Montag, 19. Juli 2010

Aborigines. Gewalt und Missbrauch. Entzauberung eines Urvolkes?

Ausstralische Medien berichteten in der Vergangenheit (wohl beginnend ab 2004, mit einem Höhepunkt im Jahr 2006 durch die Veröffentlichung eines Berichtes durch Nanette Rogers, Staatsanwältin des Bundesstaats Northern Territory, auf dessem Gebiet viele Traditionen der Ureinwohner erhalten geblieben sind und sie in vielen Gemeinden unter sich leben. ) fast täglich über katastrophale Zustände in Aborigine-Familien: Gewalt, Vergewaltigungen und sexueller Missbrauch von Kindern.
Im Bericht ist von endemischem Kindsmissbrauch die Rede. Rogers kritisierte, viele Verbrechen blieben nicht nur ungeahndet, sondern würden von den Tätern und Entscheidungsträgern in den Aboriginal-Gemeinden unter Hinweis auf "Traditionen der Männer" entschuldigt.“, schreibt die taz. Neu ist das Problem des Kindsmissbrauchs laut taz Bericht nicht. „Experten wiesen schon vor Jahren darauf hin, dass Sex mit Kindern, Vergewaltigungen und brutalste, nicht selten tödlich endende Gewalt gegen Frauen in vielen Aboriginal-Dörfern alltäglich sind. Fachleute sind der Meinung, der Grund liege vor allem beim Alkoholmissbrauch und der sozialen Verwahrlosung ganzer Gemeinden.
Der Präsident der australischen Labour-Partei, Warren Mundine (er ist selbst Aborigine, der erste, der es geschafft hat, eine Spitzenposition in der Politik zu erreichen), spricht „von einem Zusammenbruch der sozialen Strukturen“ innerhalb der Aborigine Gesellschaft und darüber, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder als normal angesehen würden. (vgl. tagesschau Bericht „"Die Aborigine-Gesellschaft implodiert")
Prof. Dr. Adi Wimmer, Vorsitzender der deutschen Gesellschaft für Australienstudien schreibt in einem GEO Bericht etwas von „systematischem Kindesmissbrauch“. Auch der SPIEGEL schreibt, dass Inspektoren der Regierung von systematischem Kindesmissbrauch in Gemeinden des Bundesstaats Northern Territory (wo überwiegend die als Aborigenes bezeichneten australischen Ureinwohner leben) berichteten.

Im Jahr 2007 gab es in Australien weiteres großes Aufsehen nachdem der Report “Little Children are Sacred” veröffentlich war. Auch hier wurde über weit verbreiteten sexuellen Missbrauch, aber auch über häusliche Gewalt, Drogen- und Alkoholmissbrauch usw. berichtet. 2007 intervenierte schließlich die Regierung Howard mit harten Maßnahmen. „Die Maßnahmen wurden ausgelöst durch einen schockierenden Expertenbericht über Kindesmissbrauch und Alkoholismus bei den Aborigines, den die Regierung des Northern Territory in Auftrag gegeben hatte. Der Bericht wies unter anderem darauf hin, dass bereits dreijährige Aborigine-Kinder an Geschlechtskrankheiten leiden. Die Studie geht von etwa 20 Prozent schweren Alkoholikern im Northern Territory aus.“ (Focus, "Die Entmündigung der Aborigines")
Das deutsche Auswärtige Amt schreibt dazu: „Nach dem Bekanntwerden von weitverbreitetem sexuellen Missbrauch von Kindern in zahlreichen Gemeinden des Northern Territory sah sich die Regierung Howard im Juni 2007 veranlasst, dort den nationalen Notstand zu erklären und unter Einsatz des Militärs und der Bundespolizei direkt zum Schutz der Kinder einzugreifen. Die Maßnahmen der sog. Intervention umfassten u.a. die Unterbindung des Alkohol- und Drogenhandels, den Entzug von Landrechten sowie die zwangsweise Gesundheitsuntersuchung aller Kinder. Die Intervention stieß in der Bevölkerung auf ein unterschiedliches Echo, wird jedoch überwiegend – nicht zuletzt von vielen Aborigines selbst – als notwendig angesehen. Die jetzige Regierung hat im März 2009 die bestehenden Zwangsmaßnahmen, mit geringfügigen Veränderungen, um weitere drei Jahre verlängert.
Ein anderer Bericht schildert, dass auf die Regierungsmaßnahmen mit unterschiedlicher Kritik reagiert wurde. „Nicht nur Aborigines-Verbände laufen dagegen Sturm, auch Menschenrechtsgruppen und progressive Politiker kritisieren den Vorstoß der Regierung als untauglich und werten ihn als einen verheerenden Rückfall in gescheiterte Politikmuster im Umgang mit der wichtigsten nationalen Minderheit.

