Donnerstag, 10. November 2011

Kindheit und Terror in Ruanda

Über Ruanda Informationen zur dortigen Kindererziehungspraxis und der Verbreitung von Kindesmisshandlung zu bekommen, ist schwer. Jetzt habe ich ein interessantes Interview mit Simon Gasibirege gefunden. Simon Gasibirege ist laut taz der bekannteste Psychologe Ruandas. Bis 1995 lebte er mehrere Jahrzehnte im Exil. Heute ist er Psychologieprofessor an der Nationaluniversität von Ruanda in Butare, wo er das "Centre for Mental Health" leitet. Zudem arbeitet er mit Opfern und Tätern des Völkermordes vor allem im Hinblick auf Gacaca-Prozesse.

Er sagt: „Was mir immer stärker auffällt sind Formen häuslicher Gewalt, sexualisierter Gewalt, generell der Gewalt untereinander. Die Menschen sind erfüllt von einer großen Wut, einer großen Frustration, und sie bringen diese Gewalt unkoordiniert, impulsiv nach außen. Ich forsche seit 2006 zu häuslicher Gewalt, und wir beobachten häufig, sowohl bei den Überlebenden des Genozids als auch bei den Tätern, überall im Land, dass es in den Familien zu Gewalt kommt, die sich auf unterschiedliche Weisen ausdrückt. Es gibt den Fakt, dass Menschen geschlagen, zusammengeschlagen, sogar getötet werden. Aber es gibt auch andere Formen häuslicher Gewalt, die weniger sichtbar sind, und zwar die Flucht vor der Verantwortungsübernahme durch die Männer. Eine Form besteht darin, dass die Männer sich die wenigen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel aneignen und sie für Alkohol ausgeben. Das hat dramatische Konsequenzen und führt zur Verarmung der Familie. Die Kinder können nicht studieren, die Frau arbeitet alleine.“

Gefragt nach einem Zusammenhang zwischen dieser Entwicklung von häuslicher Gewalt und dem früheren Genozid bejaht er dies. Ich selbst habe im Grundlagentext dargestellt, dass Kriege sich auch auf das Private, auf den Umgang mit Kindern auswirken können. Insofern stimme ich dieser Sichtweise von Gasibirege grundsätzlich zu. ABER: Er sagt auch, dass er selbst erst seit 2006 zum Thema häusliche Gewalt in Ruanda forscht. Doch was war vorher? Wie sah es in den Familien VOR dem Völkermord aus? Ich bin mir sicher, dass das hohe, von ihm wahrgenommene Ausmaß an Gewalt in den Familien nicht erst nach dem Völkermord aufgetreten ist. Schon vorher muss die familiäre Atmosphäre in den meisten Familien in Ruanda von alltäglicher Gewalt und Terror geprägt gewesen sein. Der Völkermord war derart bestialisch, umfassend und brutal, dass dies einfach sehr wahrscheinlich ist. Denn letztlich „erzählen“ Gewalttaten immer auch etwas von dem Ausmaß an inneren Terror, an Leere und eigenem emotionalen Tod.
Vielfach gingen den Tötungsakten während des Völkermordes andere Formen der Gewalt voraus, wie Plünderungen, sexuelle Demütigungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen oder Folterpraktiken (siehe wikipedia) „Teilweise wurden Opfer aufgefordert, ihre eigenen Ehepartner oder Kinder umzubringen. Kinder wurden vor den Augen ihrer Eltern erschlagen. Blutsverwandte wurden von Tätern zum Inzest untereinander gezwungen.“ Die Täter wollten ihre Opfer leiden sehen und insbesondere die letztgenannten Taten sprechen eine eindeutige Sprache bzgl. möglicher Zusammenhänge zu eigenen schweren (auch sexuellen) Gewalterfahrungen in der Kindheit.

Alice Miller hat in ihrem Buch „Evas Erwachsen. Über die Auflösung von emotionaler Blindheit.“ (2001) ab Seite 68 etwas über Ruanda geschrieben:
Ich habe mich öfters gefragt, wie es eigentlich in Ruanda zu einem so schrecklichen Massaker kommen konnte. Dort werden nämlich Kinder sehr lange von ihren Müttern auf dem Rücken getragen und gestillt, was uns eher den Eindruck einer paradiesischen Geborgenheit vermittelt und keine Misshandlungen vermuten lässt. Erst vor kurzem erfuhr ich, dass auch Kinder für ihre Liebe ihrer Mütter einen hohen, bisher offenbar bagatellisierten Preis zahlen müssen, indem sie sehr früh zum Gehorsam gedrillt werden. Sie erhalten von Anfang an „Klapse“, wenn sie den Rücken ihrer Mütter mit ihren Ausscheidungen beschmutzen. So weinen sie schon aus Angst vor den „Klapsen“, wenn sie nur das Bedürfnis nach Entleerung verspüren, was der Mutter ermöglicht, rasch zu reagieren und das Kind vom Rücken abzunehmen, um ihm Reinlichkeit beizubringen. Dank dieser Konditionierung durch „Klapse“ werden Säuglinge sehr früh sauber und später auch „zur Ruhe“ erzogen. Mir scheint, dass die Massaker in Ruanda auf diese Misshandlungen der Säuglinge zurückgeführt werden können.“ Danach hängt Miller noch einen Bericht aus Kamerun an, der davon zeugt, dass fast alle Kinder in diesem Land in Schule und Elternhaus geschlagen werden.

Ich denke, Alice Miller hat hier einen wichtigen Hinweis gebracht. Miller hat sich hier trotzdem unglücklich ausgedrückt. Züchtigungen gegen Säuglinge haben schwere Auswirkungen, das ist unbestritten. Trotzdem glaube ich nicht, dass alleine diese „Reinlichkeitserziehung“ und Züchtigungen den Ausschlag für diesen Völkermord gab. Es bedarf langfristiger, häufiger (vor allem auch schwerer) Gewalt gegen Kinder, um einen solchen Massenmord in der Tiefe möglich zu machen, um umfassende Rachegefühle, tiefen Menschenhass und das „handwerkliche“, freudige Zerstückeln von Menschen zu ermöglichen. Der angehängte kurze Bericht in Millers Buch über die weite Verbreitung von Gewalt in Kamerun sollte wohl einen weiteren Hinweis darauf geben. Letztlich wäre es wünschenswert, zukünftig eine umfassende Studie zur Kindererziehungspraxis vor dem Völkermord in Ruanda durchzuführen. Vielleicht wird diese irgendwann kommen und mehr Klarheit bringen.

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