Im aktuellen Amnesty Journal findet sich ein erschütternder Artikel über die Hexenjagd in Papua-Neuguinea. Siehe den ganzen Artikel "Hexenjagd".
Sanguma nennt man den dort weit verbreiteten Glauben an schwarze Magie, böse Geister und Hexen. „Hunderte Menschen fallen ihm jährlich zum Opfer, meistens Frauen, aber auch Kinder und manchmal Männer, die man der Hexerei beschuldigt. Sanguma ist die Schattenseite des Paradieses.“ (Amnesty Journal, Dez / Jan 2010/2011, S. 41) Meistens trifft es alleinstehende Frauen, die z.B. mit dem „bösen Blick“ einen Nachbarn getötet hätten. Sie werden willkürlich stigmatisiert, gefoltert und getötet. Lokale Zeitungen berichten wöchentlich über Sanguma-Morde. Die Regierung hat inzwischen auch ein Gesetz gegen Hexenverfolgung erlassen. Allerdings ist es ein Kampf „gegen Gleichgültigkeit und Unwissenheit. Niemand fühlt sich verantwortlich, weil die meisten glauben, dass die Opfer ihre gerechte Strafe bekommen.“ (ebd., S. 44) Manchmal kommen zwanzig bis dreißig junge Männer zusammen, um eine „Hexe“ zu töten. In einem Fallbeispiel im Magazin waren es sogar bis zu einhundert. Die Täter kennen oftmals ihre Opfer und umgekehrt. In einem berichteten Fall trugen sogar einige der Täter die Getötete später zusammen mit ihrer Familie zu Grabe…
Die Schwester einer Ermordeten berichtet als Augenzeugin: „Sie schlugen mit Stöcken zu, brachen Rippen, warfen Steine und rammten glühende Drähte unter die Haut der Gefesselten; sechs Stunden lang. Als die Frauen endlich gestanden, holte jemand die Axt aus dem Gebüsch. Waja Loko war sofort tot (…).“ (ebd. S. 42)
Der Bericht ist wirklich erschütternd. Ich dachte beim Lesen des Artikels natürlich sofort auch an die vielen Zeilen von Lloyd deMause. Der Psychohistoriker hat in seinem Buch (vgl. deMause, 2005, S. 194-210) ausführlich die Kindererziehungspraxis in Neuguinea dargestellt und die Idealisierung von Kindheit bei primitiven Gesellschaften kritisiert. Er weist an Hand einer Fülle von Fakten und Berichten für die meisten dortigen Regionen auf ein hohes Ausmaß von Kindestötungen, Inzest, sexuellen Missbrauchs, maternale Ablehnung der Kinder, Unterernährung der Kinder trotz ausreichend vorhandener Lebensmittel, Vergewaltigung der Jungen ab dem 7. Lebensjahr und Folter und Verstümmelung während der Initiationsrituale hin. Durch diese extrem destruktive Kindererziehungspraxis konnte sich die Kultur der dortigen Eingeborenen im historischen Rückblick nicht wirklich entwickeln, sagt deMause. Auch verweist er auf viele Folgen dieser frühen Gewalterfahrungen, dazu gehörte u.a. der damalige Kannibalismus in dieser Region.
Wie wir an Hand des Amnesty Berichtes sehen können, sind die Folgen dieser extremen Gewalt gegen Kinder auch heute noch deutlich zu beobachten bzw. scheint die Kindererziehungspraxis vor Ort weiterhin eher auf dem Niveau der „Schizoiden Psychoklasse“ zu verharren. Ich habe mir vorgenommen, dem Autor des Artikels und dem Amnesty Journal etwas dazu zu schreiben. Denn die Ursachen dieser Gewaltexzesse sind oftmals gar nicht bekannt.
Nebenbei möchte ich die Gelegenheit nutzen, den Psychoanalytiker Arno Gruen zu kritisieren. Vorweg möchte ich betonen, dass ohne die Bücher von Arno Gruen vielleicht dieser Blog nicht in seiner jetzigen Form existieren würde. Seine Bücher haben mir sehr viel klar und verständlich gemacht.
