Weltweit ist ein unabgeschlossener kapitalistischer Transformationsprozess traditional strukturierte Lebenswelten (Zerfall traditionaler Vergesellschaftungsformen und ein andauernder sozialer Wandel) hin zu einer (modernen) kapitalistischen Weltgesellschaft zu beobachten, der einhergeht mit (sozialen) Widersprüchen, Gegensätzen und Konflikten. Dieser Transformationsprozess betrifft alle erdenklichen Bereiche wie z.B. zwischenmenschliche Beziehungen, materielle Produktionsweisen, Geschlechtsrollen, Familie, Kunst, Religion, Politik usw. und er bildet die Grundlage für erhebliche Konflikte. Ein wesentlicher (ggf. destruktiv wirkender) Konflikt – z.B. Konflikte um die Grenzziehung zwischen weltlichem und religiösem Geltungsbereich - ist dabei das in- und nebeneinander von alt und neu (im einzelnen Menschen wie auch in der Gesellschaft und zwischen verschiedenen Gesellschaften), von traditionalen und modernen Vergesellschaftungsformen (im „Hamburger Ansatz“ heißt dies dann „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, siehe auch ausführlich Conrad (2002) ). (Als bildliches, zugegeben sehr reduziertes, aber verständlich machendes Beispiel stelle ich mir dabei z.B. ganz einfach eine Stadt in Afrika oder Asien vor, in der eine verschleierte Frau traditionell hinter ihrem Mann gehend an einem Coca Cola Schild im Hintergrund und einer jungen, modern gekleideten unverschleierten Frau vorbeigeht und dabei mit einem Handy telefoniert. Dieses in- und nebeneinander von alt und neu in einer Gesellschaft, aber auch über Grenzen hinweg ist es, was hier in diesem Konzept u.a. angesprochen ist. Mögliche gesellschaftliche Reibungspunkte werden hier deutlich)
Solche Spannungen auf Grund beschriebener Widersprüche treffen auf Entwicklungsgesellschaften in großem Maße zu, können aber durchaus auch innerhalb der weitgehend neuzeitlichmodernen Gesellschaften des Westens vorgefunden werden. (vgl. Conrad, 2002, S.23)
Beispiele für die mögliche Wirkungsweise solcher Spannungen sind Rückgriffe auf religiöse, ethnische, sprachliche oder regional vermittelte Identitäten, die als Widerstand gegen das Neue, gegen die Moderne herhalten und damit einhergehend Traditionalismus, Fundamentalismus, Rassismus und tendenziell Gewalt fördern können.
Diese gesellschaftlichen Transformationsprozesse allein sind als Erklärungsmuster für kriegerisches Handeln allerdings nicht ausreichend. „Denn sie geben noch keinen Aufschluss über die subjektiven Gründe des konfliktiven Handelns der Akteure. Diese Kernfrage der Kriegsursachenforschung, wie nämlich die im globalen Vergesellschaftungsprozess induzierten Widersprüche auf Seiten der Akteure mit Ideen und Weltbildern verknüpft werden, kann nur auf der Grundlage des Analysekonzeptes »Grammatik des Krieges« beantwortet werden. Die »Grammatik des Krieges« zerlegt den kriegsursächlichen Prozess in die vier systematischen Analyseebenen: Widerspruch – Krise – Konflikt – Krieg.“ (Schneider / Schreiber / Wilke, 1997)
Die Wiederspruchebenen habe ich oben bereits kurz dargestellt, diese kennzeichnen den strukturellen Hintergrund bzw. objektive Gründe für das Handeln von Akteuren. Diese Wiedersprüche können – laut „Hamburger Ansatz“ - nur kriegsursächlich werden, „wenn sie auf der Ebene Krise einen Anknüpfungspunkt in den Weltbildern und Ideen der Akteure finden und ein Umschlag von Objektivität in Subjektivität erfolgt.“ (ebd.) Oder übersetzt: Gesellschaftliche Wiedersprüche müssen bei den Menschen auch zu einer (inneren) Krise führen bzw. subjektiv als Krise wahrgenommen werden, damit die „Grammatik des Krieges“ ins Rollen kommt und auf der Ebene „Konflikt“ dann letztlich das „Verhalten“ dazukommt. Es kommt auf dieser Verhaltensebene (Eskalationsprozess).dann zu Protesten, Auseinandersetzungen, gewalttätigen Zusammenstößen usw. (Oftmals eine Art Gegenbewegungen bezogen auf zukünftig gefürchtete Modernisierungsprozesse) Auf der Kriegsebene schließlich verselbständigt sich nach diesem Konzept allmählich die Gewalt und wird schließlich selbst zu ihrer Ursache (Krieg wird ggf. zum Selbstzweck). Oftmals verschwimmen in der Realität die Ränder dieser vier Stadien, die sich somit nicht einwandfrei unterscheiden lassen.
