Freitag, 18. Dezember 2020

Zwei Beispiele für politische Radikalisierung aus meiner Schulzeit

Heute Nacht bin ich um ca. 3 Uhr aufgewacht und mir fielen zwei Beispiele für eine politische Radikalisierung aus meiner Zeit am Gymnasium ein. Damit ich heute nicht wieder aufwache (denn ich mag meinen Schlaf), schreibe ich die Geschichte lieber auf. 

Ich nenne meine beiden Mitschüler von damals „Lars“ und „Knut“. Mit beiden stand ich nicht all zu eng in Kontakt bzw. war nicht mit ihnen befreundet, außerdem anonymisiere ich ihre Namen. Insofern habe ich kein schlechtes Gewissen, diese Geschichte hier aufzuschreiben.  

Lars radikalisierte sich damals nach rechts und Knut nach links. 

Beginnen wir mit "Lars":

Lars war ein etwas pummeliger, unsportlicher junger Mann, der fanatischer HSV-Fan war. Er war ruhig, zurückhaltend und gab allgemein wenig von sich preis. Auf mich wirkte er auch sensibel. Richtig laut und aus sich rauskommend wurde er nur, wenn es um den HSV ging. In der Schule stand er etwas außerhalb. Ich würde ihn nicht direkt als Außenseiter bezeichnen, er lief halt einfach irgendwie mit und wurde wenig wahrgenommen. 

Der alleinerziehende Vater von Lars hatte eine hohe berufliche Position (und war damals in gewissen Kreisen auch prominent). Dies bedingte, dass der Vater oft wochenlang abwesend war. Eine Haushaltshilfe hielt die Wohnräume in Schuss. Ansonsten blieb Lars oft sich selbst überlassen. Über seinen Vater sprach er sehr distanziert, wenn er ihn überhaupt mal erwähnte. Dass sein Vater eine „wichtige Person“ war, erfuhr ich erst, als Lars sich damals etwas mit meinem damaligen besten Freund anfreundete und wir Lars dann auch mal zu Hause besuchten. Die Kehrseite des „alleine Seins“ war, dass Lars relativ viele Freiheiten genoss. Die Mutter von Lars war, meiner Erinnerung nach, irgendwie ein Tabu in der Familie. Sie war nicht da und über sie wurde nicht gesprochen. Lars war in meinen Augen ein sehr einsamer Jugendlicher. Die Trennung der Eltern hatte sich wohl schon in seiner Kindheit vollzogen. 

Lars kam dann durch den HSV mit rechten Hooligans in Kontakt. Es begann eine schleichende Radikalisierung. Seine Weichheit verschwand Stück für Stück. Er wurde nach außen härter und noch verschlossener. Allerdings kamen jetzt in Abständen plötzlich rechte Sprüche und stark antisemitische Äußerungen. Mein damaliger bester Freund distanzierte sich immer mehr von Lars (wie ich auch). Doch zum Geburtstagfeiern in einer Location wollte er Lars noch einmal einladen und nicht außen vorlassen. Lars kam dann aber nicht alleine, sondern mit ca. 4 seiner rechten Hooligan-Freunde, in der Hoffnung, dass es kostenlos Alkohol gab. Dies führte zum endgültigen Bruch mit ihm und ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.   

Bei Lars kamen einige klassische Faktoren in der Sozialisation, die zu Radikalisierung führen kann, zusammen. Trennung der Eltern und offenkundige Vernachlässigungserfahrungen und Einsamkeit (wobei nicht klar ist, was er sonst noch alles in dieser Familie erlebt und erlitten hat) gepaart mit einem zurückhaltenden Charakter führten zu einem starken Bedürfnis nach einem Anschluss an eine Gruppe und einem Dazugehören bzw. Familienersatz. Dies fand er zunächst als fanatischer Fußballfan. Ich selbst war 2 oder 3 Mal als ca. 14 Jähriger (also Anfang der 1990er Jahre) bei HSV-Spielen dabei, weil ein Freund von mir Fan war. Damals standen unten in der Westkurve ganz offen die Nazis und Skins. Nach jedem Ruf aus der Kurve „Sieg!“ hallte es von unten „Heil!“ hinterher (oft inkl. Hitlergruß). Dies wurde damals ganz offensichtlich toleriert. Farbige Spieler der Gegner, die am Ball waren, wurden mit Affenlauten begleitet (und das nicht nur von den Nazis). Im Bus gab es von einzelnen Fans Gesänge, wie man dem Gegner eine Fahrt nach Ausschwitz wünschte. Manche Fans hatten auf dem Weg ins Stadion Reichskriegsflaggen dabei. Kurzum: Ich wurde kein HSV-Fan. (Ich habe mir von einem aktuellen HSV-Fan sagen lassen, dass dies heute natürlich nicht mehr so sei)

