Die Lebendigkeit und der Eigenwille des Kindes, die Quelle von Aufmüpfigkeit und Autonomie, muss eingedämmt werden, so dachte man großteils im geschichtlichen Verlauf. Es galt die Maxime, die von Schmidt 1887 in der "Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens" exemplarisch formuliert wurde: "Der Wille des Kindes muss gebrochen werden, d.h. es muss lernen, nicht sich selbst, sondern einem anderen zu folgen" (zit. n. Keupp, 1999, S. 6). Diese Maxime durchzieht die Geschichte fast aller menschlicher Gesellschaften. Die Bibel ist ein weiterer exemplarischer Beleg dafür: Wer seine Kinder liebt und vor Torheiten bewahren will, der schlägt und züchtigt sie, ist der „erzieherische“ Leitgedanke vor allem im Alten Testament. (vgl. z.B. Dtn 21,18-21; Spr 3,11; Spr 3,12; Spr 13,24; Spr 29,17; Sir 22,6; Sir 30,12) Zudem galten Kinder lange Zeit als Besitz ihrer Eltern bzw. des Vaters, mit denen nach Belieben umgegangen werden konnte; Kinder waren recht- und schutzlos. "Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen.", schrieb der Psychohistoriker Lloyd deMause (1992) zur Evolution der Kindheit. (deMause, 1992, S. 12) Und: „Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto mehr sinkt das Niveau der Kindererziehung.“ (ebd., 2005, S. 269)
Nachfolgende Zahlen aus der Gegenwart zeigen, wie nachhaltig die „Geschichte der Kindheit“ weiterhin wirkt: In sozialwissenschaftlichen Studien ist belegt, dass die Hälfte bis zwei Drittel aller Eltern ihre Kinder körperlich bestrafen, wobei man davon ausgeht, dass 10 bis 15 % dies häufig und schwerwiegend tun.[1] (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2002, S. 220)
Eine bundesdeutsche Repräsentativstudie kommt auf der Opferseite zu ähnlichen Ergebnissen. 74,9 % der Befragten gaben an, in ihrer Kindheit körperliche Gewalterfahrungen seitens ihrer Eltern erlebt zu haben. 38,4 % wurden häufiger als selten körperlich gezüchtigt. Elterliche Misshandlungen erlebten 10,6 %, 4,7 % häufiger als selten. (vgl. Wetzels, 1997. S. 146)
Ein Vergleich zwischen drei repräsentativen Jugendstudien (jeweils 1992, 2002 und 2005) zeigt, dass ca. 30 % (jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 29,6 % und 32 %) der Jugendlichen gewaltfrei erzogen wurden. Die große Mitte sind die „konventionell“ erzogenen, die häufig leichte körperliche Bestrafungen und andere Sanktionen erfahren haben und in deren Erziehung „weitgehend“ auf schwere körperliche Gewalt verzichtet wurde. (Zahlen jeweils in der Reihenfolge der Jahreszahlen: 36,4 %, 51,2 % und 46, 7 %). Eine gewaltbelastete Erziehung (Diese Gruppe weist bei allen Sanktionsarten – inkl. psychischer Gewalt - eine überdurchschnittlich hohe Häufigkeit auf, insbesondere auch schwere Körperstrafen.) erlebten jeweils nach Jahreszahlen 31,8 %, 19,3 % und 21,3 %. (vgl. Bundesministerium der Justiz, 2007, S. 18)
(Hinweis: Es gibt neuere rep. Studien zum Sexuellen Missbrauch, die andere Zahlen nahelegen!)
Auch die Kindesvernachlässigung ist laut Einschätzungen von Experten eine weit verbreitete Form von Kindesmisshandlung. Esser (2002) geht davon aus, dass in Deutschland 5 bis 10 % aller Kinder mit klinisch relevanten Folgen durch ihre Eltern abgelehnt oder vernachlässigt werden. Esser beschreibt zudem eine deutsche Risikokinderstudie, in der 384 erstgeborene Kinder von der Geburt bis zum Alter von 11 Jahren begleitet wurden. Bei 15,4 % aller Kinder wurden Ablehnung und/oder Vernachlässigung festgestellt. (vgl. Esser, 2002, S, 103ff) Andere Quellen stellen das Ausmaß der Vernachlässigung wie folgt dar: Als Untergrenze wird geschätzt, das mindestens 50.000 Kinder in Deutschland unter erheblicher Vernachlässigung leiden, nach oben hin schwanken die Zahlen zwischen 250.000 und 500.000 Kindern. (vgl. Deutscher Kinderschutzbund / Institut für soziale Arbeit e.V., 2000)
Die Forschung bzgl. psychischer Misshandlung ist dagegen erst in den Anfängen. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass die psychische Misshandlung die häufigste Form der Kindesmisshandlung ist und zudem oftmals mit anderen Misshandlungsformen einhergeht. (vgl. Brassard / Hardy, 2002, S. 589ff) Auch diese Misshandlungsform hat erhebliche Folgen für die Kinder.
