollte zum Allgemeinwissen gehören und auch Teil von politischer Bildung sein.
Das Thema bleibt aber immer gefühlsmäßig ein zwiespältiges. Manchmal denke ich sogar für mich: Warum musste ausgerechnet ich so tief in dem Thema graben? Aber es ist wie es ist. Ich selbst merke im Alltag auch immer wieder, dass ich nicht an dem Thema vorbeikomme. Zu oft fallen mir bei allen möglichen Situationen Kindheitshintergründe (oft auch gepaart mit irrationalem Verhalten) ins Auge. Es gibt wirklich viele schöne Themen im Leben. Die Themen Kindesmisshandlung und belastende Kindheitserfahrungen gehören nicht dazu. Wir sind es aber den Kindern und auch der menschlichen Zukunft schuldig, dass wir hinsehen und uns mit dem Themenkomplex befassen. Über etwas zu lesen, kann nie schlimmer sein, als das, was Kindern überall auf der Welt real angetan wurde und wird.
Zudem ist mein Buch auch zu einem Teil egoistisch: Ich möchte, dass die Kindheit weltweit befriedet wird, damit das Leben für mich und meine Kinder und deren spätere Kinder immer sicherer und besser wird und von immer weniger menschlicher Verrücktheit und Krankheit durchzogen ist. Wer meinen Blog kennt, der weiß, um was für gesellschaftliche und politische Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen es mir alles geht.
Ich selbst bin in den sozialen Medien außer durch meinen Blog gänzlich nicht präsent. Für mich sind Twitter, Facebook & Co. große Zeiträuber und meine Zeit ist mir zu kostbar. Insofern verfüge ich über kein Netz von Onlineverbindungen und -Bekanntschaften. Wer mein Anliegen unterstützen möchte und wer online etwas aktiver ist, als ich dies bin, den möchte ich hiermit herzlich um etwas Hilfe bei der Bewerbung bitten. Ich freue mich natürlich auch über Kommentare und Bewertungen. Lustiger Weise hat eine Leserin mein Buch bei amazon bereits mit 5 Sternen bewertet, obwohl es noch gar nicht herausgekommen ist. Im vollen Vertrauen darauf, dass es die 5 Sterne verdient hätte :-). Ich freue mich aber auch über Kritik, denn Kritik bringt einen manchmal auch weiter.
Mittwoch, 16. Januar 2019
Massenmörder fallen nicht vom Himmel! Der Fall Stephen Paddock
Unter dem Titel „Warum wurde Stephen Paddock zum Attentäter?“ hat Caroline Fetscher im Tagesspiegel (01.10.2018) einen Artikel veröffentlicht, der es in sich hat. Ehrlich gesagt habe ich in der deutschen Medienlandschaft bisher keinen Artikel gelesen, der so weit in die Tiefe ging, um einen Täter und dessen Familie zu analysieren. Von dem Artikel gibt es auch eine Langversion, die ich sehr empfehle.
Frau Fetscher macht deutlich, dass Massenmörder wie Stephen Paddock, der am 01. Oktober 2017 das bisher schlimmste Schusswaffenmassaker in der USA durch einen Einzeltäter angerichtet hat, nicht vom Himmel fallen. In ihrer Analyse erfährt man zwar wenig über den Erziehungsalltag und den Umgang mit Stephen Paddock, als dieser aufwuchs. Allerdings wird deutlich, dass über Paddocks Sozialisation ein großer Schatten lag, der da lautet: sein psychopathischer und schwerkrimineller Vater Benjamin Hoskins Paddock Jr.
Fetscher schreibt: „Eine ultimative Antwort wird es im Fall Stephen Paddock kaum geben. Aber Spuren, die auf Antworten deuten, finden sich zuhauf – in der Katastrophe einer Sozialisation.“ (Langversion, S. 4)
„1946, er war 19 Jahre alt, wurde Benjamin Paddock Jr. in Chicago wegen zwölffachen Autodiebstahls, Urkundenfälschung und Hochstapelei verurteilt.“ (S. 6) Er saß in der Folge fast fünf Jahre in einer Hochsicherheitsanstalt ein. Paddock Jr. erklärte später, „er sei während dieser Zeit oft in Schlägereien verwickelt gewesen und habe „siebzig Prozent“ der Haftzeit in Einzelzellen verbracht, da er nicht bereit war, sich an die Regularien zu halten.“ (S. 7) Dies sollte nicht die einzige Inhaftierung bleiben. „Wenige Monate nach Stephens Geburt wurde sein Vater zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, die Haft trennte die eben erst gegründete Familie und wird die Mutter schockiert haben.“ (S. 9)
„Stephen war dreieinhalb Jahre alt, als sich für ihn vieles änderte. Er hatte die Mutter mit niemandem teilen müssen, und jetzt war ein ihm nahezu fremder Vater präsent, der bereits acht seiner dreißig Lebensjahre in Haft verbracht und mehr Erfahrung mit der Rohheit der Anstalt als der Verantwortung für Andere hinter sich hatte.“ (S. 9) Fetscher schreibt: „Benjamin Paddock Jr. dürfte ein impulsiver, wahrscheinlich – bedingt auch durch die Hafterfahrung – gewalttätiger Mann gewesen sein, der zugleich faszinierende Fähigkeiten besaß.“ (S. 10) Wie ging dieser Mann mit seinem Sohn Stephen um? Gab es Gewalt, psychische Übergriffe, verstörende Szenen? Und eine weitere Frage drängt sich zwangsläufig auf: Was für eine Persönlichkeit war eigentlich die Mutter von Stephen Paddock, sie sich in einen derart kriminellen Mann verliebt hatte und mehrere Kinder mit ihm bekam?