Mir blieb dieser rechte Block der Fans immer in Erinnerung, weil mir das damals sehr Angst machte. Und jetzt kam Lars mit seiner Vorprägung und seinem Wunsch nach Gemeinschaft und wohl auch Stärke. Er war immer im Stadion, bei jedem Spiel. Es erklärt sich von selbst, dass er auch Kontakt zu rechten Hooligans finden konnte und auch fand. Wäre Lars stattdessen z.B. St- Pauli Fan geworden, hätte er vermutlich keine rechte Gesinnung entwickelt, sondern evtl. eine linke. Zufälle und Lebensentscheidungen prägen uns Menschen und auch die Richtungen, die wir einschlagen. Für mich steht aber ohne Zweifel fest: Hätte Lars Wärme und Zuspruch in seiner Familie erlebt (was offensichtlich nicht der Fall war), dann wäre er nicht in die politische Radikalität abgedriftet.


Kommen wir jetzt zu Knut, bei dem die Hintergründe ganz ähnlich waren:

Sein Vater war Vorstandmitglied einer großen Firma (inkl. Mercedes S-Klasse und bei Bedarf Chauffeur). Entsprechend war der Vater häufig abwesend. Bei Knut hatte ich keine vertiefenden Einblicke in die Familie, aber ich erinnere genau seine tiefe Abneigung gegen seinen Vater. Er hasst seinen Vater zutiefst und auf der anderen Seite hegte er auch ein Stück weit Bewunderung für ihn und wünschte sich Anerkennung, die er aber nicht bekam. Ich erinnere mich auch an eine Situation, in der Knut kurz in diese Bewunderung gegenüber seinem Vater einschlug oder ihn entschuldigen wollte. Seine Schwester zischte ihn dann an: „Du weißt, dass Papa ein Arschloch ist!“  

Knut baute sich Stück für Stück eine sehr linke und radikale Identität auf. Er war sehr extrovertiert und jeder in der Schule kannte ihn. Er war durch und durch politisch und radikal. In seine Kleidung baute er dann auch Punkelemente ein. Er lehnte den Staat ab. Er fing stark an zu trinken und traf sich für Saufgelage mit seinen ebenfalls radikalen Freunden. Für mich gipfelte das Ganze in einer Deutschstunde. Knut formulierte in dieser Stunde laut seine Thesen über die Welt und äußerte direkt, wie sehr er Menschen hasste und diese als lästig empfand (seine genaue Wortwahl kann ich nicht erinnern, er bezog sich dabei auch auf irgend einen radikalen Denker). Die Reaktion des Deutschlehrers hat mich damals sehr beeindruckt. Er war wirklich sehr emotional berührt. Er strafte Knut nicht ab, sondern äußerte seine echte Sorge und sein Unverständnis für diese Weltsicht. Knuts Vater (der ja für einen neoliberale, kapitalistische Weltsicht stand), wurde natürlich auch politisch zum Feindbild für Knut. Umgekehrt war es wohl genauso: Der Vater lehnte die radikal linke Sicht des Sohnes ab und ging noch mehr auf Distanz.  

Später traf ich Knut zufällig in einem Bus in Hamburg. Er hatte in den USA an einer Eliteeinrichtung studiert. Von seiner linken Ausrichtung war nichts geblieben, wohl aber seine Radikalität. Er berichtete stolz von seinem beruflichen Werdegang. Er sei jetzt Manager und wäre für das Entlassen der Mitarbeiter zuständig, was echt Spaß machen würde. Seine Formulierung war dabei ziemlich deutlich und war gepaart mit Wichtigtuerei und Sadismus. 