Es ist – wie bereits beschrieben - die Grundthese des Hamburger Ansatzes, dass die zeitgenössischen Kriege aus dem konfliktiven Aufeinandertreffen von traditionalen und modernen Sozialformen zu erklären sind bzw. dass dies getreu der „Grammatik des Krieges“ zu (sozialen und letztlich individuellen) Krisen führt, die sich auf die Gesellschaft ausweiten können.
Traditionsbrüche hatten und haben für viele Menschen in der Tat tiefgreifende Konflikte, Desorientierungen und Sinnleere zur Folge. Bzgl. des Modernisierungsprozesses im 19. Jahrhundert bis vor dem ersten Weltkrieg spricht de Visser (1997) beispielsweise davon, dass Individuen zurückblieben, die es nicht gewohnt waren, selbstständig über den Sinn ihrer Existenz nachzudenken, und die es deshalb nicht aushalten konnten, ein Individuum zu sein. Eine neue Sinnstiftung musste her, insbesondere wenn der Zerfall traditioneller Orientierungen nicht als Chance sondern als Bedrohung angesehen wurde. Eine (ideologische) Weltanschauung - de Visser bezieht sich vor allem auf die NS-Zeit - , die ein geschlossenes Gesamtbild von Welt (wieder)herstellt, versprach dem Einzelnen, bestehende Konflikte und Spannungen abzubauen und hatte somit eine entlastende Funktion. Der Verehrung der Kriegsidee (sowie auch Antisemitismus und Rassismus) kommt in diesem Rahmen nach de Visser eine große Bedeutung zu. (vgl. de Visser, 1997, S. 61ff)
Der „Hamburger Ansatz“ beschreibt sehr gut und systematisch o.g. gesellschaftliche Prozesse und ist auch empirisch gut abgesichert. Spannend ist, dass die ForscherInnen hier eine wahre und überall in der Welt zu beobachtende „Dynamik“ kennzeichnen, dabei aber eben diese Dynamik als Ursache von Krieg meinen erkannt zu haben. Diese Theorie unterstellt meinem Verständnis nach also, dass die krisenhafte und schließlich kriegerische Reaktion auf Konflikte und Wiedersprüche so man will „menschlich“ ist bzw. sie geht nicht weiter in die (psychologische) Tiefe. Die „Grammatik des Krieges“ soll die Entstehung von kriegerischem Verhalten auch auf der subjektiven Ebene erklären und die Theorie „rund machen“. Ich empfinde den „Hamburger Ansatz“ allerdings als unvollständig. Gerade in der Frage: Warum handelt der Einzelne unter bestimmten gespannten gesellschaftlichen Verhältnissen kriegerisch? bieten psychoanalytische Erklärungsansätze in Zusammengang von (kindlichen) Gewalterfahrungen wesentliche, grundlegende Erkenntnisse. Beim Umschlag von „Objektivität in Subjektivität“ (siehe oben) ist die Schnittstelle zwischen Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse zu finden, so meine ich.
Wie oben gezeigt reduziert sich die Identität des Kindes durch die erzwungene Anpassung an äußere Umstände und die Identifikation mit den (destruktiven) Eltern, was zunächst das seelische Überleben des Kindes sichert. Wenn Identität eine grundlegende Konstellation von immanenten Persönlichkeitsmerkmalen ist, dann deuten diese Beobachtungen darauf hin, dass viele Menschen keine solche Identität besitzen und von einem inneren Fremdsein bestimmt sind. (vgl. Gruen, 2000).