Ein weiteres relativ unbeleuchtetes Feld ist das Miterleben von Gewalt und die möglichen Folgen für die Kinder. Strasser (2001) vermittelt eindrücklich, wie Gewalt gegen Frauen auch als Trauma für die mit den Erwachsenen zusammenlebenden Kinder wirken kann bzw. wie häusliche Gewalt gegen Frauen eine Form von psychischer Gewalt gegen Kinder darstellt.
Eine erste deutsche repräsentative Studie zeigt, dass von 10.000 befragten Frauen jede Vierte im Alter von 16 bis 85 Jahren bereits ein- oder mehrmals körperliche oder zusätzlich sexuelle Übergriffe eines Beziehungspartners erlitten hat. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004a)
Sofern Kinder in den betreffenden Familien leben, werden hier die möglichen Dimensionen der von Kindern miterlebten Gewalt deutlich. Die Arbeit am zusätzlichen Tabuthema „Frauengewalt gegen Männer“ zeigt darüber hinaus, dass auch Frauen an häuslicher Gewalt beteiligt sein können und dies ebenfalls Folgen für die Kinder haben wird. (vgl. ausführlich Kantonale Fachkommission für Gleichstellungsfragen, 2006)
Auch Geschwister, die Gewalt miterleben, müssen in diesen Themenkomplex Beachtung finden. Elterliche Gewaltanwendung gegenüber Kindern ruft nicht nur Schäden bei dem unmittelbar angegriffenen Opfer hervor. Es wird angenommen, dass die nichtangegriffenen Geschwister psychisch in ebensolchem Maße geschädigt werden wie das eigentliche Opfer und so zu mittelbaren Opfern werden. Das Erlebnis von Tätlichkeiten der Eltern gegenüber dem Bruder oder der Schwester verursacht bei ihnen Furcht und vermittelt ein Gefühl der Verwundbarkeit und der mangelnden Geborgenheit. Zusätzlich werden Zusammenhänge zwischen eigenem späteren Gewaltverhalten und dem Miterleben von Gewalt angenommen. (vgl. Schneider, 1998, S. 337)
Ins Blickfeld der Wissenschaft gerät zunehmend auch der Fötus und dessen (psychische) Entwicklung im Mutterlaib. DeMause (2005) weist nach, dass bereits Föten Stress und Gewalt erleben und erinnern, was Auswirkungen auf das spätere Leben haben kann (Er nennt dies „Fötales Drama“). Föten erleben z.B. psychische oder körperliche Gewalt durch den Partner gegen die Mutter, direkte Ablehnung des Fötus, Belastungen durch Alkohol-, Drogen- oder Nikotinkonsum der Mutter, Belastungen durch Stress- und Angstzustände der Mutter usw. (vgl. deMause, 2005, S.56ff)
Ich habe lange nach einer passenden Formulierung für ein weiteres Themenfeld gesucht und diese schließlich (mehr zufällig) in einem Text gefunden, der sich mit den Auswirkungen der NS-Erziehungsideale beschäftigt: „Die Frage scheint mir berechtigt, ob die Enteignung des Kindes schon weit früher, vor der Geburt, sogar vor der Zeugung beginnt und ob dies für das Kind schon in frühem Stadium von Bedeutung sein könnte. Alle Eltern bilden ja aus Erwartungen, Hoffnungen, Fantasien erste Identitätsvorstellungen um das erwartete Kind herum. Sie weben damit gleichsam eine psychische Hülle, in die das Kind dann hineingeboren wird. Diese Hülle ist von der Einstellung der Eltern zum Kind stark geprägt. Bildlich gesprochen braucht das Neugeborene diese Hülle, um eine gesunde Haut bilden zu können.“ (Langendorf, 2006, S. 278ff) Die Erwartungen von Eltern innerhalb des NS-Systems wirkten sich schon früh negativ auf die Kinder aus, so der weitere Ansatz von Langendorf. Dies kann man sicherlich auch weiterstricken. Ich denke z.B. an Eltern, deren Grund fürs Kinderkriegen der ist, dass sie von „ihrem Unglücklichsein“ befreit werden wollen; ich denke an Frauen, die eine Trennung auf sich zukommen sehen und die „schnell noch mal“ ein Kind bekommen, um den Partner doch noch irgendwie zu binden; ich denke an Leihmütter, die das Kind für andere Eltern bekommen; ich denke an die Eltern, die ein zweites und drittes Kind bekommen, weil „es beim ersten irgendwie alles schief gelaufen ist“ usw. usf. Es geht also im Kern um den eigentlichen Grund fürs Kinder kriegen. In diesem Grund findet sich so manches mal schon die erste Demütigung, Missachtung und Funktionalisierung des Kindes.