Beide Akteure sind meines Wissens nach nicht gewalttätig geworden. Wobei ich das auch nicht ausschließen könnte. Wären sie gewalttätige Extremisten geworden, dann hätte mich dies nicht gewundert. Das meine ich so. Es soll nicht bedeuten, dass ich ihr Verhalten entschuldigt hätte. Aber: Ich kannte beide. Ich hatte Einblick in ihre Familie und in ihre innere Unruhe, ihr „aus-der-Bahn-geworfen-Sein“, ihre innere Radikalität und ihr Bedürfnis nach Feindbildern. 


2 Kommentare:

  1. Michael Thomas Kumpmann18. Dezember 2020 um 12:48

    Das Suchen nach Feindbildern hab Ich ehrlichgesagt bei jeder politischen Richtung erlebt. Egal ob Rechts, Links oder Liberal. Ich war über 10 Jahren in politischen Gruppen aller Coleur unterwegs und hab das überall erlebt. (Und die Liberalen sind mit Abstand die Scheinheiligsten, weil diese das bei sich leugnen, andere dafür kritisieren, aber es selbst betreiben. )

    Carl Schmitt hat mit seiner Aussage "Grundlage jeder Politik ist die Beantwortung der Frage, wer der Feind ist" definitiv leider so etwas von Recht. Deshalb vermeide ich übrigens auch, mich zu aktuellen politischen Themen zu äußern. Weil ich auf diesen organisierten Hass von allen Seiten keine Lust mehr habe.

    Ich schaffe es zum Glück mitlerweile, zwar bestimmte politische Ideologien abzulehnen, aber nicht gleichzeitig in diesen extremen Hass aufs Gegenüber zu verfallen.

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  2. Michael Thomas Kumpmann18. Dezember 2020 um 13:05

    Ich wurde in der Schule zuerst zum Kommunisten. Das lag aber daran, weil meine Lehrerin mich auf sehr dämliche Art davon überzeugen wollte, dass der Kommunismus scheisse ist. (Sie sagte u.A., statt des Kommunismus bräuchte es ein System, was fundamental davon ausgeht, dass alle Menschen gleich sind. Diese Art von Argumente haben es am Ende geschafft, mich vom Kommunismus zu überzeugen. Obwohl das absolute Gegenteil intendiert war. )

    Sie hat zu der Zeit auch alle Schüler bestraft, die eine Meinung sagten, die abwich, von dem, was sie gut fand. Das Ergebnis war, das bei mir hängen blieb "Demokraten bestrafen Leute für abweichende Meinungen, während sie behaupten, dass ihr System verhindern würde, dass Leute für abweichende Meinungen bestraft werden".

    Mein Vater hat mich später sehr "unsanft" zum Liberalismus überzeugt. (Mein Vater war so ein klassischer "Ich bin der Leistungsträger und die Hartzer leben von meinem hart erarbeiteten Steuergeld" Typ.) Ich wurde dadurch aber echt zu einem extremen Arschloch. Hab sogar irgendwann mal nen Obdachlosen beschimpft und ihm gesagt, er sei angeblich eine faule Sau, die zu Faul sei, sich einen Job zu suchen.

    Rechts wurde ich nie wirklich. Ich wurde später nur antiliberal. Ich hab irgendwie das Gefühl gehabt, dass Liberalismus mich politisch zum kompletten Monster werden ließ. (Siehe die Sache mit dem Obdachlosen. Dafür schäme ich mich massiv. )

    Ich lehne sowohl Liberalismus, als auch Faschismus und Kommunismus ab. Nur hatte ich den Eindruck, dass Kommunismus und Faschismus nie so eine negative Wirkung auf mich hatten, wie die liberale Demokratie. Als Kommunist hab ich mich nur über die Bonzen aufgeregt. Ich habe aber nie einen Bonzen persönlich beleidigt und verbal verletzt.

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