Sonntag, 26. Oktober 2008

8.4 Extrembeispiel: Die Kinder von Holocaust-Überlebenden

Am deutlichsten wird die Auswirkung von Leid auf nachfolgende Generationen am (Extrem-)Beispiel der Holocaust-Überlebenden. Die israelische Psychoanalytikerin Ilany Kogan (1998) hat sich mit den Kindern von Holocaust-Überlebenden und den Folgen für deren Leben beschäftigt. Sie weist – auch mit Verweis auf die Forschungen von KollegInnen - darauf hin, dass nicht alle Familien von Überlebenden psychisch beeinträchtigte Kinder hatten, allerdings seien die Nachkommen von Überlebenden im Hinblick auf die Entstehung psychischer Problem besonders gefährdet. (vgl. Kogan, 1998, S. 19)
PatientInnen litten u.a. unter Schuldgefühlen, Ängsten, Zerrissenheit, innerer Leere, Misstrauen gegenüber der Welt, Depressionen, selbstzerrstörerischen Neigungen und diversen psychischen Störungen; sie hatten Probleme, anderen Menschen zu vertrauen, Nähe und Liebe zu empfinden, mit dem Übernehmen von Verantwortung und auch mit der Affektregulierung und –toleranz. Manche PatientInnen erlitten Unfälle, die eng mit ihren Verhaltensmustern in Verbindung standen; andere gingen sadomasochistische Beziehungen ein und wurden durch ihre Partner verletzt.
Manche Verhaltensweisen der PatientInnen lassen es dem Leser gar kalt über den Rücken laufen. Eine Patientin vergaß beispielsweise, ihren Gasofen über Nacht auszuschalten (in der Analyse wird die Verbindung zu den Gaskammern in den Konzentrationslagern deutlich), nachdem ihre Katze auf Grund ihres unvorsichtigen Verhaltens verstorben war und sie anschließend an die vielen Soldaten gedacht hatte, die im Krieg gestorben waren. (ebd., S. 69) Eine andere Patientin schwelgte in todbringenden Phantasien gegenüber ihrem Mann und ihren Kindern, ohne jedes Schuld- oder Schamgefühl. Sie selbst misshandelte ihre Kinder auch real schwer (sie selbst war von ihrer Mutter auch körperlich misshandelt worden) und hatte mehrmals versucht, diese zu verlassen, so dass in diesem Fall bereits die 3. Generation traumatisiert wurde. Ihr Stiefvater - einziger Überlebender in seiner Familie, diese war komplett im Holocaust umgekommen, seine Mutter und Schwestern waren während eines „Sonderkommandos“ in einem Ofen verbrannt worden – benutzte nie den Backofen und erschreckte die Patientin als Kind immer mit der Drohung, sie in den Ofen zu stecken. Die Patientin litt außerdem unter einem beeinträchtigten Geruchssinn und war gänzlich kälteunempfindlich, das Ausschalten dieser Sinne war für ihren Stiefvater im KZ einst lebensrettend. (ebd., S. 95+104ff) Einen Auszug aus dem Buch bzgl. dieser Patientin möchte ich hier komplett zitieren, ich denke, er spricht für sich:
Der Stiefvater „(…)hatte überlebt, als er eine Nacht lang nackt zwischen elektrisch geladenen Drähten in der Kälte ausharren musste. Zu stürzen hätte bedeutet, die Drähte zu berühren und durch Stromschlag zu sterben. In dieser Zeit bat mich Ruth um ihren Zeichenblock, um ihn nochmals durchzusehen. Sie fand darin die Zeichnung „Elektrizität“, auf der ein Mann zu sehen war, dem eine drahtige Todesblume aus dem Schädel spross. Die Todesblume symbolisierte die elektrischen Drähte, die ihr Stiefvater zwar überlebt hatte, die nun aber in Ruths Kopf eingepflanzt waren. „Daddy hat mir einen Elektrostab eingepflanzt“, sagte Ruth. „Es ist einer, mit dem man Kühe tötet. Daddy ist in meinem Selbst eingepflanzt.“ (ebd., S. 110)

