Bereits vor 18 Jahren habe ich die Doku „Familienkrieg“ von Reinhard Schneider aus dem Jahr 2002 im Fernsehen gesehen und nie vergessen. Seit einigen Monaten ist die Doku nun auch online zu sehen:
Dazu gibt es auch noch das Hör-Feature „Mein Sohn der Nazi - Szenen einer Familie aus Niederbayern“
(Aus all den oben genannten Quellen beziehe ich meine unten aufgestellten Informationen.)
Für mich ist die heutige Sicht allerdings eine etwas andere, eine komplexere als vor 18 Jahren. Damals hatte ich zwar sehr wohl den Zusammenhang zwischen der destruktiven Kindheit und Familie von Simon und seinem Weg zum Nazi erkannt (es wäre auch erstaunlich, wenn Zuschauer dies nicht erkennen würden), aber ich hatte noch kein Schema bzgl. der verschiedenen Belastungsfaktoren im Hinterkopf. Heute, 18 Jahre später, habe ich sehr viel mehr Belastungsfaktoren im Fall Simon erkannt, als damals. Es ist schockierend, was dieses Kind alles erlitten hat.
Simons Vater, ein Seemann, war Alkoholiker. Simons Mutter war bei Simons Geburt nur 19 Jahre alt. Die Mutter wurde von ihrem Mann systematisch schwer gedemütigt, terrorisiert und herabgesetzt, auch schon während der Schwangerschaft. Ihr Mann drohte ihr auch Gewalt an. Als sie mit Simon schwanger war, bekam sie Selbstmordgedanken. Später sagte sie dies auch ihrem Kind Simon: „Ich wollte mich umbringen, als Du in meinem Bauch warst“, berichtet Simons spätere Freundin. Auch eine Abtreibung stand kurz im Raum. Simon war alles andere als ein Wunschkind. Gezeugt wurde er, in dem sein Vater die Mutter vergewaltigte. Dies habe Simons Mutter ihrem Sohn später auch immer wieder vorgehalten. Die Geburt von Simon war schwierig, das Kind kam zu früh und musste zudem mit der Saugglocke geholt werden. Die finanzielle Lage der Familie war nach Simons Geburt angespannt, der alkoholabhängige Vater oft abwesend. Die Mutter hatte oft nicht genug zu essen und verlor an Gewicht.
Simon fühlt sich grundsätzlich von seiner Mutter abgelehnt. Seine Mutter und sein Vater hätten außerdem seinen jüngeren Bruder bevorzugt. Simon wurde nicht getauft und wurde in seinem katholisch-konservativen Umfeld ausgegrenzt. An sich hatte Simon in seiner frühen Kindheit keinen Kontakt zu anderen Kindern, er hatte nur seinen Hund.
Seine Mutter war Krankschwester und dadurch beruflich (auch im Schichtdienst) sehr ausgelastet. Ihr Sohn warf ihr später vor, dass sie nie da war, wenn sie gebraucht wurde. Sie wendete außerdem auch häufig körperliche Gewalt gegen Simon an, auch Simons Vater schlug seinen Sohn. Der Vater verließ schließlich die Familie, der genaue Zeitpunkt wird nicht klar. Vermisst wurde er nicht. Er starb an Krebs, als Simon noch ein Jugendlicher war. Der Sohn erfuhr nachträglich vom Tod des Vaters und konnte nicht an der Beerdigung teilnehmen. Simons Mutter bedauert dies, weil sie es ihrem Sohn gewünscht hätte, auf das Grab des Vaters spucken zu können, als eine Art Abschluss. Simon selbst meint, dass er gerne auf das offene Grab „gepisst“ hätte. Nur die politisch rechte Einstellung des Vaters wäre in Ordnung gewesen. Ansonsten scheint er ihn einfach nur gehasst zu haben.
Simons neuer Stiefvater ist ein LKW-Fahrer und meist nur am Wochenende zu Hause. In der textlichen Beschreibung des Hör-Feature wird geschrieben, dass dieser Stiefvater, ein ehemaliger Boxer, Simon eines Tages brutal zusammenschlug und Simon ihn danach anzeigte. Aber auch Simon hätte gedroht, den Stiefvater und die Mutter umzubringen.