Das gemeinsame Familienleben dauerte allerdings nicht lange. Stephen war fast 6 Jahre alt, als sein Vater einen bewaffneten Raubüberfall auf eine Bank beging. Es folgte ein weiterer Raubüberfall. Noch wurde der Vater dabei nicht gefasst. Am 26. Juli 1960 wurde der Vater nach einem erneuten Raubüberfall inhaftiert, Stephen war zu der Zeit 7 Jahre alt.
Für Stephens Mutter und die Kinder war dieser Tag ein „emotionales Erdbeben. Den Söhnen, die nach Daddy fragen konnten, also Stephen und Patrick, erklärte die Mutter, ihr Vater sei tot und werde nie wiederkommen. (…) Aber ein wacher Siebenjähriger merkt nicht nur, (…), dass zu Hause etwas Katastrophales geschieht. Er wird bald auch wahrnehmen, dass die Mutter keineswegs in Trauer ist, sondern in Angst und Not, dass Worte unter Erwachsenen getuschelt werden oder abrupt geschwiegen wird, sobald die Kinder auftauchen. Warum gibt es kein Grab, keine Trauerfeier, kann Stephen bald gegrübelt haben. Was ist mit Daddy passiert? Seine Fragen werden auf eine Mauer aus Tabus gestoßen sein. Als Faktum blieb: Der Vater war weg. Stephen Paddock war mit dem plötzlichen Verlust des Vaters allein. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, sich von ihm zu verabschieden. (…) Wo sich ein Kind derart spannungsgeladenen Affekten ausgesetzt sieht wie Stephen Paddock ab dem Juli 1960, läuft es Gefahr, nachgerade zu kollabieren. Um der Überwältigung durch Affekte zu entgehen, sucht die Psyche das Belastende abzuspalten. Erklären Erwachsene, wie hier, pathologisches Ungeschehenmachen zur Norm, sind dissoziative Reaktionen der Kinder vollends unvermeidlich. (…) Höchstwahrscheinlich kämpfte Stephen Paddocks Psyche mit Forderungen, Überforderungen, Tabus, Schuldgefühlen und Ängsten. In der Familie hatte sich Dynamit angesammelt, sie war ein Speicher emotionaler Sprengsätze – und wieder auf der Flucht. Jetzt wollte die Mutter den Sprengstoff vergraben, damit er nicht explodierte. Dafür sollte das „Daddy ist tot“ die Zauberformel sein." (S. 12,13)
1968 brach der Vater, der zu ca. 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, aus dem Gefängnis aus und tauchte ca. 10 Jahre unter. In den gesamten USA wurde nach ihm gefahndet und er stand ab 1969 eine Zeit lang auf der Liste der 10 meistgesuchten Verbrecher des Landes. Caroline Fetscher geht davon aus, dass seine Söhne damals erfuhren, dass ihr Vater noch lebt und ihre Mutter sie belogen hatte. Stephen war zu der Zeit bereits ein Jugendlicher. Spätestens Ende der 1970er Jahre erfuhren die Söhne nachweisbar von ihrem Vater, als dieser aufgegriffen und nach kurzer Haftzeit begnadigt wurde. Diese "Wiedergeburt" des Vaters wird die Söhne schwer verstört haben.
Ich belasse es bei diesen Auszügen. Die Analyse von Fetscher ist derart umfangreich, dass ich bei Interesse dringend deren Lektüre empfehle. Alles in Allem kann man sagen, dass das Familienleben von Stephen Paddock ein Alptraum aus Verlusten, Lügen, Familiengeheimnissen, Armut, Verzweiflung, fehlender Hilfe gepaart mit psychisch kranken Elternteilen und einem schwer kriminellen Vater war.
Frau Fetscher macht deutlich, dass Massenmörder wie Stephen Paddock, der am 01. Oktober 2017 das bisher schlimmste Schusswaffenmassaker in der USA durch einen Einzeltäter angerichtet hat, nicht vom Himmel fallen. In ihrer Analyse erfährt man zwar wenig über den Erziehungsalltag und den Umgang mit Stephen Paddock, als dieser aufwuchs. Allerdings wird deutlich, dass über Paddocks Sozialisation ein großer Schatten lag, der da lautet: sein psychopathischer und schwerkrimineller Vater Benjamin Hoskins Paddock Jr.
Fetscher schreibt: „Eine ultimative Antwort wird es im Fall Stephen Paddock kaum geben. Aber Spuren, die auf Antworten deuten, finden sich zuhauf – in der Katastrophe einer Sozialisation.“ (Langversion, S. 4)
„1946, er war 19 Jahre alt, wurde Benjamin Paddock Jr. in Chicago wegen zwölffachen Autodiebstahls, Urkundenfälschung und Hochstapelei verurteilt.“ (S. 6) Er saß in der Folge fast fünf Jahre in einer Hochsicherheitsanstalt ein. Paddock Jr. erklärte später, „er sei während dieser Zeit oft in Schlägereien verwickelt gewesen und habe „siebzig Prozent“ der Haftzeit in Einzelzellen verbracht, da er nicht bereit war, sich an die Regularien zu halten.“ (S. 7) Dies sollte nicht die einzige Inhaftierung bleiben. „Wenige Monate nach Stephens Geburt wurde sein Vater zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, die Haft trennte die eben erst gegründete Familie und wird die Mutter schockiert haben.“ (S. 9)
„Stephen war dreieinhalb Jahre alt, als sich für ihn vieles änderte. Er hatte die Mutter mit niemandem teilen müssen, und jetzt war ein ihm nahezu fremder Vater präsent, der bereits acht seiner dreißig Lebensjahre in Haft verbracht und mehr Erfahrung mit der Rohheit der Anstalt als der Verantwortung für Andere hinter sich hatte.“ (S. 9) Fetscher schreibt: „Benjamin Paddock Jr. dürfte ein impulsiver, wahrscheinlich – bedingt auch durch die Hafterfahrung – gewalttätiger Mann gewesen sein, der zugleich faszinierende Fähigkeiten besaß.“ (S. 10) Wie ging dieser Mann mit seinem Sohn Stephen um? Gab es Gewalt, psychische Übergriffe, verstörende Szenen? Und eine weitere Frage drängt sich zwangsläufig auf: Was für eine Persönlichkeit war eigentlich die Mutter von Stephen Paddock, sie sich in einen derart kriminellen Mann verliebt hatte und mehrere Kinder mit ihm bekam?
