Sonntag, 26. Februar 2023

„Warum ich Nazi wurde“: Biogramme früher Nationalsozialisten

Ich habe ein sehr interessantes Buch entdeckt:

Giebel, W. (Hrsg.) (2018). „Warum ich Nazi wurde“: Biogramme früher Nationalsozialisten. Die einzigartige Sammlung von Theodore Abel. Berlin Story Verlag, Berlin. 

Das Buch und sein Inhalt werden in einem Artikel vom Deutschlandfunk ausführlich vorgestellt, insofern erspare ich mir eine große Einleitung durch den Link.

Nur kurz: Theodor Abel hat 1934 per Preisausschreiben die Kurzbiografien von etlichen überzeugten Nazis erhalten und gesammelt, die alle vor 1933 Mitglieder der NSDAP waren. 

Das Interessante für mich sind dabei natürlich mögliche Schilderungen über Kindheitshintergründe. Allerdings zeigte sich schnell, dass die meisten biografischen Schilderungen sich bezogen auf die Kindheit rein auf Oberflächendaten beziehen: Geburtsdatum, Geburtsort, Berufe der Eltern, Schullaufbahn, Ausbildung. Für die Akteure, die nur diese Oberflächendaten beschrieben, bleibt die Kindheit im Dunkeln (was auch bedeutet, dass negative Erfahrungen nicht auszuschließen sind). Allerdings haben auch mehrere Akteure Hinweise auf ihre Kindheit geliefert. 

Was mir zunächst immer wieder auffiel, ist der Tod von Vätern (was bei mehr Akteuren der Fall war, als ich unten in meinen Auszügen darstelle). Dies ist bei dieser „Nazi-Generation“ auch kaum verwunderlich, weil viele Väter im Ersten Weltkrieg umkamen. Für die Kinder allerdings ist der Verlust des Vaters eine enorme Belastung. Was mir ergänzend ins Auge fiel (sofern die Akteure Angaben dazu machten), ist die hohe Anzahl an Geschwistern. Viele Geschwister (gepaart mit sehr viel zu erledigenden Arbeiten der Eltern in der damaligen Zeit, was auch einzelne Akteure so berichten) können zumindest auch ein Indiz für Vernachlässigung sein. 

Anbei stelle ich die Akteure vor, für die sich belastende Kindheitserfahrungen andeuten oder sogar belegen lassen. Diese Generation ist nicht gerade bekannt dafür, allzu kritisch über die eigenen Eltern zu berichten oder diesbezüglich deutliche, offene Worte zu finden. Wenn man zwischen den Zeilen liest, wird man aber auch hier manches Mal fündig. 

Dies gilt so z.B. für F. Lüttgens (nach 1900 als Sohn eines Fabrikarbeiters geboren). Über seinen Vater berichtet er: „Ich entsinne mich noch sehr gut, dass wir Kinder ihn nicht allzuhäufig zu Hause gesehen haben, wenn er zu Hause war, so war dieses zu Hause sein auch nichts anderes als Arbeit und Mühe“ (S. 254). Die Mutter scheint ebenso viel beschäftig gewesen zu sein: „Die Mutter war eine brave, ehrliche deutsche Hausfrau. (…) In heisser Liebe arbeitete sie morgens von ½ 5 Uhr bis abends spät für ihren Mann und ihre Kinder“ (S. 254). Lüttgers betont im Nachsatz, wie wichtig Deutschland für die Eltern war. „Naturgemäß“ sei auch bei den Kindern der Same der Vaterlandsliebe gesät worden, ebenso Ehrgeiz und Wissensdurst. Dem fügt er an: „In der Schule machte sich die Art dieser Erziehung sehr bald bemerkbar. Absoluter Glaube an die Autorität des Lehrers gepaart mit gläubigem Vertrauen zu ihm als denjenigen, der die Arbeit von Vater und Mutter zu ergänzen hatte, trat selbstverständlich ein“ (S. 255). Die Art und Weise der Wortwahl kommt geradezu einer untergebenen Lobpreisung der eigenen Erziehung gleich, die der Akteur als sehr gelungen empfindet und nicht in Zweifel zieht. Der absolute „Glaube an die Autorität“ macht mich besonders hellhörig. Wie die Eltern ihre Autorität gegenüber den Kindern durchgesetzt haben, bleibt unserer Fantasie überlassen. 
Ein weiteres Ereignis sticht hervor: Als er zehn Jahre alt war, litt er nach einer Verletzung an einer Blutvergiftung. "Durch diese Blutvergiftung wurde ich fast 2 Jahre lang an das Krankenbett gebunden. Abgeschlossen von allen Spielkameraden war ich die meiste Zeit mir ganz allein überlassen" (S. 256). Ein Großteil dieser Zeit scheint er sogar im Krankenhaus verbracht zu haben, aus dem er 1914 entlassen wurde, wie er berichtet. Für ein Kind eine schwere Belastung, zu der die Trennung von den Eltern noch hinzu kam. 

