Dienstag, 13. April 2021

Neue Studie zeigt: IS-Terroristen sind extrem selten als Kind belastet. Warum dies nicht stimmen kann!

Überraschung: Ehemalige IS-TerroristInnen und IS-Anhänger gehören laut einer aktuellen Studie zu den Menschen, die in ihrer Kindheit weltweit verglichen am friedlichsten aufgewachsen sind! 

220 (davon 182 männlich) Überläufer, Rückkehrer und inhaftierte ISIS-Kader (Durchschnittsalter ca. 30) wurden zwischen 2015 und 2019 ausführlich befragt. Die große Mehrheit der Befragten hatten von Geburt an muslimische Hintergründe, nur 7,7 % der Befragten waren zum Islam konvertiert.

Diese Studie hat mich wirklich einige Nerven gekostet: 

Speckhard, A. & Ellenberg, M. D. (2020): ISIS in Their Own Words: Recruitment History, Motivations for Joining, Travel, Experiences in ISIS, and Disillusionment over Time – Analysis of 220 In-depth Interviews of ISIS Returnees, Defectors and Prisoners. Journal of Strategic Security, 13, no. 1: S. 82-127. DOI: https://doi.org/10.5038/1944-0472.13.1.1791

Im ersten Moment ließ die Studie mein Herz wirklich höherschlagen. Die Autorinnen weisen im Textverlauf darauf hin, dass sie 10 Fragen aus dem Adverse Childhood Experiences-Fragebogen verwendet haben. Hinzu kamen weitere Fragen zu Belastungen (z.B. Tod von Elternteilen, Familienkonflikte). Dies ist die erste mir bekannt Studie bzgl. islamistischen Terroristen, die systematisch die Adverse Childhood Experiences abgefragt hat. Ich wäre vor Spannung fast vom Hocker gefallen, als ich dies las. Allerdings wäre ich auch beinahe fast ein zweites Mal vom Hocker gefallen, nämlich als ich die Ergebnisse sah. Die Ergebnisse kann ich hier nochmals zusammenfassen: 

IS-TerroristInnen und IS-Anhänger gehören – dieser Studie nach - zu den Menschen, die in ihrer Kindheit weltweit verglichen am friedlichsten aufgewachsen sind. Herzlichen Glückwunsch, als Kind weitgehend unbelastete Menschen sind es also, die der Welt den Terror und all die Grausamkeiten beschwert haben, die wir während der Hochphase der IS-Herrschaft gesehen haben. 

Mir war sofort klar, dass hier etwas nicht stimmen kann! 

Ich bewege mich jetzt auf einem schmalen Grat. Ich bin kein institutionell eingebundener Wissenschaftler und muss daher nicht „neutralisiert“ um den Brei herumreden. Aber, ich habe sehr hohe Ansprüche an meine Arbeit und Recherchen, die möglichst wissenschaftlichen Kriterien standhalten sollen. Wer meine Arbeit kennt und verfolgt, könnte jetzt schnell zu dem Schluss kommen, dass ich solche Ergebnisse wie aus dieser Studie einfach nicht anerkennen WILL, weil sie nicht der Richtung entsprechen, die ich stets finde, bespreche und verbreite. Diese Schlussfolgerung wäre naheliegend, zugegeben. Ich meine allerdings, dass ich ziemlich gute Argumente dafür habe, warum die Ergebnisse bezogen auf die Kindheitserfahrungen der Terroristen und Terroristinnen nicht stimmen können. Diese werde ich gleich vortragen. 


Hier zunächst die Ergebnisse. Jeweils in Klammern habe ich die ACE-Werte für die erwachsene Durchschnittsbevölkerung der USA (Studie: Prevalence of Adverse Childhood Experiences From the 2011-2014 Behavioral Risk Factor Surveillance System in 23 States) und für Deutschland (Studie: Prävalenz und Folgen belastender Kindheitserlebnisse in der deutschen Bevölkerung) und ergänzend die Ergebnisse einer Studie von jungen Erwachsenen (meist Studierende) im Irak (Adverse childhood experiences and their relationship to gender and depression among young adults in Iraq: a cross-sectional study) aufgeführt. Warum, werde ich gleich erläutern. 