Fakt ist, dass muss hier erwähnt werden, dass auch der Durchschnittsaustralier oft Alkoholprobleme hat (wie in anderen westlichen Kulturen auch) und sexueller Missbrauch natürlich in allen Gesellschafsschichten und – gruppen vorkommt. Insofern wäre es sicher konstruktiver und glaubwürdiger gewesen, wenn die australische Regierung parallel auch diese Probleme benannt und angegangen wäre.


Mir geht es in diesem Beitrag jetzt aber um etwas anderes, nämlich um die Entzauberung von Urvölkern. Lloyd deMause hat die Idealisierung von Kindheit bei primitiven Gesellschaften scharf kritisiert. (vgl. deMause, 2005, S. 192ff) Er zeigt insbesondere am Beispiel der Kindererziehung in Neuguinea (nahe Australien) auf, wie gewaltbeladen, missbrauchend und vernachlässigend der Umgang mit Kindern in dieser Kulturregion war und ist und wie Kindestötungen alltäglich waren. Dazu bringt er etliche Beispiele an, wo Anthropologen die Kindheit bei entsprechenden Völkern idealisieren und umdeuten, Fakten weglassen oder übersehen. Als Beispiel sei folgende Stelle zitiert, wo er sich zusammenfassend äußert: „Diese Arten von täglichen Missbräuchen, zusammen mit verschiedenen Typen von ritueller Päderastie, Folter und Verstümmelung sind so weit verbreitet, dass die Schlussfolgerung im Standardwerk der Anthropologie über kulturübergreifenden Kindesmissbrauch – „es steht so gut wie fest, dass es keinen Kindesmissbrauch in Neuguinea gibt.“ – total unerklärlich erscheint.“ (ebd., S. 205). Seine Schilderungen über die dortige Kindheit sind derart schockierend, dass es mir schwer fiel, sie in einem Stück zu lesen.
An Hand einer Quelle aus dem Jahr 1965 berichtet deMause auch, dass die australischen Aborigines früher bis zu 50 % ihrer Säuglinge umbrachten. (vgl. ebd., S. 194) Ich habe schon oft in Texten und Kommentaren über Kindestötungen bei Stämmen und Urvölkern verständnisvolle Reaktionen gelesen. Das Motto war durchgehend: „Wenn man arm ist, in der Steppe wohnt und lebt, dann ist das Leben dort sehr hart. „Überschüssige“ Kinder, schwache und gebrechliche umzubringen, kommt damit eher einer “ Fürsorge“ für das Überleben des Stammes gleich.“ De Mause berichtet aus verschiedenen Regionen, dass wenn gefragt wird, die Akteure etwas anderes berichten: Die Säuglinge wurden umgebracht, weil „Kinder zu viele Probleme bereiten“, weil „die Mütter auf ihre Ehemänner wütend waren“, weil sie „dämonische Kinder“ wären, weil das Kind „ein Hexer werden könnte“, weil „ihre Ehemänner zu einer anderen Frau gehen“, weil „sie keine Kinder haben wollten, die sie in ihren Liebschaften einschränken würden“, weil „es weiblich war“, weil „sie einen bald verlassen würden“ oder weil “sie nicht bleiben werden, um im Alter auf uns zu schauen.“ (ebd., S. 194)
Schockierendes las ich auch auf der österreichischen Homepage www.babyguide.at – „erste Anlaufstelle zum Thema Schwangerschaft, Geburt, Baby, Kind, Familie, Ernährung“:
Bis auf kleinere Abweichungen ist das Geburtsritual bei allen Stämmen der Aboriginals gleich. Die werdende Mutter verlässt gemeinsam mit ihrer Mutter das Lager und begibt sich an einen geschützten Ort, der in der Nähe einer mit Wasser gefüllten Felsmulde liegt. Die zukünftige Großmutter hebt ein Loch im Boden aus, (…) Ist das Kind schwach oder behindert darf sie es in der Erde vergraben noch bevor es den ersten Schrei tut. Das ist sehr wichtig, denn wenn die Mutter ihr Kind einmal schreien hört, ist bereits eine Bindung zu ihm hergestellt. Meist aber gelingt die Geburt (…) Nun wird das Baby kurz kopfüber über das Feuer gehalten und im Anschluss aus rituellen Gründen mit Sand und Asche eingerieben.
Geboren, schon mit dem möglichen Grab vor Augen (und die Mutter gebärend, mit dem Bewusstsein, dass das Kind auch gleich im Grab landen könnte), danach gehalten übers Feuer (wie auch einst im europäischen Mittelalter üblich, um „Dämonen“ vom Kind zu vertreiben, wie man in Europa damals sagte.)… ein traumatischer Start ins Leben, der auf der o.g. Familienhomepage nicht weiter kommentiert wird. Ich frage mich auch, was passiert z.B., wenn Mutter und Großmutter vielleicht gerade Streit oder andere Konflikte, in denen es um Macht geht, hatten? Was für ungeheure Macht wurde hier den Großmüttern gegeben, über Tod oder Leben innerhalb von Sekunden zu entscheiden? „Sind die Kinder aber auf der Welt“ heißt es einige Sätze weiter, „werden sie mit viel Zärtlichkeit und Liebe groß gezogen, auch die Väter kümmern sich geduldig um ihren Nachwuchs. Kleine Kinder genießen große Freiheit und werden niemals bestraft. Der Übergang von der Kindheit in das Erwachsenenalter wird mit einem speziellen Ritual gestaltet, die Initiation.“ Einer Schilderung über eine traumatische Geburt und möglicher Kindestötung folgt die Idealisierung des Urvolkes und seiner Erziehung, um dann auf die Initiation hinzuweisen, ohne zu erwähnen, dass auch diese traumatisch ist und wenig mit Liebe und Mitgefühl gemein hat.
Manche Mädchen müssen sich bei einigen australischen Stämmen einer “rituellen Operation“ unterziehen, der sogenannten „Atna-ariltha-kuma“. Vor allem erleben aber die Jungen "Initiationsrituale" (siehe dazu wikipedia), durch die sie „zum Mann werden“ und die Wochen andauern können. Dazu gehört die Entfernung der männlichen Vorhaut und später auch die vollständige oder teilweise Spaltung der Harnröhre an der Unterseite des Penis. Das ganze ohne Betäubung und mit primitiven Werkzeugen, was nicht selten zu bleibenden Schäden oder gar zum Tod führen kann. (siehe auch "Beschneidung von Jungen und Männern") Im Internet habe ich einige Bilder dazu recherchiert, die ich hier nicht zeigen möchte, weil ich sie zu heftig finde. Mehrere Männer halten die Jungen fest, während sie beschnitten werden. Die Jungen sind total ausgeliefert. Angstvoll, schmerzverzerrt sind die Gesichter der Jungen. Eigentlich schreien sie nur noch auf den Bildern, die ich fand… Ohne Zweifel ist dies eine erhebliche Gewalterfahrung in diesen frühen Jahren. "In einer abschließenden Initiationsstufe im Alter von 16 oder 17 Jahren wurde bei fast allen Völkern die Haut junger Männer und Frauen skarifiziert (das Einbringen von Ziernarben in die Haut), womit sie heiratsfähig wurden.“ (wikipedia) Ein Bild aus Papua-Neuguinea zeigt den zwangvollen Charakter dieser Prozedur.
Unter dem Deckmantel „Kultur“ und „Tradition“ verschweigen westliche Kommentatoren all zu oft, wie traumatisch so etwas für Heranwachsende ist. DeMause schreibt in diesem Zusammenhang passend: Überall werden „ältere Kinder als Strafe für ihre Individuation und Selbstständigkeit gefoltert und verstümmelt. Obwohl diese Folter von den Anthropologen Initiationsrituale genannt werden, sind sie weniger Initiationen in irgendetwas, als Bestrafungen für das Heranwachsen. Sie dramatisieren eine Reinigung von maternalen Giften, damit Jungen dann von den Männern als Projektionsfläche benutzt werden können. Die meisten von ihnen führen maternale Traumata in der einen oder anderen Weise wieder auf.“ (deMause, 2005, S. 204)