Kogan berichtet, dass den Kindern durch Erzählen oder Agieren seitens ihrer Eltern Andeutungen von deren Erlebnisse während des Holocaust vermittelt wurden (die meisten Eltern hatten nie mit ihren Kindern bewusst über ihre Erlebnisse gesprochen; es herrschte meist ein „Pakt des Schweigens“). Die Träume und Phantasien (und auch der Übergang dieser in die Realität) der PatientInnen kommen also nicht auf Grund irgendeiner physischen oder gar „metaphysischen“ Vererbung zu Stande, sondern wurden unterbewusst vermittelt. Kogan beschreibt, wie die massive Traumatisierung der Eltern und das Verleugnen dieser Erlebnisse bei den Kindern der Überlebenden deutliche Spuren hinterlassen: „Diese Kinder versuchen in endlosen Bemühungen das, was die Eltern erlebten, durch Wiederholung der elterlichen Erfahrungen samt ihrer Begleitaffekte im eigenen Leben erfahrbar zu machen.“ ebd., S. 147)

Das von den Eltern Abgewehrte drängt oftmals auf Wiederkehr im Lebensvollzug des Kindes und gefährdet die Entfaltung des authentisch eigenen Lebensplans des Kindes, was Bründl (1998) [1] auch bzgl. der Weitergabe von Fluchttraumata des 2. Weltkriegs nachweist: „Die Abhängigkeit der Kinder von ihren Eltern lässt die Kinder bewusste und unbewusste Seins- und Handlungsweisen der Eltern übernehmen. Damit werden Kinder auch unwissentlich Vermittler von lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Eltern an die nachfolgenden Generationen, die die Eltern den Kindern wissentlich oder unwissentlich verschwiegen haben.“ (Bründl, 1998, S. 98)

Es wird außerdem – um wieder zu den Nachkommen der Holocaustüberlebenden zurück zu kommen - auch deutlich, wie sehr die Kinder darunter leiden, dass ihre Eltern leiden. Eine Patientin sagte: „Wo kommen meine schwarzen Gefühle her? Ich weiß, dass sie von meiner Mutter kommen. Nicht wegen ihrer Krankheit, sondern wegen des Krieges, den sie durchmachte. Sie übertrug ihre Depressionen auf mich, ständig war ihr trauriges Gesicht vor mir, das Gefühl des Unglücklichseins, die stille Verzweiflung.“ (Kogan, 1998, S. 50)
Und eine andere Patientin sagte: “Meine ganze Kindheit stand unter dem Einfluss einer Vergangenheit, die nicht meine eigene war (…)“ (ebd., S. 75)

Das (unverarbeitete) Trauma der Eltern wirkte in deren Kindern fort. Kogan schreibt: „Häufig wurde das Kind von den Eltern unbewusst als „Container“ für ihr fragmentiertes Selbst und ihr Leid benutzt. Somit ist die Wahrnehmung der Gegenwart durch die Hüllen einer Vergangenheit deformiert, die nicht ihre eigene ist, sondern ihnen auferlegt wurde. Ihr Verhalten gehorcht einem Zwang, der ihnen nicht bewusst ist und der sie dazu verleitet, in einem überheizten Zimmer ein kleines Kätzchen zu töten, einen Unfall herbeizuführen, bei dem ein Kind stirbt, einen Vater zu verletzen, der bei einem Selbstmord zu Hilfe eilt. (…) Das Unbewusste dieser Patienten, das belagert, überfallen und besetzt wurde, beginnt nun [zuweilen] seinerseits zu töten, zu verletzen und zu verstümmeln. Meist wendet es sich jedoch gegen die Subjekte selbst. Beziehungen fallen auseinander, Liebe wird unmöglich, Glück ist verboten. Das Dunkel der polnischen Wälder bricht über die Söhne und Töchter der Überlebenden herein. Noch immer bringen die Stacheldrahtzäune den elektrischen Tod, wird ein Familienschlafzimmer zur Gaskammer. (…)“ (ebd., S. 16)

