Montag, 24. Oktober 2016

Wenn es um Gewaltursachen geht, frag (k)einen Experten...!?

Ich bin aktuell im Gästebuch auf einen kurzen Redebeitrag von dem Psychiater und Theologen Manfred Lütz in der Sendung von Markus Lanz vom 18.10.2016 hingewiesen worden, der ab ca. Minute 50 sagte: "Woher kommt das Böse? Ich werde dauernd gefragt, im Moment bei den Terroristen: `Dr. Lütz, können Sie mal sagen als Psychiater, was haben die für Störungen oder welche Mechanismen stehen dahinten?` und da kann ich immer nur sagen: Es gibt das Böse. Er ist kein Mechanismus, keine Störung, Hilter war nicht psychisch krank, er war ein Verbrecher (...)"  Damit hat der Experte komplett ausgeblendet, was heute alles an Erkenntnissen vorliegt, inkl. der Kindheit von Hitler, der nicht "böse" geboren wurde... Experten (inkl. Historikern und Sozialwissenschaftlern) sind immer so eine Sache, darauf habe ich immer mal wieder hingewiesen. Kindheitshintergründe scheinen ein heißes Eisen, das anzufassen auch heute noch Vielen schwer zu fallen scheint. Insofern war ich - trotz knapper Zeit - noch einmal motiviert, eine andere Expertinnenmeinung ausführlich darzustellen. 

Unter dem Titel „Die Amokläufer: Warum wird aus Hass Mord?“ diskutierten am 12.10.2016 bei Maischberger diesmal vor allem Angehörige von Amokopfern, allerdings auch eine geladene Expertin und zwar die Kriminologin Prof. Dr. Britta Bannenberg. Alles in Allem wirkte die Expertin auf mich in der Tat sehr kompetent und strukturiert. Allerdings machte sie einige erstaunliche Grundsatzaussagen. 
Gleich im ersten Teil der Sendung wurde eine bedeutsame Zuschauerfrage eingeblendet: „Gibt es eine Studie, ob die Amoktäter eher aus behüteten Familien kommen oder sind sie eher Personen, die in den Familien kaum Zuneigung genießen?“ (ab ca. Minute 7)

Frau Bannenberg antwortete so: „Das konnten wir sehr gut beantworten. Also es ist anders als bei typischen Gewalttätern, wo man häufig die sogenannten `broken home` Verhältnisse findet. Das bedeutet, dass dort Gewalt im Spiel ist, Verwahrlosung, Vernachlässigung und das ist bei den Amoktätern nie der Fall. Die Familien sind unauffällig. Sie sind Mittelschichtfamilien oder sogar gut begütert. (…) Also im Grunde würde ein Polizeibeamter sagen, das ist eine ganz normale gut situierte Familie.
Ihre Antwort fand ich recht erstaunlich, denn in seinem Buch „Amok im Kopf" hat der Psychologe Peter Langman zehn amerikanische Amokläufer (da Amokläufe eine extrem seltene Tat darstellen ist eine Gruppe von 10 Tätern schon relativ aussagekräftig) portraitiert und drei Tätertypen ausgemacht: 1. Psychopathen 2. Psychotiker 3. Als Kind Traumatisierte. Bei letzterer Gruppe finden sich dann auch deutlich Misshandlungsopfer (wobei ich anmerken möchte, dass man in diversen Artikeln über die möglichen Ursachen von  Psychopathie oft das Thema Kindheit und Kindesmisshandlung findet, so dass entsprechende Hintergründe - auch wenn sie vom Forscher nicht identifiziert werden konnten - mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch auf den ersten Tätertypus, evtl. auch den zweiten zutreffen. Kindesmisshandlung - in all ihren Ausformungen - ist nun mal ein sehr verstecktes und verdrängtes Verbrechen.). Bannenbergs Aussage, dass bei Amokläufern nie Gewalt in der Familie im Spiel war – dies wird sie am Ende der Sendung noch mal deutlich wiederholen – ist also schlicht weg falsch und entspricht nicht dem Stand der Forschung! Alle Amok-Täter hatten, Peter Langman folgend, schwere psychische Probleme und fühlten sich einsam und isoliert. Dies wiederum sieht Frau Bannenberg genauso.