Wenn ein gesellschaftlicher Rahmen auseinander fällt bzw. sich transformiert, wird eine Persönlichkeit, die aus äußeren sozialen Rollen, gesellschaftlichen Positionen, vorgefertigten (traditionellen) Identitätspaketen usw.[1] besteht in ihren Grundfesten erschüttert und der alte Terror der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins und der Scham tauchen wieder auf. Zusätzlich bringt Freiheit Angst mit sich, wenn Identität auf der Identifikation mit der Autorität basiert. Solche Menschen müssen dann, laut Gruen (2000), das Opfer in sich selber mit Gewalt gegen Andere verdecken. An anderer Stelle schreibt Arno Gruen passend: „Das auf Spaltung beruhende Selbst kann seinen Zusammenhalt nicht mehr bewahren, wenn es von sozialen Umwälzungen bedroht ist. Beginnt sich die soziale Struktur aufzulösen, bricht die unterdrückte Wut hervor. Dann offenbaren sich die mörderischen Impulse und das innere Chaos, die nur mittels eines äußeren „Feindes“ kanalisiert werden können.“ (Gruen, 1990, S. 114)
Untersuchungen zur „Autoritären Persönlichkeit“ weisen zusätzlich nach, dass entsprechend geprägte Menschen nicht in der Lage sind, sich unabhängig von externen Druck an elementaren moralischen Standards zu orientieren. (vgl. Christel / Hopf, 1997, S. 32) Unter „externen Druck“ kann sicher auch die traditionelle Einbettung und entsprechende soziale Kontrolle von Individuen verstanden werden, die sich im modernen Transformationsprozess weiter auflöst und somit destruktive Potentiale freisetzt.
Ähnliches gilt bzgl. Untersuchungen über unsicher-gebundene Kinder, die im Vergleich zu sicher-gebundenen Kindern z.B. über geringere Empathie, geringeres Selbstwertgefühl und über geringere Ressourcen und Flexibilität bei der Bewältigung ihrer Umwelt und schwieriger Situationen verfügen. (ebd., S. 53ff) Diese Kinder werden vermutlich (auch in ihrem späteren Leben) tendenziell größere Probleme mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen haben und diese eher als eine Krise bzw. einen tiefgehenden Konflikt erleben und evtl. destruktiv darauf reagieren. Die gleichen Schlussfolgerungen ergeben folgende Informationen, wie ich meine: Studien zur Auswirkung von körperlicher Gewalt zeigen, dass misshandelte Kinder im Vergleich zu nicht-misshandelten Kindern ein niedrigeres Selbstbewusstsein besitzen, weniger soziale Kompetenz haben, geringere verbale und kognitive Fähigkeiten aufweisen und eine stärkere Gewaltbereitschaft zeigen (vgl. Melzer / Lenz./ Ackermann, 2002, S. 847)
Gewalterfahrungen innerhalb der Familie üben auch laut Schneider (1998) wesentliche Einflüsse auf die Entwicklung von Wertvorstellungen beim Kind aus. Sie stehen in Beziehung zu der Bejahung des Einsatzes von Gewalt als Mittel der Problemlösung im Erwachsenenalter. (vgl. Schneider, 1998, S 338) Auch hier findet sich weitergedacht also die Information, dass nicht die Probleme oder die Konflikte die entscheidenden Faktoren bei der Entstehung von Gewalt sind, sondern die kindlichen Vorerfahrungen eine wesentliche Rolle bei der Reaktion auf Probleme spielen. Schneider schreibt: „Die Familie, die Gewalt in der Kindererziehung einsetzt, wird (...) auf mannigfache Weise zum sozialen Trainingsfeld der Gewalt. Da Gewalt gegen Kinder ein außerordentlich weit verbreitetes Phänomen darstellt, ist zu befürchten, dass sie über die von dem einzelnen erlernten Werte das gesamtgesellschaftliche Wertgefüge zugunsten einer Befürwortung eines wie auch immer begrenzten oder unbegrenzten Einsatzes von Gewalt beeinflusst.“ (ebd., S. 338)
Van der Kolk & Streeck-Fischer (2002) stellen fest: „Wenn Kinder traumatisiert werden, konstruieren sie eine katastrophische „Landkarte“ von der Welt, in der Unterschiede und Probleme nicht durch Aushandeln, sondern durch Gewaltanwendung oder Unterwerfung gelöst werden. Die Sicherheit der frühen Beziehungen bestimmt also die Anpassung eines Kindes an spätere Herausforderungen der Umgebung und prägt den künftigen Umgang mit Belastungen nachhaltig.“ (Van der Kolk & Streeck-Fischer, 2002, S. 1024)