Der 1893 geborene Fritz Schroner berichtet nur wenig über seine Kindheit. Er sei das siebte von insgesamt acht Kindern gewesen. Dass diese hohe Geschwisterzahl auch Not und wenig Zeit der Eltern für die Kinder bedeutete, führt er selbst aus: "(...) die hungrigen Mäuler zu stopfen, war für die Eltern nicht immer leicht. Und sie mussten wahrlich von früh bis spät tätig sein, um die Familie zu versorgen. Dass auch wir Kinder dabei auch noch im schulpflichtigen Alter je nach unserer Kraft und unserem Vermögen mit Hand anlegen mussten in Haus, Hof, Garten und Feld, war uns nicht immer leicht, aber unbedingt notwendig" (S. 210). Nach dem Ersten Weltkrieg musste er fünf Jahre in Gefangenschaft in Sibirien verbringen. An diesen Jahren wäre er fast zerbrochen. 

Der 1907 geborene Gustav Kohlenberg schreibt: "Von Jugend auf war ich in streng nationalem Geiste im Elternhaus erzogen worden. Das Schicksal hat meine Familie mit schwersten Schlägen bedacht. Nur während der ersten Kinderjahre lebten wir zu Hause in Wohlstand (...) Mein ganzes Leben hat bis heute stets Kampf bedeutet" (S. 236). Sieben Kinder hatte die Familie zu versorgen. Während der Kriegsjahre mussten sie eine schwere Hungerzeit und auch Krankheitswellen überstehen. 

Die Kindheit von dem 1890 geborenen Gustav Heinsch zeigt deutliche Schatten. Er wurde als fünfter Sohn seiner Eltern geboren worden. Allerdings waren alle seine Geschwister vor seiner Geburt verstorben. Wir dürfen annehmen, dass der Tod von vier Kindern diese Eltern extrem belastet und ggf. auch den Umgang mit dem überlebenden Kind geprägt haben wird. Viel Zeit für ihren Sohn hatten die Eltern nicht. Seine Großmutter war hauptsächlich für seine Erziehung verantwortlich, denn: „Meine Mutter musste genau so wie mein Vater vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf dem Gut arbeiten. Trotzdem beide schwer arbeiteten, reichte es gerade zum Notwendigsten“ (S. 344).  Ab dem achten Lebensjahr musste auch Gustav nachmittags arbeiten, zusätzlich zu seinen Arbeiten für die Schule. Die Eltern mussten außerdem arbeitsbedingt häufig umziehen. Gustav besuchte in der Folge fünf verschiedene Volksschulen, was befriedigende Bindungen an Gleichaltrige sicherlich schwierig gestaltete. 