Ihrer oben zitierten Aussage schließt sie allerdings gleich folgende an: „Aber wenn wir hinter die Kulissen geschaut haben, dann konnte man immer sehen, dass ein Vertrauensverhältnis der Restfamilie, das bezieht auch Geschwister ein, zu dem späteren Täter niemals da war. Also die Jungen waren auch innerhalb der Familie in gewisser Weise isoliert, zurückgezogen, schwer zugänglich, haben an gemeinsamen Mahlzeiten nicht teilgenommen, haben sich also im Grunde genommen auch als Außenseiter in den Familien dargestellt, nicht aggressiv auffällig, nicht drogensüchtig oder irgendwie extrem auffällig, aber schwer zugänglich, Einzelgänger, Außenseiter auch in der Familie, die viel Zeit am Computer verbringen, in ihrem Zimmer hocken, nicht reden.“

Jetzt kommt es also auf die Definition von Gewalt und Vernachlässigung an, so scheint es mir. Was ich in meiner Arbeit oft wahrgenommen habe ist, dass materieller Wohlstand und eine vollständige Familie oft gleichgesetzt wird mit = Eine intakte Familie, alles normal. Die Expertin widerspricht sich aber im Grunde selbst, wenn sie erst ausführt, dass Amokläufer aus intakten Familienverhältnissen stammen, innerhalb der Familie aber isoliert lebten. Hier ist das Thema: Emotionale Misshandlung und emotionale Vernachlässigung. Warum wird da nicht deutlich der Finger draufgelegt?

Ab ca. Minute 46 führt die Expertin aus, dass die Täter  persönlichkeitsgestört seien, narzisstisch, egozentrisch, unempathisch, sie können nicht mit anderen mitfühlen, fühlen sich selbst aber ständig schlecht behandelt, gedemütigt, gekränkt und zwar von allem und jedem. Diese Sicht entspricht auch den Ergebnissen von Peter Langman, wie oben bereits gezeigt.

Ab Minute 55 wird es noch einmal interessant. Frau Bannenberg sagt zwar: Wenn man sich ein ideales Elternhaus vorstellt, könnte manches besser laufen.“ Aber: „Diese Eltern misshandeln ihre Kinder nicht, sie schlagen sie nicht, sie lassen sie nicht verwahrlosen, sie sind auf einer emotionalen Ebenen nicht mit ihnen verbunden. Und wer daran die Schuld trägt? Vielleicht ja auch der Junge selbst, der mit seiner unempathischen relativ gefühlskalten Art und der Persönlichkeitsentwicklung die eben sehr schwierig ist, sehr verschlossen ist, ja die Eltern vielleicht auch nicht an sich heran lässt.“
Erneut widerspricht sie mit dieser Aussage den Teil-Ergebnissen von Peter Langman. Und sie lenkt den Blick auf das Kind, nicht die Eltern. Dies kann ich nachvollziehen, wenn ich mir die beschriebenen jungen Männer vorstelle, wie sie sind, aber was ist mit der Entwicklung davor? Was passierte in den ersten 6 oder 8 Lebensjahren? Und in wie weit muss für diese Zeit auch der Blick auf die Eltern erlaubt sein, ohne die Amoktäter von ihrer Eigenverantwortung entlasten zu wollen?
Für mich wurde bei diesen Aussagen erneut deutlich, dass ExpertenInnen bzgl. der Ursachen von Gewalt so manches mal ungeschickt in ihren Ausführungen sind, um es freundlich zu formulieren.