Die Konfrontation mit Gewalt wirkt sich auf die Informationsverarbeitung des Kindes und seine Interpretation künftiger bedrohlicher Erfahrungen aus. Eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion ist laut den genannten AutorInnen bei traumatisierten Kindern oft ein „automatischer Reflex“ auf bedrohliche oder unklare Situationen (dies gilt insbesondere für Menschen ohne sonstige Ressourcen und wenn das Trauma nicht therapeutisch bearbeitet und verarbeitet wurde), die mit einer Erinnerung an ein frühes Trauma verbunden sind. (ebd., S. 1025ff + S.1034ff) „Viele traumatisierte Menschen zeigen ein oberflächlich unauffälliges Verhalten, was aber nur bedeutet, dass sie eine oberflächliche Anpassung an ihre Umgebung erreicht haben, die solange funktioniert, wie sie nicht emotional erregt werden; sobald sie sich bedroht fühlen, bricht diese Anpassung zusammen. Diese Unterscheidungen sind wichtig für die Untersuchung von Gruppenprozessen in Schulen und Einrichtungen sowie bei gewalttätigen Jugendlichen wie z.B. Jugendbanden.“ (ebd., S. 1029)
Diese Prozesse werden von o.g. AutorInnen nur auf kleinere Gruppen übertragen. Gesellschaftliche Transformationsprozesse und entsprechende Widersprüche (Hamburger Ansatz), die in größeren Zusammenhängen stehen, können meiner Auffassung nach auch als „bedrohliche und unklare Situationen“ aufgefasst werden, sie bringen Erinnerungen an Ohnmacht, Hilflosigkeit und Vernichtungsangst mit sich. Erwachsene, die sich als Kinder sicher fühlen konnten und durften, deren Entwicklung freundlich gefördert wurde, die ein Vertrauen in die Welt aufbauen konnten, die lernen konnten, dass schwierige Situationen zu meistern und zu bewältigen sind usw. werden auch später mit schwierigen gesellschaftlichen Situationen besser zurechtkommen und unwahrscheinlicher mit Gewalt und Destruktivität darauf reagieren.[2]
Sehr interessant sind auch Überlegungen von deMause (2005), der von einer (individuellen und kollektiven) „Wachstumspanik“ ausgeht, die auf Grund früher Traumatisierungen und destruktiver Erziehung entsteht.(vgl. deMause, 2005, S. 72ff + 96ff) Gesellschaftliche Veränderungen, Erhöhung des Wohlstandes, wirtschaftlicher Erfolg usw. ermöglichen den Menschen einen Zuwachs an Möglichkeiten der individuellen Lebensführung. Gerade der Eigensinn und der individuelle Wille vieler Kinder wurde aber einst durch destruktive Eltern stark beschränkt oder oftmals mit Gewalt ganz unterbunden. Freies Wachstum wurde nicht toleriert. Destruktive Eltern beschimpfen ihre Kinder und werfen ihnen z.B. vor, „verwöhnt“, „gierig“, „sündig“, „selbstsüchtig“, „undankbar“, „unanständig“ und „außer Kontrolle“ zu sein (wenn diese ganz normale kindliche Bedürfnisse zeigen und in ihrer Entwicklung fortschreiten, die Kinder selbstständiger werden wollen usw.) und rechtfertigen so Bestrafungen und Liebesentzug. Dadurch entstehen bei den Einzelnen und dann letztlich auch bei Gruppen u.a. Fantasien wie: „Wenn ich wachse und mich vergnüge, wird etwas schreckliches passieren.“ oder „Wenn wir wachsen, werden wir nie das sein, was Mami und Papi wollen, das wir sein sollten, und wir werden ihre Liebe niemals bekommen.“ Es entstehen Ängste des Verlassenwerdens. Der voranschreitende gesellschaftliche Fortschritt und Wandel baut einen unerbittlichen Druck auf, „und es fließen Erinnerungen an Erniedrigungen in der Kindheit zurück ins Bewusstsein, während die umhertreibenden Ängste auf externe Giftcontainer warten.“ (ebd., S. 103). Grundsätzlich gilt nach deMause: „Je primitiver der dominante Kindererziehungsmodus einer Gesellschaft, umso mehr muss Wachstumsangst abgewehrt werden.“ (ebd., S. 98) Eine Form der Abwehr ist das Finden von Feinden und Sündenböcken (als „Giftcontainer“). Diese „Feinde“ können im Inneren – Minderheiten, Kriminelle, Frauen, Kinder usw. – oder nach Außen hin gesucht werden.[3] Das Finden von Feinden im Inneren gelingt mit zunehmenden sozialen Forschritt (nach deMause vor allem ausgelöst durch „entwickeltere Psychoklassen“, die eine fortschrittlichere Kindheit genießen duften) allerdings immer weniger. „(...) Alte Formen der Abwehr stehen nicht mehr zur Verfügung, und die Menschen können diverse Sündenböcke nicht mehr in der gleichen Art wie zuvor dominieren und bestrafen – Ehefrauen, Sklaven, Dienstboten, Minderheiten. Die weniger fortschrittlichen Psychoklassen – die Mehrheit der Gesellschaft – beginnen eine enorme Wachstumspanik zu erleben, und neue Wege müssen gefunden werden, mit diesen Ängsten umzugehen. Für sie findet überall Veränderung statt; die Dinge scheinen außer Kontrolle zu geraten. (...)“ (ebd., S. 96ff)
