Montag, 20. September 2021

Kindheit des ehemaligen Neonazis Timo F. (Misshandlungsfamilien erinnern stark im Kleinen an das NS-Regime im Großen)

 „Neonazi“ von Timo F. (2017 Arena Verlag, Würzburg) ist ein autobiografischer Roman, der von Ausstiegshilfeorganisationen empfohlen und mittlerweile auch an manchen Schulen im Unterricht verwendet wird. 

Die ersten ca. 60 Seiten umfassen ausführliche Schilderungen über Kindheit, Jugend und Familie von Timo F. Gefühlt ist man alle zwei Seiten fassungslos über die Familienatmosphäre und den Umgang der Erwachsenen mit dem Kind. 

Seinen ersten Stiefvater hielt Timo eine ganze Zeit lang für seinen richtigen Vater (dazu gleich mehr). Dieser Mann war gewalttätig gegenüber Timo. Außerdem bevorzugte er den jüngeren Bruder (S. 11). Nachdem der Stiefvater von einer Affäre der Mutter erfahren hatte, verschlechterte sich die Familienatmosphäre massiv. Ständig gab es Streicht, aber auch körperliche Übergriffe:
Meine Mutter verlegte ihren Schlafplatz vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Geschwollene Lippen und blaue Augen wurden bei ihr quasi zum Dauerzustand und ich hatte manchmal das Gefühl, genauso viel Zeit unter meinem Bett wie in meinem Bett zu verbringen“ (S. 17) 

Als Timo sechs Jahre alt war, verließ die Mutter zusammen mit den Kindern diesen Mann. Sie zog in eine schlechte Gegend. Timo lebte fortan in einer „Bruchbude mit meiner dauergenervten und vor lauter Überforderung ständig herumschreienden Mutter“ (S. 18). 

Der Stiefvater – Achim - holte bald den kleinen Bruder – Stefan - von Timo ab, ein erneuter Beziehungsverlust für Timo. Timos Mutter erklärte dies wie folgt: „Achim wollte dich noch nie haben. Deshalb hat er nur Stefan abgeholt. Er hatte sogar gedroht, dich zu verdreschen, wenn ich ihm Stefan nicht mitgeben würde“ (S. 19). Auf Nachfragen von Timo, warum Achim das hätte tun sollen, er sei doch sein Vater, kam die kalte Antwort der Mutter: „Nein, er ist nicht dein Vater und deshalb hat er Stefan ja auch viel lieber als dich“ (S. 20). Timo erfuhr hier erstmals davon und musste weinen. Seine Mutter verdrehte die Augen und war genervt von seiner Reaktion. Solcher Art von emotionaler Kälte und Verhaltensweisen zeigte diese Mutter immer wieder. Sie stand dem gewalttätigen Stiefvater in nichts nach.

Die Mutter war ergänzend ebenfalls körperlich und psychisch gewalttätig gegenüber Timo und drohte nicht nur einmal damit, Timo ins Kinderheim zu bringen, wenn er sie weiter nerven würde (S. 32). 

Die weiteren Abläufe in der Familie zu beschreiben, wäre müßig. Es kamen u.a. weitere Beziehungen der Mutter und auch erneute Trennungen hinzu. Auch weitere Kinder wurden geboren. Timo war vielfachen Demütigungen und Zurücksetzungen ausgesetzt. Er erlebte Einsamkeit und erhielt keinerlei Hilfe und Unterstützung. Der Selbstwert von Timo litt massiv unter all dem, was er an einer Stelle wie folgt ausdrückt: „Wahrscheinlich war ich wirklich nicht liebenswert. Schließlich wollte nicht einmal mein echter Vater etwas mit mir zu tun haben. Und mein Stiefvater hatte sich auch nie wieder gemeldet. Ich lag im Bett und konnte mich selbst nicht leiden. Aus ganzem Herzen. Ich fand mich zum Brechen“ (S. 27). 

Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie dieser Junge seinen „Familienersatz“ in der rechten Szene suchen und finden sollte (was er im Buchverlauf auch beschreibt). Allerdings kamen hier noch direktere Einflüsse hinzu: Seine Mutter war als Jugendliche stark in die rechte Skinheadszene involviert und Timos Urgroßvater mütterlicherseits war ein überzeugter Nazi (und Timos Mutter hatte wiederum viel Zeit bei diesem Mann verbracht). Nun mag man diese ideologischen Prägungen als Einflussfaktoren auch für das Werden von Timo heranziehen, was seine Berechtigung hat.
Ich möchte aber auch betonen, dass die gelebte NS-Ideologie im Grunde ein Abbild einer dysfunktionalen, strengen, wenig auf Emotionen und Schwächen Rücksicht nehmenden und kalten Familie darstellt. Misshandlungsfamilien erinnern stark im Kleinen an das NS-Regime im Großen! 

So verwundert es auch nicht, dass Timos Mutter eine ganz ähnlich destruktive Kindheit hatte, wie er selbst (S. 50f.). Ich bin davon überzeugt, dass die real destruktiven Kindheitserfahrungen den viel größeren Einflussfaktor für die Hinwendung zur radikalen Ideologie darstellen, als das Etikett „Mutter und Urgroßvater waren Nazis“. Letzteres ist zu undeutlich und schemenhaft. Was real im gelebten Alltag in solchen Familien weitergegeben wird, ist der Hass, das Demütigen, das Abwerten von Schwächeren und die emotionale Kälte. Was real in solchen Familien produziert wird, sind traumatisierte Kinder (das sahen wir auch im Fall von Heidi Benneckenstein, die einer völkischen Erziehung in einer NS-Familie ausgesetzt war). 

(siehe ergänzend zum Thema auch: Die Kinder der NS-Täter und die Kindheit der NS-Täter)


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