Montag, 22. Juni 2020

Ein Neonazi steigt aus: Kindheit und Lebensweg von Kent Lindahl


Ich habe mir die Kindheit von dem Schweden Kent Lindahl angeschaut. Meine Quelle dafür ist:
EXIT. Ein Neonazi steigt aus (2001 im Deutschen Taschenbuch Verlag München erschienen)

Die Biografie von dem ehemaligen Nazis Lindahl ist schon etwas außergewöhnlich:
1. Er ist ziemlich intelligent (was man nicht über alle Straßenkämpfer-Nazis behaupten kann)
2. Er ist ein Aussteiger
3. Er hat seinen Lebensweg und vor allem auch seine Kindheit in einer Therapie aufgearbeitet
4. Er ist Gründer des schwedischen Aussteigerprogramms EXIT.

Aus diesen vier Punkten heraus (mit konzentriertem Blick auf Punkt 3.) ist dieser Lebensweg für mich von besonderem Interesse. Die ersten Sätze seiner Biografie haben es gleich in sich:
Ich kann mich nicht genau entsinnen, wann ich Nationalsozialist wurde oder Nazi, wie man sagt. Eine Rolle spielte jedenfalls das Fehlen von Wärme oder Nähe in meinem Elternhaus. Ich will nicht behaupten, dass sie mich nicht geliebt haben, selbst wenn vor allem mein Vater das nur sehr selten in Worten oder Taten zeigte. Dass Vater Alkoholiker war, machte die Sache nicht besser, auch nicht, dass ich ein ziemlich schwächlicher kleiner Junge mit Brille war – wie geschaffen, um vom ersten Schultag an gemobbt zu werden. Dass ich später die Seiten wechselte und selber mobbte, gehörte irgendwie auch zur Geschichte. Es war ein wichtiger Schritt in meiner Entwicklung hin zu Gewalt, zu elitärem Denken und zur Verachtung der, wie ich fand, Schwachen“ (S. 7).

Seine Eltern hätten sich nie geliebt, zwischen ihren gab es eine gefühlsmäßige Distanz und kaum Gesprächsstoff. Aber auch die Kinder wurden nie umarmt (S. 8). Die Familie an sich sei sehr schweigsam gewesen, man redete nicht viel miteinander (S. 10). Sein Vater sei als Kind ständig körperlich misshandelt worden. Er schlug aber nie seine eigenen Kinder. Wenn er stark getrunken hatte, wurde er allerdings laut und aggressiv. Lindahl kommentiert das Verhalten seines Vaters mit dem Wort Psychoterror (S. 9f.). Der gefühlsmäßige Abstand in der Familie ging soweit, dass der Vater stets alleine in den Urlaub fuhr, ohne Frau und/oder Kinder (S. 10). Als Kent noch sehr klein war, hatten seine Eltern eine schwere Ehekrise. Sein Vater hatte eine andere Frau kennengelernt und beschloss, sich scheiden zu lassen. Das Familienleben war in der Zeit reines Chaos. Kent wurde zu einem Nachbarehepaar gegeben, das zu Ersatzeltern - wie er sagt - wurde. Wie lange diese Krise anhielt, berichtet er nicht. Nur so viel: Seine Eltern trennten sich nicht (S. 11).

Vor Schulbeginn spielte Kent viel alleine. Mit Schulbeginn war er bevorzugtes Mobbingopfer (S. 13).
Besonders traumatische Erfahrungen machte Kent in einem Sommerferienlager, wo er 4 Wochen bleiben musste. Die Betreuer vor Ort achteten nicht gut auf die Kinder. Kent gehörte zu den Kleineren und die größeren Kinder sperrten die Kleineren häufig in eine Ort Fort ein oder fesselten sie und peitschen sie dann aus. Das Ganze fast täglich. Von den Eltern erhaltene Süßigkeiten mussten an die Großen abgetreten werden. Die Kleinen mussten zudem die Betten der Älteren machen usw. (S. 15-18).
    Das Schlimmste war für Kent der sexuelle Missbrauch, den er 2 Tage vor Abfahrt erlebte. Die älteren Jungen zwangen 3 Kleinere (einer davon Kent) in ihren Schlafraum. Ein kleiner Junge musste seinen Penis herausholen und Kent und ein anderer Junge mussten daran saugen. „Es war eklig! Was ich in dem Moment empfand, lässt sich nicht beschreiben. Ich flennte und kämpfte gegen den Brechreiz, wagte aber nicht zu rebellieren. Nach einem Monat in der Gewalt der Burschen tat man, was sie sagten. Und während wir dort auf schmerzenden Knien gegen die Ekelgefühle ankämpften, bildeten sie einen Kreis um uns, lachten, zeigten mit dem Finger auf uns und beschimpften uns: ˈDa, wie eklig die sind! Bäh!ˈ Wir waren absolut machtlos, wir konnten nichts machen, nicht einmal zu den Betreuern rennen und um Hilfe bitten. Dieser Besuch im Ferienlager hinterließ in mir tiefe Spuren. Teils, weil keiner von der Erwachsenen sah, was sie hätten sehen und wo sie hätten eingreifen müssen. Teils wegen der Erniedrigung“ (S. 18).
    Einer der Peiniger ging in die gleiche Schule wie Kent. Er verbreitete die Geschichte vom Lager in der Schule und Kent wurde daraufhin eine Zeit lang „Schwanzlutscher“ genannt (S. 19).