Kogan beschreibt mögliche Muster des Traumas, das von der einen Generation auf die andere übertragen wird.
1. Traumatisierung durch den Verlust des eigenständigen Selbstgefühls des Kindes (dazu sind oben einige Andeutungen zu finden)
2. Traumatisierung durch die Benutzung des Kindes als „Lebensretter“. oder auch als Werkzeug zur Wiederholung des elterlichen Traumas
3. Im-Stich-Lassen des Kindes oder auch emotionale Unzulänglichkeit des Elternteils als Traumatisierung.
4. Das Kind wird traumatisiert, weil ihm die Möglichkeit der Hoffnung und der Zukunft genommen wird. Die traumatische Botschaft an das Kind lautet: Die Welt ist ein böser Ort, voller Schmerz und Leid, ohne Hoffnung und Zukunft.
5. Traumatisierung in der Phantasie. Dieser Vorgang tritt ein, wenn das Kind in seinen endlosen Bemühungen, den Elternteil zu verstehen und ihn dadurch zu helfen, die Erlebnisse dieses Elternteils mitsamt ihren Begleitaffekten in der Phantasie nachzuerleben versucht. (ebd., S. 57ff + S. 245)

In der Nachbemerkung zum Buch heißt es, dass viele Kinder der Überlebenden auf Grund der Geschichte ihrer Eltern selbst zu Überlebenden geworden sind. Sie sind „Protagonisten im Drama ihrer Eltern.“ Kogan meint allerdings auch, dass in den Fällen, wo es den Eltern gelungen ist, Trauer- und Schuldgefühle über ihre traumatische Vergangenheit durchzuarbeiten und ihre Lebensgeschichte den Kindern auf eine gesunde Weise zu vermitteln, „die Kinder viel weniger dazu neigen, in ihrer psychischen Realität ein „psychisches Loch“ zu erleben.“ (ebd., S. 253) Hier liegt ein wichtiger Hinweis zum Schlüssel dafür, wie die Weitergabe von Destruktivität an nachfolgende Generationen unterbunden werden kann.
Mir fiel beim Lesen der Forschung über die Kinder der Holocaust-Überlebenden auf, wie sich hier erneut das Konzept wiederfindet, das Arno Gruen stets beschreibt: Die Entwicklung eines authentischen Selbst der Kinder der Überlebenden wurde unmöglich gemacht, sie wurden viel mehr durch „das Fremde“, durch die Erlebnisse und das Trauma ihrer Eltern bestimmt. Für die Kinder war letztlich gar kein Raum mehr da, dieser wurde gänzlich von der Vergangenheit ausgefüllt. Dies erzeugte eine enorme Destruktivität in ihrem eigenen Leben (und auch wiederum in ihren Familien), die nur durch eine therapeutische Bearbeitung überwunden werden konnte. Das Beispiel „Kinder von Holocaustüberlebenden“ ist sicherlich ein Extrembeispiel. Es verdeutlicht allerdings die Weitergabe von Destruktivität an nachfolgende Generationen und es macht auch sehr deutlich, dass es den für Kinder verantwortlichen Erwachsenen gut gehen muss, damit es auch ihren Kindern gut gehen kann.

Was für Folgen mag das Trauma Krieg oder konkret bzgl. der jüngsten europäischen Geschichte der 2. Weltkrieg für die nachfolgenden Generationen gehabt haben? Es scheint auf den ersten Blick eine „Black Box“ zu sein. Doch irgendwie bekommt man eine Ahnung davon, dass sich dergleichen Erfahrungen und Erlebnisse der Kriegsgeneration nicht einfach in Luft auflösen und auf die ein oder andere Art ihre Schatten warfen und vielleicht auch weiterhin werfen.



[1] Bründl (1998) beschreibt in seinem Beitrag an Hand eines Fallbeispiels die psychischen Probleme von Kindern, deren Eltern ein Fluchttrauma erlitten haben.
Dazu möchte ich eine Information anmerken:
Etwa 14 Millionen Deutsche sind während des 2.Weltkrieges vertrieben worden. Ca. zwei Millionen von ihnen kamen während der Flucht und Vertreibung um. In den 50erJahren war jeder fünfte Bundesbürger ein Flüchtling oder Vertriebener. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004b, S. 156)



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