Gruen schreibt viel über die destruktive Kindheit in der westlichen Welt und formt daraus auch eine umfassende Kulturkritik. Allerdings verweist er immer wieder auf das Vorbild von primitiven Gesellschaften, wo Kindheit noch anders und besser wäre, als in unserer modernen Kultur. Sein Lieblingsbeispiel, das er auch in unzähligen Interviews stets wiederholt, ist das einer Mutter aus Neuguinea, die von dem Ethnologen Eibl-Eibesfeldt gefilmt wurde. Ein Auszug:
„Der Junge isst eine Wasserbrotwurzel, das Mädchen greift danach, beide fangen an zu weinen. Die Mutter kommt dazu, beide Kinder lächeln sie an. Der Junge reicht ihr von sich aus die Wurzel, sie bricht sie in zwei Teile und» –, Gruen unterbricht sich: «Was würden wir wohl in einer ähnlichen Situation tun?» Er gibt die Antwort gleich selber: «Jedem Kind ein Stück geben, nicht? Und dabei würden wir uns vorbildlich fühlen, weil wir glauben, den Kindern so das Teilen beizubringen. Nicht so die Eipo-Frau. Sie gab beide Teile dem Jungen zurück. Der betrachtet sie einen Moment und gibt dann eines seiner Schwester.» Diese Eipo-Mutter versetzte sich in ihr Kind hinein, sie respektierte seinen Willen und seine Gefühle.“ (dasmagazin.ch, 16.09.2007, "Du sollst nicht Loben")
Aus diesem Beispiel leitet Gruen unaufhörlich ab, dass wir im Westen dieses Wissen um den richtigen Umgang mit Kindern verlernt hätten. (wobei auch dieses Beispiel an sich seine verschiedenen Seiten haben könnte. Warum reicht die Mutter gerade dem Jungen das ganze Stück? Unterstützt sie hier die patriarchalen Herrschaftsstrukturen? Der Junge, der Mann darf entscheiden, wer etwas bekommt und wer nicht?) Lloyd deMause hat dagegen sehr fundiert genau das Gegenteil nachgewiesen und genau hingeschaut, wie die reale Erziehungspraxis vor Ort in Neuguinea aussah und aussieht. Wir sollten nicht zurück schauen und uns primitive Völker nicht als Vorbild nehmen, wenn es um die Kindererziehung geht. Das lehrt uns deMause und ich finde, er hat recht.
Siehe ergänzend auch: "Aborigines. Gewalt und Missbrauch. Entzauberung eines Urvolkes?"
>>Neu ist das Problem des Kindsmissbrauchs laut taz Bericht nicht. „Experten wiesen schon vor Jahren darauf hin, dass Sex mit Kindern, Vergewaltigungen und brutalste, nicht selten tödlich endende Gewalt gegen Frauen in vielen Aboriginal-Dörfern alltäglich sind. Fachleute sind der Meinung, der Grund liege vor allem beim Alkoholmissbrauch und der sozialen Verwahrlosung ganzer Gemeinden.“ <<
AntwortenLöschenWie kam der Alkoholmissbrauch nach Papua- Neuguinea? Kann es sein, dass erst die Begegnung mit der „Zivilisation“, welche fast immer mit Gewalt verbunden ist, solche Exzesse hervorrief?
Zu behaupten, „Primitive“ seinen eben so- böse einfach- praktisch genetisch bedingt, ist nichts anderes als Rassismus.
Wir sind hier bei einer Grundfrage. Ist der Mensch eigentlich gut- oder böse, destruktiv, gewalttätig?
Der Hirnforscher Gerald Hüther beschreibt ein Experiment mit Säuglingen im Alter von einem halben Jahr. Ihnen werden kleine Filme vorgespielt. Darin gibt es blaue Männchen (gut, hilfreich) und grüne Männchen (böse, destruktiv).
Anschließend werden den Babys Spielfiguren angeboten, blaue und grüne.
Alle (!) Babys entschieden sich für die blauen, die Guten. Ein halbes Jahr später wurde das Experiment mit den selben Kindern wiederholt. Ergebnis: 20 % der Kleinen entschieden sich für die grünen, bösen Männchen. Wer hat ihnen das wohl beigebracht? Haben sie beobachtet, dass Menschen, die sich aggressiv verhalten, oft mehr Erfolg haben, sich besser durchsetzen können?
Natürlich wollen Vertreter der westlichen Zivilisation die Gewalttätigkeit ihrer Herrscher- Gesellschaften verteidigen. Gewalt ist normal und Staat muss sein.
„Akzeptiert gefälligst, dass Kapitalismus das beste aller Systeme ist.“
Das ist nicht nur kurz gedacht, es ist äußerst zynisch. Jean Ziegler, ehemaliger Sonderberichterstatter der UN für das Recht auf Nahrung: „Der II. Weltkrieg brauchte sechs Jahre für 56 Millionen Opfer. Das schafft der Imperialismus heute in einem Jahr.“
Große Probleme mit struktureller, systembedingter Gewalt haben Menschen erst seit etwa 6000 Jahren, mit dem Aufkommen großer Herrschafts- Systeme.
Anonymität fördert Unterdrückung und Gewalt.
Hallo Dorian Ivan,
AntwortenLöschenDu beziehst Dich mit dem Zitat auf den Beitrag über die Aborigines.
Zur Klärung:
Natürlich sind "Primitive" wie alle Menschen an sich von Natur aus nicht "böse". Destruktivität kommt immer durch "Erziehung" bzw. destruktivem Umgang mit Kindern in die Welt bzw. ein liebevoller Umgang schließt spätere Destruktivität (Mord, Terror, Gewalt, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung etc.) aus, so meine Grundthese.