Der Vater des 1868 geborenen Waldemar von Schöler war einst Divisionskommandeur und hatte Kriegserfahrungen. Über seine Erziehung schreibt von Schöler: „In welchen weltanschaulichen Gedankengängen ich erzogen wurde, geht am klarsten aus den Grundsätzen hervor, die mir in meiner Kindheit eingeimpft wurden. Sie gründen sich alle auf die altpreußische, auf Friedrich Wilhelm I. zurückgehende Ideenwelt. Du musst vor allen Dingen stets Deine Pflicht erfüllen, ob es Dir angenehm ist oder nicht, und zwar nicht nur obenhin, sondern mit vollem Einsatz Deiner Person und Deiner Fähigkeiten“ (S. 376). Das Wort „eingeimpft“ möchte ich hier hervorheben. Nach weiteren Ausführungen u.a. über Tüchtigkeit, Gewissenhaftigkeit und Sparsamkeit mit Blick auf seine jungen Jahre kommt dann noch folgender Satz: „Autorität in Staat und Familie galten als die Grundpfeiler menschlicher Ordnung“ (S. 377). Man kann sich entsprechend vorstellen, dass dieser Junge autoritär erzogen worden sein wird, auch wenn er keine konkreten Beispiel dafür gibt. 

Der 1904 geborene Alfred Raeschke zog im Altern von sechs Jahren vom Lande in die Stadt, nach Berlin. Ca. ab dem dritten Kriegsjahr des Ersten Weltkriegs musste die Familie hungern. „Und das Schlimmste: ein Familienleben kannten wir nicht mehr. Alle kannten wir nicht – waren uns immer selbst überlassen. Denn die Frauen mussten ja die Arbeiten der Männer machen, die im Felde standen. (…). So sahen wir den Vater gar nicht, die Mutter aber nur des Abends. Doch dann konnte sie sich uns nicht widmen, weil sie ja das Haus noch zu besorgen hatte und auch müde war von der schweren Arbeit. So wuchsen wir heran, ohne rechtes Familienleben, voller Hunger, tiefe Not erlebend“ (S. 538). Nach der Schulzeit (im Jahr 1917) kam er zunächst in die Lehre. Der Hunger und die Not wurden schließlich so groß, dass die Mutter ihren Sohn aufs Land zu einem Bauern schickte. „15 Jahre war ich nun alt, aber arbeiten musste ich wie ein Erwachsener“ (538). Aber immerhin, er hatte genug zu essen und hatte überlebt. 

Der 1897 geborene G. Goretzki hat keine großen Einblicke in seine Kindheit gegeben. Er schreibt allerdings: „Die Erziehung im Elternhaus war streng, die Jugend trotzdem aber schön und sorgenlos. Vom Vater lernte ich die Tugenden altpreußischen Beamten- und Soldatentums kennen“ (S. 348).
Wie oft schon habe ich Sätze gelesen, in denen die Akteure dieser Zeit rückblickend auf ihre Kindheit blicken, von „Strenge“ in der Erziehung berichten und im gleichen Satz Wörter wie „schön“, „sorgenlose“ oder gar „Liebe“ verwenden? Meiner Auffassung nach ist diese Vermischung beider Ebenen bereits ein Anzeichen für die Folgen der „strengen Erziehung“. Die Strenge wird i.d.R. von dieser Generation nicht kritisiert und sogleich beschönigt. Was bedeutete elterliche Strenge um 1900? Wir können mit hoher Wahrscheinlichkeit auch von Körperstrafen ausgehen! Dass Goretzk durch seinen Vater preußisch-soldatisch erzogen wurde, ist ein weiteres Anzeichen für eine belastete Kindheit. 

Ähnlich wie Goretzk berichtet auch der 1906 geborene Friedrich Christian Prinz zu Schaumburg-Lippe von seiner Erziehung, ohne dabei – wie so oft bei biografischen Darstellungen aus dieser Zeit - ins Detail zu gehen. Der Prinz wuchs in reichen Verhältnissen auf. „Trotz dieser völligen Unabhängigkeit von irgendwelchen materiellen Schwierigkeiten war die Erziehung, die mir zuteil wurde, eine einfache, ja in mancher Weise soldatisch zu nennende, - immer, in allen Fragen des Lebens auf den Staat und das Volk gerichtet, der grossen Tradition einer tausendjährigen Familiengeschichte entsprechend“ (S. 616). Eine „soldatische Erziehung“ wird eine strenge Erziehung mit manchen Belastungen für das Kind gewesen sein. 

