Damals, als Student der Soziologie (und im Nebenfach Politik) an der UNI Hamburg, habe ich mich immer wieder gewundert, warum in den Sozialwissenschaften selten auf psychoanalytische Arbeiten Bezug genommen wurde. Vor allem auch mit Blick auf Gewalt-/Kriegsursachen erschien es mir als ein großer Mangel, dass eine gewisse Scheu bzgl. psychologischer/psychoanalytischer Arbeiten vorherrschte (bzw. wohl auch immer noch vorherrscht). Für mich war es damals ein großes Glück, dass man in Hamburg als Soziologiestudent Sexualwissenschaft im Nebenfach studieren konnte. Dies war eine Möglichkeit, von Dozenten, die Psychoanalytiker waren, zu lernen (z.B. von Prof. Dr. Wolfgang Berner, der sich viel mit Perversionen und deren Ursachen befasst hat).
Ich lese psychoanalytische Arbeiten stets auch kritisch, weil sie immer auch von Interpretationen leben. Trotzdem: Mir fehlt immer wieder die Zusammenarbeit zwischen psychologischen Fachleuten und Sozialwissenschaftlern. Letztere dominieren dabei die Forschung (zumindest die öffentlich und universitär wahrgenommene) über (Gruppen-)Gewalt, Krieg, politische Konflikte und Extremismus.
Der Psychoanalytiker Josef Christian Aigner hat in seinem Buch „Der ferne Vater. Zur Psychoanalyse von Vatererfahrung, männlicher Entwicklung und negativem Ödipuskomplex“ (3. Aufl. 2013, Psychosozial-Verlag) viele interessante Aspekte angesprochen, die lesenswert sind. Mir war es eine Freude, wieder einmal ein rein psychoanalytisch geprägtes Buch zu lesen, in dem auch ausführlich auf Gewaltursachen eingegangen wird. Das Buch möchte ich allerdings gar nicht vertiefend besprechen.
Hervorheben möchte ich den letzten Teil des Buches, in dem die Biografien von 3 (ehemaligen) rechten Skinheads besprochen werden. Die vorgestellten Biografien reihen sich ein, in die vielen Biografien von Extremisten, die ich hier im Blog bisher vorgestellt habe.
Der Fall „Karl“:
Karl wurde im Alter von 14 Jahren auf Grund seiner Skinheadmitgliedschaft aus der elterlichen Wohnung geschmissen. Trotz dieser und weiterer belastender Erfahrungen fällt bei Karl eine starke Idealisierung seiner Eltern auf. Sein Vater war vor allem oft abwesend. Wenn er zu Hause war und sich von den Kindern gestört fühlte, übte er körperliche Gewalt aus. Aber auch von der Mutter habe es „saftige Schläge“ gegeben (S. 389). Karl war der einzige Junge und lebte mit drei älteren Schwestern und seiner Mutter auf Grund der oft väterlichen Abwesenheit im Grunde in einem reinen Frauenhaushalt. Als Junge habe er von der mütterlichen Gewalt „ordentlich was ab“ bekommen (S. 389). Die Mutter sei schon mal ausgerastet und der Vater strafte ergänzend zur körperlichen Gewalt mit grimmiger Miene und sei dann schlecht auf Karl zu sprechen gewesen. Vom Vater fühlt sich Karl nicht wahrgenommen.
Der Fall „Olaf“:
Das Hauptproblem während seiner Kindheit war der Alkoholismus des Vaters. Die Familienatmosphäre sei dadurch schwer belastet gewesen. Seine Mutter habe ihn verwöhnt. Die drei älteren Schwestern hätten ihn auch geschlagen, wenn er nicht pariert habe, „das gehöre zur Kindheit halt einfach dazu, meint er mit deutlich spürbarer Verharmlosung dieser Demütigungserfahrung“ (S. 395). Vom Alkoholismus des Vaters abgesehen habe er eine „schöne Kindheit“ gehabt (S. 395). „Dieses Muster der `schönen Kindheit`, das oft quasi `korrigierend-beschwichtigend` nach bedrückenden Milieu- oder Situationsschilderungen auftaucht, ist uns in empirischen Arbeiten mehrfach begegnet und soll den Betroffenen (…) wohl helfen, die Schamkonflikte, die sich daraus für den Selbstwert ergeben, in Schach zu halten“ (S. 395f.)
Demgegenüber stehen die Ängste, die Olaf schildert, wenn der Vater „halbtot“ im Vollrausch nach Hause kam und die „Szenen voller Lärm, Gewalt und Erbrechen“ (S. 396). Besonders beschämend sei für Olaf auch gewesen, wenn er den betrunkenen Vater irgendwo abholen oder für ihn Bier kaufen musste. Auch dass Olaf die Schule nicht geschafft hat, habe ihn beschämt. Dazu kamen verbale Demütigungen seitens des Vaters: „`Du bist blöd!` und solche Sachen und langsam hab` ich`s geglaubt, dass ich blöd bin“ (S. 397). Sein aktuelles Verhältnis zu seinen Eltern bezeichnet er als „normal“ (S. 400), was auch immer das bedeuten mag.