Die Abwehr wird dann – nach deMause - an die Führer eines Volkes delegiert (vor allem bzgl. äußerer „Feinde“), diese nehmen intuitiv wahr (besonders, wenn sie selbst eine destruktive Erziehung durchlebt haben), dass sie „Gegengifte gegen Wachstumspanik“ bereitstellen sollen. „Es ist die primäre Aufgabe eines Führers, die kollektiven emotionalen Probleme seines Volkes zu verkörpern und zu versuchen, diese aufzulösen.“ (ebd., S. 101) Wenn sich eine äußere Nation entsprechend auf Provokationen einlässt, die Rolle des „Feindes“ bereitwillig annimmt, Demütigungen gegen die eigene Nation ausspricht (so wie man als Kind von den Eltern gedemütigt wurde) usw. (deMause beschreibt z.B. wie der Irak zum „äußern Feind“ der USA wurde und Politiker diesen Weg beförderten, um die „Wachstumspanik“ der Amerikaner abzuwehren) kommt es ggf. zum Krieg (und vorher schon zu einer enormen Erleichterung: „Aha! Ich wusste, der Feind war real und nicht nur in meinem Kopf.“). Krieg ist demnach ein Opferritual, „dazu bestimmt, Angst vor Individuation und Verlassenwerden abzuwehren, indem unsere frühen Traumata an Sündenböcken wiederaufgeführt werden.“ (ebd., S. 65)
Spannend sind hier auch weitere Parallelen, die letztlich nur unterschiedlich gedeutet werden, zwischen deMause (Psychohistorie) und dem „Hamburger Ansatz“. Auch deMause spricht von „Ungleichzeitigkeit“, allerdings vor allem in Bezug auf verschiedene Kindererziehungspraktiken und in Folge dieser bzgl. verschiedener „Psychoklassen“. (An dieser Stelle sei auch an Kapitel 2. erinnert, in dem deutlich wurde, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Erziehungspraktiken im Westen und denen in traditionelleren Gesellschaften gibt) Die wesentliche (politische/gesellschaftliche) Konfliktlinie liegt hier zwischen definierten „Psychoklassen“, die sich gewaltig voneinander unterscheiden, die ganz andere Wertesysteme und eine andere Sicht auf Freiheit besitzen usw. Bei den „Hamburgern“ ist es außerdem vor allem der „kapitalistische Transformationsprozess“, der im Zentrum ihrer Sicht steht und für gesellschaftliche Veränderungen verantwortlich sei. Bei deMause ist die Kindheit der zentrale Fokus für psychische und soziale Evolution Im „Hamburger Ansatz“ heißt es schließlich, dass die benannte Theorie mit fortschreitender Zeit auch immer mehr zutreffen würde. Bei deMause ließt sich dies dann so: „Der Großteil der Welt ist immer noch am Sprung in die Moderne, wird gerade erst frei, demokratisch und wohlhabend, ist aber hinsichtlich Kindererziehung noch nicht modern – insofern durchlaufen diese Nationen nun den gleichen schweren Wachstumspanikprozess, den Deutschland in der Mitte des 20. Jahrhunderts durchmachte. Wir können deshalb in den kommenden Jahrzehnten höhere Todesraten durch Krieg und Demozid in den sich entwickelnden Ländern erwarten.“ (ebd., S. 164ff)
Der bekannte und viel diskutierte „Hamburger Ansatz“ könnte um diese o.g. „Wurzeln“ ergänzt werden, um dann einen komplexeren Erklärungsrahmen für das aktuelle Kriegsgeschehen abliefern zu können. Der kriegerische Umgang mit Konflikten und Krisen ist meiner Ansicht nach nicht „typisch menschlich“ oder mögliche Konsequenz einer entsprechenden gesellschaftlichen Dynamik, sondern ein wesentliches Produkt der destruktiven Erziehung und den Verfehlungen und Versäumnissen in selbiger. Bildlich gesprochen beschreibt nach meinem Empfinden der „Hamburger Ansatz“ in seiner jetzigen Form nur den Zündfunken, der alles zur Explosion bringt. Das Dynamit (die destruktive Kindheitsgeschichte) übersieht er gänzlich. Zündfunken wird es in unserer Welt allerdings immer geben. Entscheidender ist, dass wir das Dynamit beseitigen. Unter langfristig präventiven Aspekten gesehen meine ich, - um auf das alte Bild zurück zu kommen -, dass nur Pflanzen mit „gesunden Wurzeln“ auch weniger anfällig für „schlechte Umweltbedingungen“ sind.