Der 1910 geborene Edmnd Dienhart hatte eine mehrfach belastete Kindheit. Als er fünf oder sechs Jahre alt war brach der Erste Weltkrieg aus. Er war das Jüngste von insgesamt sieben Kindern. An einer Stelle schreibt er etwas von einem bzw. seinem „gestrengen Vater“ (S. 592), ohne weitere Details zum väterlichen Umgang mit den Kindern zu schildern.  Als er acht Jahre alt war, starb der jüngste seiner Brüder. Dienhart gibt dem jüdischen Chefarzt, der seinen Bruder operiert hatte, die Schuld am Tod des Bruders. „Da ich meinen verstorbenen Bruder besonders liebte, stieg in mir Achtjährigen mit der Zeit ein Groll auf gegen den Chefarzt und dieser noch nicht recht begreifbare Hass steigerte sich mit meinem Alter zu einem Wiederwillen gegen alles, was jüdisch war“ (S. 592). Infolge einer Kinderkrankheit nahm seine Sehkraft ab dem neunten Lebensjahr stetig ab. Seine jüngste Schwester kümmerte sich in der Folge verstärkt um ihren Bruder. Allerdings musste sie das Zuhause verlassen und er sei ab dann „meist alleine“ gewesen (S. 592). Ab dem zehnten Lebensjahr kam Edmund zu einem Onkel und verlor somit sein gewohntes Familienleben. Innerhalb der folgenden zwei Jahre hatte er wohl mehrere Klinikaufenthalte von jeweils mehreren Wochen zu überstehen. Durch die Behandlungen wurde seine Sehkraft verbessert und kam wieder zurück. 

Der 1910 geborene Paul Matter war vier Jahre alt, als sein Vater im Ersten Weltkrieg fiel. In der Folge wurde er auch von seiner Mutter getrennt und zur Erziehung zu den Großeltern geschickt. Als er acht Jahre alt war, heiratete seine Mutter erneut. Mit seinem Stiefvater scheint er sich nicht gut verstanden zu haben, denn er berichtet: „Als ich meinem 14. Lebensjahr aus der Schule kam, verließ ich sofort das Elternhaus, denn mein Pflegevater, war doch nicht der Vater, der im Weltkriege für´s Vaterland starb“ (S. 680). Er begann dann eine Bäckerlehre in einem anderen Ort. 

Der 1912 geborene Karl Friedrich Nau hat fast nichts aufschlussreiches über seine Kindheit geschrieben und beschreibt nur kurz Eckdaten. Ab dem 14. Lebensjahr ging er in die Lehre und war mit 17 Jahren ausgelernt. Er habe lange ersehnt, danach endlich seinen Heimatort verlassen zu können und weitere Teile Deutschlands kennen zu lernen. Er zog dann auch fort und schreibt: „Bad-Nauheim war für mich etwas anderes als zu Hause, denn wir waren vier Geschwister und es musste in jeder Hinsicht dem väterlichen Willen gefolgt werden. Nun war ich für mich und konnte mich in meinen freien Stunden dem widmen, wonach ich mich sehnte (…)“ (S. 718).
Auch hier erfahren wir wieder keine Details über das väterliche Erziehungsverhalten. Allerdings zeigen seine Ausführung überdeutlich in Richtung autoritäre Erziehung. 

Der 1901 geborene Fritz Keppner berichtet im Grunde nichts über seine Familie und Kindheit. Was mir ins Auge stach war aber, dass er als Dreizehnjähriger (im Jahr 1914) eine Gelegenheit nutzte, um sich heimlich einer Maschinengewehrkompanie an der Front anzuschließen. Erst nach einer Woche fiel dies auf und man brachte ihn zurück. Er versuchte daraufhin erneut an die Front zu kommen, wurde aber aufgegriffen und musste zurück nach Hause. Er berichtet noch, dass er Mitglied der SS war und im Jahr 1930 seine Mutter Waffen versteckte, als die Polizei kam (S. 725f.). All diese Erzählungen deuten auf eine entsprechende Prägung im Elternhaus hin. Als Dreizehnjähriger unbedingt an die Front kommen zu wollen, ist schon bemerkenswert. 