Das gemeinsame Familienleben dauerte allerdings nicht lange. Stephen war fast 6 Jahre alt, als sein Vater einen bewaffneten Raubüberfall auf eine Bank beging. Es folgte ein weiterer Raubüberfall. Noch wurde der Vater dabei nicht gefasst. Am 26. Juli 1960 wurde der Vater nach einem erneuten Raubüberfall inhaftiert, Stephen war zu der Zeit 7 Jahre alt.
Für Stephens Mutter und die Kinder war dieser Tag ein „emotionales Erdbeben. Den Söhnen, die nach Daddy fragen konnten, also Stephen und Patrick, erklärte die Mutter, ihr Vater sei tot und werde nie wiederkommen. (…) Aber ein wacher Siebenjähriger merkt nicht nur, (…), dass zu Hause etwas Katastrophales geschieht. Er wird bald auch wahrnehmen, dass die Mutter keineswegs in Trauer ist, sondern in Angst und Not, dass Worte unter Erwachsenen getuschelt werden oder abrupt geschwiegen wird, sobald die Kinder auftauchen. Warum gibt es kein Grab, keine Trauerfeier, kann Stephen bald gegrübelt haben. Was ist mit Daddy passiert? Seine Fragen werden auf eine Mauer aus Tabus gestoßen sein. Als Faktum blieb: Der Vater war weg. Stephen Paddock war mit dem plötzlichen Verlust des Vaters allein. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, sich von ihm zu verabschieden. (…) Wo sich ein Kind derart spannungsgeladenen Affekten ausgesetzt sieht wie Stephen Paddock ab dem Juli 1960, läuft es Gefahr, nachgerade zu kollabieren. Um der Überwältigung durch Affekte zu entgehen, sucht die Psyche das Belastende abzuspalten. Erklären Erwachsene, wie hier, pathologisches Ungeschehenmachen zur Norm, sind dissoziative Reaktionen der Kinder vollends unvermeidlich. (…) Höchstwahrscheinlich kämpfte Stephen Paddocks Psyche mit Forderungen, Überforderungen, Tabus, Schuldgefühlen und Ängsten. In der Familie hatte sich Dynamit angesammelt, sie war ein Speicher emotionaler Sprengsätze – und wieder auf der Flucht. Jetzt wollte die Mutter den Sprengstoff vergraben, damit er nicht explodierte. Dafür sollte das „Daddy ist tot“ die Zauberformel sein." (S. 12,13)
1968 brach der Vater, der zu ca. 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, aus dem Gefängnis aus und tauchte ca. 10 Jahre unter. In den gesamten USA wurde nach ihm gefahndet und er stand ab 1969 eine Zeit lang auf der Liste der 10 meistgesuchten Verbrecher des Landes. Caroline Fetscher geht davon aus, dass seine Söhne damals erfuhren, dass ihr Vater noch lebt und ihre Mutter sie belogen hatte. Stephen war zu der Zeit bereits ein Jugendlicher. Spätestens Ende der 1970er Jahre erfuhren die Söhne nachweisbar von ihrem Vater, als dieser aufgegriffen und nach kurzer Haftzeit begnadigt wurde. Diese "Wiedergeburt" des Vaters wird die Söhne schwer verstört haben.
Ich belasse es bei diesen Auszügen. Die Analyse von Fetscher ist derart umfangreich, dass ich bei Interesse dringend deren Lektüre empfehle. Alles in Allem kann man sagen, dass das Familienleben von Stephen Paddock ein Alptraum aus Verlusten, Lügen, Familiengeheimnissen, Armut, Verzweiflung, fehlender Hilfe gepaart mit psychisch kranken Elternteilen und einem schwer kriminellen Vater war.
Freitag, 11. Januar 2019
"Wider dem Fortschritt!" Destruktive emotionale Gruppenprozesse in der Welt.
Ohne Zweifel gibt es seit einigen Jahren ein schwer greifbares Rumoren, ein Brodeln, ein Hauch von Demokratiemüdigkeit bei einem Teil der Menschen und leider auch oftmals ein lautes Herumschreien, offenen Hass und Demokratiefeindlichkeit in vielen Gesellschaften, was sich kultur- und subkulturspezifisch jeweils unterschiedlich ausdrückt.
Wir haben die Wahl von Donald Trump in den USA erlebt, die Wahl für den Brexit in Großbritannien, die Umgestaltung der Türkei durch Recep Tayyip Erdoğan, rechtspopulistische Tendenzen in vielen europäischen Ländern, den Aufschwung der AFD in Deutschland, Menschen, die sich in Deutschland zu „Reichsbürgern“ erklären und die Verfassung ablehnen, PEGIDA Demonstrationen in Sachsen, die demokratische Wahl des ultrarechten Jair Bolsonaro in Brasilien, gewaltbelastete „Gelbwestenproteste“ in Frankreich, um nur einiges zu nennen.
Alle diese Entwicklungen haben auch ihre besonderen Eigenheiten und sind sicher zu einem Teil auch rational erklärbar. Um diesen Part der Erklärungen geht es mir hier nicht. Mir geht es – wie immer – um die irrationalen, sprich emotionalen Elemente dieser Entwicklungen.
