Donnerstag, 5. März 2020

Studie: Kindheiten von rechten Gewalttätern


Für nachfolgende Studie wurden 45 verurteilte, gewalttätige Jugendliche und junge Erwachsene, deren Motivation von Seiten der Justiz als vermutlich oder tatsächlich fremdenfeindlich bzw. rechtsextremistisch eingestuft wurde, befragt:
Heitmeyer, W. & Müller, J. (1995): Fremdenfeindliche Gewalt junger Menschen. Biographische Hintergründe, soziale Situationskontexte und die Bedeutung strafrechtlicher Sanktionen. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.). Forum Verlag, Bonn. 

Die formale Situation der Herkunftsfamilie zeigte bereits mehrheitlich Auffälligkeiten: Nur 20 von 45 Tätern lebten in einer vollständigen Familienkonstellation (S. 127).

Die Autoren merken an, dass dieses Oberflächenbild zwar eine gewisse Auffälligkeit zeigt, dass aber eine vollständige Familie nicht gleichbedeutend mit dem Fehlen von Desintegrationserfahrungen, wie sie es ausdrücken, ist. Sie schreiben weiter: „Der Blick nämlich auf die hinter der formalen Familienfassade liegenden individuellen Erziehungserfahrungen, auf psychisch-emotionale Beziehungen zu den Eltern bzw. zu einzelnen Elternteilen, auf sicherheitsgebende Unterstützung und Verlässlichkeit in der Familie, auf Kommunikationsstrukturen usw. zeitigt am Ende ein Bild, in dem innerhalb der hier untersuchten Gruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen (…) nur eine kleine Minderheit von familialer Desintegration verschont geblieben zu sein scheint. 
Es bleiben schließlich insgesamt acht Jugendliche bzw. junge Erwachsene übrig, deren Schilderung ihrer Familienverhältnisse und Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen das vorsichtige Fazit zulassen, dass sie keine subjektiv relevanten Desintegrationserfahrungen in der Familie gemacht haben (…)“ (S. 127f). An Hand der Formulierung der Autoren wird deutlich, dass sie nicht ganz ausschließen, dass evtl. doch Belastungen bei diesen acht Befragten zu finden wären.

Einige Fälle (Hermann, Ewald, Jakob, Tobias, Harry, Siegfried, Rainer und Ulrich; Seite 59- 131) wurden in der Studie etwas ausführlicher ausgebreitet, alle anderen Fälle wurden in einer Tabelle (Seite 132-135) erfasst und mit kurzen Stichworten beschrieben. Aus diesen Beschreibungen habe ich nur die belastenden Erfahrungen herausgesammelt und stelle diese nachfolgend vor. Es wird deutlich, dass die meisten dieser rechten Gewalttäter eine belastete Kindheit hatten:


Hermann (ausführliche Falldarstellung): Vater gestorben, als er vier Jahre alt war; die alleinerziehende Mutter war beruflich stark ausgelastet, so dass seine Schwester oft auf ihn aufpassen musste; zwischen seinem 7. und 11. Lebensjahr hatte die Mutter einen Freund, der zum Vaterersatz wurde; im 11. Lebensjahr von Hermann zog dieser Freund wieder aus, es kam zum Bruch

Harry (ausführliche Falldarstellung): seit 7. oder 9. Lebensjahr Trennung der Eltern (widersprüchliche Angaben dazu in der Tabelle und im Fallbeispiel), im 9. Lebensjahr erkrankte seine Schwester und musste 10 Monate ins Krankenhaus, ihr Leben sei gefährdet gewesen; er habe dann ein ziemliches Tief gehabt, auch die Mutter sei viel weg und im Krankenhaus gewesen; ab dem 14. Lebensjahr wurde die Beziehung zum Vater schwierig, nachdem dieser neu verheiratet war, endgültig kam es zum Bruch, als der Vater behauptete, sein Sohn hätte ihn beklaut, 5 Jahre hatte er dann keinen Kontakt mehr zum Vater; seine alleinerziehende Mutter war voll berufstätig, es wird nicht deutlich, wie dies ggf. die Beziehung zum Sohn beeinflusste; die Beziehung zur Mutter wird als sehr gut dargestellt, allerdings erfährt man auch folgendes: Zwar "gab es schon mal ´n paar Backpfeifen oder so", aber "mit schlagen is gar nich so gewesen" (S. 112). Hier sehen wir in klassischer Weise, wie Gewalterfahrungen im Rückblick als "keine Gewalt" umgedeutet werden (eine typische Folge eben dieser Gewalterfahrungen). Aus den Wörtern "schon mal" und "paar Backpfeifen" schließe ich, dass die Gewalt nicht selten war und es auch nicht bei einigen Ohrfeigen blieb. In der tabellarische Gesamtübersicht wurde von den Autoren geschrieben, dass die Mutter einen "demokratischen Erziehungsstil" pflegte (S. 132). Dies halte ich nach dieser gezeigten Aussage zumindest für zweifelhaft. Wir sehen hier also auch, wie wichtig es ist, detaillierte Infos zu den Einzelfällen zu bekommen.

