Sonntag, 19. Februar 2012

Die Geisterwelt der Simatalu als Folge von Kindesmisshandlung?

Heute Morgen sah ich auf ARTE die Doku „Geheimnisvolle Völker – Die Geister der Simatalu“. Der Stamm der Simatalu lebt auf der Insel Siberut vor der Küste Sumatras. „Die Angehörigen dieses Stammes glauben, dass ihre Körper von Waldgeistern bewohnt werden. Sie versuchen stets sicherzustellen, dass die Geister sich bei ihnen wohlfühlen. Durch Tanz, Gesang und gute Lebensführung verhindern sie, dass die Geister sie verlassen - denn das hätte Krankheit oder Tod zur Folge. Auf diese Weise leben die Simatalu im Einklang mit ihrer Umwelt, was für sie bedeutet, die Regeln der Natur ebenso zu respektieren wie die Regeln ihrer Gesellschaft.“ steht bei ARTE in der Filmbeschreibung.

Der ARTE Text wie auch der Film stellt diesen Stamm weitgehend als eine große harmonische Gemeinschaft dar, wie es klassisch für die idealisierende Beobachtung von Stämmen und Urvölkern ist. In der Tat haben die Simatalu stets Angst diverse Geister zu erzürnen und in der Doku erfährt man auch von einer schweren Familienfehde, weil ein Schwein einst nicht gerecht geteilt worden war. Vor allem die erst genannte Beobachtung lässt vermuten, dass die zu besänftigenden Geister etwas mit verfolgenden und strafenden Eltern zu tun haben könnten. Viele Beobachter glauben an die naturverbundene Harmonie solcher Völker und an so etwas wie „Kultur“, wenn es um Geister und ähnlichen Glauben geht. Kaum jemand schaut, in wie weit dieser Geisterglaube etwas mit real erlebten Kindheitsalbträumen zu tun haben könnte, die sich in der Symbolik einer Geisterwelt wideraufführen.

DeMause hat viel darüber geschrieben, dass sich bei den Stämmen und Urvölkern die heftigsten Formen von Kindesmisshandlung finden lassen. Erst wenn man darum weiss, kann man auch erkenntnisreich mit einer psychologischen Lupe an solche Kulturen herantreten. Mir ist es mit solchen Dokus bisher oft so ergangen, dass sich nebenbei auch in den Berichten selbst deutliche Anzeichen von Kindesmisshandlung finden lassen, ohne dass dies besonders hervorgehoben würde. So war es auch mit dieser Doku.

Man erfährt, dass den Frauen bei den Simatalu als Mädchen die Zähne angespitzt wurden, was als „Kultur“ verstanden wird. Eine Frau berichtet darüber. Ihr Vater habe ihr als Mädchen einen ganz Tag lang mit einer Machete die Zähne gefeilt und angespitzt (natürlich ohne Betäubung), was sehr schmerzhaft war und der Schmerz hätte auch noch einen Monat lang angehalten. Dazu erfährt man in der Doku von Kinderehen, ein Mädchen wurde z.B. mit fünfzehn Jahren mit einem älteren Mann aus einem Nachbarstamm verheiratet. Solche Verhaltensweisen haben wenig mit „Kultur“ zu tun, sondern mehr mit der rücksichtlosen Verletzung von Mädchen. Jemand, der mitfühlen kann, jemand, der ein liebevolles Verhältnis zu seinen Kindern hat, würde diesen nicht die Zähne einen Tag lang mit einer Machete bearbeiten können. (Vermutlich werden die Mädchen dabei auch noch festgehalten, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Kind diese schmerzhafte Prozedur einfach so still haltend stundenlang mit sich machen lässt). Allem Anschein nach wird den Mädchen (wie auch bei uns, wenn es um misshandelnde Eltern geht) klar gemacht, dass dieser schmerzhafte, traumatische Akt "zu ihrem Besten" geschieht, dass sie so Schönheitsideal erfüllen und als Frauen später ansehnlich sind.

In dem Film erfährt man übrigens auch, dass die Hälfte der Kinder vor Erreichen des fünften Lebensjahres sterben. Neben der fehlenden medizinischen Versorgung muss man auch annehmen, dass diese hohe Kindersterblichkeit auch etwas mit dem Verhalten der Betreuungspersonen zu tun haben wird. Auch sexueller Missbrauch wird angesprochen. "Wisst ihr schon das Neuste", fragt eine Frau im Gespräch mit anderen. Ein Mädchen ist im Schlaf von einem Mann sexuell belästigt worden. Danach tauschen sich die Frauen aus. Entweder ist der Ehemann verpflicht, seine Frauen vor Übergriffen zu schützen oder es werden hohe Schadensersatzforderungen erhoben, wenn er sie nicht schützen konnte...

