Donnerstag, 5. Mai 2022

Neue Studie: Kindheiten von rechten Jugendlichen

Erneut habe ich eine Studie (Studie Nr. 35 !) gefunden, für die rechte Akteure über ihre Kindheit befragt wurden:

Fahrig, K. (2020). Rechte Jugendliche und ihre Familien: Eine Perspektiven triangulierende Rekonstruktion biografischer Hintergründe (Studien zur Kindheits- und Jugendforschung, Band 4). Springer VS, Wiesbaden.

Katharina Fahrig hat ausführlich mit sechs jungen Männern bzw. Jugendliche (Alter zwischen 18 und 23 Jahre), die sich rechten Gruppen angeschlossen hatten, gesprochen. Teils wurden ergänzend die Mütter der Jugendlichen befragt. Zwei der befragten Jugendlichen mussten Haftstrafen absitzen, bei einem drohte eine Jugendstrafe. Der rechte Organisationsgrad der Befragten unterschied sich zwischen „gering“ bis „sehr stark“. Ein Befragter („Piet“) hatte sogar eine eigene, rechte Kameradschaft gegründet. Der Einstieg in die rechte Szene erfolgte durch Freunde oder Bekannte.

Die Zusammenfassungen der Autorin über die Kindheits-/Familienhintergründe und Krisen der Befragten gleichen denen, die ich immer wieder in ähnlichen Studien fand: 

Bei allen Jugendlichen erfolgte der Anschluss an die rechte Szene im Zusammenhang mit sich krisenhaft zuspitzenden Ereignissen und Konstellationen ihres Lebens, die mit innerfamilialen und/oder schulischen Desintegrationserfahrungen verbunden waren“ (S. 334). 

Die rekonstruierten subjektiv belastenden Lebensumstände der Jugendlichen lassen sich zu emotionalen Ausgangslagen verdichten, die die Suche nach und Offenheit für neue rückhaltversprechende soziale/jugendkulturelle Einbindungen begründen und erkennen lassen, welche Funktion der Anschluss an die rechte Szene für die Jugendlichen hatte. Entscheidend ist hier, dass die sich Jugendlichen durch die Selbstpräsentation der Szene und die darüber vermittelten Strukturen von Spaß, Zusammenhalt, Respekt und Freizeiterleben, aber auch die Möglichkeit, Aggressionen auszuleben und dafür sogar positive Resonanz zu bekommen, emotional angesprochen fühlten. Sie bot einen Ausweg aus der als unbefriedigend und belastend erlebten Lebenssituation“ (S. 336). 

Hinsichtlich der viel diskutierten Frage nach den Einflüssen und der Bedeutung von Familie und Peers lässt sich konstatieren, dass bei den hier untersuchten Fällen die familiale Situation eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von subjektiv empfundenen Problemlagen und krisenhaften Zuspitzungen spielte, die bei den Jugendlichen die Bereitschaft zu einem Anschluss an eine starke, Anerkennung und Zusammenhalt versprechende Jugendclique begründete. (…) Das Gefühl akzeptiert, verstanden und angenommen zu werden, wurde (…) durch die Szene geboten und verband sich mit der Chance auf ein neu gewonnenes Selbstbewusstsein“ (S. 338). 

Je nach Problemlage fungierte die rechte Clique als eine Ersatzgemeinschaft für die Klassen bzw. Schulgemeinschaft oder übernahm quasi-familiale emotionale Rückhalts- und Hilfsfunktionen für die Jugendlichen“ (S. 346) Das Umschlagen erlebter Ohnmachtserfahrungen in (zumindest partielle) Gewaltakzeptanz sei ein weiterer, wichtiger Punkt, so die Autorin 

Zusammenfassung
Die Autorin hat an mehreren Stellen (S. 337, 354, 362, 367, 368, 369) die Familien- und Kindheitshintergründe der Befragten zusammengefasst, was ich wiederum wie folgt zusammenfasse: 

Dennis: frühe Trennung der Eltern; leiblicher Vater unbekannt; schwere Krankheit der Schwester;  Aufwachsen mit gewalttätigen, oft abwesenden Stiefvater (schlechte Beziehung zu diesem) und erneute Trennung als Dennis 14 Jahre alt war; danach neuer Stiefvater; ambivalentes Verhältnis zur Mutter, die teilweise autoritär und abwertend war und unerfüllbare Anforderungen stellte; Vernachlässigung. 

Kai: Trennung der Eltern, als Kai sechs Jahre alt war; Aufwachsen mit Stiefvater (von Konflikten und Ambivalenz geprägte Beziehung zu diesem; Stiefvater war kritisierend, abwertend und negativ sanktionierend); Suizid des leiblichen Vaters, als Kai vierzehn Jahre alt war; schulischer Absturz.  

Piet: Trennung der Eltern, als Piet acht Jahre alt war; vorher schwere Krebserkrankung von Piet, Mutter konnte Piet in dieser Zeit nichts abschlagen und setzte kaum Grenzen; nach Gesundung Rückstellung in der Schule, Schulprobleme und fehlende Anerkennung.

Bastian: Mutter und Vater vernachlässigten ihn emotional; Vater war häufig abwesend; Bastian war als Kind häufig alleine.

Holger: bei Konflikten sei die Mutter hoch erregbar gewesen (siehe auch Anmerkungen über Interviews mit ihm unten).

Peter: Trennung der Eltern, als Peter sechszehn Jahre alt war; vorher von massiven Konflikten sowie langjähriger von psychischer und physischer Gewalt geprägte Beziehung zum Vater (später Beziehungsabbruch zu diesem); die Mutter hätte ihn „ordentlich“ erzogen und sei „immer lieb“ gewesen, obwohl sie eine Autorität war und ihm Gehorsam abverlangt hätte; massive Mobbingerfahrungen in der Schule 

Bei den Interviews speziell mit Bastian und Holger blieben, laut der Autorin, die Erzählungen über das Aufwachsen in der Familie vage, Nachfragen wurden nur knapp abgehandelt. Bastian war während der Interviews sogar hochgradig aggressiv, was intensivere Nachfragen erschwerte (S. 335). Insofern wird hier die Schwierigkeit, die ganze Wahrheit über als unangenehm empfundene Themenfelder zu erfahren, deutlich. Ich persönlich gehe grundsätzlich davon aus, dass Menschen über destruktive Kindheitserfahrungen routinemäßig meist eher zu wenig, als zu viel berichten. Trotz dieser Hürden hat die Autorin einiges zu Tage bringen können! 


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