Der 1903 geborene Paul Moschel war das sechste von zwölf Kindern. Das entsprechend wenig Zeit der Eltern für ihn da gewesen sein wird, erschließt sich von selbst. Er selbst formuliert es so: „Da unsere Familie so groß war und meine Eltern keinen Besitz hatten, musste ich mit meinen Geschwistern eine harte Kinderzeit durchmachen, aber die härteste während der Kriegsjahre. Wir waren durch meine guten Eltern echt deutsch erzogen, meine zwei älteren Brüder stellten sich bei Ausbruch des Krieges freiwillig in den Dienst unseres Vaterlandes mit 17 und 18 Jahren“ (S. 730). Beide Brüder starben. Über die Kriegsjahre und die Not der Familie schreibt er noch, dass sie eine Zeit durchmachen mussten “in der wir an Hunger, Entbehrung und Elend so viel erlebten, das in Worten nicht zu fassen ist“ (S. 730).  Als Vierzehnjähriger war er damals der älteste Sohn und versuchte mitzuhelfen, die Familie durchzubringen. Unter der Besetzung der Franzosen wurde Paul im Alter von sechszehn Jahren inhaftiert und saß eine Zeit lang im Gefängnis. Auch dies ist eine schwere Belastung für einen Minderjährigen. 

Der 1882 geborene Robert Friedrich berichtet im Grunde fast gar nichts über sein Elternhaus (S. 741f.). Er sei als vierter Sohn seiner Eltern geboren und nach evangelischer Kirschensitte erzogen worden. Im Alter von nur zwölf Jahren ging er auf eine Militärschule und blieb dort bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr. Auf diese Zeit geht er nicht weiter ein. Auf Grund der räumlichen Distanz zwischen seinem alten Heimatort und dem Sitz der Militärschule, gehen ich davon aus, dass er auch in der Schule lebte und wohnte (was eine andauernde Trennung von der Familie bedeuten würde). Danach wechselte er auf eine Unteroffiziersschule. Sein Weg blieb militärisch dominiert und er kämpfte im Ersten Weltkrieg. Schon seit seiner Kindheit war dieser Junge militärisch geprägt und erzogen worden. 

Die 1898 geborene Hedwig Eggert war das achte Kind ihrer Eltern, die insgesamt elf Kinder bekamen. „(…) davon sind 5 am Leben geblieben, die übrigen 6 sind teils klein, teils größer gestorben“ (S. 753). Ein Bruder sei im Alter von dreizehn Jahren gestorben und dies sei ein „herber Schlag für meine Eltern“ gewesen (S. 753). Entsprechend werden die Todesfälle auch Hedwig geprägt und belastet haben. Ihr Mutter „musste von früh bis spät in der Fabrik mitarbeiten, um all die hungrigen Mäuler stopfen zu können“ (S. 753). Der ebenfalls berufstätige Vater hatte nur einen geringen Lohn, der kaum reichte. Die Kinder werden irgendwie gelernt haben müssen, unter diesen Mangelbedingungen klar zu kommen und zu überleben. 