In der Diskussionsrunde bei Maischberger saß übrigens auch Gisela Mayer, die Mutter eines Opfers von Tim K. Bzgl. Tim K., den Amokläufer von Winnenden, ist u.a. folgendes unter dem FAZ Titel „Die Eltern sind mitverantwortlich“ (09.09.2009) festgehalten worden: „Auch dürfte die Atmosphäre innerhalb der Familie, die von der Schwester als „gefühlskalt“ geschildert worden ist, zur psychischen Degenration von Tim K. beigetragen haben.“ Was bedeutet „gefühlskalt“ bzgl. der Eltern von Amokläufern? Dieser Frage hat sich die Expertin Prof. Dr. Britta Bannenberg bei Maischberger trotz ihrer Andeutungen in diese Richtung entzogen, was der Analyse wenig dienlich ist. Ein Satz wie der FAZ Titel aufzeigte "Eltern sind mitverantwortlich" finde ich treffend. Es geht weniger um Schuld. Es geht auch nicht darum, Eltern von Tätern öffentlich fertig zu machen. Es geht um die Analyse des Lebensweges von Tätern mit dem Ziel, zukünftig präventiv Taten verhindern zu können.



siehe ergänzend:

- Der Fall Josef Fritzl und die psychiatrische Gutachterin
Serienmörder Frank Gust und wie Fachmensch an dessen Kindheitsalptraum vorbeisehen kann
Interview mit "Beinahe-Amokläufer"
- Kindheit von Anders Breivik 

6 Kommentare:

  1. Zu viele Eltern glauben, für gute Erziehung reicht aus, einen Bürger zu produzieren, der brav gehorcht, seine Steuern zahlt und viel Geld verdient. Die Mehrheit der Eltern sieht Erziehung nicht als Dienst am Kind, oder der Familie, sondern als Dienst am Staat, um es mal salopp zu sagen. Das "Kleine Monster" soll unter Kontrolle gebracht werden. Dann ist laut der Gesellschaft die Schuldigkeit dieser modernen Eltern getan.

    Ob die Kinder in der Welt stärker zurecht kommen, als es ausreicht, um sich als Arbeitssklave totzuschuften, interessiert heutige Eltern auch gar nicht.

    Da ist es kein Wunder, wenn sich Kinder emotional entfremden, da man so Kinder nur als Mittel zum Zweck ansieht. Wie es so schön heißt "Als Stimmvieh auf der Steuerfarm".

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  2. Zu

    "Und wer daran die Schuld trägt? Vielleicht ja auch der Junge selbst, der mit seiner unempathischen relativ gefühlskalten Art und der Persönlichkeitsentwicklung die eben sehr schwierig ist, sehr verschlossen ist, ja die Eltern vielleicht auch nicht an sich heran lässt"


    Dieser Gedanke scheint verbreiteter zu sein, als man denkt. Meine Mutter hat sich, als Ich 2 Jahre alt war auf Grund meiner autistischen Verhaltensweisen auch bei Anderen beschwert, dass Ich sie emotional vernachlässigt hätte.

    Es hört sich zwar seltsam an, dass ein Kleinkind eine mehr als 35 Jahre alte Frau vernachlässigen würde, aber das zeigt, so denken erstaunlich viele Leute.

    (OK. Für die meisten Leute ist das eigene Kind auch nicht viel mehr als ein teureres Schoßhündchen.)

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  3. Lieber Sven,

    ich habe diese Maischberger-Sendung auch gesehen, oder besser gesagt: masochistisch ausgehalten.

    Du schreibst: "Es geht weniger um Schuld".

    Doch Sven, genau darum geht es! Die Schuldfrage wurde ja mehrfach in der Sendung explizit gestellt. "Sind die Eltern schuld?"

    Noch bevor die Antworten gegeben wurden sagte ich zu mir: Naaaaaaeeeiiiinn, die Eltern sind nicht schuld, never ever.

    Und so waren auch die Antworten. Den Eltern an etwas Schuld zu geben ist ein Tabu, ein unbewusstes kollektives und individuelles Tabu! Die Undifferenziertheit, mit der diese Frage abgebügelt wurde, zeigte dies sehr schön. Die Bannenberg hat eine Schuld ja explizit nur für den Fall anerkannt, dass die Eltern Waffen herumliegen lassen - einfach lächerlich.