Lloyd deMause widerspricht der Annahme von AnthropologInnen, dass das Inzesttabu eine der wenigen kulturellen Allgemeinheiten von Menschen darstellt. Er zeigt vielmehr auf, wie alltäglich sexueller Missbrauch bei Urvölkern ist. „Da die Verwendung von Säuglingen und Kindern als erotische Objekte kulturübergreifend so alltäglich ist, überrascht es nicht, dass in Neuguinea auch andere Erwachsene als die Eltern üblicherweise Kinder sexuell missbrauchen. Babys im Besonderen werden behandelt, als wären sie Brüste, um daran zu saugen und den ganzen Tag zu masturbieren. (…) Die inzestuöse Verwendung von Kindern in Neuguinea und Australien dehnt sich auf die anderen melaneschen und polynesischen Inseln aus, obwohl bei komplexer werdenden Gesellschaften die Praktiken stärker ritualisiert vorkommen.“ (deMause, 2005, S. 197f) und „In vielfacher Art und Weise demonstrieren neuguinesische Eltern, dass, wenn das Kind nicht erotisch gebraucht wird, es nutzlos ist.“ (ebd., S. 200) Er schildert darauf, wie bei Urvölkern den Kindern oftmals keine Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie sie ignoriert werden, wie kleine Kinder mit scharfen Messern spielen dürfen oder am Feuer spielen, wobei nicht wenige sich ernsthafte Verletzungen zufügen. (Ich glaube, dass viele westliche Beobachter die Realität umdeuten, indem sie angeben, dass die Kinder in Urvölkern „viele Freiheiten“ hätten, obwohl der dortige Alltag eher zeigt, dass sie einfach vernachlässigt werden. Viele Menschen aus unserer westlichen Kultur scheinen wohl „auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ zu sein, sie wollen in den alten Kulturen etwas finden, das macht sie blind für die dortige Realität.)

