Donnerstag, 21. April 2022

Kindheit von Zacarias Moussaoui

Zacarias Moussaoui erklärte vor Gericht, dass er eigentlich für das Terrornetzwerk al-Qaida ein Flugzeug ins Weiße Haus habe lenken sollen, allerdings kam er vorher in Haft.  Er gilt als Helfer für die islamistischen Anschläge vom 11. September 2001 in den USA und wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Über seine Kindheit habe ich bereits in meinem Buch kurz berichtet (nachfolgend der kurze Auszug). Seine in Marokko aufgewachsene Mutter heiratete seinen erheblich älteren Vater im Alter von vierzehn Jahren. Später, als die Familie in Frankreich lebte, verließ sie mit ihren Kindern ihren Mann; Zacarias war da drei Jahre alt (Auchter, T. (2012): Brennende Zeiten. Zur Psychoanalyse sozialer und politischer Konflikte. Psychosozial Verlag, Gießen, S. 236). Seine Schwestern sagten vor Gericht aus, dass Zacarias von seinem Vater misshandelt wurde. Der Vater sei Alkoholiker gewesen und habe die Familie terrorisiert (Focus-Online 2006, Arzt hält Moussaoui für paranoid). Die Mutter sei, so eine Gutachterin vor Gericht, auch während all ihrer Schwangerschaften von ihrem Ehemann misshandelt worden. Zacarias kam mehrmalig in Waisenhäusern unter (Reihnische Post-Online 2006, Moussaoui hatte angeblich schwere Kindheit). Aber auch seine Mutter war autoritär und dominant. Und sie schlug ihre Kinder (Auchter 2012, S. 237).

Nun habe ich die Zeit gefunden, eine weitere, sehr eindrucksvolle Quelle für seine Kindheit zu sichten:

"Zacarias Moussaoui, mein Bruder" von Abd Samad Moussaoui (2002, Pendo Verlag, Zürich)

Seit Jahren recherchiere ich über die Kindheiten von Extremisten, Terroristen und Gewalttätern. Dass der Bruder eines solchen Täters ein ganzes Buch schreibt, in dem ausführlich und ganz offensichtlich auch ohne Scheukappen die Familiengeschichte und destruktive Kindheitssituation beschrieben wird, ist wohl einmalig (selten schreiben Familienmitglieder von Tätern Bücher. Und dann kommt eher etwas heraus wie „Liebe ist nicht genug - Ich bin die Mutter eines Amokläufers“ von Sue Klebold, was – wie der Titel schon zeigt – eher wenig Erhellendes über die Kindheit der Täter zu Tage bringt, sondern wohl eher der Entlastung der Mutter dienen soll…).

Die Mutter (Aischa) der Brüder hatte bereits eine schwierige Kindheit. Ihr Vater starb 1953, da war Aischa sieben Jahre alt. Ihre Mutter war zu der Zeit kaum vierzig Jahre alt und hatte nun alleine fünf Kinder zu versorgen, ohne dass ihr Mann ihr Geld hinterlassen hätte (Moussaoui 2002, S. 16). Die Mutter konnte nicht alle ernähren. Aischa wurde zu einem Cousin gegeben und musste dafür dort im Haushalt helfen. „Wie ihre Geschwister auch wuchs Aischa also ohne Vater auf. Schon sehr früh dachte sie nur an eines: nichts wie weg. Als sie vierzehn Jahre alt war, lernte Aischa meinen Vater kennen, Omar Moussaoui“ (S. 17). Die Verwandten erzählten später, Aischa hätte unbedingt so früh heiraten wollen. Die Version von Aischa selbst war eine andere: „Unsere ganze Kindheit über hat Aischa uns gegenüber behauptet, sie wäre gegen ihren Willen mit vierzehn verheiratet worden. Nach der Hochzeit brachte meine Mutter nacheinander zwei Kinder zur Welt, die sehr bald starben. Als sie siebzehn war, kam Nadia auf die Welt, meine älteste Schwester“ (S. 17). Ein weiteres Mädchen folgte. Die Familie zog dann nach Frankreich. Die beiden Brüder wurden in Frankreich geboren, als die Mutter Aischa Anfang 20 war. 

Zacarias war der Jüngste. Drei Jahre nach seiner Geburt ließen sich seine Eltern scheiden. Die Mutter begründete dies mit der Gewalttätigkeit ihres Mannes (S. 19). Die Mutter zog mit den Kindern nach Mulhouse, wo sie Arbeit gefunden hatte. „Kaum waren wir in der elsässischen Stadt angekommen, steckte unsere Mutter uns ins Waisenhaus (…). Plötzlich standen wir also ohne Vater und ohne Mutter da. An diese düstere Zeit unserer Kindheit habe ich nur wenige Erinnerungen, aber sie sind furchtbar“ (S. 19). Aischa kam während dieser Zeit ca. einmal die Woche zu Besuch, aber sie nahm die Kinder nie mit zu sich.
Eines Tages nahm sie ihre Kinder dann allerdings wieder bei sich Zuhause auf. Aischa arbeitete von früh bis spät. „Zu Hause trat meine Schwester Nadia, die damals zwölf Jahre alt war, im Haushalt an ihre Stelle. Sie kaufte ein, kochte, putzte und kümmerte sich um uns. Abends machte sie uns zu essen, morgens half sie uns beim Anziehen. Und wir hatten uns still zu verhalten, sonst setzte es was“ (S. 22). Hier deuten sich also auch Körperstrafen seitens der älteren Schwester an (!) und natürlich wird die mütterliche Vernachlässigung überdeutlich