Als Jugendlicher wurde Simon zunächst linker Punk und lehnte das politische System in Deutschland ab. Durch Bekanntschaften kam er später mit der rechten Szene in Kontakt und wandelte sich schnell zum Neonazi. Die Kommunikation mit seiner Mutter endet stets im Streit, gegenseitigen Vorwürfen und Beleidigungen. Wobei die Mutter stets sehr kalt wirkt, stichelt und ihren Sohn extrem provoziert. In dieser Familie gab es keine Liebe, sondern immer nur Krieg, das ist der Schlussstrich, den man unter die Doku „Familienkrieg“ ziehen kann.
Die Destruktivität geht aber noch über die rechte Gesinnung von Simon hinaus. Simon verliebte sich in eine drogenabhängige Frau, die er später heiratete. Die Beziehung der beiden ist von extremer Destruktivität geprägt. Sie wurde außerdem schwanger und verlor das Kind. Außerdem findet Simon keine Arbeit und driftet durch den Tag.
Die Belastungen in Kindheit und Jugend von Simon sind unfassbar komplex. Im Jahr 2002 konnte ich diese ganzen Belastungen noch nicht deutlich erfassen und sortieren. Würde man für Simon einmal den ACE score erfassen bzw. einen ACE-Fragebogen für ihn ausfüllen, würde er zu einer kleinen Gruppe von besonders stark als Kind belasteten und traumatisierten Menschen gehören. Der ACE-Fragebogen reicht aber in seinem Fall noch nicht einmal aus. Die Belastungen für den Fötus und während der Geburt würden nicht erfasst. Ebenso wenig wie der Sachverhalt, dass er durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde. Da seine Mutter von ihrem Mann nicht geschlagen, sondern verbal terrorisiert wurde, würde auch dies wohl nicht erfasst werden. Die Ausgrenzung durch Gleichaltrige käme ebenfalls nicht in die Auswertung. Die Bevorzugung des Bruders wäre kein Thema usw.
Fragebögen können nur das erfassen und messen, wofür sie gedacht sind. Das Leben eines Kindes ist immer komplexer, als das, was Fragebögen abbilden können. Die Doku „Familienkrieg“ und das dazugehörige Hör-Feature geben uns einen sehr breiten und tiefen Blick in die Abgründe einer Familie, aus der ein gewaltbereiter Neo-Nazi hervorging. Wer wundert sich ernsthaft, dass dieser Junge zu dem werden konnte, wer er ist? Heute wissen wir dank vieler Forschungsarbeiten, dass destruktive Kindheiten bei Rechtsextremisten/rechten Gewalttätern keine Ausnahmen sind, sondern die Regel.
Der „Familienkrieg“ zeigt aber noch mehr auf. Simons Vater hatte selbst eine sehr unglückliche Kindheit, war also auch Opfer. Die Kindheit von Simons Mutter war kein Thema, ich vermute auch in ihrer Kindheit schwere Belastungen. Sie wirkt auf mich wie eine sehr traumatisierte Person. Auf jeden Fall war sie Opfer ihres Mannes. Aber sie war nicht nur Opfer, sondern auch massive Täterin gegenüber ihrem Sohn. Traumatische Belastungen können an die nächste Generation weitergegeben werden, wenn dieser Teufelskreis nicht – bestenfalls durch Therapien und Unterstützung – unterbrochen werden kann. Sollte Simon mit seiner drogenabhängigen Frau (die ebenfalls sehr traumatische, eigene Kindheitshintergründe angedeutet hat) doch noch Kinder bekommen haben, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch diese Kinder schwer belastet werden. Der ganze Fall zeigt auch auf die „Geschichte der Kindheit“, auf letztlich jahrhundertelange Folgewirkungen von Traumatisierungen und desaströsem Umgang mit Kindern.
Du redest in sehr vielen Artikeln davon, wie gut Psychotherapie angeblich helfen kann.