Alles deutet darauf hin, dass ein gewaltloser Umgang mit Kindern eine ganz neue Erfindung der Menschheit ist. Entsprechend waren auch alle menschlichen Kulturen vor über 6000 jahren in keiner weise auch nur annähernd auf dem Niveau der Kindererziehung, wie wir sie heute oft finden können.
Da nachweisbar Kindesmisshandlung "sozial vererbt" wird, d.h. die einst misshandelten misshandeln wiederum ihre eigenen Kinder und leibevoll, gewaltlos erzogene geben ebefalls diese gewaltlose erziehung weiter, gibt alleine diese tatsache zu denken.
Denn woher sollten die Menschen "gelernt" haben, ihre Kinder zu misshandeln? Wenn vor über 6000 Jahren die Kindererziehung positiv, liebevoll und gewaltlos gewesen sein sollte, hätte wir heute keine Mehrheiten von kindern, die Gewalt erleben.
Sofern Du magst, lese doch Steven Pinkers "Eine neue Geschichte der Menschheit". Der historische Gewaltrückgang ist nachweisbar und offensichtlich. Nie war es friedlicher auf der Welt als heute, nie wurden weniger Menschen bezogen auf 100.000 Einwohner umgebracht als heute.
Und nie wurden weniger Kinder misshandelt, als in unserer Zeit.
Danke für den Literatur- Tip. Ich habe auch einen: „In seinem Werk Anatomie der menschlichen Destruktivität definierte Erich Fromm Destruktivität als „bösartige Aggression“ und analysierte sie als eine menschliche Leidenschaft bzw. Charakterstruktur, gleichzeitig auch als einen Zug der kapitalistischen Gesellschaft.“ (wiki)
AntwortenLöschenIn einer Konkurrenzgesellschaft ist Destruktivität normal. Wo Profit die oberste Maxime ist, hat Mitgefühl schlechte Karten. Die argumentative Beschränkung auf körperliche Gewalt, unter Ausblendung der Dunkelziffern, klammert Formen der strukturellen Gewalt aus. Ebenso die immer effektiveren und eleganteren Formen der Ruhigstellung. ADHS? Ritalin! Zu neugierige Kinder, die ständig nervende Fragen stellen? TV, PC, Smartphone, Nintendo, Schokolade! Und vor allem: Schule, Erziehung!
Dass noch nie so wenige (relativ, prozentual) Menschen umgebracht wurden wie heute, klammert ebenfalls Vieles aus. 1 Milliarde Menschen hungern, eine weitere Milliarde ist ständig von Hunger, vermeidbaren Krankheiten, Verfolgungen und Kriegen bedroht. Niedrig gerechnet sind das schon mal 25 % der Weltbevölkerung. Doch nicht nur in armen Ländern (warum sind sie arm?) mehren sich Anzeichen eines freudlosen, angsterfüllten Daseins. In Industriestaaten wächst der Arbeitsdruck- und die Angst vor Existenznot.
Die einen arbeiten zu viel, Depressionen und ihre krankmachenden Folgen nehmen zu. „Einer Nachrichtenmeldung des ZDF zufolge sind in Deutschland 9 Millionen Menschen erkrankt, weil sie sich ihren Berufs-und Alltagsanforderungen nicht mehr gewachsen fühlen“ Quelle: http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/wer-arbeitet-suendigt-ein-plaedoyer-fuer-gute-arbeit-marianne-gronemeyer
Optimismus ist oft nichts anderes als ein Mangel an Information.
Was empfindest Du, wenn Du durch die Straßen gehst, wie fröhlich wirken Menschen in der Bahn, etwa an einem Wochentag?
Dorian,
AntwortenLöschenmit Erich Fromms Buch habe ich mich bereits befasst: http://kriegsursachen.blogspot.de/2011/11/erich-fromms-anatomie-der-menschlichen.html
Er wollte und konnte die Ursachen von Destruktivität nicht in kindlichem Leid erkennen.
Du hast eine grundsätzlich andere Sicht auf die Welt, als ich.
Worauf willst Du jetzt hinaus? Willst Du mir (wie arno gruen) erzählen, dass das ideale Leben des Menschen das ist, was vor über 6000 Jahren gewesen sein könnte?
Ich bin nicht blind für die Missstände unserer Zeit. Wenn ich heute durch unsere Straßen in Deutschland sehe, dann sehe ich sehr verschiedenen Menschen. Nicht wenige sind sehr fröhlich, wirken sehr gesund und lebensaktiv. Anders wirken genaus anders herum.
Wann möchtest Du durch die Straßen Deutschlands gehen? im 18. Jahrhundert? Im Mittelalter? Um Christus herum? Oder in echt vor über 6000 Jahren?
nein, ich sehe für die Menschheit nur einen Blick nach vorne. und da Empathie sehr viel mit empathischer Kindererziehung zu tun hat (und letztere sich immer weiter ausbreitet), wird sich die Menscheit auch immer empathischer entwickeln. Aber ich kann auch damit leben, wenn Du da anderer Ansicht bist :-)