Zu vermuten ist auch, dass Ausmaß und Härte der Kindesmisshandlung in noch weitgehend traditionelleren, patriarchalen Gesellschaften entsprechend höher und ausgeprägter sein könnte. Entsprechende Gesellschaftsstrukturen stellen laut Gelles (2002) einen Risikofaktor für Gewalt in der Familie dar. (vgl. Gelles, 2002, S. 1060)
In Ägypten sagten beispielsweise bei einer Umfrage 37 % der Kinder, dass sie von ihren Eltern geschlagen oder gefesselt würden. 26 % berichteten über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung aufgrund der Misshandlungen. (vgl. Youssef, Attia & Kamel, 1998 zit. nach WHO, 2002, S. 62) In Äthiopien berichteten 21 % der befragten städtischen Schüler und 64 % der ländlichen Schüler von Blutergüsse oder Prellungen auf Grund körperlicher Bestrafungen durch ihre Eltern. (Ketsela & Kedebe, 1997 zit. nach WHO, 2002, S. 62) Im Iran wurden Schüler im Alter von 11 bis 18 Jahren befragt. 38,5 % berichteten über körperliche Gewalt in ihrer Familie, die leichte bis schwere Verletzungen zur Folge hatte. Im Yemen berichteten fast 90% der Kinder, dass körperliche Bestrafungen und Demütigungen die wesentliche Disziplinierungsform in ihren Familien darstellt. Das selbe Bild ergab eine Untersuchung in Südkorea, dort halten 90 % der Eltern körperliche Bestrafungen ihrer Kinder für notwendig. (vgl. UNICEF, 2006b, S. 52ff)
Eine Studie kommt zu dem Schluss, dass 36,1 % aller kolumbianischen Kinder irgendwann Opfer von Misshandlungen werden. Jedes zehnte Kind, das in ein kolumbianisches Krankenhaus eingeliefert wird, muss wegen häuslicher Gewalt behandelt werden; die Dunkelziffer wird hier vermutlich viel höher liegen, da viele Ärzte sich nicht der Mühe unterziehen, Misshandlungen anzuzeigen. (vgl. BRENNPUNKT LATEINAMERIKA, 2005, S. 39)
Garbarino & Bradshaw (2002) berichten, dass in China Kinder als „Eigentum“ ihrer Eltern angesehen werden, wodurch auch die Wahrscheinlichkeit sinken würde, dass Nachbarn etc. bei einem Verdacht auf Misshandlungen z.B. in Form einer Anzeige eingreifen würden. (vgl. Garbarino & Bradshaw, 2002, S. 901) Bereits die Definition als "Eigentum" stellt meiner Ansicht nach eine erhebliche Demütigung und Missachtung des Kindes dar. Etwas mehr Licht ins chinesische Dunkelfeld bringen folgende Zahlen: 461 von 1000 (ca. 46 %) befragten chinesischen Eltern (in Hong Kong) berichteten, dass sie schwere körperliche Gewalt gegen ihre Kinder angewendet haben. (vgl. WHO, 2002, S. 63) Eine Studie, in der SchülerInnen direkt befragt wurden ergab, dass 22,6 % der chinesischen und 51,3 % der süd-koreanischen Kinder schwere körperliche Gewalt durch ihre Eltern erlebt haben. (ebd.)