AntwortenLöschenDu weißt bestimmt, dass es extrem viele Schulen der Psychotherapie gibt. (Freudsche Psychoanalyse, Alfred Adler, CG Jung, Lacan, Behaviorismus, existenzielle Therapie, Gestalttherapie, Logotherapie, die dominanteste Richtung der Kognitionstherapie, Biopsychologie, und noch hunderttausende mehr.) Dein Focus liegt ja eindeutig auf Kindheitserfahrungen und gerade da bestehen in Psychotherapien gewaltige Unterschiede. Die Kognitionstherapie ignoriert Kindheitserfahrungen fast komplett. Beim Behaviorismus geht es in die Richtung "Der Patient hat in seiner Kindheit das falsche Verhalten erlernt und wir müssen dem Patienten das Falsche abtrainieren und das Richtige antrainieren". Biopsychologie sieht Kindheitserfahrungen als mögliche Ursache für Störungen im Hormonhaushalt des Hirns. Aber da diese Störungen per Medikament oder OP behandelt werden, zählen Kindheitserinnerungen bei der Behandlung der Störung nicht mehr.
Die Psychoanalyse und ihre Derivate legen wiederum massiven Focus auf das Erkennen und Verstehen von Mustern aus der Kindheit.
Deshalb meine Frage nun an Dich: Welche Arten von Psychotherapie hältst Du nun persönlich für Sinnvoller und welche für weniger Sinnvoll?
Ich hab den Eindruck, dass Du wahrscheinlich deutlich näher bei der Psychoanalyse als an Kognitionstherapie und Behaviorismus bist.
Ich habe mich nicht vertiefend mit den verschiedenen Therapieformen befasst und habe keine Expertise dazu. Während meiner Zeit als Zivi habe ich erlebt, wie die dortigen Drogentherapiekonzepte kolossal gescheitert sind, die Rückfallquote lag gefühlt bei 95 %.
AntwortenLöschenIch habe allerdings auch etliche Menschen kennengelernt, die Psychotherapien gemacht haben und denen dies sehr geholfen hat. Mein persönlicher Eindruck zum Thema:
1. Bei schweren destruktiven Kindheitserfahrungen ist eine Therapie nicht mal eben schnell die Lösung, sondern es bedarf oft JAHRELANGER, in schweren Fällen auch lebenslanger Begleitung und Therapie.
2. der Patient, die Patientin muss auch WOLLEN. Und mit wollen meine ich vor allem wirklich die Bereitschaft zur Arbeit. Psychotherapie ist Arbeit an sich selbst unter Aufsicht des Therapeuten. Es ist nicht wie beim normalen Arzt, der einem mal kurz ein Medikament verschreibt und gut ist.
3. Je nach Schicksal gibt es Grenzen. Manchmal kann das Ziel auch einfach sein, dass sich jemand nicht umbringt. Destruktive Kindheiten prägen für immer, davon gibt es keine Heilung, sondern nur das Finden eines Umgangs damit.
4. Ich glaube nicht unbedingt, dass die jeweiligen Konzepte den Erfolg bringen. Wichtig ist, dass die Chemie zwischen Patient und Therapeut stimmt und dass der Patient ein vertraute, sichere, therapeutische Beziehung zum Therapeuten erlebt. Alleine schon solche sicheren Räume und Gefühle bringen Fortschritte mit sich, nicht unbedingt der Inhalt, über den gesprochen wird.
5. Manchmal müssen die Leute auch mal 2, 3 oder 4 Therapeuten "verschleißen", bis sich ein Erfolg einstellt. So ist es halt.
6. Es gibt also nicht DEN Weg. Ich spreche in der Tat immer wieder von Psychotherapien als ein Lösungsweg. Und das meine ich auch so. Ich will fördern, dass die Leute sich überhaupt auf den Weg machen, sich Hilfe zu suchen. Sehr viele haben Angst vor Therapien oder denken noch nicht einmal über diesen Weg nach. Das muss sich ändern.
Danke für die ausführliche Antwort. Ich stimme den meisten Punkten sehr zu. Ich denke auch, jahrelange Arbeit an sich selbst ist besser, als ne Kurzzeittherapie über 5 Monate.
AntwortenLöschenIch stimme auch zu. Angst vor Therapien braucht man in der absoluten Mehrheit der Fälle nicht zu haben. Und es ist nicht gut, dass diese Angst so weit verbreitet ist. Man sollte nie vollstes Vertrauen in den Therapeuten haben und seine eigenverantwortung an den abgeben. Und wenn man das Gefühl hat, dass der Therapeut partu nicht auf einen eingeht, sollte man abbrechen. Aber in der Regel ist ne generelle Angst vor Therapeuten unnötig.