8 Kommentare:

  1. nur kurz als Anmerkung: es ist mmn eine Fragestellung für sich, ob und inwieweit es relevante Unterschiede für den einzelnen Betroffenen gibt, wenn er seine Erlebnisse als Normalität erlebt UND mit anderen teilen kann, die Gleiches erleben. Ich vermute, daß ein Kind, das geschlagen wird (aber nicht psychisch mißhandelt) , dessen Freunde aber auch allesamt geschlagen werden, wo also ein niedrigeres "Gefälle" zur sozialen Umgebung besteht, weniger Schaden (aber nicht keinen!) nimmt als ein Kind, das als einziges in seinem sozialen Umfeld geschlagen wird.

    Möglicherweise gibt es darüber aber schon Forschungen... von meiner Seite aus ist das erstmal nur eine Vermutung, deren Begründung hier zu umfangreich wäre.

    PS: als Ergänzung zum Fall Kennedy hier noch ein Text von Stephen King (der sich für sein letztes Buch ausführlich mit dem Fall befaßt hat) über den mutmaßlichen Attentäter Oswald:

    http://www.nytimes.com/2011/12/01/opinion/a-stephen-king-thriller-what-motivated-oswald.html?_r=2

    demnach wurde ein Opfer einer miesen Kindheit einfach von einem anderen Opfer einer miesen Kindheit ermordet, und politische Motive spielten nur eine Nebenrolle... eine etwas ernüchternde und wenig glamouröse, aber irgendwie plausible Sichtweise.

    AntwortenLöschen
  2. Hallo ShoBeazz,
    erst mal danke an dieser Stelle für Deine Kommentare hier, die trotz Kritik immer wieder zur Diskussion anregen. Vielleicht finden sich in Zukunft noch mehr Leute ein, die ähnlich interessiert mitdiskutieren.

    Über diesen Punkt habe ich auch schon nachgedacht. Was du schilderst stimmt sicherlich für ökonomische Belastungen, Armut, Nachkriegsfolgen usw. wo sich ein Gruppengefühl einstellt nach dem Motto „Wir sind alle betroffen, machen wir das Beste draus.“ Wer arm ist und um ihn herum sind alle reich, wird sich verdammt schlecht fühlen. Wer arm ist und um ihn herum sind auch alle arm, fühlt sich „normal“.
    Ich glaube allerdings nicht, dass dies auch für so etwas wie kindliche Gewalterfahrungen gilt. Wenn alle um das Kind herum auch Gewalt erfahren, wird die Gewalt sehr „normal“, gibt es keine Veränderung, verschmelzen die individuellen Erfahrungen in gemeinsamen Gruppenfantasien, weil alle ähnliche Erziehungsmodi erlebt haben. Wir haben ja hier über Pinker und sein Buch schon diskutiert. Früher war überall Gewalt. So etwas wie Gewaltfreiheit oder gar Liebe musst im Grunde erst erfunden werden. Heute ist uns das Rad allen bekannt und es ist naheliegend, das man Dinge oder sich selbst mit einem Rad transportiert. Das Rad war aber eine bahnbrechende Erfindung, man musste erst darauf kommen, obwohl es so naheliegend war. Ähnlich verhält es sich mit Gewaltfreiheit gegenüber Kindern, Liebe und – so man will – emotionaler Gesundheit. Menschliche Gehirne und Psychen sind flexibel. Ich glaube, dass es „ansteckend“ sein kann bzw. Veränderungen bewirkt, wenn schwer misshandelte Menschen in ihrem Umfeld Menschen beobachten, die anders sind, die emotional gesund sind, die liebevoll mit ihren Kindern umgehen. Sie haben dadurch die Chance zu fühlen, dass etwas bei ihnen falsch gelaufen ist, dass sie es auch gerne anders hätten, dass sie evtl. ihre eigenen Kinder auch gerne anders behandeln würden usw. Sie werden bestenfalls ein bewusstes Leiden empfinden und dies gerade auch heutzutage therapeutisch bearbeiten können. Dadurch besteht die Chance, den Schaden etwas zu reparieren. Wenn alle Gewalt erfahren, gibt es keine Veränderung und wird der Schaden gar nicht als Schaden wahrgenommen.

    AntwortenLöschen
  3. Der Doku-Beitrag ist übrigens auch online zu sehen: http://www.weltalswille.de/themen/videoportal/kategorien/indigene-voelker/viewvideo/73/indigeneanbspvoelker/die-geister-der-simatalu

    AntwortenLöschen
  4. Ich weiß nicht, ob ich die Existenz der Anderswelt einfach so verneinen kann...

    ...und auf Traumata zurück führen kann...

    Es gibt nun mal Dinge, die sich außerhalb unseres Frequenzbereiches abspielen!

    AntwortenLöschen
  5. Außerdem gab es auf unserem Planeten schon mal eine Periode der Gewaltfreiheit...

    ...Gewalt und Destruktivität kamen erst vor etwa 6.000 Jahren auf diesen Planeten...

    ...ausgelöst durch die plötzliche Wüstenbildung, die zu schrecklichen Traumata bei den Menschen führte, es war der Fall aus dem Paradies...

    http://rette-sich-wer-kann.com/wp-content/uploads/DeMeo-Entstehung-und-Ausbreitung-des-Patriarchats-Saharasia-These.pdf

    AntwortenLöschen
  6. @Anonym

    - es gibt und gab tausende verschiedene "Anderswelten", in früheren Zeiten hatte vermutlich jeder isolierte Stamm eine eigene. Du wirst es schwer haben, die alle irgendwo unterzubringen ;) (genauso wie Christen im Grunde Atheisten sind: sie glauben nur an einen Gott weniger nicht, als ich es tue).

