Freitag, 8. April 2022

Kindheit von Zar Paul I. (1754 - 1801, Russland)

Quelle für diesen Text: "Zar Paul I. Mensch und Schicksal" von Valentin Graf Zubow (1963, K. F. Koehler Verlag, Stuttgart)

Schon für den Fötus scheint es deutliche Belastungen gegeben zu haben: „Es ist zu bemerken, dass Katharina während ihrer Schwangerschaft Ängsten und Kummer ausgesetzt war. Sie fühlte, dass ihr Geliebter sich ihr entzog, und sie klammerte sich mit all ihren Kräften an diese Liebe“ (S. 16).

Bereits kurz nach der Geburt wurden Mutter und Sohn getrennt: „Das Leben Pauls erhielt schon von den ersten Atemzügen an eine tragische Färbung. Kurz nach der Geburt befahl die Kaiserin Elisabeth der Hebamme, das Kind in ihre Räume zu bringen, während die Mutter von ihrer Tante, ihrem Gatten und dem ganzen Hofe vollständig vergessen wurde und stundenlang ohne jegliche Pflege blieb“ (S. 15). Der einzige Zweck Katharinas Anwesenheit in Russland war, dem Land einen Thronfolger zu schenken, schreibt der Biograf. Die ganze Härte und Gefühlskälte der Gesellschaft wird in dieser Szene deutlich.

Für Paul bedeutet dieser Schritt eine sofortige und dauerhafte Trennung von seiner Mutter:
Jahre hindurch durfte Katharina ihren Sohn nur in großen Abständen, und auch dann nur für kurze Augenblicke sehen; die Kaiserin hatte die Pflege des Kindes ganz übernommen (….). Es ist anzunehmen, dass die Behandlung, die Katharina erfahren hatte, in ihr die mütterlichen Gefühle abstumpfen ließ, wenn sie überhaupt je welche besessen hat (…)“ (S. 15).

Die Pflege des Kindes sah dann so aus, dass er von „einer Menge Weiber aus dem Volke gehütet“ wurde (S. 16). Offensichtlich nicht zu seinem Wohle, der Säugling wurde u.a. überhitzt. Und: „Die Zahl der Wärterinnen erhöhte die Sicherheit des Kindes keineswegs, im Gegenteil; es geschah, dass sie morgens beim Aufwachen den Kleinen außerhalb der Wiege ruhig am Boden schlafend vorfanden“ (S. 16).
Es ist auch möglich, dass die Wärterinnen die Keime der Angst in die Seele des Kindes gepflanzt haben. Um der persönlichen Überwachung der Kaiserin Elisabeth zu entgehen, suchten sie aus ihr ein Schreckgespenst für den Kleinen zu machen; es gelang ihnen so gut, dass er an all seinen Gliedern zitterte, sobald sie sich näherte. Als sie die Wirkung ihrer Besuche bemerkte, erschien sie immer seltener und kam schließlich überhaupt nicht mehr (…)“ (S. 16).
Der Junge hatte somit auch seine "Ersatz-Mutter“ verloren. Die Frage ist, was die „Wärterinnen“ alles mit dem Jungen anstellten, der ihnen nun komplett ausgeliefert war? Pauls Schwester wurde ebenfalls der Obhut dieser Frauen überlassen. Der Biograf schreibt: „Während der Knabe die Pflege der Wärterinnen überlebte, unterlag ihr das weniger robuste Mädchen. Paul hing sehr an seiner Schwester, und ihr Tod verursachte ihm großen Kummer“ (S. 17). Die Betreuungspersonen konnten offensichtlich lebensgefährlich für die Kinder sein, was diese Passage hervorhebt. Der Tod der Schwester bedeutet ein Trauma für sich für das Kind Paul. 

Im Alter von sieben Jahren musste Paul einen weiteren Schlag erleben. Pauls (vorgeblicher und wohl nicht biologischer) Vater, Peter III., „den der Knabe kaum kannte“ (S. 18), folgte nach dem Tod der Kaiserin auf den Thron. „Sechs Monate später traf ein dritter und entscheidender Schlag Pauls von Natur aus verängstigte Seele: der Staatsstreich vom 28. Juni 1762, der seine Mutter auf den russischen Thron hob und seinen vorgeblichen Vater das Leben kostete“ (S. 18).  In der Fantasie des Kindes muss eines klar geworden sein: Sicherheit ist eine Illusion! 

Der Biograf beschreibt neben den vielen Ängsten einen weiteren Wesenszug von Paul: Minderwertigkeitsgefühle (S. 20). Dies mag kaum verwundern, wenn wir uns seine frühe Kindheit vor Augen führen. 

Für den heranwachsenden Jungen war u.a. auch sein Haupterzieher Patin zuständig. Dieser tadelte den Jungen wegen dessen ständiger Ungeduld, betont der Biograf. Paul kamen z.B. die Tränen, wenn Hofempfänge zu lange dauerten. „Er wurde von Patin wegen dieser Verstöße gegen die Etikette streng getadelt und sogar bestraft“ (S. 22). In welcher Form diese Strafen ausgeübt wurden, wird nicht berichtet. 

Mir stellt sich die Frage, ob Paul auch sexuellem Missbrauch ausgesetzt war? Der Biograf schreibt an einer Stelle etwas schwammig: „Man wird angesichts der Atmosphäre eines Hofes des 18. Jahrhunderts, in welcher Paul aufwuchs, kaum verwundert sein, ein vorzeitiges Aufblühen erotischer Gefühle bei ihm festzustellen. Mit sechs Jahren war er schon verliebt, mit zahn spielte sich ein richtiger kleiner Roman, platonisch und reizend, mit einem Hoffräulein der Kaiserin ab. Freilich waren auch die Gespräche, die an seiner Tafel von Patin und den Gästen geführt wurden, in Anwesenheit eines Kindes bei weitem nicht vorsichtig genug; sie hätten im 19. Jahrhundert für unerhört gegolten“ (S. 25f.). Ich denke an dieser Stelle ergänzend auch an die vielen „Wärterinnen“ in der frühen Kindheit von Paul, die um die zukünftige Macht des Jungen wussten und damals viel Macht über das Kleinkind (den "kleinen Mann und Herrscher") inne hatten. Die sexualisierte Atmosphäre am damaligen Hofe lässt einiges erahnen. (Auch die vielen Liebschaften seiner leiblichen Mutter Katharina II. sind ja legendär).

Der älter werdende Paul wünschte später, Einblicke in die Regierungsgeschäfte seiner Mutter zu bekommen. Sie wich aus. Katharina II.. „hatte eine instinktive Angst vor Paul; Angst gebiert Feindseligkeit; auf die Feindseligkeit der Mutter antwortete der Sohn mit Feindseligkeit“ (S. 27)

Mutter und Sohn waren von Anbeginn an entfremdet, das Verhältnis scheint angespannt geblieben zu sein. Aus heutiger Sicht ist die Kindheit von Paul I. hoch traumatisch verlaufen. Dies wird auch Folgen bzgl. seines politischen Wirkens gehabt haben. 


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