Montag, 11. April 2022

Kindheit von Zar Nikolaus I. (1796-1855; Russland)

Meine Quelle für die Kindheit von Zar. Nikolaus I.:
Lincoln, W. B. (1981). Nikolaus I. von Russland. 1796 - 1855. Callwey Verlag, München.

Vom Tag seiner Geburt an wurde Nikolaus von seiner Großmutter Katharina II. überwacht. Allerdings starb Katharina wenige Monate nach seiner Geburt. Paul I. (siehe auch über seine Kindheit hier im Blog) – der Vater von Nikolaus I. – übertrug einen Tag nach dem Tod der Zarin seinem vier Monate alten Sohn das militärische Oberkommando über die kaiserliche berittene Garde (S. 58). Dieser Schritt gab auch die weitere Richtung vor: Nikolaus wurde sehr früh der am Hofe vorherrschenden militaristischen Atmosphäre ausgesetzt. „Nikolaus´ erste Erinnerungen müssen demnach Eindrücke militärischer Art, strenger Hofzeremonien und eine Mutter gewesen sein, die bei seinen kurzen Begegnungen mit ihr auf striktester Einhaltung der Hofetikette bestand“ (S. 60) Und: „Je mehr Nikolaus vom Säuglings- in das Kindesalter hineinwuchs, desto konkretere Formen nahm die Betonung des Militärischen an“ (S. 62).  Dazu passt, dass der Vater im November 1800 General Graf Lamsdorf zum Erzieher seiner jungen Söhne bestimmte, Nikolaus war zu dem Zeitpunkt vier Jahre alt. 

Nikolaus hat über diesen Haupterzieher später geschrieben: „Graf Lamsdorf flößte uns nur das Gefühl von Furcht ein. Diese Furcht und die Gewissheit seiner Allmacht waren sogar so stark, dass in unsrer Gedankenwelt unsere Mutter nur eine zweitrangige Bedeutung hatte. Dieser Tatbestand raubte uns völlig jegliches Vertrauen von Söhnen in ihre Mutter. Wir sahen sie ohnehin nur selten allein und wenn, dann geschah das in einer Art und Weise, als würde uns ein Urteil verkündet. Der ständige Wechsel des Personals in unserer Umgebung ließ in uns schon in frühester Jugend die Gewohnheit wachsen, bei unseren Bediensteten nach schwachen Stellen zu suchen und diese dann zu unserem Vorteil zu nutzen. Furcht und das Bestreben, einer Bestrafung zu entgehen, beschädigte meinen Geist mehr als irgend etwas anderes“ (S. 63)
Im Grund sagt dieses eine eindrucksvolle Zitat alles über die Kindheit des Zaren! Erstaunlich ist auch, wie der Zar selbst reflektiert, Ursachen in der Kindheit sieht und feststellt, dass sein Geist beschädigt wurde. Was unter "Strafen" zu verstehen ist, wird an einer Stelle deutlich, wo es um für den Schüler Nikolaus qualvollen Unterricht geht und der Graf „mich häufig während der Unterrichtsstunden selbst auf schmerzhafte Weise mit dem Stock züchtigte“ (S. 68f.). Bzgl. des langweiligen und pedantischen Unterrichts durch seine Erzieher kommentiert Nikolaus später auch: „Ich erinnere mich, wie sehr uns diese beiden Männer quälten“ (S. 68). 

Die Bindung zur Mutter (und auch zum Vater) wurde allerdings schon weit früher unterbrochen und hing nicht nur vom strengen Erzieher ab. Diverse Bedienstete waren von Beginn an für die Kinder zuständig: „Nikolaus verbrachte seine ersten Lebensjahre in der Gesellschaft von Gouvernanten und Kindermädchen zumeist ausländischer Herkunft. Seine Mutter (…) sah ihn nur wenige Minuten am Tag“ (S. 58). Aus dem Jahr 1798 (Nikolaus muss ca. zwei Jahre alt gewesen sein) gibt es einen Tagebucheintrag, dem zur Folge die Mutter im Verlauf eines Monats nur sechs bis sieben Stunden mit ihrem Sohn verbracht hatte (S. 60).  Bzgl. des Vaters – Paul I. – sah es nicht anders aus. Selten spielte er mit den Kindern, das starre Protokoll des Hofes ließen dies kaum zu.  „Normalerweise hatte Paul I. für seine jüngeren Kinder nur dann etwas freie Zeit, wenn er frisiert wurde“ (S. 60). Elternfiguren standen also nicht zur Verfügung. 

Neben militärischen Prägungen wurden die Kinder auch dem starren Protokoll unterzogen. Pflichterfüllung und militärische Tapferkeit wurden in der Erziehung betont. „Zur gleichen Zeit wurde größter Wert auf einwandfreies Verhalten, Würde und die Kontrolle der eigenen Gemütsbewegungen gelegt, die sie im Tun und Handeln ihrer Mutter erkennen konnten. Es war dies jene Art strenger Selbstkontrolle, die später eine Reihe von Beobachtern von einer inneren Kälte bei Nikolaus sprechen ließ“ (S. 61). 

Ein weiteres Trauma kam für den Jungen hinzu. In der Nacht des 11. März 1801 wurde sein Vater Paul I. ermordet. 

Später hing Nikolaus dem Militär sehr an, die entsprechende Erziehung von Geburt an ging offensichtlich auf. „Seine Leidenschaft für die Armee sollte für den Großfürsten und später den Zaren Nikolaus charakteristisch sein“ (S. 71). Nachdem Zar Alexander I. seinen jüngeren Brüdern die Erlaubnis gab, sich der Armee im Felde gegen Napoleon anzuschließen, schreibt Nikolaus später:
Ich bin nicht einmal in der Lage, einen Anfang mit der Beschreibung unserer Glückseligkeit zu machen, die eher verrückter Freude glich. Jetzt hatten wir angefangen zu leben – in einem einzigen Augenblick überschritten wir die Schwelle von der Kindheit zur Welt; in das wirkliche Leben“ (S. 72) Leben und Glück angesichts des Krieges, diese Regungen kennen wir auch aus Deutschland bei den Massen, als der Erste Weltkriegs ausbrach. Wenn Kindheit traumatisch war, wenn Kinder keine echten Bindungen und keine wirkliche Familie erlebt haben, dann kann das Militär eine Ersatzfamilie sein und der Kampf ein Mittel, um überhaupt etwas zu fühlen. 

Abschließend ist es von Interesse, auf die Kindheitsbedingungen von Zar Alexander I. (dem älteren Bruder von Nikolaus I.) zu schauen: „Er durfte nicht verhätschelt werden: Seine Matratzen wurden mit Stroh gefüllt; selbst im kalten russischen Winter musste in seinem Zimmer immer ein Fenster offenstehen. Er schlief in einem Flügel des Winterpalais, der neben der Admiralität lag, so dass sein Ohr sich an die Kanonenschüsse gewöhnte“  (Palmer, Alan (1994). Alexander I. Der rätselhafte Zar. Ulstein Verlag, Frankfurt am Main/Berlin. S. 21f.). Es ist entsprechend davon auszugehen, dass diese "Abhärtungsrituale" auch den jüngeren Bruder Nikolaus trafen!



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