    Dass die Frau Mayer da nicht dazwischen gegangen ist, hat mich gewundert, denn sie hat mal in einem Interview gesagt (sinngem.): wir haben Kinder hervorgebracht, die gerne gelebt haben, diese Familie hat ein Kind hervorgebracht, das sterben wollte.

    Schick doch der Bannenberg mal den Link zu Deinem Beitrag (oder soll ich das machen :-). Ich hatte mir mehr von ihr erwartet, denn ich hatte sie aus den Medien anders in Erinnerung.

    Viele Grüße
    Heike

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  4. Hallo Heike,

    ich gebe Dir vollkommen Recht mit dem Hinweis auf das Tabu, destruktive Eltern anzuklagen. Und ja, die grundsätzliche Verteidigung von Eltern von Amoktätern durch die Expertin war bitter...
    Dennoch, mit Schuld tue ich mich schwer. Schuld hat vor allem der Täter selbst und auch Verantwortung für sein Tun. Seine Eltern haben ihn emotional bewaffnet, aber er nutzte diese "Waffe", er drückte ab. Er hätte sie mit Hilfe von Außen auch "wegschließen" können.
    Und wo würde das aufhören, wo enden? Die meisten destruktiven Eltern sind selbst bei destruktiven Eltern aufgewachsen, auch die Großeltern und Urgroßeltern von heutigen Tätern sind Teil des Ganzen, des Alptraums "Geschichte der Kindheit".
    Zudem zeigen viele Berichte, dass die Familien von Amokläufern meist nach der Tat vollkommen zerstört sind, sie finden genauso keine Ruhe wie die Familien der Opfer.
    Breiviks Mutter starb an Krebs, in einem kurzen Zeitraum nach der Tat. Zufall?

    Schuldzuweisungen bringen wenig, wenn sie emotional sind. Schuld sollten Gerichte klären. Ich konzentriere mich lieber auf die Prävention und die Aufklärung der Familienhintergründe von Tätern. Mit Schuld befasse ich mich nicht, der lieben ruhigen Seele willens :-)

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  5. Übrigen habe ich kürzlich das Buch "Liebe ist nicht genug - Ich bin die Mutter eines Amokläufers" erworben und bereits etwas überflogen. Ein Buch, das schwer wiegt..., wie ich finde. Ich werde dies bei Zeiten kommentieren.
    Grundsätzlich glaube ich, dass den meisten destruktiven Eltern gar nicht bewusst ist, wie schädlich ihr Verhalten gegen Kinder war und ist. Ich habe bisher noch keine Eltern eines Massenmörders wahrgenommen, die hinterher Zeugnis ablegten, die klar und wahrhaftig auf den Tisch packten: "Oh mein Gott, wir haben dies und das und dies und das mit dem Kind gemacht, wir hätten dies nicht tun sollen, unser Kind ist zum Massenmörder geworden, es tut uns unendlich Leid. Wir haben dabei unseren Anteil."

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  6. "Es ist auch den Hinterbliebenen der Opfer völlig klar, dass die Eltern des Täters niemals im Leben einen Amokläufer erziehen wollten. Und auch diese Eltern haben ihr Kind verloren. Es geht nicht um eine Art der Schuldzuweisung, sondern um ein Verstehen." und zum Täter "Ich würde gerne heraushören, ob er jemals die Schönheit des Lebens, des Lebendigseins, gespürt hat. Ob er nur im Ansatz ermessen kann, was er zerstört hat. Meine Vermutung ist es bisher, dass er diese Freude am Leben nie kennenlernen durfte."

    Deutliche Worte von Gisela Mayer (http://www.daserste.de/unterhaltung/film/themenabend-amok/hintergrund/fernsehfilm-realitaet-amok100.html)

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