Der Fall „Walter“:
Walter war eines von 5 Kinder. Die Familie war arm und alles war sehr beengt. Die Stimmung zu Hause sei „beschissen“ gewesen und er und sein Bruder seien immer die „Prügelknaben“ gewesen (S. 405). Er habe Sitten wie im 15. Jahrhundert erlebt. Damit scheint er vor allem auch Gewalt zu meinen, die beide Elternteile ausübten. Ab dem 5. Lebensjahr seien „die Schläge mein Zuhause“ gewesen (S. 405). Der Vater sei brutal gewesen und die erlittene Gewalt war extrem. Er habe einst seinen Eltern erklärt, dass sie ins Gefängnis gekommen wären, wenn er ihr Verhalten damals angezeigt hätte. Als er bei den Skinheads landete, schmissen ihn seine Eltern raus. Zum Thema „Angst“ angesprochen assoziiert Walter sofort „Mutter, Vater“ (S. 406).
Dies sind klassische Kindheitsbiografien von Rechtsextremisten. Die Frage bleibt, warum dies öffentlich im Zusammenhang von Rechtsextremismus so selten besprochen wird?
Wie Du bestimmt weißt, haben die amerikanischen Richtungen der Psychologie (Behaviorismus und Kognitivismus) die Psychologie mitlerweile komplett übernommen und die Psychoanalyse an den Rand gedrängt. Und die beiden Richtungen haben es an sich, dass sie "Ursachenforschung" extrem stark ignorieren.
AntwortenLöschenStattdessen gibt es beim Behaviorismus quasi nur noch Fehlverhalten, was dem Patienten wieder "aberzogen" werden muss, und beim Kognitivismus gibt es nur noch "falsche Einstellungen". Beim Kognitivismus läuft das meistens darauf hinaus, dass man dem Patienten lehren will, sich die eigene Situation schön zu reden, statt irgendwas zu lösen.
Vielleicht muss man der Psychoanalyse vorwerfen, dass sie es mit der Ursachenforschung manchmal etwas übertrieben hat. (Statt sich das Konkrete Problem des Patienten genau anzusehen hat man lieber nach irgendwelchen Zusammenhängen mit dem Elternhaus gesucht, um da eine "Grundursache" zu entdecken. Vielleicht ging man da oft zu weit und hat deshalb quasi das Thema verfehlt.) Nur die Ursachenforschung komplett zu ignorieren ist auch keine Lösung.
Ich hab mehrfach ne Kognitionstherapie hinter mir gehabt, und ich bin das beste Beispiel dafür, wie Lächerlich es sein kann, wenn man die Ursachen komplett ignoriert.
Ich wurde zum Psychiarter geschickt weil ich damals de Facto ein Incel war und Frauen nichts von mir wissen wollten. Die Logische Frage, die ein Therapeut sich stellen sollte, wäre eigentlich jetzt "Was macht mein Patient im Kontakt mit Frauen falsch? Warum klappt es da nicht? Ist es mangelnde soziale Fähigkeiten? Ist er zu seltsam? Gibt es Probleme mit der Körperhygiene? Gibt es andere Ursachen des Problems? Ist es ne Mischung aus Allem zusammen? "
Der gesunde Menschenverstand würde sagen, dass dies eigentlich die Fragen sind, die ein Therapeut klären müsste.
Ich war bei mehreren Therapeuten. Kein Einziger von denen hat sich für diese Fragen interessiert. Das haben die komplett ignoriert.
Stattdessen haben sich diese Deppen darauf konzentriert, dass Ich dachte, es läge daran, dass ich zu hässlich bin. Deren Lösung: "Halte Dich doch einfach für schön, obwohl keine Frauen Dich wollen."
Bravo. Ganz ehrlich. Das ist genau so, als wenn ich nen Installateur rufen würde, weil meine Heizung kaputt ist, und der antworten würde "Ich ignoriere Ihre Heizung, aber Sie können sich ja ein paar warme Gedanken machen."
Die europäische Denktradition der Psychoanalyse war deutlich besser im Vergleich zum heutigen Kognitionsschwachsinn. Auch, weil man da soziale Beziehungen deutlich mehr in den Focus richtete, und nicht so sehr dachte "Der Patient ist ein Individuum, dessen Kopf ich wieder gerade biegen muss." Besonders Felix Guattari und Gilles Deleuze waren da lobenswert, weil die komplett die sozialen Beziehungen als Ursache ins Zentrum gerückt haben.