Vorwegnehmen möchte ich einen großen Widerspruch. Ich selbst gehe auf Grund der Datenlage davon aus, dass die Welt immer besser wird und wir in etlichen Bereichen beständigen Fortschritt erleben und erlebt haben (was nicht bedeutet, dass alles gut ist und wir uns zurücklehnen können!). Wichtige Arbeiten und Quellen dazu sind für mich z.B. „Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“ von Hans Rosling, „Frohe Botschaft: Es steht nicht gut um die Menschheit – aber besser als jemals zuvor“ von Walter Wüllenweber, „Früher war alles schlechter: Warum es uns trotz Kriegen, Krankheiten und Katastrophen immer besser geht“ von Guido Mingels, „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“ von Steven Pinker, „Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung“ von Steven Pinker und natürlich das großartige Onlineprojekt „Our World in Data“ + ergänzend Gapminder.
Wer die Fortschritte in der Welt negiert, stellt sich blind gegenüber den Fakten. Obwohl es faktisch so gut um uns steht wie nie zuvor in der Geschichte, werden gerade in Teilen der westlichen Welt Weltuntergangsängste und Schwarzmalerei salonfähig.
Die psychohistorische Theorie ist die einzige mir bekannte Theorie, die destruktive Gruppenprozesse u.a. als eine Reaktion auf Fortschritt ansieht. In der Tat beschädigen offensichtlich die meisten oder alle der o.g. Prozesse die Lebensgrundlage von genau den Menschen, die sich doch vorher selbst als beschädigt definierten und deswegen so agierten und/oder wählten, wie sie es taten, um (angeblich) etwas zum Positiven zu verändern. Pegida bedroht ganz offensichtlich den Touristen- und Wirtschaftsstandort Dresden. Der Brexit lähmt die britische Wirtschaft und bindet zudem Beamte und Politiker, die ansonsten ihre Kräfte in die Entwicklung des Landes hätten stecken können. Donald Trump und seine Regierung benehmen sich wir Elefanten im Porzellanladen und haben dem Ansehen der USA massiv geschadet. Jair Bolsonaro wird Brasilien nicht sicherer machen, wenn er allen Menschen erlaubt, eine Waffe zu tragen, Militärangehörige in die Regierung holt und wenn er gegen politische Gegner und Minderheiten vorgeht. Auch die destruktiven ökonomischen Folgen des Kurses von Erdoğan sind bereits für die Türkei greifbar. Usw. usf.
Der Psychohistoriker Florian Galler hat aktuell einen Kommentar geschrieben, aus dem ich zitieren möchte. (Vorwegnehmen möchte ich, dass ich seinen benutzten Begriff von den „Konservativen“ für etwas ungünstig halte, denn Konservative sind keine Anti-Demokraten. Er schreibt allerdings auch im Textverlauf etwas von „radikalen Konservativen“. Letztlich geht es um politische Extremisten und Rechtspopulisten.) Galler schreibt:
„Das Hauptübel für die Konservativen ist das, was für die Demokraten das Vernünftige ist (Wohlfahrt der breiten Bevölkerung, Rechtsstaat, Friede und internationale Zusammenarbeit). All das vermindert nämlich die Möglichkeiten, frühe, prä- und perinatale traumatische Gefühle von Wut, Angst, Verachtung durch die Politik des Staates auszuagieren und damit abzuwehren.
Die Hassgefühle und die Verachtung gegen den Staat entstehen, weil der Nationalstaat seiner traditionellen Aufgabe der Abwehr früher traumatischer Gefühle durch deren Ausagierung innerhalb eines nationalen, unbewussten Gruppenprozesses in immer kleinerem Ausmass nachkommt oder nachkommen kann.“
Dies sind zentral wichtige Gedanken. Die äußeren Umstände (dabei vor allem Fortschritt und Veränderungen) scheinen bei so einigen Menschen starke destruktive und vergrabene Emotionen zu triggern. Damit einher geht die starke Angst vor dem Verlust der eigenen Identität oder dem zersplittern selbiger (im Kern sind viele aktuelle politischen Probleme Identitätsprobleme, angefangen bei der Angst der Briten vor der EU, der Angst in Deutschland vor Veränderung der Kultur bis hin der Angst der Amerikaner, das „alte Amerika“ zu verlieren; zudem vereint alle männlichen Angsthasen, die Angst vor der Emanzipation der Frauen, einem der größten kulturellen Wandlungsprozesse überhaupt). In Wahrheit zeigt sich gerade in Zeiten des Fortschritts und der Veränderung, dass so einige Menschen gar keine gesicherte, eigene Identität besitzen. Man klammert sich dann an das Alte: an Tradition, Nationalität, Rasse, Geschlechtsrolle und Religion. Und man sucht das Fremde, das (angeblich) Gefährliche, das zu Bekämpfende gepaart mit einem „Wir-gegen-Die“. Fremden- und Feindeshass pseudo-stabilisiert Menschen.