DeMause zeichnet ein eindrückliches Bild von der elterlichen Gewalt gegen Kinder in islamisch, fundamentalistischen Familien und Gesellschaften (z.B. Palästina, Pakistan, Afghanistan oder auch Saudi-Arabien) und kommt zu dem Schluss, dass die dort existierenden „Erziehungspraktiken“ jenen sehr ähnlich sind, wie sie einst Kindern im mittelalterlichen Westen routinemäßig zugefügt worden sind. In Form von: Sexuellem Missbrauch, strikter Gehorsamseinforderung, Schlagen, Treten, Schütteln, Schneiden, Vergiften, Unter-Wasser-Halten, Würgen, Beschießen, Stechen, Beißen, Verbrennen, Ermorden usw. (vgl. deMause, 2005, S. 39ff)
Für eine Diplomarbeit – vgl. Bette (2006) - wurden 287 afghanische Schulkinder aus Kabul, Afghanistan befragt. 41,6% der Kinder berichteten, von ihrem Vater geschlagen zu werden und 59,9% berichteten, von ihrer Mutter geschlagen zu werden. Fast ein Drittel aller Kinder berichteten von mehr als fünf Typen häuslicher Gewalterfahrungen. Die Typen häuslicher Gewalterfahrung, die am häufigsten berichtet wurden waren Schläge auf den Körper, die Arme oder die Beine und angeschrien oder beleidigt zu werden.
Besonders Afrika ist leider immer noch weitgehend eine „blackbox“, was die Forschung über die Kindererziehungspraxis und Kindesmisshandlung angeht. Bzgl. Kenia habe ich eine interessante HRW-Studie gefunden, die über das hohe Ausmaß von Gewalt gegen Kinder in Schulen berichtet: „For most Kenyan children, violence is a regular part of the school experience. Teachers use caning, slapping, and whipping to maintain classroom discipline and to punish children for poor academic performance. The infliction of corporal punishment is routine, arbitrary, and often brutal. Bruises and cuts are regular by-products of school punishments, and more severe injuries (broken bones, knocked-out teeth, internal bleeding) are not infrequent. At times, beatings by teachers leave children permanently disfigured, disabled or dead.„ (Human Rights Watch, 1999) Es ist naheliegend, dass eine solche Akzeptanz ja geradezu „Normalität“ von Gewalt an kenianischen Schulen gleichzeitig etwas über die Akzeptanz von elterlicher Gewalt aussagt. In der Studie heißt es dazu weiter. „Various forms of corporal punishment (and other punishments like manual labor) have a long pedigree in Kenya. Many Kenyans told Human Rights Watch that physical chastisement has long been accepted in Kenyan homes.” (ebd.)
In den 90er Jahren wurde in verschiedenen Untersuchungen festgestellt, dass das Ausmaß der häuslichen Gewalt gegen Frauen in Entwicklungsgesellschaften (Ausmaß: ca. 30 bis 80 %) im Vergleich zu westlichen Ländern (Ausmaß: ca. 20 – 28 %) oftmals erheblich höher ist. Pakistan (Ausmaß: 80 %) und Tansania (Ausmaß: 60%) stehen dabei an der Spitze der Liste. (vgl. Seager (1998) zit. nach amnesty journal, 03/2008, S. 16) Entsprechend erleben in diesen Ländern auch Kinder häufiger Gewalt mit.
Untersuchungen aus den USA zeigen darüber hinaus, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Mütter und Gewalt gegen Kinder besteht. Die Überschneidung von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung beträgt je nach Studiendesign 30 % bis 60 %. Zusätzlich wurde in medizinischen Versorgungseinrichtungen festgestellt, dass 45 % bis 59 % der Mütter von misshandelten Kindern gleichfalls von Gewalt betroffen sind. (vgl. Hellbernd / Brzank,. 2006, S. 93) Wenn man diese Zahlen auch für Entwicklungsgesellschaften zu Grunde legt, ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein sehr hohes Ausmaß an Kindesmisshandlung. Für Pakistan mit 80 % betroffenen Frauen wäre dann z.B. anzunehmen, dass auch die Kindesmisshandlung in diesem Land extrem verbreitet ist.