Das einzige akademische Feld, wo ich häufig immer noch Bezug auf die Psychoanalyse sehe, ist leider Gender Studies. Da ist aber das Problem, dass Gender Studies leider definitiv keine neutrale Wissenschaft sind, sondern von einer politischen Ideologie getrieben wird. Und dadurch dominiert sehr häufig die Freund/Feind Distinktion gegenüber dem Ziel, Menschen zu helfen.(Und wenn man das Pech hat, als Mann geboren wurden zu sein, ist es erstaunlich leicht, in die Kategorie "Feind" geschoben zu werden.)
Im öffentlichen Diskurs wurde die Psychoanalyse sehr stark an den Rand gedrückt, weil der Diskurs von Pseudointellektuellen Wichtigtuern überschwemmt wurde, die sich massiv auf die Aufklärung stützen (und da fast nur auf Immanuel Kant) und versuchen, alle anderen Arten von Philosophie aus dem Diskurs zu verbannen.
Diese Leute sind besonders nervig, weil man direkt merkt, dass diese Leute sich bloß wichtig machen wollen, und meistens deshalb nur mit Inhaltsleeren Phrasen um sich schmeissen.
Ich hab die Psychoanalyse immer eher so als Phänomen gedacht, was vor Allem in den 60er Jahren groß war. (Theodor Adorno, Lacan, Felix Guattari, Wilhelm Reich etc.) Ich hatte immer den Eindruck, im Laufe des Poststrukturalismus kam das danach langsam aus der Mode.
AntwortenLöschenUnd wie gesagt, der Aufstieg von Psychopharmakologie und Kognitionstherapie wird mit dazu beigetragen haben, dass die Psychoanalyse aus der Mode gefallen war.
Wo die Psychoanalyse vor Allem überlebt hat, ist Gender Studies, weil die Psychoanalyse als Erste das Thema Sexualität massiv in den Focus rückte. (Kennst Du wahrscheinlich. Man nutzt heutzutage oft sogar immer noch die Worte "Willenskraft" und "Libido" Synonym. Quasi, man braucht Libido schon, um Morgens aufstehen zu wollen.)
Die letzte große "Psychoanalytisch beeinflusste Philosophie" war der Poststrukturalismus. Mein Eindruck ist, der ist entweder zum Freak Thema geworden (Nick Land, Mark Fischer etc.), hat sich tot gelaufen oder wurde quasi von Gender Studies absorbiert.(Diese Absorbtionswirkung ist eine der seltsamsten Eigenschaften dieser Richtung.Gender kann sich in andere Philosophien einklinken und die entweder gesamt oder zu großen Teilen absorbieren. )
Komischerweise sind so gut wie alle heute noch lebenden Intellektuellen, die ich mag, psychoanalytisch beeinflusst. Jordan Peterson ist der einzige Psychologe fast, den ich noch ernst nehme. Und der ist von CG Jung beeinflusst. Slavoj Zijzek ist bekannt. Zu dem muss man nichts mehr sagen. Alexander Dugin hat schon Vorträge über CG Jung und Sigmund Freud gehalten, und unter Anderem Lacan, Zijzek und Andere zitiert. (Und Artikel über Jungs Werke verfasst.) Nick Land ist zwar das perfekte Beispiel, dass Ingenieure, wenn die zu politischen Themen wechseln, leider ab und zu zur Psychopathie neigen. Trotzdem ist der zumindest interessant. (Und dessen WIrtschaftstheorie basiert auf Guattari.) Mark Fischer wiederum gehört in ähnliche Kategorien wie Nick Land.
Ich denke das Problem der "klassischen" Psychoanalyse war, dass man zu sehr auf die Einsichtsfähigkeit des Patienten gesetzt hat. Man hat quasi dem Patienten monatelang aufgedröselt, woher seine "Wahnideen" stammen und welche wahren Gründe da wohl hinterstecken. Und hoffte dann quasi das der Patient einsieht, dass seine falschen Vorstellungen nicht echt sind, und dann mit dem neuen Wissen ein neues Leben beginnt.
AntwortenLöschenDas Problem dabei ist, die Erkenntnis "X ist Falsch" führt nicht zwangsläufig zur Erkenntnis, was jetzt nun richtig ist. Das Richtige ist oft nicht so offensichtlich, wie man es glaubt.
Deshalb sehe ich die Psychoanalyse mitlerweile mehr als Mittel zur Diagnose an, und weniger als Mittel zur Therapie.
Dann ist der Focus auf Traumata in Extremform auch problematisch. Man kann einem Menschen nicht nur durch Taten schaden, sondern auch durch "Unterlassung". Grob gesagt: Wenn man einem Kind das nicht bei bringt, was es zum Leben braucht, kann das unter Umständen genau so gefährlich sein, wie Gewaltakte.