Noch vor 100 Jahren war es die Aufgabe von Vaterstaat, diesen destruktiven, aufkommenden Gefühlen ein Ventil zu bieten, das da vor allem lautete: Feindeshass und Krieg! Thomas Mann brachte die kollektive Irrationalität und den kollektiven Wahn beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges besonders auf den Punkt: „Wir kannten sie ja, diese Welt des Friedens. Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler, nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte? Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.“
Da sich die Menschheit, ihre Institutionen, aber vor allem auch die Kindererziehungspraxis stark weiterentwickelt hat (und auch sonstige traumatische Erfahrungen der Menschen stetig abgenommen haben oder durch psychosoziale Hilfen besser aufgefangen werden können), ist es heute nicht mehr so „einfach“, wie in früheren Zeiten. Heute werden in den Demokratien seichtere Rückschrittsprozesse eingeschlagen. Trotzdem sind diese Prozesse folgenreich und global spürbar. Interessanterweise sind die Folgen in europäischen Ländern mit ihrer am weitesten entwickelten Kindererziehungspraktiken und weniger Gewalt gegen Kinder auch spürbar seichter, während z.B. in den USA, Brasilien oder besonders in der arabischen Welt (wo es den Kinder deutlich schlechter ergeht) die Folgen massiver oder im Fall von z.B. Syrien sogar massenmörderisch sind. Teile Europas und die USA wählen eher selbstzerstörerische Wege und Feindeshass nur intern zwischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen, statt gegen ein „böses Außen“. Für Europa und erst recht für Deutschland gilt dies aber nur in Teilen und Ansätzen, denn faktisch läuft es seit Jahrzehnten gut für den Kontinent.
Es verwundert – um erneut die o.g. Zitate von Galler aufzugreifen – nicht, dass es in Teilen der demokratischen Gesellschaften Bemühungen gibt, den Rechtsstaat und auch die demokratische Weltgemeinschaft ins Wanken zu bringen. Denn nur ein Unrechtsstaat oder ein zersplitterter Staat wird der Abwehr früher traumatischer Gefühle besonders gerecht.
Auf Deutschland bezogen ist vor allem der Aufschwung der AFD sehr paradox. Würde man den pubertär wütenden Phrasen dieser Partei glauben, dann stünde Deutschland am Abgrund und Angela Merkel wäre der Teufel in Person. Alle objektiven Daten zeigen das genau Gegenteil: Deutschland und den meisten seiner Bürger und Bürgerinnen geht es so gut wie wohl noch nie. Und ich möchte nachhängen: Angela Merkel ist sichtbar kein Teufel.
Dass es einem Teil der Menschen (ökonomisch) nicht gut geht, versteht sich. Doch diese sind gar nicht das Hauptklientel der AFD. Paradoxer Weise gilt: „Die AfD wird vor allem von Menschen mit mittlerem bis gutem Einkommen gewählt.“
Um das Ganze etwas greifbarer zu machen, habe ich zwei Beispiele ausgewählt.
In der Sendung „Markus Lanz - Deutschland! vom 8. November 2018 - Gespräche über Einigkeit und Recht und Heimat“ (evtl. noch auf YouTube zu finden) kam Svenja (gelernte Alterpflegerin, gebürtige Schleswig-Holsteinerin) aus Mecklenburg-Vorpommern zu Wort. Sie lebt mit Mann und Kindern zurückgezogen am Rande des Existenzminiums in einer Art Gemeinschaft von Aussteigern mit rechtem Gedankengut und demokratiefeindlichen Tendenzen.
Lanz sagte: „Ich merke, dass es Dir nicht mehr darum geht, etwas besser zu machen. Sondern eigentlich geht es darum, dieses System kaputt zu machen.“
Antwort von Sonja: „Ja, damit es von vorne anfängt. Auf Reset drücken.“
Lanz: „Erst mal zerstören.“
Antwort von Sonja: „Genau! Dann können wir von vorne anfangen, damit wir mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkommen.“
Lanz etwas später: „Was müsste man tun, um Euch wieder zurückzuholen?“
Antwort von Sonja: erstauntes „Wow“, dann nachdenkliches „hmm“, dann lachen: „Das schafft keiner, ne!“.
Ihr Lebensgefährte hat auf diese Frage zunächst auch keine Antwort, schickt dann aber noch halbherzig hinterher, dass man die Löhne erhöhen müsste. In ca. zwischen 10 und 30 Jahren würde in Deutschland, aber auch nicht nur hier, ein Krieg untereinander ausbrechen. Ein Bürgerkrieg, der von den Flüchtlingen ausgehen würde, die sich vorher auf Schwarzmärkten bewaffnen würden, hängt er noch nach.
Letztlich ist dies ein extremes Beispiel. Aber zeigen nicht auch viele bürgerliche Menschen diesen Wunsch nach Zerstörung (wenn auch nicht in dieser extremen Form)? Der zudem deutlich gepaart ist mit Irrationalität? Sonja und ihr Lebensgefährte wissen ganz offensichtlich selbst gar nicht, was sie zu glücklichen Menschen machen würde, die sich zudem auch sicher fühlen. Ich glaube, dass es so ähnlich z.B. auch mit vielen ideologisch überzeugten AFD-Wählern ist. Im Grunde ist keine komplexe und rationale Sicht auf die eigene und die gesellschaftliche Situation erwünscht. Es geht eigentlich um das offene ausagieren von Angst, Wut, Hass und dem Wunsch, die Gesellschaft zu kippen. Solchen Irrationalitäten kann die Politik nicht mit einer Erhöhung des Mindestlohns oder sonstigen Maßnahmen entgegenwirken. Die Politik müsste die Leute emotional erreichen, was schwierig ist. Markus Lanz hat dabei ein Stück weit vorgemacht, wie es gehen kann. Er ging offen und ohne Abwertungen auf Svenja zu und stellte einfühlsame Fragen, gepaart mit einer gewissen Sorge um das Befinden der Familie. Der nächste Schritt wäre irgendwann gewesen zu fragen, was den beiden denn im Leben und in ihren Familien alles zugestoßen ist und woher ihr düsteres Bild von der Welt in der Tiefe stammt.
Ein anderes Beispiel:
In der Süddeutschen Zeitung (Nr 300 vom 31.12.2018/01.01.2019, Seite 3) gab es einen großen Artikel über den Reichsbürger Herrn S. unter dem Titel „Ohne mich“.