    - was natürlich nicht heißt, daß man solche kulturellen Eigenarten unbedingt nur oder teilweise auf Kindesmißhandlung zurückführen muß (das ist eben Svens Fokus, und daher ist es nachvollziehbar, daß er solche Phänomene auf entsprechende mögliche Ursachen abtastet - ein Geograph wie DeMeo, zu dem ich gleich noch komme, sucht entsprechend andere Ursachen). Geisterglaube findet sich universell, und nicht nur bei "primitiven" Gesellschaften, sondern in Form von esoterischen und pseudowissenschaftlichen Erklärungsmustern auch in der "ersten Welt". Nach meiner Ansicht ist die maßgebliche Ursache dafür meistens entweder ein Bedürfnis nach Ordnung und Strukturierung bei wenig vorhandener Information (bei Naturvölkern) bzw. ein Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion bei sehr viel vorhandener, aber schwer strukturierbarer Information (in unserer Gesellschaft) - das ist wiederum aber nur MEIN Fokus, durch den ich solche Sachen betrachte :)

    - dagegen, daß irgendwelche Geisterdimensionen o.ä. materiell existieren und keine mentalen (Gruppen)konstruktionen sind, spricht der gute alte Mr. Ockham ein gewichtiges Wörtchen.

    - DeMeos Thesen werden wissenschaftlich nicht diskutiert, was erstmal nicht heißen muß, daß sie Blödsinn sind... er bewegt sich aber in Thesen und Themen, die ihn auch für mich als nicht ernstzunehmen aussehen lassen ("Orgon"-Experimente, redet von "Islamofaschismus"... ich wette, er hat auch eine "unkorrekte" Meinung zum Klimawandel).
    Aber auch, wenn man das alles wegläßt und sich nur die These als solche anschaut, erscheint sie mir beim ersten Überfliegen bestenfalls monokausal und undifferenziert, zumindest was "die Wüste ist schuld" angeht (mit der These "Patrismus ist schlimmer als Matrismus" müßte ich mich noch mal näher befassen, kann sein daß da zumindest tendenziell was dran ist, wenn auch nicht in dem Ausmaß, in dem DeMeo das hinstellt).

    Wie gesagt, er wird wohl in wissenschaftlichen Kreisen nicht ernstgenommen, und vor allem scheint er auch alleine zu stehen und seit 1992 auch keine weiteren überzeugenden Argumente vorgebracht zu haben. Falls es doch welche gibt, auch und gerade von fachlich angeseheneren Forschern, lass es mich bitte wissen.

    (in weiser Voraussicht hier noch eine Anmerkung: ich verurteile keineswegs Forscher/Autoren, nur weil sie vom "Wissenschaftsbetrieb" nicht ernstgenommen werden - solange ich nicht weiß, WARUM das der Fall ist, sowieso nicht, und davon abgesehen halte ich es für einen Fehlschluß, daß jemand, der in einigen Punkten Mist erzählt, dies auch in anderen tut. Aber es ist ein erstes Streu-von-Weizen-trenn-Kriterium, und wenn jemand, der von "islamofaschistisch" redet, was zu kulturanthropologischen Themen sagt, dann bin ich mißtrauisch)

    AntwortenLöschen
  7. Ich weiß noch nicht, ob ich mir die Zeit nehmen kann und will, den Text zu lesen. Mal schauen...

    Ich würde erst mal aus meiner Sicht heraus sagen, dass der Glaube an viele Geister an sich durch das "Viele" bereits ein Zeichen für gespaltene Persönlichkeiten sein könnte. Dazu kommt dann noch die Ausformung. Sind die Geister "böse", müssen sie durch Opfer und Rituale besänftigt werden? Wenn ja, dann wird die These, das reale kindliche Gewalterfahrungen hier wiederaufgeführt werden, wohl immer wahrscheinlicher bzgl. ihres Wahrheitsgehaltes. Aber auch der einzelne Gott des Alten Testaments ist ein Gott, der sehr viel Ähnlichkeit mit den damaligen realen strafenden und misshandeldenden Elternfiguren hat, er ist grausam, strafend und rachsüchtig. Und selbst Jesus musste erst durch seinem Vater gewollt qualvoll in den Tod gehen, um uns zu "erlösen"...
    Tja, aber bei Religion und Glauben werden wir wohl stets diverse Meinungen und Glaubensansichten haben...und meist sind solche Diskussionen eh wenig ergiebig.

    AntwortenLöschen
  8. @ Sven Fuchs

    Bei DeMeo geht es nicht um Geisterglauben...

    ...sondern um die Herkunft des emotionalen Panzers/Traumata...

    Eine schöne Ergänzung zu Llyod deMause!

    AntwortenLöschen