ACE-Werte der IS-Akteure:

Emotionale Misshandlung: 0 % IS-Männer, 7,9 % IS-Frauen

(USA: 34,42 % Männer/Frauen; Deutschland: 12,5 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 6,27 % Männer/Frauen)


Körperliche Misshandlung: 1,7 % IS-Männer, 7,9 % IS-Frauen

(USA: 17,94 % Männer/Frauen; Deutschland: 9,1 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 17,21 % Männer/Frauen)


Sexuelle Misshandlung: 0 % IS-Männer, 2,6 % IS-Frauen

 (USA: 11,6% Männer/Frauen; Deutschland: 4,3 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 7,52 % Männer/Frauen) 


Emotionale Vernachlässigung: 1,7 % IS-Männer, 0 % IS-Frauen 

(USA: keine Angaben; Deutschland: 13,4 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 19,2 % Männer/Frauen)


Körperliche Vernachlässigung: 0 % IS-Männer, 0 % IS-Frauen 

(USA: keine Angaben; Deutschland: 4,3 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 19,8 % Männer/Frauen)


Miterleben von Häuslicher Gewalt: 1,7 % IS-Männer, 5,3 % IS-Frauen 

(USA: 17,51 % Männer/Frauen; Deutschland: 9,8 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 16,54 % Männer/Frauen)


Suchtmittelmissbrauch in der Familie: 1,7 % IS-Männer, 7,9 % IS-Frauen 

(USA: 27,56 % Männer/Frauen; Deutschland: 16,7 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 3,24 % Männer/Frauen)


Psychisch kranke Familienmitglieder: 2,2 % IS-Männer, 0 % IS-Frauen 

(USA: 16,53 % Männer/Frauen; Deutschland: 10,6 % Männer/Frauen; Irak (nur junge Erwachsene): 8,23 % Männer/Frauen)


Trennung oder Scheidung der Eltern: 8,8 % IS-Männer, 21 % IS-Frauen 

(USA: 27,63 % Männer/Frauen; Deutschland: 19,4 % Männer/Frauen; Irak: keine Angaben)


Inhaftierte Familienmitglieder: 1,1 % IS-Männer, 5,2 % IS-Frauen 

(USA: 7,9 % Männer/Frauen; Deutschland: 3,5 % Männer/Frauen; Irak: keine Angaben)


Wir sehen eindrucksvoll, dass die IS-TerroristenInnen in ganz wesentlichen Punkten weit unter den Durchschnittswerten der Bevölkerungen in den USA, Deutschland (wobei Deutschland bzgl. der ACE-Verteilung gerade auch bei den Gewaltbereichen schon zu den weltweit verglichen am besten dastehend Ländern gehört und somit hier ein Vergleich zu seinem Land aufgeführt ist, in dem Kinder weltweit verglichen sehr sicher aufwachsen) und dem Irak liegen. Für die Studie im Irak wurden zudem junge Erwachsene befragt, die meist Studierende waren. Diese Bevölkerungsgruppe ist vermutlich deutlich weniger belastet, als z.B. die einfach, ländliche Bevölkerung ohne große Bildungshintergründe im Irak (darauf deuten ergänzend auch Ergebnisse aus den MICS-Studien von UNICEF hin, die ein sehr hohes Ausmaß von körperlicher Gewalt gegen Kinder im Irak fanden: 63 % aller Kinder im Irak erleben demnach innerhalb von 4 Wochen körperliche Gewalt im Elternhaus; besonders schwere körperliche Gewalt erleben ca. 27 % aller irakischen Kinder). Trotzdem liegen die ACE-Werte der IS-Leute deutlich darunter. Dies kann alleine statistisch und von der Wahrscheinlichkeit her nicht sein! 

Was mich besonders stört ist, dass die Autorinnen keine Hinweise in diese Richtung geben. Sie stellen ihre Ergebnisse bzgl. der ACEs nicht in Frage und sie setzen sie auch nicht ins Verhältnis zur Allgemeinbevölkerung. 