Später zog die Familie erneut um, diesmal in ein sogenanntes „Problemviertel“. Die Jungs wurden dort offensichtlich des Öfteren in Prügeleien verwickelt. Von manchen Nachbarn wurden sie außerdem rassistisch beleidigt. Die Wohnung war sehr klein, so dass sich das Leben für die Kinder vor allem draußen abspielte. „In der Wohnung war es nicht lustig. Meine Mutter kümmerte sich nicht um uns, sie hatte immer etwas anderes zu tun. Es wäre illusorisch gewesen, von ihr auch nur ein liebevolles Wort oder eine zärtliche Geste zu erwarten, sie war dazu nicht in der Lage. Mit meinen Schwestern hatte sie immer Krach, obwohl sie enorm viel leisteten“ (S. 24). 

Manchmal versuchte der Vater, die Kinder zu besuchen. Die Mutter hatte ihre Kinder allerdings so sehr vor dem Vater gewarnt, dass sie oft wegliefen, wenn er sie sehen wollte. Die Mutter hatte ergänzend gedroht, dass sie nicht mehr ihre Mutter sein werde, wenn sie mit dem Vater mitgehen würden (S. 25). Der Vater stellte schließlich seine Besuchsversuche ein. Später erfuhren die Kinder, dass ihr Vater eine Zeit im Gefängnis gesessen hatte, was sie zutiefst schockierte (S. 53).

Schließlich trat auch ein Stiefvater ins Leben der Kinder. Er störte wohl nicht, blieb aber recht unsichtbar. Die Dominanz in der Familie übte die Mutter Aischa aus. Sie war auch sehr kontrollierend und manipulativ. Und sie war gewalttätig: „Um uns zu bestrafen, wurde nicht selten ein Teppichklopfer zweckentfremdet“ (S. 29). Zuhause gab es oft „Ärger, Geschrei und Schläge“ (S. 30). 

Zwischen der Mutter und ihrer Tochter Jamila eskalierten die Konflikte schließlich so weit, dass Aischa ihre Tochter in ein Internat schickte. (Jamila wurde später depressiv und bulimisch, außerdem versuchte sie, mit Hilfe einer Sozialarbeiterin in einem Heim unterzukommen, was nicht gelang: S. 50)  Abd Samad wurde ebenfalls das Internat angeboten. Er wollte seine Lieblingsschwester nicht alleine gehen lassen und ging mit. Unter der Woche waren die Geschwister nunmehr voneinander getrennt. „Mein Weggang machte Zacarias traurig, denn für ihn war es ein wenig so, als würde ich ihn im Stich lassen“ (S. 33). Zacarias war nach dem Wegzug seiner Geschwister den „häuslichen Gewittern“ nun noch stärker ausgesetzt. Er versuchte Zuhause immer in Alarmbreitschaft zu sein und „dem mütterlichen Zorn aus dem Weg zu gehen, was ihm nicht immer gelang“ (S. 34). 

Irgendwann verkündete die Mutter einen erneuten Umzug. Nur Zacarias war absolut dagegen. Er hatte in seinem Wohnort Bindungen aufgebaut und träumte davon, Profihandballer zu werden (er war talentiert), was sich durch den Umzug erledigte. „Mit dem Abstand glaube ich, dass dieser Umzug nach Narbonne nach dem Aufenthalt im Waisenhaus der zweite große Bruch für ihn war“ (S. 34f.) Zacarias war zu dem Zeitpunkt zwölf Jahre alt. Ab dann sei Zacarias verändert gewesen.
Irgendetwas hatte sich bei ihm eingenistet, ein kleines Mal, eine Spur Bitterkeit oder Groll, wie eine Narbe, die so klein ist, dass man sie kaum sieht, aber die auch mit der Zeit nicht verheilt“ (S. 37). 

Ihre Mutter bot ihnen auch keine richtige Verbindung zu ihrem Herkunftsland oder zur Religion. Zu all den familiären Belastungen kam noch das Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit hinzu und Rassismus. In der Schule gab es sogar einen Lehrer, der gezielt Schüler arabischer Herkunft prügelte. „Zacarias ließ sich schlagen, ich ließ mich schlagen, die anderen ließen sich auch schlagen. Schweigend“ (S. 80). Es kam noch zu weiteren Opfererfahrungen, die mit Rassismus zusammenhingen. 

Der Autor berichtet auch über die Art und Weise mütterlicher Demütigungen. „Du bist ein Tunichtgut, von dir kommt alles Böse, du bist ein Bastard!“ (S. 59). „Ein Streit zwischen meinem Bruder und meiner Mutter konnte um sechs Uhr abends beginnen und sich bis zwei Uhr in der Früh hinziehen …. Meine Mutter ließ erst locker, wenn sie sah, dass ihr Sohn kurz davor war, zusammenzubrechen“ (S. 60).

 Als Zacarias ca. 18 Jahre alt war, verließ er seine Familie. „1988 kam er noch einmal kurz wieder. Dann tauchte er erst acht Jahre später wieder auf, 1996, mit kahlrasiertem Schädel, langem Bart und kurzer Hose (…)“ (S. 62). Durch Kontakte zur Islamistenszene hatte er sich radikalisiert. Das Schicksal nahm seinen Lauf… 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen