Donnerstag, 9. Dezember 2021

Die angeblich harmonische Kindheit des Ex-Neonazis Nick W. Greger und meine Anmerkungen dazu

Die Schilderungen des ehemaligen Neonazis Nick W. Greger über seine Kindheit erstaunen zunächst bzw. stellen eine Ausnahme bzgl. meiner Recherchen dar. Er beschreibt seine Kindheit als durchgängig sorglos. Bei genauerem Hinsehen stellen sich aber Fragen, was ich gleich ausführen werde. 

Meine Quelle: "Verschenkte Jahre - Eine Jugend im Nazi-Hass" von Nick W. Greger (2012, epubil, Berlin)

Gleich zu Beginn des Buches stellt Greger klar: „Aus meiner Kindheit gibt es nichts Aufregendes zu berichten. Ich stamme aus einer bürgerlichen Familie der demokratischen Mitte, wie man heute wohl sagen würde. (…) Eltern und Großeltern kümmerten sich rührend um mich, und da ich ein Einzelkind war, stand ich als Jüngster im Mittelpunkt der Familie. Es fehlte mir an nichts, und mir wurde so ziemlich jeder Wunsch erfüllt. Auch mein späteres Agieren als Neonazi sollte das Verhältnis zu meiner Familie niemals ernsthaft trüben können. Kurz gesagt, ich hatte nichts zu leiden und gebe heute auch offen zu, dass es mir wohl ein bisschen zu gut ging und ich einfach nur ein verwöhnter Rotzlöffel war“ (S. 10).

Ab dem 7. Schuljahr habe er ein starkes Bedürfnis nach Auflehnung und rebellischem Verhalten entwickelt, „gegen die Schulordnung, die Lehrer, meinen Vater und einfach jede Autorität, die versuchte, mein Leben in einer Bahn zu halten“ (S. 11). Zunächst drückte sich dies in Schulschwänzen, zu-spät-nach-Hause-Kommen und Herumtreiben in der Stadt aus. „Als Konsequenz gab es natürlich Sanktionen von der Schule und vom Elternhaus, also Nachsitzen und Hausarrest“ (S. 12). 

Schließlich musste er die 7. Klasse wiederholen. In dieser Zeit traf er auf eine rechte Gruppe im Ort, die aus deutlich älteren Jugendlichen bestand. „Ich sollte eine Gruppe, in der ich meinen Frust gegen die über mich herrschende Ordnung ausleben konnte, gefunden haben“ (S. 12). 

Ziemlich schnell kam es dann auch zu Gewaltverhalten und Schlägereien. Die Lehrer seiner Schule sprachen entsprechende Warnungen aus, sich ja nicht mit Greger einzulassen. Wie solche Gewalt u.a. aussehen konnte, beschreibt Greger an einer Stelle, wo es gegen eine Gruppe von Punks auf einem Dorffest ging:
Zum Auftakt der Keilerei hatten wir einen benachbarten Gartenzaun zerlegt und die Latten verwendet, um auf den Gegner einzuprügeln. Einige Punks waren zu Fuß geflüchtet, andere hatten versucht, mit ihren Pkws unserem kleinen, jedoch Amok laufenden Mob zu entkommen. Wir hatten ein Auto gestoppt, mit dem fünf Punks zu flüchten versuchten und mit den Zaunlatten auf das Fahrzeug eingeschlagen. Scheiben waren zu Bruch gegangen, die Insassen durch Glassplitter und Lattenhiebe verletzt worden“ (S. 20). Zu der Zeit muss Greger 15 oder jünger gewesen sein. Er wurde erstmals verurteilt und musste 40 Arbeitsstunden absolvieren. 

15 war auch das Alter, in dem er eine weitere Grenze überschritt: er lief von zu Hause fort. Er wollte in den Osten nach Dresden, das damals als Neonazihochburg galt. In der Tat fand er schnell Anschluss und wurde von der rechten Szene aufgenommen und untergebracht. Seine Eltern waren in großer Sorge und gaben eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf. Erst Monate später gab er seiner Familie ein Lebenszeichen von sich. Die kommenden acht Jahre verließ er Sachsen nicht mehr, auch wenn seine Familie ihn zur Heimkehr bewegen wollte (S. 22).