Oskar: sehr schlechtes Verhältnis zum Vater, autoritäre Erziehung des Vaters, später Trennung der Eltern als er 18 war

Siegfried (ausführliche Falldarstellung): sehr autoritäre Erziehung, sehr schlechtes Verhältnis besonders zum Vater, heute keinen Kontakt mehr zu Eltern: „Beide sind für mich gestorben so“ (S. 130); Schwester stirbt bei einem Unfall, als er 14 Jahre alt ist, danach sei auch ein Teil von ihm gestorben; mit seinen Eltern konnte er seine Probleme nicht besprechen: „Über Probleme reden überhaupt so, das war tabu.“ (S. 128); mit 15 Jahren wurde er in einem Erziehungsheim untergebracht;  zwischenzeitlich immer wieder Versuche, Zuhause zu wohnen; er sei aber einige Male rausgeschmissen worden, so dass er auch einmal vier Monate auf der Straße leben musste.

Stefan: Eltern vor der Geburt geschieden, eher autoritärer Erziehungsstil und Überforderung der Mutter

Ulrich (ausführliche Falldarstellung): seit 3. Lebensjahr bei Pflegeeltern, auffällig vor allem auch die hohe Kinderzahl von 10 in der Ursprungsfamilie, zu leiblichen Eltern sehr schlechtes Verhältnis; als er 19 Jahre alt war, starb sein Pflegevater, danach begann die kriminelle Karriere von Ulrich; sein leiblicher Vater sei alkoholkrank, seine leibliche Mutter sei „schlimmer als ein Rabe“ (S. 131), die alle seine Geschwister gemocht hätte, nur ihn nicht;  seine gesamte Herkunftsfamilie inkl. der Geschwister (außer einer Schwester) bezeichnet er als „Dreck“.

Tobias (ausführliche Falldarstellung): Verhältnis zum häufig abwesenden Vater sehr schwierig (wird ihm gegenüber als "Beziehungslosigkeit" beschrieben inkl. mangelnde Aufmerksamkeit und Zuwendung), Problem in der Familie sei eine Art "Nicht-Erziehung" gewesen, hoher Erfolgsdruck in der Familie, nach eigenen Angeben selten körperliche Gewalt, was allerdings auffällt ist, dass er bezogen auf sich und später seine Erziehung gegenüber Kindern anmerkt: "Ich find so laizer faire-mäßig ist nicht das Richtige, ich find, ich bin auch emotional, aber ein Kind merkt, das ist eine Beziehung, sobald die Beziehung keine Emotionen mehr hat, is sie tot. Ich meine, gut, ein Klaps aufn Arsch ist besser als `Mach deinen Scheiß, weil dann merkt`s, irgendwo sind Emotionen da" (S. 100)
Hier wird zunächst die emotionale erlebte Kälte in der Familie deutlich. Dass ihm als Lösung nur körperliche Gewalt in der Erziehung einfällt, macht mich hellhörig: Hat er vielleicht in jüngeren Jahren doch mehr Gewalt erlebt, als er eingeräumt hat?

Michael: seit 1. Lebensjahr Eltern geschieden,

Matthias: Eltern seit dem 14. Lebensjahr geschieden, Verhältnis zum Vater sehr schlecht, sehr autoritäre Erziehung, abwechselnd wohnhaft bei Vater und Mutter

Horst: seit 5. Lebensjahr Eltern geschieden, autoritäre Erziehung durch den Vater, schlechtes Verhältnis zum Vater

Peter: Seit dem 10. Lebensjahr Eltern geschieden

Christoph: sehr autoritäre Erziehung des Vaters, gespanntes Verhältnis zu beiden Elternteilen

Jakob (ausführliche Falldarstellung): leiblicher Vater unbekannt, darüber wurde er erst im Alter von 17 Jahren aufgeklärt, vorher dachte er, sein Stiefvater sei sein echter Vater; autoritäre Erziehung des Stiefvaters (Prügel und Ohrfeigen); seine Mutter habe viel geredet, aber auch geschrien; seine Beziehung zu seinen Eltern beschreibt er seit seinem 16. Lebensjahr aktuell als "gleichgültig", er kam nur noch zum Schlafen und Essen nach Hause.

