Dienstag, 23. November 2021

"Vom Saulus zum Paulus": Kindheit des Ex-Skinheads Johannes Kneifel

 "Vom Saulus zum Paulus: Skinhead, Gewalttäter, Pastor - meine drei Leben" heißt die Autobiografie von Johannes Kneifel (2012, Rowohlt Verlag, Reinbek)

Johannes Kneifel war als Jugendlicher Teil der rechten Skinheadszene. Schon in der Grundschule begann er mit Diebstählen und zündelte mit Feuer. Später neigte er zu Gewalt. Mit 17 Jahren kam er wegen Totschlags für fünf Jahre ins Gefängnis. Er brach mit der rechten Szene und wurde schließlich zum Pastor. 

Seine Kindheitserfahrungen sind, die meisten Blogleserinnen und Blogleser werden sich darüber kaum wundern, massiv destruktiv. 

Angst, Ohnmacht und Scham – immer wieder sind es dieselben Gefühle, die hochkommen, wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke. Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis, allein, nicht wahrgenommen. Echte Wertschätzung erfuhr ich keine, an Lob von meinen Eltern kann ich mich nicht erinnern. Das galt nicht nur für meine schulischen Leistungen, sondern auch für alle anderen Bereiche“ (S. 75). 

Ich kam mir wie ein Fremder vor, egal wo ich war. Auch zu Hause. Einmal kam mir sogar der Gedanke, als Baby im Krankenhaus vertauscht worden zu sein, so wenig zugehörig fühlte ich mich meiner Familie (…)“ (S. 24). 

Wesentliche Grundlage der familiären Probleme waren die frühe, schwere Erkrankung seiner Mutter an Multipler Sklerose und die fast Blindheit seines Vaters. Dazu kam Armut und Geldsorgen. Die Eltern waren heillos überfordert, haderten mit dem Leben, kämpften sich durch. Für Johannes blieb da nicht viel. „Meine Familie war nicht nur finanziell in Not geraten. Die Sorge darum, wie es weitergehen soll, die Sorge um unser aller Wohl muss für meine Eltern so schlimm gewesen sein, dass sie den Mangel an Zuwendung, an Austausch gar nicht bemerkten. Auch nicht die Bedürfnisse ihrer Kinder“ (S. 29). Johannes schämte sich für seine Herkunft, für die Armut und für seine behinderten Eltern. 

Als Jugendlicher beschimpfte er sie, nannte seine Mutter „Du Krüppel!“ und seinen Vater „Versager“ (S. 45). Er trat sogar Zuhause Türen ein. Sein Vater zog sich zurück und schwieg. Nie brachte Johannes Schulfreunde mit nach Hause. An sich war er aber auch eher ein Außenseiter an der Schule, der kaum Anschluss fand. 

Die rechte Skinheadszene bot offensichtlich Halt und Ausgleich. „Ich war damals noch stolz darauf, Skinhead zu sein; mit diesem Stolz konnte ich die Scham über meine Herkunft, mein Elternhaus überdecken“ (S. 38). „Ich schien im Kreis der Rechten einen Rückhalt zu haben, den ich bis dahin nirgendwo anders gefunden hatte: Hier zählte Kameradschaft, das Gemeinschaftsgefühl“ (S. 42). 

Dies ist etwas, was sich wie ein roter Faden durch etliche Schilderungen von Ehemaligen oder auch entsprechenden Studien zieht: Die Suche nach Halt, Familienersatz, Freundschaft, Bindung, Schutz, Zugehörigkeit. Die extremistische Gruppe stopft quasi ein emotionales Loch. Dies zeigt auch auf die Chancen für Prävention, in dem jungen Menschen mit schwierigem Hintergrund konstruktive Gruppenangebote gemacht werden, in denen sie sich etwas Zuhause fühlen können. 

Seine Gefühlwelt beschreibt er mit Rückblick auf eine kurze Jugendliebe so: „ (…) nie im Traum hätte ich daran gedacht, dass ich zu solchen Gefühlen imstande sein könnte. Nach all den Jahren, in denen ich mich völlig in mich zurückgezogen, meine Gefühle in mir abgetötet hatte, erlebte ich den Himmel auf Erden“ (S. 37). Seine Situation war offenbar derart schwierig, dass er nichts mehr fühlte. Bis zu dieser kurzen Zeit des Flirts. 

Als Jugendlicher (der genaue Zeitpunkt erschließt sich nicht) kam er in ein Internat. Auch das Jugendamt war offensichtlich an dieser Entscheidung beteiligt (S. 37). Schon während seiner Schulzeit plagten ihn Suizidgedanken. Später im Gefängnis überlegte er erneut, sich umzubringen. Mit Blick auf Suizidgedanken und Schulzeit schreibt er: „Ich fühlte mich benachteiligt, missachtet, ausgegrenzt, wollte aber um jeden Preis vermeiden, damit aufzufallen. Es gab niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Zu allen negativen Gefühlen kam jetzt noch der Neid auf die Mitschüler, die in geordneten und behüteten Verhältnissen aufwuchsen. Meine Ohnmacht, an der eigenen Situation nichts ändern zu können, brachte mich irgendwann dazu, für meine Mitschüler nur noch Verachtung zu empfinden“ (S. 44). 


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