Wenn wir über diverse Probleme – von Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Verwahrlosung, Gewalt usw. - von Urvölkern wie den Aborigines in Australien sprechen, dann muss die Analyse der Ursachen selbstverständlich die historische Unterdrückung und Entrechtung und die kollektive Traumatisierung dieser Völker durch die oft mörderische Verfolgung seitens der Kolonialisten beinhalten. Aber: Die Analyse muss vor allem auch beinhalten, dass diese Völker oftmals schon immer sehr gewaltvolle „Traditionen“ gegenüber ihren Kindern auslebten, wie deMause zeigt. Der systematische sexuelle Missbrauch in der heutigen traditionellen Aborigine-Gesellschaft, scheint hier seine tiefen Wurzeln zu haben.

Die Arbeit von deMause hat mir persönlich ein ganz neues Bewusstsein für Urvölker gegeben. Viele der traditionellen Mythen und Rituale, die mit Geistern, Dämonen, Hexerei, rituellen Opfern, Tierwesen usw. zu tun haben, scheinen demnach vielmehr Ausdruck einer psychisch zersplitterten Persönlichkeit (deMause spricht in diesem Zusammenhang von der „Schizoiden Psychoklasse“) zu sein. Ich war richtig erschrocken, als ich einige Zeit nach meiner erstmaligen Lektüre von deMause im Fernsehen zwei Dokus (erinnere leider nicht mehr die Titel) über zwei südamerikanische Urvölker gesehen habe. Ich achtete plötzlich auf ganz andere Details und Verhaltensweisen der vorgestellten Völker. Und ich sah vor allem auch, wie die dort Forschenden mit leuchtenden Augen und total idealisiert von den Völkern berichteten. (In einem Moment hoben sie z.B. hervor, dass sie von der kindlichen Fröhlichkeit und Leichtigkeit der Menschen berührt waren. In einem anderen Moment kam es zwischen einer Gruppe und einem anderen Stamm fast zu kriegerischer Gewalt, die nur dadurch beendet wurde, dass ein Schwein geopfert wurde. Unter wüsten Beschimpfungen und Drohungen trennten sich dann die Gruppen) Vielleicht geht es manch einem ähnlich, der sich mit deMause befasst hat. Das würde mich interessieren. Bitte gerne Kommentare dazu.

3 Kommentare:

maiko hat gesagt…

Bevor ich DeMause und co las habe ich die Zapatistas, größtenteils indigene MexikanerInnen ziemlich idealisiert.
In der Tat haben sie viel emanzipatorisch an sich gearbeitet.
Aber es gab einen Unterschied als ich bei ihnen gelebt habe. Bei den ersten Malen hatte ich selbst noch den Glauben dass poltisch-revolutionäres Handeln der Ausgangspunkt für gesellschaftliche Veränderungen seien.
Dann habe ich mich mit meiner Geschichte und Psychohistory beschäftigt und fuhr dann noch einmal hin.
Mir fiel die Gewalt gegen Kleinkinder auf und naja so etwas ist dann wohl Desillusionierung.

razzfatz hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
Anonym hat gesagt…

Hallo,


ja, ich bin auch auf Lloyd DeMause gestoßen, als ich meine Geschichte des Mißbrauchs durch meine inzestuöse Mutter geschrieben habe. Einen Artikel aus Wikipedia zitiere daher fast komplett durch einige Kommentare angereichert, denn meine Mutter hatte auch infantizide Neigungen, die sie in ihren Phantasien an mir auslebte. Aus diesem Grunde analysiere ich alles auch unter dem Gesichtspunkt des Infantizids in archaischen Gesellschaften.

Hier ist mein Beitrag:

Inhaltsverzeichnis

http://www.loaditup.de/files/767729_5cd8kbtz9d.pdf

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Die Papptrommel: Meine Geschichte als Sohn einer inzestuösen Mutter

http://www.loaditup.de/files/767730_dg6uxeesuq.pdf

Ich hoffe, die Lesung wird interessant

Euer Alexios101@arcor.de