Kent Lindahl sieht diese Erlebnisse im Ferienlager als wesentlichen Faktor für seine destruktive Entwicklung an: „Die Erinnerung (…) war immerzu da, nicht bewusst, sondern wie eine in all den folgenden Jahren aus der Tiefe wirkende Triebfeder. In einem langen Zug nahm ich an allem und allen Rache“ (S, 19). Von außen betrachtet stimme ich dem nur zum Teil zu. Seine Kindheitserfahrungen in seiner Familie waren massiv belastend. Die Erlebnisse im Ferienlager kumulierten das Ganze sicher zu einer kritischen Masse, waren also sicher nicht alleiniger Auslöser für seinen rechtsextremen Weg der Gewalt, aber ein gewichtiger Mitauslöser. (Letztlich hat Lindahl den Einfluss seiner familialen Kindheit auch in dem oben eingangs zitierten Sätze selbst hervorgehoben.)

Nebenbei bemerkt: Das Thema Gewalt von Kindern gegen Kinder wurde in der Forschung bisher selten in den Blick genommen. Die Erlebnisse im Lager waren für Kent offensichtlich traumatisch, aber sie wären in standardisierten Fragebögen zur Erfassung von kindlichen Gewalterfahrungen wohl kaum ermittelt worden. Die älteren Kinder waren nämlich nicht 5 Jahre älter als Kent damals war; dieser Altersabstand wird häufig in Fragebögen als eine Bedingung dafür gesehen, um sexuellen Missbrauch zu erfassen. Fraglich ist auch, ob solche Fragebögen körperliche und psychische Gewalt durch die anderen Kinder erfasst hätten, sehr wahrscheinlich nicht.

Kents Weg zur Gewalt begann früh, bereits in der dritten Klasse. Es kam dann „zu dem ersehnten Rollentausch, auf den ich seit dem ersten Schuljahr gewartet hatte“ (S. 2) Nun wurde er zum Täter und mobbte kleinere Schüler. Mehr noch, er verprügelte sie. Aber hin und wieder wurde er auch wieder zum Opfer.

In der weiterführenden Schule kam Kent dann bereits ab der 7. Klasse mit Haschisch in Kontakt. Im Laufe der Zeit kamen dann harte Drogen hinzu (S. 47).

Für mich auch besonders interessant ist, wie Lindahl über seine Militärgrundübungszeit schreibt. „Ich mochte auch die Disziplin, die Zucht und Ordnung. Und draußen im Busch zu sein, gab mir einen Kick. Bei den Kampfübungen lag man da und hielt drauf und spürte, dass man lebte" (S. 58). Hier zeigt sich erneut, dass als Kind schwer verletzte Menschen im Militär auch mehr suchen können, als nur einen Job.

Auch als Skinhead genoss Kent Lindhal vor allem das Machtgefühl und die Angst, die alleine sein Auftreten verbreitete: „Die Leute reagierten unmittelbar. Entweder starrten sie mich an oder direkt durch mich hindurch, versuchten so zu tun, als sähen sie nichts. Aber ich bekam sofort die Stimmung mit – verdichtet, frustriert und aus Furcht verstummt. Ich hatte das verursacht! Was für ein Gefühl!“ (S. 85).

Später versuchte er in einer Therapie auch seine Gewalttaten und Tätereigenschaften aufzuarbeiten. Und die Arbeit für das Projekt EXIT seien seine Art, etwas wieder gut zu machen. Etwas „was man eigentlich nicht wieder gutmachen kann. Ein Versuch, allmählich inneren Frieden zu finden“ (S. 133). Denn Lindahl war in seiner Nazis-Zeit auch ein besonders brutaler Gewalttäter, dem es gänzlich egal war, was er anrichtete. Ganz offen berichtet er zum Ende des Buches hin, dass es ihm auch heute, wo er von der Gewalt und vom Extremismus abgefallen sei, immer noch schwer falle, Mitleid zu empfinden. Daran müsse er weiter arbeiten (S. 218). Es ist wohl so, dass nicht nur Opfererfahrungen das Gefühlsleben abstumpfen lassen, sondern auch Täterverhalten. Der beste Weg, letzteres nicht zu generieren, ist ersteres präventiv zu verhindern.

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