Besonders auffällig ist auch, dass die männlichen IS-Leute deutlich weniger Belastungen angeben (in 7 von 10 ACE-Bereichen), als die weiblichen. Die meisten Studien über Kindesmisshandlung belegen z.B., dass Jungen häufiger körperlich misshandelt werden, als Mädchen. Bei den IS-Leuten gaben 1,7 % der Männer und 7,9 % der Frauen an, als Kind körperlich misshandelt worden zu sein. Diese Zahlen sind sowohl im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, wie auch bzgl. der Verteilung dieser Belastung bei den Geschlechtern absolut unwahrscheinlich. Es liegt also die Vermutung nahe, dass sich gerade die IS-Männer bzgl. kindlicher Belastungen besonders ausgeschwiegen haben. 

Der Blick auf die Methodik der Studie zeigt allerdings schnell die Schwächen auf, die meiner Auffassung nach mit dazu führen, dass hier falsche Ergebnisse zu Tage kommen. 

In der Einführung schreiben die Autorinnen zunächst: „All three groups of ISIS insiders (prisoners, defectors, and returnees) are often reluctant and fearful about giving interviews“ (S. 83). Was es sehr schwer machen würde, diese Leute zu erreichen. Trotzdem haben die Autorinnen 220 Befragte in ihrem Sample. Dies wird sie viel Mühe und Zeit gekostet haben. Trotzdem möchte ich den zitierten Satz aufgreifen. Diese IS-Leute waren zeitlich noch nah an ihren Erlebnissen während der Terrorherrschaft des IS dran und natürlich spielte Angst eine Rolle im Hintergrund und auch noch in ihrem aktuellen Leben. Was auch der nachfolgend zitierte Satz deutlich macht: „All of the interviews touched on highly traumatic material and often required psychological expertise to support the individual to continue speaking about painful events that were difficult to discuss“ (S. 85). Die Autorinnen betonen gleich im Anschluss an diesen Satz, dass sie beide sehr qualifiziert für diese Befragungen seien, sowohl was Erfahrung mit der Befragung von Terroristen (inkl.  der Arbeit mir Übersetzern) angeht, als auch bezogen auf ihre psychologische Qualifikation. Insofern seien die Interviews auch relativ reibungslos verlaufen und die Befragten hätten sich geöffnet.

Ich habe da meine Zweifel. Und zwar auf Grund der nachfolgend erläuterten Rahmenbedingungen:

Die Interviews wurden in der Türkei, Irak, Syrien, auf dem Balkan, in Europa und Zentralasien durchgeführt. Die Befragten stammen aus 35 verschiedenen Ländern und repräsentieren 41 verschiedene ethnische Hintergründe. Die Interviews wurden i.d.R. in Gefängnissen, Lagern, Verhörräumen oder Büros geführt. In mehr als der Hälfte der Fälle musste ein Übersetzer dabei sein. Die Interviews wurden auf Video oder per Audio aufgenommen. Die Interviews dauert im Schnitt 1,5 Stunden. In manchen Fällen wurden die Interviews gestört, weil Leute in den Raum kamen. In Gefängnissen und Lagern wären i.d.R. Wärter im Raum verblieben. Überläufer hätten sehr um ihre Sicherheit gefürchtet und suchten einen sehr privaten Rahmen für das Interview, was wiederum mehr Unsicherheit für die Interviewer bedeutete. Die Interviews begannen stets mit Fragen über die Kindheit.

Alle diese Sachverhalte machen es für mich mehr als nachvollziehbar, warum diese Leute – so meine These - ihre Kindheit beschönigt bzw. belastende Ergebnisse nicht angegeben haben.