[1] Das zentrale Kriterium für die Lebensbewältigung war in früheren (europäischen) Zeiten die Übernahme vorgefertigter (traditioneller) Identitätspakete. (vgl. Keupp, 1999) Keupp spricht bzgl. des Modernisierungsprozesses in Anlehnung an Giddens von gesellschaftliche Phasen, in denen die individuelle Lebensführung in einen stabilen kulturellen Rahmen von verlässlichen Traditionen "eingebettet" wird, der Sicherheit, Klarheit, aber auch hohe soziale Kontrolle vermittelt und es dagegen Perioden der "Entbettung" gebe (siehe auch Transformationsprozess im Hamburger Ansatz!), in denen die individuelle Lebensführung wenige „kulturelle Korsettstangen“ nutzen kann bzw. von ihnen eingezwängt wird und eigene Optionen und Lösungswege gesucht werden müssen Viele Menschen würden dies (auch auf die heutige Zeit bezogen z.B. durch das Brüchigwerden der Identitätsbildung durch Erwerbsarbeit) als "ontologische Bodenlosigkeit" erleben bzw. sie erleben sich als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne dass ihnen fertige Drehbücher geliefert würden. Ohne die erforderlichen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen würde die gesellschaftliche Notwendigkeit und Norm der Selbstgestaltung zu einer schwer erträglichen Aufgabe, der man sich gerne entziehen möchte.
[2] Häufig wird bzgl. dem Entstehen von Gewalt und auch Rechtsextremismus als Ursache Arbeitslosigkeit, Armut und sozial schwierige Situationen genannt. Die im Text genannten Erkenntnisse weisen auch hier darauf hin, dass dieser Ansatz letztlich zu oberflächlich ist und um psychoanalytische Ansätze ergänzt werden müsste. Demnach wäre auch hier die Arbeitslosigkeit nur der Zündfunke, der die Gewalt zum Explodieren bringt. Dazu auch ein Zitat aus einer Schweizer Studie zur Entstehung von Rechtsextremismus, die sogar ökonomische Einflussfaktoren nahezu ausschließt: „Thomas Gabriel hält fest, dass die Jugendlichen und ihre Familien nicht als «Modernisierungsverlierer» bezeichnet werden können, also entgegen den Behauptungen bisheriger Forschungen keine Opfer von ökonomischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen seien. In den 26 untersuchten Fällen lasse sich ein hohes Mass an «Normalität» der Lebensentwürfe und - welten nachweisen. Hingegen spielten häusliche Gewalt und die Folgen von Konflikten im sozialen Nahraum eine wichtige Rolle, insbesondere dann, wenn sie für die Heranwachsenden mit Misshandlungs- und Ohnmachtserfahrungen verbunden seien.“ (Schweizer Nattonalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, 2008)
[3] Eine andere Form der Abwehr ist nach deMause die „Interne-Opfer-Lösung“ z.B. in Form einer Revolution oder einer ökonomischen Depression und Rezession, die unbewusst von den Menschen selbst herbeigeführt wird, um das Wachstum und damit verbundene Ängste abzuschwächen.
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