Der Vater des 1900 geborene Fritz Junghanss fiel 1917 im Krieg. Fritz muss zu der Zeit sechszehn oder siebzehn Jahre alt gewesen sein.  Vermutlich war schon früh seine Mutter gestorben (oder hatte die Familie verlassen), denn er schreibt „Meine natürliche Mutter hatte ich nicht gekannt, erhielt aber mit 10 Jahren eine Stiefmutter, zu der ich in einem schlechten Verhältnis stand, da sie kleinlich und gehässig war und ich mir ihr bald in jeder Beziehung überlegen fühlte. Mein Vater war nicht glücklich mit ihr und diese Stimmung im Elternhause war nicht dazu angebracht, Kinder (ich hatte noch einen drei Jahre jüngeren Bruder) mit Liebe und Vertrauen zu erziehen. Ich war daher darauf angewiesen, mich ohne die Stütze der elterlichen Hände charakterlich selbst zu bilden (…)“ (S. 780).
Der Herausgeber des Bandes (zu dem ich im Schlussteil noch etwas anmerken werde), stellt den meisten Biografien (die oft im Original abgebildet sind) eine Zusammenfassung vor. Auffällig ist hier, wie auch an anderen Stellen, dass er diese besondere und herausstechende Belastung in Kindheit und Jugend des Akteurs nicht in die Zusammenfassung mit aufnimmt, was sich absolut angeboten hätte. Belastungen, die er in dem Band in den Zusammenfassungen mit aufnimmt, sind i.d.R. der Tod von Familienmitgliedern oder der Wechsel des Wohnorts/der Familie. Auf den Herausgeber und seine Herangehensweise komme ich noch zurück. 

Der 1902 geborene Alfred Buchholz kam als viertes von insgesamt sechs Kindern seiner Eltern zur Welt. Er sei in „bescheidenen Verhältnissen, unter liebereicher Pflege meiner mustergütigen Eltern“ herangewachsen (S. 806). Diese anfängliche idealisierende Beschreibung seiner Eltern sollte uns sogleich im Gedächtnis bleiben, wenn wir uns seine weiteren Schilderungen anschauen!
Sein Vater war preußischer Unteroffizier bei einem Eisenbahnregiment. Entsprechend wird dieser militärische Einfluss auch das Familienleben geprägt haben.
Seine Mutter beschreibt er u.a. wie folgt: „Ihr Augenspiel, das besonders auffallend bei öfter notwendig werdenden Ordnungsrufen in Erscheinung trat, ist mir und auch meinen Geschwistern tief in`s Herz geschrieben und glich doch allzusehr dem strengen Augenzuge unseres `Alten Fritz`. Wir meinten später manches Mal: `Der Alte Fritz geht um, der Knüppel wird gleich tanzen`“ (S. 807).
Ganz offensichtlich hat diese strenge Mutter ihre Kinder mit einem Gegenstand misshandelt. Alfred Buchholz schmückt diese Erfahrungen geradezu schriftstellerisch aus und beschönigt sie dadurch deutlich. Kritik an dem Erziehungsverhalten gibt es seinerseits nicht. Im Gegenteil, er holt sogleich zu weiteren Höhenflügen aus, wenn es um die Eltern geht: „Beide, Vater und Mutter, sind strenge, sittliche reine, züchtige und mit feinstem Liebesempfinden ausgestattete Menschen, deren Liebe sehr wohl ihre guten Grenzen kannte (…). Ihnen gilt schon seit meiner frühsten Jugend meine ganze Verehrung und stets bin ich bemüht, mich meinen Eltern gegenüber dankenswert zu erweisen“ (S. 807). 

Lobpreisungen und das Wort „Liebe“ gleich im Anschluss nach Schilderungen über mütterliche Gewalt und Strenge, erneut taucht dies hier auf. Es ist dies klassisch für das mit dem Aggressor identifizierte Kind, das nur so seine Misere ertragen kann.
Gleich nach seinen Lobpreisung berichtet er wieder über Gewalterfahrungen: „Hässliche Worte, zänkisches Handeln, aufkommende schlechte Manieren wurden unter strengster Wacht der Eltern nicht geduldet sondern stets zu gutem Handeln und zum Verständnis ermahnt, was ich auch sehr beherzigte. Half jedoch die Milde und Güte nichts mehr, dann tanzte es eben reichlich fühlbar auf den Po“ (S. 807). „Tanzte“ auf den Po, auch in dieser Formulierung steckt bereits die Verdrehung der Wirklichkeit, nämlich das es eigentlich Gewalt ist, was dieses Kind erfährt, die offensichtlich „reichlich“ ausgeteilt wurde. Als Kind erlebte er zudem den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und schwere Hungerzeiten. 