Herr S. hat eindeutig paranoide Tendenzen und zeigt deutliche Irrationalitäten. Seine Heimat habe man ihm genommen, Deutschland sei zersplittert und besetzt. Die Bundesrepublik habe keine Gültigkeit. Er ist, das durchzieht den Artikel, deutlich auf der Suche nach Halt, Heimat und Identität. Und ich würde ergänzen: Er ist kein glücklicher Mensch. Mit rationalen Argumenten braucht man Herrn S. nicht zu kommen.
Die Kindheit von Herrn S. war äußerst destruktiv. Die Eltern trennten sich, die Mutter war weg, neunmal zog die Familie um, neunmal musste er die Schule wechseln. „Der Vater heiratete zwei weitere Male, schlug seine Frau im Suff, tobte und schrie, und Herr S. sagte mit 14 Jahren zu seinem Bruder, der 13 war: `Komm, Biege, weg hier.`“ Die Brüder zogen zunächst in ein Jugendheim.
Selbstverständlich werden nicht alle Kinder, die so etwas erlebt haben, zu Reichsbürgern und Anti-Demokraten. Wir sollten aber nicht unterschlagen, dass die Probleme von Herrn S. mit Sicherheit seiner Biografie geschuldet sind und er eigentlich Hilfe bräuchte, emotionale und psychosoziale Hilfe.
Wie sollte die Politik durch Sachentscheidungen jemanden wie Herrn S. erreichen oder auch jemanden wie Sonja? Diese Fälle sind keine rational zu betrachtenden Fälle, sie müssen im Kern emotional verstanden und gelöst werden. So ähnlich sehe ich auch die Prozesse und Lösungen im größeren Rahmen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass gerade in Europa die Mehrheit der Bevölkerung keine Anti-Demokraten sind. Auch wird Deutschland die AFD überstehen und aushalten, die eine Minderheit der Menschen vertritt. Vermutlich wird sich die AFD in den nächsten Jahren entzaubern und - qua fehlender Feindbilder - selbst zerreißen.
Da Kindheitsleidsgeschichten wie die von Herrn S. und Anderen stetig und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger werden, wird sich die Stimmung langfristig auch immer weiter beruhigen. Die Menschen werden immer mehr auf gefestigtem Boden stehen und eine vielschichtige Identität ausbilden, die nicht so leicht durch Veränderungen und Fortschritt umzuwerfen ist. Die westliche demokratische Welt wird dem Rechtspopulismus langfristig trotzen. Wir schaffen das. Ich hoffe innig, dass ich damit recht behalte :-).
Wir haben die Wahl von Donald Trump in den USA erlebt, die Wahl für den Brexit in Großbritannien, die Umgestaltung der Türkei durch Recep Tayyip Erdoğan, rechtspopulistische Tendenzen in vielen europäischen Ländern, den Aufschwung der AFD in Deutschland, Menschen, die sich in Deutschland zu „Reichsbürgern“ erklären und die Verfassung ablehnen, PEGIDA Demonstrationen in Sachsen, die demokratische Wahl des ultrarechten Jair Bolsonaro in Brasilien, gewaltbelastete „Gelbwestenproteste“ in Frankreich, um nur einiges zu nennen.
Alle diese Entwicklungen haben auch ihre besonderen Eigenheiten und sind sicher zu einem Teil auch rational erklärbar. Um diesen Part der Erklärungen geht es mir hier nicht. Mir geht es – wie immer – um die irrationalen, sprich emotionalen Elemente dieser Entwicklungen.
Vorwegnehmen möchte ich einen großen Widerspruch. Ich selbst gehe auf Grund der Datenlage davon aus, dass die Welt immer besser wird und wir in etlichen Bereichen beständigen Fortschritt erleben und erlebt haben (was nicht bedeutet, dass alles gut ist und wir uns zurücklehnen können!). Wichtige Arbeiten und Quellen dazu sind für mich z.B. „Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“ von Hans Rosling, „Frohe Botschaft: Es steht nicht gut um die Menschheit – aber besser als jemals zuvor“ von Walter Wüllenweber, „Früher war alles schlechter: Warum es uns trotz Kriegen, Krankheiten und Katastrophen immer besser geht“ von Guido Mingels, „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“ von Steven Pinker, „Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung“ von Steven Pinker und natürlich das großartige Onlineprojekt „Our World in Data“ + ergänzend Gapminder.
Wer die Fortschritte in der Welt negiert, stellt sich blind gegenüber den Fakten. Obwohl es faktisch so gut um uns steht wie nie zuvor in der Geschichte, werden gerade in Teilen der westlichen Welt Weltuntergangsängste und Schwarzmalerei salonfähig.
Die psychohistorische Theorie ist die einzige mir bekannte Theorie, die destruktive Gruppenprozesse u.a. als eine Reaktion auf Fortschritt ansieht. In der Tat beschädigen offensichtlich die meisten oder alle der o.g. Prozesse die Lebensgrundlage von genau den Menschen, die sich doch vorher selbst als beschädigt definierten und deswegen so agierten und/oder wählten, wie sie es taten, um (angeblich) etwas zum Positiven zu verändern. Pegida bedroht ganz offensichtlich den Touristen- und Wirtschaftsstandort Dresden. Der Brexit lähmt die britische Wirtschaft und bindet zudem Beamte und Politiker, die ansonsten ihre Kräfte in die Entwicklung des Landes hätten stecken können. Donald Trump und seine Regierung benehmen sich wir Elefanten im Porzellanladen und haben dem Ansehen der USA massiv geschadet. Jair Bolsonaro wird Brasilien nicht sicherer machen, wenn er allen Menschen erlaubt, eine Waffe zu tragen, Militärangehörige in die Regierung holt und wenn er gegen politische Gegner und Minderheiten vorgeht. Auch die destruktiven ökonomischen Folgen des Kurses von Erdoğan sind bereits für die Türkei greifbar. Usw. usf.