Zusätzlich lässt sich bei diesem Thema auch auf deutsche Untersuchungen bzgl. MigrantInnen zurückgreifen. In einem Sonderteil zeigt eine bereits weiter o.g. Untersuchung, dass in Deutschland lebende türkische Migrantinnen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung deutlich häufiger - nämlich 38 % der Befragten - Gewalt durch Beziehungspartner erfahren haben. Sie hatten außerdem auch mehr Situationen von Gewalt und – gemessen an den Verletzungsfolgen – schwerere und bedrohlichere Formen von Gewalt erlebt als der Bevölkerungsdurchschnitt. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004a) Dass türkisch stämmige Kinder/Jugendliche im Vergleich zu Deutschen häufiger Gewalt zwischen ihren Eltern miterleben, bestätigen auch Pfeiffer & Wetzels (2000), die ca. 16.000 Jugendliche befragt haben. Fast jeder dritte türkische Jugendliche berichtete in den letzten 12.Monaten vor der Befragung Gewalt zwischen den Eltern miterlebt zu haben, gegenüber nur jedem elften Deutschen. Auch elterliche Misshandlungen erlebten türkische Jugendliche signifikant häufiger als Deutsche. (vgl. Pfeiffer & Wetzels, 2000) Dass ethnische Unterschiede im Gewalterleben innerhalb von Familien bestehen, zeigt auch die Untersuchung von Baier & Pfeiffer (2007) bei der ca. 14.300 Jugendliche befragt wurden. Häufiges Erleben von Ohrfeigen, hartes Anpacken, Werfen mit Gegenstand bzw. Erleben von Misshandlung (Verprügeln, mit der Faust schlagen) erlebten türkische (29,8 %), russische (25,4 %), jugoslawische (27,9 %), polnische (27,6 %) und italienische (30,7 %) Jugendliche häufiger als Deutsche (17 %) (Die Deutschen erlebten dagegen häufiger „leichte Züchtigungen“ als die anderen Gruppen). (vgl. Baier & Pfeiffer, 2007)
Dass Deutschland bzw. Europa – trotz erschreckend hoher Gewaltraten gegen Kinder – im internationalen Vergleich kein Maßstab ist, zeigt auch, dass weltweit nur 16 Länder das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert haben (darunter auch Deutschland) - Stand 2006. Bis heute haben 106 Staaten die Prügelstrafe in Schulen nicht ausdrücklich verboten (dazu zählen auch die USA). Weitere Zahlen aus der UNICEF-Studie (2006) sprechen für sich: Schätzungsweise 150 Millionen Mädchen und 73 Millionen Jungen unter 18 Jahren werden zum Geschlechtsverkehr gezwungen oder geschlagen. Zwischen 133 und 275 Millionen Kinder und Jugendliche sind jedes Jahr in ihren Familien Zeugen von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Schätzungsweise 5,7 Millionen Kinder leben allein in Südasien in Schuldknechtschaft usw. usf. (vgl. UNICEF, 2006a)
Oftmals bedingt schon der kulturelle Kontext bzw. „die Tradition“ Gewalt. Ich denke da z.B. an Zwangsheiraten und an die Genitalienverstümmelung. Weltweit sind im Jahr 2008 nach Schätzungen von ExpertInnen 51 Millionen Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren zur Heirat gezwungen worden. In den darauf folgenden 10 Jahren werden pro Tag ca. 25.000 hinzukommen, die meisten davon in Afrika und Asien. Die jüngsten Bräute leben in dem indischen Bundesstaat Rajastahn, dort sind 15 % aller Ehefrauen bei ihrer Hochzeit keine 10 Jahre alt. Im Haushalt der Ehemänner werden Kinderbräute oft ausgebeutet und Opfer von Gewalt. Unzählige werden in der Hochzeitsnacht vergewaltigt. (vgl. EMMA, 07./08. 2008) Wie sollen Mädchen und auch Jungen, die (gewaltvoll) zur Heirat gezwungen werden, liebevolle Eltern werden, wenn schon ihre “Liebe” keine echte ist und von Trauer, Wut und Ohnmacht begleitet ist? Und wie ergeht es Frauen, denen als Kind die Genitalien verstümmelt wurden? Ca. 2 Millionen Mädchen (täglich ca. 6000) werden jedes Jahr weltweit Opfer der Genitalenverstümmelung. (vgl. UNICEF, 1997)
Ebenso werden in vielen Ländern Jungen beschnitten. "Die relativ gesehen geringfügigere aber immer noch schwerwiegende Verstümmelung von Jungen wird nach wie vor größtenteils ignoriert, wie auch die Tatsache, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit unabhängig vom Geschlecht gilt. Darüberhinaus wird auch die Beschneidung von Knaben in Ländern der Dritten Welt etwa in Afrika, Vorderasien und Indonesien oder bei den Aborigines in Australien nicht unter Narkose und mit sterilisierten chirurgischen Instrumenten sondern mit sehr primitivem Werkzeug vorgenommen, was nicht selten zu bleibenden Schäden oder gar zum Tod führen kann." (www.uni-protokolle.de, "Beschneidung von Jungen und Männern")
(siehe ergänzend zu den Zahlen "Gewalt gegen Kinder in Entwicklungsländern"!)