Greger ging in dieser Zeit in Gewalt und Hass auf. Man zog durch die Straßen und verprügelte jeden, der „bunte Haare hatte, irgendwie links orientiert aussah oder einem Ausländer glich“ (S. 27). 1995 kam er das erste Mal ins Gefängnis, was nicht das letzte Mal gewesen sein sollte. 

Machen wir an dieser Stelle einen Strich und erinnern uns an die anfänglichen Schilderungen über eine harmonische Kindheit. Ich finde: Das passt alles nicht zusammen!

Wir bekommen hier ein Bild von einem Jungen, der schon ab der 7. Klasse auffällig wurde und schnell Gewaltverhalten entwickelte. Es kam auch, wie geschildert, zu schwerer Gewalt gegen andere Menschen. Als 15Jähriger floh der Junge aus seiner „harmonischen Familie“, in der sich alle „rührend“ um ihn gekümmert haben sollen und kam jahrelang nicht zurück. Wie es seiner Familie damit ging, scheint ihm herzlich egal gewesen zu sein. Dies spricht nicht für eine real starke Bindung innerhalb der Familie, sondern für das genaue Gegenteil. 

Interessant ist dabei auch, dass Greger im Grunde gar nichts über seine Familie schreibt, außer bzgl. der Zusammenfassung oben. Er beschreibt keine Szenen oder Episoden mit der Familie, keine Ausflüge, kein Erziehungsverhalten, gar nichts. Nur einmal wird, wie oben zitiert, erwähnt, dass zu Hause mit Hausarrest gestraft wurde. Auch das „Verhätscheln“ wurde erwähnt. Verhätscheln ist keine Liebe, sondern oft ein Anzeichen für ein problematisches Familiensystem. Was mir aber am aller meisten ins Auge sticht, ist der Hang zu Hass und (schwerer) Gewalt im jungen Leben von Greger. Wo soll der Hass herkommen? Aus der Luft? Greger wurde nicht gemobbt, beschreibt keine Übergriffe gegen sich als Kind außerhalb der Familie oder ähnliches. Ich gehe davon aus, dass in der Familie einiges schief gelaufen sein muss. Indizien dafür gibt es wie geschildert. 

Ich warne eindringlich davor, den Fall Nick W. Greger in der Extremismusforschung als Beispiel dafür aufzuwarten, dass auch geliebte Kinder zu hasserfüllten Neonazis werden können. Solche Fälle sollten eher dazu motivieren, weitere Nachforschungen zu betreiben und den Dingen auf den Grund zu gehen; Familie, ehemalige Lehrer, Klassenkameraden usw. zur Kindheit von Greger zu befragen. Und natürlich auch, so es denn die Gelegenheit dafür gibt, Greger direkt und ausführlich über seine Familie und Kindheit zu befragen. Ihn dabei auch Episoden berichten zu lassen, nicht nur allgemeine Etiketten wie „alles war normal und gut“.  Ergänzt ggf. auch um einen Fragebogen aus der ACEs-Forschung, der viele Belastungsfaktoren aus der Kindheit erfasst. Nun ist es so, dass dies alles sehr intime, ggf. schambesetzte Gegebenheiten berührt und es an sich schwierig ist, über Kindheit die ganze Wahrheit zu erfahren. Dies ist und bleibt ein Grundproblem bei der Erfassung der Kindheitsbiografie von Tätern.  

Nachtrag: Ich hatte die Gelegenheit, Nick Greger zu interviewen! Eine wichtige Info bzgl. seiner Kindheit kam dadurch hinzu:  
Seine Mutter war gerade einmal 16 Jahre alt, als Nick geboren wurde. Sie wurde im Alter von 15 Jahren schwanger. Dies sei so geplant gewesen. Nicks Vater war einige Jahre älter und konnte die junge Familie finanziell stemmen. Seine Mutter sei damals bereits sehr reif und verantwortungsvoll gewesen, sagte Greger zu mir.


1 Kommentar:

  1. Interessant ist vielleicht auch noch zu erwähnen was auf seinen Ausstieg folgte: Christlicher Extremismus inkl. bewaffnetem Kampf in Afrika, OK (Diamantenhandel), dann Konvertierung zum Islam und am Schluss Hinwendung zum italienischen Faschismus (Casa Pound etc.) wo er nun Islam und Faschismus zu vermählen versucht

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