Der Psychohistoriker Florian Galler hat aktuell einen Kommentar geschrieben, aus dem ich zitieren möchte. (Vorwegnehmen möchte ich, dass ich seinen benutzten Begriff von den „Konservativen“ für etwas ungünstig halte, denn Konservative sind keine Anti-Demokraten. Er schreibt allerdings auch im Textverlauf etwas von „radikalen Konservativen“. Letztlich geht es um politische Extremisten und Rechtspopulisten.) Galler schreibt:
„Das Hauptübel für die Konservativen ist das, was für die Demokraten das Vernünftige ist (Wohlfahrt der breiten Bevölkerung, Rechtsstaat, Friede und internationale Zusammenarbeit). All das vermindert nämlich die Möglichkeiten, frühe, prä- und perinatale traumatische Gefühle von Wut, Angst, Verachtung durch die Politik des Staates auszuagieren und damit abzuwehren.
Die Hassgefühle und die Verachtung gegen den Staat entstehen, weil der Nationalstaat seiner traditionellen Aufgabe der Abwehr früher traumatischer Gefühle durch deren Ausagierung innerhalb eines nationalen, unbewussten Gruppenprozesses in immer kleinerem Ausmass nachkommt oder nachkommen kann.“
Dies sind zentral wichtige Gedanken. Die äußeren Umstände (dabei vor allem Fortschritt und Veränderungen) scheinen bei so einigen Menschen starke destruktive und vergrabene Emotionen zu triggern. Damit einher geht die starke Angst vor dem Verlust der eigenen Identität oder dem zersplittern selbiger (im Kern sind viele aktuelle politischen Probleme Identitätsprobleme, angefangen bei der Angst der Briten vor der EU, der Angst in Deutschland vor Veränderung der Kultur bis hin der Angst der Amerikaner, das „alte Amerika“ zu verlieren; zudem vereint alle männlichen Angsthasen, die Angst vor der Emanzipation der Frauen, einem der größten kulturellen Wandlungsprozesse überhaupt). In Wahrheit zeigt sich gerade in Zeiten des Fortschritts und der Veränderung, dass so einige Menschen gar keine gesicherte, eigene Identität besitzen. Man klammert sich dann an das Alte: an Tradition, Nationalität, Rasse, Geschlechtsrolle und Religion. Und man sucht das Fremde, das (angeblich) Gefährliche, das zu Bekämpfende gepaart mit einem „Wir-gegen-Die“. Fremden- und Feindeshass pseudo-stabilisiert Menschen.
Noch vor 100 Jahren war es die Aufgabe von Vaterstaat, diesen destruktiven, aufkommenden Gefühlen ein Ventil zu bieten, das da vor allem lautete: Feindeshass und Krieg! Thomas Mann brachte die kollektive Irrationalität und den kollektiven Wahn beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges besonders auf den Punkt: „Wir kannten sie ja, diese Welt des Friedens. Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler, nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte? Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.“
Da sich die Menschheit, ihre Institutionen, aber vor allem auch die Kindererziehungspraxis stark weiterentwickelt hat (und auch sonstige traumatische Erfahrungen der Menschen stetig abgenommen haben oder durch psychosoziale Hilfen besser aufgefangen werden können), ist es heute nicht mehr so „einfach“, wie in früheren Zeiten. Heute werden in den Demokratien seichtere Rückschrittsprozesse eingeschlagen. Trotzdem sind diese Prozesse folgenreich und global spürbar. Interessanterweise sind die Folgen in europäischen Ländern mit ihrer am weitesten entwickelten Kindererziehungspraktiken und weniger Gewalt gegen Kinder auch spürbar seichter, während z.B. in den USA, Brasilien oder besonders in der arabischen Welt (wo es den Kinder deutlich schlechter ergeht) die Folgen massiver oder im Fall von z.B. Syrien sogar massenmörderisch sind. Teile Europas und die USA wählen eher selbstzerstörerische Wege und Feindeshass nur intern zwischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen, statt gegen ein „böses Außen“. Für Europa und erst recht für Deutschland gilt dies aber nur in Teilen und Ansätzen, denn faktisch läuft es seit Jahrzehnten gut für den Kontinent.
Es verwundert – um erneut die o.g. Zitate von Galler aufzugreifen – nicht, dass es in Teilen der demokratischen Gesellschaften Bemühungen gibt, den Rechtsstaat und auch die demokratische Weltgemeinschaft ins Wanken zu bringen. Denn nur ein Unrechtsstaat oder ein zersplitterter Staat wird der Abwehr früher traumatischer Gefühle besonders gerecht.
Auf Deutschland bezogen ist vor allem der Aufschwung der AFD sehr paradox. Würde man den pubertär wütenden Phrasen dieser Partei glauben, dann stünde Deutschland am Abgrund und Angela Merkel wäre der Teufel in Person. Alle objektiven Daten zeigen das genau Gegenteil: Deutschland und den meisten seiner Bürger und Bürgerinnen geht es so gut wie wohl noch nie. Und ich möchte nachhängen: Angela Merkel ist sichtbar kein Teufel.
Dass es einem Teil der Menschen (ökonomisch) nicht gut geht, versteht sich. Doch diese sind gar nicht das Hauptklientel der AFD. Paradoxer Weise gilt: „Die AfD wird vor allem von Menschen mit mittlerem bis gutem Einkommen gewählt.“
Um das Ganze etwas greifbarer zu machen, habe ich zwei Beispiele ausgewählt.