Nach vielen Schilderungen u.a. über seinen Kampf für die Nazis schreibt er im Schlussteil:
Viele ereignisreiche Dinge meines Lebens, besonders auch im Kampf als Hitlerdeutscher, könnte ich noch aufweisen, doch müsste ich mich dann zu sehr verbreitern. Ich aber fühle, dass wir Deutsche heute echte und bester Ringer des Friedens sind in einem neuen Geiste  (…). Schlägt und würgt man aber ein Volk, so schlägt und würgt man auch Gott und seine Himmel werden sich vernichtend rächen. Eines darf ich von mir noch sagen, denn es ist meine Kraftquelle: Ich blieb aufrecht und rein; und würde aber meinen Körper zu Füßen des Todes legen, ehe ich davon abwich“ (S. 821).
Es bietet sich geradezu an, die Fantasien von einem geschlagenen und gewürgten Volk, das sich rächt, und für Reinheit kämpft mit seiner Misshandlungsgeschichte im strengen Elternhaus zu verbinden. Dieses sich „dreckig“ und sich „unrein“ fühlen, sind klassische Gefühle, die misshandelte Kinder haben, die aber später verdrängt werden. Die Umkehrung (bzw. Projektion) davon, also sich „rein“, „sauber“, „anständig“ fühlen zu wollen und gegen den „Dreck“ bei Anderen zu kämpfen (Die „dreckigen Juden“ oder DIE „dreckigen Ausländer), um „Reinheit“ herzustellen, ist etwas, das man oft bei Extremisten aller Arten beobachten kann. Und das halte ich nicht für einen Zufall!
Auch die Todessehnsucht, die Alfred Buchholz nebenbei zum Ausdruck bringt, sehe ich verbunden mit seinen Kindheitserfahrungen. Etwas, das ganz sicher viele damalige Nazis so oder so ähnlich empfunden haben werden. Hitler und sein Weltbild umgab schließlich ein Todeskult. Heute können wir diese Todessehnsucht u.a bei Islamisten beobachten. 

Aufschlussreich sind die Anmerkungen des Herausgebers mit Blick auf die Erkenntnisse aus den vielen Biogrammen. Unter der Zwischenüberschrift „Warum wurden sie Nazis – Thesen“ schreibt er u.a.: „Soziologen und Historiker versuchen heute mit unterschiedlichen Theorien und Erklärungsmodellen eine Antwort auf die Frage zu ergründen, warum jemand Nazi geworden ist: Traumatisierung durch den Ersten Weltkrieg, Demütigung des Nationalgefühls, Abrutschen der Mittelschicht, Isolation und Verunsicherung des Einzelnen, Existenzangst nach Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise. Kein Wissenschaftler kann aber erklären, warum eine junge Frau, die ein Biogramm schreibt, überzeugte, aktive, gnadenlose Nationalsozialistin geworden ist, sie sich selbst radikalisiert hat, ihre zehn Geschwister aber nicht“ (S. 23).
Und: „Meine These als Ergebnis der Auswertung dieser vielen hundert Biogramme ist: Wer Nazi werden wollte, wer sein Heil in dieser Ideologie mit überlegender Rasse und Untermenschen suchte und auf Hitler als Erlöser setzte, wurde Nazi – und war dafür allein verantwortlich. Es war eine ganz individuelle Entscheidung, Nazi sein zu wollen (…). Sie wollten das so (S. 24).“