Die weiteste Verbreitung der Gewalt gegen Kinder und die extremsten Ausformungen finden sich letztendlich bei den Stämmen und Urvölkern. DeMause hat – sowohl historisch als auch relativ aktuell - nachgewiesen, dass in diesen Kulturen sehr hohe Raten von Kindermord (bei den australischen Aborigines wurden früher z.B. bis zu 50 % der Säuglinge getötet; für Neuguinea gilt, dass die Mütter mindestens ein Drittel ihrer Neugeborenen umbringen), Inzest, Körperverstümmelung, Kindervergewaltigung, Folterung und emotionale Verstoßung zu finden sind. Routinemäßig sind dort dissoziative Persönlichkeitsstrukturen die Folge, was die kulturelle Weiterentwicklung hemmt. (vgl. deMause, 2005, S. 184ff)
Die Ergebnisse weiter o.g. Untersuchungen müssen zusätzlich unter einem Gesichtspunkt betrachtet werden, den eine UNICEF- Studie aus dem Jahr 2003 wie folgt darstellt: „So erschreckend die Ergebnisse solcher Befragungen sind, geben sie doch nur die halbe Wahrheit wieder. Denn man muss davon ausgehen, dass viele ehemalige Gewaltopfer nicht über ihre Erfahrungen in der frühen Kindheit sprechen können oder wollen.“ (UNICEF, 2003)
Von den in einer englischen Studie befragten jungen Erwachsenen, die von den Forschern als „schwer misshandelt“ eingestuft wurden, gaben beispielsweise weniger als die Hälfte dies zu. Von denen, die „gelegentlich misshandelt“ wurden, beschrieben sich weniger als 10 % als „misshandelt“, auch wenn alle von Handlungen sprachen, die sie als „niemals gerechtfertigt“ ansahen. Eine Befragung von 10.000 Erwachsenen in den USA (1994) ergab, das 40 % von denen, die als Kinder nach körperlichen Misshandlungen ein oder zwei Mal medizinische behandelt wurden, sich selbst nicht als „misshandelt“ einstuften.(vgl. ebd.) Das Bild, das Befragungen liefern, ist also nicht übertrieben, sondern scheint noch untertrieben.
US-amerikanische Studien zeigen auch, dass kleine Kinder am stärksten von körperlicher Gewalt bedroht sind. Körperliche Strafen gegen Kinder erreichen demnach einen Höhepunkt im Alter von drei Jahren. (vgl. Melzer/Lenz/Bilz, 2010, S. 962) Gerade bewusste Erinnerungen an konkrete Erlebnisse aus den ersten drei Jahren verblassen später allerdings oftmals. Eine irische Mutter, die ihre Kinder misshandelt hatte, formulierte es so: „Du musst sie schlagen, solange sie noch zu klein sind, um sich daran zu erinnern und dir Vorwürfe machen können.“ (deMause, 2005, S. 241)
Zusätzlich beleuchtet dieser Aspekt des Umdeutens, Verdrängens und der fehlenden bewussten Erinnerung der erlittenen Gewalt etwas, das ich im Kapitel „Das einst misshandelte Volk identifiziert sich mit dem Aggressor“ ausführlich darstellen werde.