In der Sendung „Markus Lanz - Deutschland! vom 8. November 2018 - Gespräche über Einigkeit und Recht und Heimat“ (evtl. noch auf YouTube zu finden) kam Svenja (gelernte Alterpflegerin, gebürtige Schleswig-Holsteinerin) aus Mecklenburg-Vorpommern zu Wort. Sie lebt mit Mann und Kindern zurückgezogen am Rande des Existenzminiums in einer Art Gemeinschaft von Aussteigern mit rechtem Gedankengut und demokratiefeindlichen Tendenzen.
Lanz sagte: „Ich merke, dass es Dir nicht mehr darum geht, etwas besser zu machen. Sondern eigentlich geht es darum, dieses System kaputt zu machen.“
Antwort von Sonja: „Ja, damit es von vorne anfängt. Auf Reset drücken.“
Lanz: „Erst mal zerstören.“
Antwort von Sonja: „Genau! Dann können wir von vorne anfangen, damit wir mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkommen.“
Lanz etwas später: „Was müsste man tun, um Euch wieder zurückzuholen?“
Antwort von Sonja: erstauntes „Wow“, dann nachdenkliches „hmm“, dann lachen: „Das schafft keiner, ne!“.
Ihr Lebensgefährte hat auf diese Frage zunächst auch keine Antwort, schickt dann aber noch halbherzig hinterher, dass man die Löhne erhöhen müsste. In ca. zwischen 10 und 30 Jahren würde in Deutschland, aber auch nicht nur hier, ein Krieg untereinander ausbrechen. Ein Bürgerkrieg, der von den Flüchtlingen ausgehen würde, die sich vorher auf Schwarzmärkten bewaffnen würden, hängt er noch nach.
Letztlich ist dies ein extremes Beispiel. Aber zeigen nicht auch viele bürgerliche Menschen diesen Wunsch nach Zerstörung (wenn auch nicht in dieser extremen Form)? Der zudem deutlich gepaart ist mit Irrationalität? Sonja und ihr Lebensgefährte wissen ganz offensichtlich selbst gar nicht, was sie zu glücklichen Menschen machen würde, die sich zudem auch sicher fühlen. Ich glaube, dass es so ähnlich z.B. auch mit vielen ideologisch überzeugten AFD-Wählern ist. Im Grunde ist keine komplexe und rationale Sicht auf die eigene und die gesellschaftliche Situation erwünscht. Es geht eigentlich um das offene ausagieren von Angst, Wut, Hass und dem Wunsch, die Gesellschaft zu kippen. Solchen Irrationalitäten kann die Politik nicht mit einer Erhöhung des Mindestlohns oder sonstigen Maßnahmen entgegenwirken. Die Politik müsste die Leute emotional erreichen, was schwierig ist. Markus Lanz hat dabei ein Stück weit vorgemacht, wie es gehen kann. Er ging offen und ohne Abwertungen auf Svenja zu und stellte einfühlsame Fragen, gepaart mit einer gewissen Sorge um das Befinden der Familie. Der nächste Schritt wäre irgendwann gewesen zu fragen, was den beiden denn im Leben und in ihren Familien alles zugestoßen ist und woher ihr düsteres Bild von der Welt in der Tiefe stammt.
Ein anderes Beispiel:
In der Süddeutschen Zeitung (Nr 300 vom 31.12.2018/01.01.2019, Seite 3) gab es einen großen Artikel über den Reichsbürger Herrn S. unter dem Titel „Ohne mich“.
Herr S. hat eindeutig paranoide Tendenzen und zeigt deutliche Irrationalitäten. Seine Heimat habe man ihm genommen, Deutschland sei zersplittert und besetzt. Die Bundesrepublik habe keine Gültigkeit. Er ist, das durchzieht den Artikel, deutlich auf der Suche nach Halt, Heimat und Identität. Und ich würde ergänzen: Er ist kein glücklicher Mensch. Mit rationalen Argumenten braucht man Herrn S. nicht zu kommen.
Die Kindheit von Herrn S. war äußerst destruktiv. Die Eltern trennten sich, die Mutter war weg, neunmal zog die Familie um, neunmal musste er die Schule wechseln. „Der Vater heiratete zwei weitere Male, schlug seine Frau im Suff, tobte und schrie, und Herr S. sagte mit 14 Jahren zu seinem Bruder, der 13 war: `Komm, Biege, weg hier.`“ Die Brüder zogen zunächst in ein Jugendheim.
Selbstverständlich werden nicht alle Kinder, die so etwas erlebt haben, zu Reichsbürgern und Anti-Demokraten. Wir sollten aber nicht unterschlagen, dass die Probleme von Herrn S. mit Sicherheit seiner Biografie geschuldet sind und er eigentlich Hilfe bräuchte, emotionale und psychosoziale Hilfe.
Wie sollte die Politik durch Sachentscheidungen jemanden wie Herrn S. erreichen oder auch jemanden wie Sonja? Diese Fälle sind keine rational zu betrachtenden Fälle, sie müssen im Kern emotional verstanden und gelöst werden. So ähnlich sehe ich auch die Prozesse und Lösungen im größeren Rahmen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass gerade in Europa die Mehrheit der Bevölkerung keine Anti-Demokraten sind. Auch wird Deutschland die AFD überstehen und aushalten, die eine Minderheit der Menschen vertritt. Vermutlich wird sich die AFD in den nächsten Jahren entzaubern und - qua fehlender Feindbilder - selbst zerreißen.
Da Kindheitsleidsgeschichten wie die von Herrn S. und Anderen stetig und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger werden, wird sich die Stimmung langfristig auch immer weiter beruhigen. Die Menschen werden immer mehr auf gefestigtem Boden stehen und eine vielschichtige Identität ausbilden, die nicht so leicht durch Veränderungen und Fortschritt umzuwerfen ist. Die westliche demokratische Welt wird dem Rechtspopulismus langfristig trotzen. Wir schaffen das. Ich hoffe innig, dass ich damit recht behalte :-).