Ca. 82 Biogramme hat der Herausgeber für das Buch ausgewählt und vorgestellt, von ursprünglich fast 581 erhaltenen Biogrammen von damaligen Nazis. Davon wiederum habe ich 17 herausgesucht, die zumindest Andeutungen über Kindheitsbelastungen enthalten. Die restlichen Biogramme enthalten bzgl. der Kindheit im Prinzip keine Infos, die hier relevant wären. Was sich aber auch zeigte: kein einziger von den 82 beschreibt eine gänzlich unbelastete, gar liberale oder gewaltfreie Kindheit, auch dies muss man hier feststellen.
Man könnte jetzt meinen, dass es sehr spekulativ wäre, von den 17 Akteuren auf die Gesamtheit zu schließen. Ich halte dem entgegen, dass wir heute sehr wohl darum wissen, dass eine strenge, autoritäre Erziehung, die Kindern kaum eigene Freiheiten gestattete und sowohl im Elternhaus als auch in der Schule Körperstrafen üblich waren, die damaligen Normen waren. Die oben zitierten 17 Akteure deuten dies oftmals klar an oder bestätigen es manchmal sogar überdeutlich (vor allem im zuletzt genannten Fallbeispiel). Dass die anderen Akteure keine Details in dieser Hinsicht berichten, sagt nicht aus, dass sie es nicht ähnlich erlebt haben. Gerade Erziehungsnormen wurden von der damaligen Generation kaum hinterfragt, sondern als „normal“ und nicht erwähnenswert hingenommen. Ich sehe diese 17 Akteure eher als Sprachrohr für die Anderen, als die Minderheit, die ausnahmsweise Details aus der eigenen Erziehung Preis gibt.
Das Gleiche gilt übrigens auch bezogen auf die Hungererfahrungen im Ersten Weltkrieg und die Abwesenheit der überarbeiteten oder am Krieg beteiligten Elternteile. Es würde kaum Sinn machen, diese grundlegenden Erfahrungen der damaligen Generation für diejenigen Akteure auszuschließen, die hier nicht darüber berichtet haben. Nicht jeder möchte solch schlimmen Erfahrungen erinnern und in seinem Biogramm öffentlich festhalten, was nur all zu nachvollziehbar ist. 

Ich selbst kannte - nebenbei bemerkt - mal einen Mann, der Anfang der 1930er Jahre geboren wurde. Durch Dritte (Verwandte von ihm) wusste ich, dass er als Kind von seinen Eltern schwer misshandelt worden war. Er selbst pflegte einmal zu sagen, dass er immer viel von seinen Eltern „kritisiert“ worden war. Das war genau die Art und Weise, wie diese Generation das Schweigegebot und den Gehorsam gegenüber den Eltern eingehalten hat. Es gehörte sich schlicht nicht, die Eltern zu kritisieren oder öffentlich Einblicke in elterliches Erziehungsverhalten zu geben. Insofern ist es schon fast ein Glücksfall, dass wir hier 17 Berichte haben, die manche Hinweise enthalten!

Kommen wir zu den Anmerkungen des Herausgebers. Ja, es gab viele Familien, in denen die einen Kinder der Familie Nazis wurden und die anderen nicht. Für mich ist das kein Widerspruch, weil die Einflüsse auf Wege von Menschen vielfältig sind. Für mich zählt viel mehr der Punkt, dass die, die Nazis wurden, keine nachweisbar unbelastet, geliebt und gewaltfrei aufgewachsenen Kinder waren (was uns ja auch heutige Studien über entsprechende Akteure eindrucksvoll aufzeigen). Das ist das Fundament, das Nazi-Deutschland überhaupt möglich machte. Und ja, ich gebe dem Herausgeber ein Stück weit Recht, dass die damaligen Akteure auch wollten, was sie taten, dass sie Entscheidungen trafen, für die sie verantwortlich waren. Hätten Sie diese Entscheidungen aber auch so getroffen, wenn sie eine unbelastete und liberale Kindheit erlebt hätten? Aus meiner Sicht: Nein!

Und genau deswegen halte ich diesen Band für besonders wertvoll. Auch wenn der Herausgeber selbst gar nicht bemerkt zu haben scheint, was hier auch nachgewiesen wird: Das diese Nazis belastete Kindheiten hatten. 



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