Schon den Durchschnittsbürger kostet es viel Überwindung, offen seine Kindheitserfahrungen darzulegen. Hier haben wir es mit Tätern und Täterinnen zu tun, die oft noch in einem für sie unsicheren Rahmen festsaßen (ob nun z.B. im Gefängnis oder als versteckter Überläufer). Dazu kam, dass das Gesagte aufgezeichnet wurde. Dazu kam, dass oft Dritte anwesend waren (Übersetzer, Wächter, Sonstige). Dazu kam, dass viele dieser Leute an sich durch ihre IS-Zeit traumatisiert waren, was die Autorinnen im Verlauf der Studie aufzeigen. Dazu kam, dass noch kein langer zeitlicher Abstand zwischen der Mitgliedschaft im IS und dem Interview da war. Dazu kam, dass die Mehrheit der Befragten Männer waren. Männer, die sich einer mittelalterlichen Ideologie wie der des IS angeschlossen hatten. Zu dieser Ideologie gehörte die systematische und starke Entwertung von Frauen und die Überhöhung alles männlichen. Anne Speckhard und Molly D. Ellenberg (die Autorinnen und Feldforscherinnen der Studie) sind beides westliche Frauen. Warum sollten diese IS-Männer gerade gegenüber diesen beiden Frauen ihre intimsten und größten Schwächen, ihre geheimen Kindheitstraumata offenbaren? Warum?
Nóch dazu, wo alles aufgezeichnet wurde, noch dazu, wo oft Dritte im Raum waren. Noch dazu, obwohl ihr eigenes Schicksal oft noch gar nicht geklärt und gesichert war und sie nicht wissen konnten, wie diese Daten verwendet werden. Zu all dem wurden die Interviews auch noch mit den Fragen zur Kindheit begonnen. Besser wäre es gewesen, diese Fragen im Schlussteil des Interviews unterzubringen, nachdem die Interviewten etwas erschöpft sind und weniger nachdenken und – ganz wichtig – nachdem sie vielleicht etwas Vertrauen gewinnen konnten. 

Bzgl. der ACE-Werte wäre es wohl deutlich sinnvoller gewesen, diese per Fragebogen abzufragen, nicht durch persönliche Interviews. In den persönlichen Interviews hätte man dann noch die Chance gehabt, um die IS-Leute nach Episoden aus ihrer Kindheit und Erfahrungen mit ihren Eltern zu befragen, um das Bild zu ergänzen bzw. abzugleichen. Vom Gefühl her würde ich sagen, dass ein sicherer Rahmen auch eine wesentliche Voraussetzung dafür gewesen wäre, dass die Wahrheit über die Kindheit berichtet wird. In einem Gefängnis in einem nicht wirklich demokratischen Land, würde ich keine absoluten Wahrheiten von Befragten erwarten, zumal, wenn es um die größten Schwächen geht. 

Insofern fasse ich zusammen: Ich bin wirklich enttäuscht von dieser Studie. Aber: Ich habe die Hoffnung, dass die Forschenden zukünftig weitere ACE-Befragungen von Extremisten und Terroristen durchführen. Sie sollten sich aber vorher mit den ganzen Problemlagen solcher Befragungen befassen. Meine eigenen Recherchen haben auch immer wieder gezeigt, dass solche Leute ihre Kindheit gar nicht "anfassen" wollen oder sie einfach mit Sätzen wie „war alles normal“ „keine schlechten Kindheitserfahrungen“ (z.B. Anders Breivik) usw. abtun, obwohl ihre Kindheiten unfassbar traumatisch waren. 

Bevor man versucht, traumatische Kindheitserfahrungen abzufragen, muss man darum wissen, wie ungemein schwer es vielen als Kind traumatisierten Menschen fällt, über ihre Erlebnisse zu sprechen, Man muss zudem um Spaltungsprozesse wissen (viele Menschen können sich wirklich nicht an ihre schrecklichen Kindheitserfahrungen erinnern). Und muss im Hinterkopf haben, dass gerade grausame Täter (insbesondere die männlichen Exemplare) nach außen Stärke und absolute Macht demonstrieren wollen. „Schwächen“ abzufragen, gestaltet sich naturgemäß in solchen Fällen als äußerst schwierig. Hier wäre eine methodische Lösung u.a. die, dass man ergänzend und zum Abgleich Verwandte und Freunde über die Kindheiten dieser Leute befragt (ggf. auch Gerichtsakten einsieht), was natürlich den Aufwand deutlich erhöht hätte. 

Abschließend sei auf das Kapitel „11. Das Schweigen der Täter: Von der Schwierigkeit, die ganze Wahrheit über das erlebte Kindheitsleid zu erfahren“ in meinem Buch verwiesen, in dem ich mich ausführlich mit diesen Problemlagen befasst habe. 


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