Mir ist bewusst, dass manche Thesen, die im weiteren Textverlauf folgen werden, bei vielen LeserInnen starke Widerstände und Kritik hervorrufen könnten. An dieser Stelle des Textes möchte ich allerdings einen – wie ich empfinde - nicht übertriebenen Satz festhalten, der auf Grund obiger Datenlage kaum kritisierbar ist. Zu allen Zeiten, gestern, heute und morgen, herrscht auch in Friedenszeiten Krieg: Der Krieg der Erwachsenen gegen die Kinder. Das enorme Ausmaß ja geradezu die Normalität der Gewalt gegen Kinder und deren Vielfältigkeit muss man sich klar vor Augen führen bzw. muss man sich als ersten Schritt überhaupt bewusst machen, um daraus die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen ermessen zu können. (Alleine das Wahrnehmen der enormen Gewalt gegen Kinder braucht bei vielen Menschen meiner persönlichen Erfahrung nach oftmals Jahre bzw. ist mit erheblichen Abwehrhaltungen verbunden. Dies ist insofern verständlich und normal, da die Beschäftigung mit diesem Thema unweigerlich an eigenen verletzenden Erfahrungen rührt) ) Die o.g. UNICEF-Studie beschreibt mögliche Folgen der Gewalt gegen Kinder u.a. wie folgt: „Gewalt zieht Gewalt nach sich: So geraten die betroffenen Kinder als Erwachsene oft in eine Opferrolle oder üben selbst Gewalt gegen andere aus.“ (UNICEF, 2006a, siehe dazu u.a. auch Van der Kolk. / Streeck-Fischer, 2002) Diesem destruktivem Potential möchte ich im Kontext von Krieg und seinen Ursachen weitere Beachtung schenken.
[1] Diese Angaben treffen übrigens auch auf unsere Nachbarn in Österreich zu. (vgl. Buchner et.al., 2002, S. 139ff)
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Wenn von elterlicher Gewalt gesprochen wird, so sollte man auch auf die Gründe eingehen, die dazu geführt haben. Als Beispiel möchte ich an dieser Stelle ein Ereignis anführen, welches sich Tatsächlich zugetragen hat:
AntwortenLöschenMeine beiden Söhne hatten - wiedereinmal - ihre streitigkeiten. Dieser uferten allerdings in einer extremen Form aus, die dazu geführt hatte, das der jüngere Sohn - 13 Jahre alt - einen Rippenbruch erleiden mußte...
Der ältere Sohn (17 Jahre alt) der zur Rede gestellt wurde, sagte nur: der ist ja selber schuld, warum provoziert er mich den nur ?
Das sein Bruder ins Krankenhaus musste, war ihm "Scheißegal...."
Bitteschön: Wie soll man in so einem Fall als Elternteil reagieren ? Wohlgemerkt: hier hat ein Kind einem anderen Kind Gewalt angetan...
Was mich sehr irritiert, ist die Tatsache, dass das Geschehen in Deutschland eher abgewertet wird. Als ein Opfer mütterlicher psychischer und leichter physischer Gewalt wundert es mich immer wieder, dass es Sendungen im deutschen Fernsehen geben darf, welche Kinder, die aus einem psychisch instabilen Elternhaus kommen, öffentlich denunzieren. So wie ich die Sache sehe, liegt das Problem darin, dass schon psychisch gestörte Eltern Kinder bekommen, damit sie auch endlich jemand liebt. Dies funktioniert meistens nicht wodurch es erst richtig zu interfamiliären Problemen kommt. Denn ein Kind muss lernen, sich selber zu behaupten und zu lieben, was es nicht kann, wenn es nur da ist, um von den Eltern geliebt werden zu können und zu gehorchen. Denn wenn das Kind nicht gehorcht, ist es gleich ein Problemkind und die Liebe wird sofort entzogen.Diese Problemkinder werden in Deutschland und vielen anderen Ländern selbst von den Menschen abgelehnt, die selber Problemkinder waren. Sehen wir es doch mal wie es ist. Normalerweise müßte für eine Welt mit psychisch gesunden Menschen erst mal einen Führerschein für das Kinderkriegen erworben werden inklusive eines psychischen Gutachtens und daran folgend einer eventuell nötigen Psychotherapie. Aber wer soll da therapieren, wenn doch so viele Menschen betroffen sind? Ein psychisch misshandelter Mensch kann andere Menschen nicht therapieren, denke ich. Wenn dafür eine Lösung bereit steht, dann hoffe ich nur, dass ich das noch erleben darf.
AntwortenLöschenEinen Elternführerschein halte ich schon längst für eine gute Idee!
AntwortenLöschenAber nicht in der Form des Misstrauens, sondern in Form einer verpflichtenden Anleitung für werdende Eltern. Dort müsste ihne z.B. die Gesetzeslage erklärt werden, Hilfestellen bei Überforderung, Klar machen, dass eigene Gewalterfahrungen sich oft auf Kinder auswirken, Hilfsangebote jeglicher Art aufzeigen usw.