Klaus: Eltern seit dem 2. Lebensjahr geschieden, sehr autoritäre Erziehung des Stiefvaters, schlechtes Verhältnis zum Stiefvater

Philip: Eltern seit 11. Lebensjahr geschieden, leiblicher Vater unbekannt, sehr gewalttätiger Stiefvater, 8 Jahre Heimaufenthalt

Harald: Eltern seit 2. Lebensjahr getrennt, Mutter überfordert, Heimaufenthalt zwischen 10. Und 15. Lebensjahr

Patrick: autoritäre Erziehung der Eltern, Vater das erste Mal im Alter von 3 Jahren kennengelernt

Werner: Vater im 8. Lebensjahr gestorben, auffällig die hohe Geschwisterzahl von 8, autoritäre Erziehung der Mutter, Verhältnis zur Mutter sehr schlecht, kaum Kontakt zu Geschwistern

Frank: Eltern seit 11. Lebensjahr geschieden, keinen Kontakt mehr zum Vater

Arno: Eltern seit 13. Lebensjahr geschieden, keinen Kontakt mehr zur Mutter und den jüngeren Geschwistern

Edgar: Eltern seit 10. Lebensjahr geschieden, autoritäre Erziehung durch den Vater, Verhältnis zum Vater sehr schlecht

Gregor: hat Adoptiveltern, er kennt seine leiblichen Eltern nicht, sehr schwieriges Verhältnis zum Adoptivvater

Volker: sehr autoritärer Erziehungsstil und schwieriges Verhältnis zu den Eltern, insbesondere dem Vater

Norbert: Eltern seit 5. Lebensjahr geschieden,

Rainer (ausführliche Falldarstellung): sehr autoritärer Erziehungsstil des Vaters, sehr schlechtes Verhältnis zum Vater; auffällig sind dabei vor allem Schilderungen von besonders schwerer Gewalt seitens des Vaters mit Folgen wie blauen Flecken, so dass er nicht mehr sitzen konnte; ergänzend wird auch eine Szene beschrieben, in der die Mutter gewalttätig wurde, worauf er erst einmal abgehauen sei.

Robert: sehr autoritärer Erziehungsstil der Mutter, Vater war früher beruflich häufig längere Zeit abwesend

Thilo: keine Besonderheiten

Sonja: Eltern seit 4. Lebensjahr geschieden, autoritäre Erziehung, schlechtes Verhältnis vor allem zur Mutter, Mutter war häufig abwesend

Sebastian: Eltern seit dem 4. Lebensjahr geschieden, sehr schlechtes Verhältnis zur Mutter und zum Stiefvater, Überforderung der Eltern, 3 Jahre Heimaufenthalt

Rolf: keine Besonderheiten

Tim: Keine Besonderheiten

Richard: Eltern seit dem 12. Lebensjahr geschieden, 6 Geschwister, zum Vater sehr schlechtes Verhältnis, häufige Abwesenheit des Vaters, seit Jahren keinen Kontakt mehr zum Vater

Albert: Vater eher autoritär, früher schlechtes Verhältnis zum Vater

Günther: Eltern seit 12. Lebensjahr geschieden

Guido: Mutter im 15. Lebensjahr gestorben, Vater war viel abwesend, nach dem Tod der Mutter war Guido auf sich alleine gestellt

Fridolin: Vater unbekannt, seit dem 7. Lebensjahr im Heim, Mutter seit Heimaufenthalt noch 5 mal gesehen, über ihren späteren Tod war er „froh“

Thomas: autoritäre Erziehung der Mutter, schwieriges Verhältnis zur Mutter, Vater oft lange abwesend

Lutz: keine Besonderheiten

Kai: Vater im 1. Lebensjahr gestorben, Verhältnis zur Mutter und zum Stiefvater sei „normal“, allerdings seit dem 13. Lebensjahr Leben in einem Heim

Bert: Eltern im 16. Lebensjahr geschieden, sehr autoritärer Erziehung der Eltern, er fühlte sich als „schwarzes Schaf“ der Familie

Theo: Keine Besonderheiten

Oliver: keine Besonderheiten

Bruno: keine Besonderheiten

Holger: Keine Besonderheiten

Ewald (ausführliche Falldarstellung): kennt seinen leiblichen Vater nicht, sehr autoritäre Erziehung des Stiefvaters (Gewalt und emotionale Kälte) und schlechtes Verhältnis zu ihm; Mutter schützte ihren Sohn nicht, sondern habe sich untergeordnet; Ewald hat zum Zeitpunkt des Interviews seit vier oder fünf Jahren keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern

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