Donnerstag, 19. Mai 2022

Kindheit von Zar Nikolaus II. (Russland, 1868 - 1918)

Nikolaus II. erhielt „nicht die bestmögliche Erziehung für sein künftiges Herrscheramt. Er wuchs als ältestes der fünf Kinder (…) in der spartanischen Atmosphäre auf, die sein Vater so schätzte“ (d'Encausse 1998, S. 69). Die Erziehung des jungen Nikolaus sei durch „Dürftigkeit, ja sogar Strenge der Lebensführung“ geprägt gewesen (d'Encausse 1998, S. 69). 

Nikolaus musste in seiner Kindheit den Tod seines jüngeren Bruders Alexander verkraften.  Sein Bruder Georg erkrankte an Tuberkulose und musste künftig in einem Sanatorium leben. „Dass er nicht mehr da war, bedeutete für Nikolaus den Verlust einer Kameradschaft, die ihren Einfluss auf ihn wahrscheinlich nicht verfehlt hätte“ (d'Encausse 1998, S. 70).

1881 erlebte der künftige Herrscher (…) hautnah die Gewaltbereitschaft seines Volkes, als der zerfetzte und mit abgerissenen Beinen im Todeskampf zuckende Leib seines Großvaters Alexander II. in den Zarenpalast gebracht wurde, wo sich die Familie um den Sterbenden versammelte. Nikolaus sollte diesen Moment nie mehr vergessen (…)“ (d'Encausse 1998, S. 70). Sein Großvater war einem Attentat zum Opfer gefallen. Nikolaus II. war damals gerade einmal dreizehn Jahre alt und war laut Berichten „totenblass“, als er all dies mitansehen musste (Ferror 1991, S. 19).

Schon unter Alexander II. war in Russland der erste Polizeistaat der westlichen Welt entstanden (Ferror 1991, S. 22ff.). Nach dem Attentat wurde Alexander III., der Vater von Nikolaus II., Zar von Russland und regierte „mit Hilfe eines Schreckensregimes“ (Ferror 1991, S. 26).
Alexander III. ließ alle liberalen Ansätze des früheren Regimes fallen und verkündete seinem Volk im Gegenteil sein Manifest vom 28. April 1881, dass er als absoluter Monarch regieren werde und die Geschicke des Reichs in Zukunft nur zwischen Gott und ihm zu erörtern seien“ (de Grünwald 1965, S. 13). Liberale Mitarbeiter wurden in der Folge entlassen, die Presse geknebelt, die Autonomie der Hochschulen praktisch aufgehoben, Überwachung ausgeweitet, Juden zu Sündenböcken gemacht usw. 

Der Vater von Nikolaus wird u.a. wie folgt beschrieben: „(…) seine hohe, massige Gestalt und sein bärtiges Gesicht erinnerten jeden seiner Untertanen an einen Bauern Zentralrusslands“ (de Grünwald 1965, S. 13). Der Biograf Marc Ferro beschreibt bzgl. diesen Vaters einen Widerspruch: „Für den jungen Nikolaus war Alexander III., dieses strenge und grobe Familienoberhaupt, als `Vater die Zärtlichkeit in Person`“ (Ferror 1991, S. 30). Er habe seinen Sohn geherzt und geküsst, während „die Mutter sich in den Beziehungen zu ihrem Sohn mit dem begnügte, was das Protokoll verlangte (…)“ (Ferror 1991, S. 30).
Strenge und Grobheit werden hier in einem Satz mit zärtlicher Zuneigung beschrieben. Für mich passt dies nicht ganz zusammen (und ich habe schon häufig bei solchen Recherchen diese Art von Widerspruch gefunden: Strenge und Liebe im gleichen Satz!). Auch die Kälte bzgl. des politischen Agierens passen hier nicht ins Bild. Ich würde nicht in Abrede stellen, dass dieser Vater Zuneigung ausdrückte (die Belege dafür gibt es offensichtlich). Ich warne aber davor, daraus auf eine grundsätzlich zugeneigte Vater-Sohn-Beziehung zu schließen, die z.B. Strafen und/oder Gewalt ausschließt. Für letzteres fand ich keine Belge, weder dafür noch dagegen. Wie der Erziehungsalltag und ggf. Strafen aussahen, bleibt also im Dunkeln. Dass die Mutter ihrem Sohn weit weniger zugeneigt war, geht ergänzend aus den o.g. Zitaten hervor. 

Ansonsten betont d'Encausse (1998, S. 72f.) die Unfähigkeit, Borniertheit und den Konservatismus von den Erziehern (darunter ein General), die Alexander III. seinem Sohn ausgesucht hatte. „Sein Vater bestimmte einen obskuren General namens Danilowitsch zu seinem Erzieher, einen Mann, der durch nichts, außer durch seine ultrakonservative Gesinnung, für diese verantwortungsvolle Aufgabe geeignet schien. (…) Er verstand es, die moralischen Ansichten des jungen Prinzen zu bestimmen und erzog ihn zu der außergewöhnlichen Zurückhaltung und Verschlossenheit, die der hervorstechendste Zug im Charakter von Nikolaus II. werden sollte. Die autoritäre Art Alexanders II. wirkte sich im gleichen Sinne aus: da der Zar auch nicht den leisesten Widerspruch duldete, zwang er Frau und Kinder, ihr Tun und Lassen vor ihm zu verbergen“ (de Grünwald 1965, S. 21). Hier wirkten also sowohl Erzieher als auch der autoritäre Großvater Alexander II. auf Nikolaus ein. Auch hier bleibt im Grunde unklar, wie der Erziehungsalltag wirklich aussah. 
Ein weiterer Erzieher, der allerdings nur fünf Monate wirkte, beschreibt lobend die Gelehrigkeit, Folgsamkeit und den spontanen Gehorsam von Nikolaus (de Grünwald 1965, S.22f.) Niemals hätten Rügen erteilt werden müssen, so der Erzieher. 

Zusammenfassend sehen wir einzelne, potentiell traumatische Erfahrungen (Attentat auf Großvater, Tod des Bruders, Verlust des zweiten Bruders), eine Mutter, die in den Berichten kaum auftaucht und ein widersprüchliches Bild über den Vater. Ergänzt wird dieses Bild über die negativen Berichte von Erziehern, allerdings ohne konkrete Schilderungen über evtl. Belastungen für den Jungen. 

Verglichen mit anderen Zaren erscheint die Kindheit von Nikolaus II. weniger belastet zu sein. Die Familie war auch etwas enger zusammen (de Grünwald (1965, S. 20) berichtet u.a. auch von einer harmonischen Ehe der Eltern und vom Zusammenleben der Familie in bescheidenen Gemächern), als bei vorherigen Zaren üblich. Dies passt auch in die Zeitachse: Je weiter wir in der Geschichte zurückschauen, desto schlimmer wird oft das Bild, das wir über Kindheit bekommen. 

Nikolaus II. war Russlands letzter Zar, er wurde 1918 ermordet. 


Quellen:

d'Encausse, H. C. (1998). Nikolaus II.: Das Drama des letzten Zaren. Paul Zsolnay Verlag, Wien.

de Grünwald, C. (1965). Der letzte Zar. Leben und Tod Nikolaus II. Paul Neff Verlag, Wien / Berlin. 

Ferro, M. (1991). Nikolaus II. Der letzte Zar. Benzinger Verlag, Zürich. 


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