Ich möchte ein weiteres Indiz für die Folgen von Krieg bzw. den Zusammenhang bzgl. dem „Kreislauf der Gewalt“ hinzufügen, denn auch Kinder erleiden in Kriegssituationen u.U. vielfältige Traumata. Psychologische Untersuchungen, die an Kindern in Sarajevo nach dem (Bürger-)Krieg vorgenommen wurden, ergaben beispielsweise, dass 5 % so extrem traumatisiert waren, dass sie klinisch behandelt werden mussten, 15 % wiesen schwere und 50 % mittelschwere Traumatisierungen auf. (vgl. amnesty journal, 11/2006) Andere Quellen geben bzgl. der Folgen des Bosnienkrieges an, dass 64 % der Kinder an traumatischen Störungen leiden, 24 % davon an schweren psychosomatischen Folgen. Im Kinderberatungszentrum der zweitgrößten bosnischen Stadt Banja Luka waren von 1992 bis 1994 insgesamt 14.995 Kinder in Behandlung. Sie zeigten
Sprach- und Verhaltensstörungen, Neurosen, Apathie, Angst,
Lernschwierigkeiten sowie emotionale Störungen. (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S. 57)
Der Krieg endete 1995, doch die Folgen sind immer noch spürbar. Die Hilfsorganisation „Wings of Hope“ beobachtete eine Veränderung der Symptome bei Kindern und Jugendlichen. Unmittelbar nach dem Krieg litten die Kinder u.a. unter Alpträumen, Bettnässen und Trennungsängsten. Jahre danach äußerte sich die Traumatisierung durch Lern- und Konzentrationsstörungen, aggressiven Verhalten, psychosomatischen Störungen, Drogenproblemen usw. (vgl. amnesty journal, 11/2006) Es gibt laut diesem Bericht also eine Veränderung der Folgen bei diesen untersuchten „Kriegskindern“ hin zu selbst- und fremdschädigendem Verhalten. Und. „Die Psychologen beobachten inzwischen sogar die Weitergabe nicht verarbeiteter Traumata der Erwachsenen an die nächste Generation – so zum Beispiel bei Kindern, die erst nach dem Krieg geboren sind, und die voller Hass auf andere Bevölkerungsgruppen reagierten.“ (ebd.)
Ein daueraktuelles Beispiel ist auch der Israel-Palästina-Konflikt. (Im Folgenden werde ich mich an Hand der Quelle auf palästinensische Kinder konzentrieren, was natürlich nicht bedeutet, dass nicht auch auf der israelischen Seite Kinder schweres Leid erfahren.) Die palästinensischen Kinder sind einer ständigen Angst ausgesetzt. Sie werden Zeugen der Bombardements und des panikartigen Verhaltens ihrer Eltern. Das Ergebnis dieser Situation ist, dass 40 % der Kinder glauben, ihre Eltern könnten sie nicht mehr schützen. Von 3.000 befragten Heranwachsenden bestätigten außerdem 55 %, dass sie hilflose Zeugen waren, wie ihr Vater von israelischen Soldaten geschlagen wurde. Fast 32 % der Kinder haben starke posttraumatische Störungen. Von 945 untersuchten Kindern litten alle an einem direkten oder indirekten Trauma sowie den Folgen posttraumatischer Störungen (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S.51ff)
„Besonders beunruhigend ist, dass 24 % der palästinensischen Kinder davon träumen als Märtyrer zu sterben, also Selbstmordattentäter zu werden. Das ist beängstigend, denn jeder Selbstmordattentäter von heute ist ein Kind der ersten Intifada. Und wenn die Kinder der ersten Intifada schon so traumatisiert sind, dass allein 24 % von ihnen Märtyrer werden wollen, dann kann man sich vorstellen, was für zukünftige Politiker, Lehrer und Richter wir in diesem Land haben werden.“ (ebd., S.55) (Interessant wäre es, die palästinensischen Kinder zusätzlich zu Gewalterfahrungen in ihren Familien zu befragen und evtl. Zusammenhänge zwischen kumulierten traumatischen Erfahrungen und eigenen Gewaltfantasien und –handlungen herauszufinden.)
Ich möchte hier nicht unterstellen, dass alle Kinder, die Krieg erlebt haben, wiederum zu Gewalt (gegen sich und andere) neigen werden. Eine solche These würde das menschliche Potential und die Komplexität der Wirklichkeit verleugnen. Dass Kriegskinder allerdings schwerwiegende Folgen für den Rest ihres Lebens mit sich tragen werden, ist wahrscheinlich. Wenn dieses Leid nicht aufgearbeitet und bestenfalls verarbeitet wird, erhöht sich – so meine ich – auch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich eine gewisse Destruktivität im Leben der späteren Erwachsenen ausbreitet, die sich schlimmstenfalls auch auf die Kinder der Kriegskinder auswirken könnte.
Unter „Kriegskindern“ in Deutschland werden die Geburtsjahrgänge zwischen 1930 und 1945 verstanden. Dabei handelt es sich folglich um mehrere Generationen. Fünfzehn Jahrgänge sind angesiedelt zwischen der Flakhelfergeneration und der auf der Flucht Geborenen. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004b, S.162)
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Homepage www.kriegskinder.de (Projekt zur Therapie Kriegstraumatisierter, insbesondere bezogen auf die Kriegskinder des 2.Weltkriegs) hinweisen, auf der sich umfangreiche Informationen zum Thema finden und von der auch folgendes Zitat stammt:
„Krieg hat massive Folgen, insbesondere für Kinder. Anders als Erwachsene sind sie nicht in der Lage, das militärische Geschehen in einen politischen Zusammenhang zu bringen. Sind schon Erwachsene mit der Verarbeitung von Erlebnissen wie Bombardierung, Lebensbedrohung, Flucht und Verfolgung überfordert, trifft dies auf Kinder noch mehr zu. Sie sind einerseits unmittelbar von den Kriegsgräueln betroffen, haben aber weniger körperliche und psychische Kräfte, um die Katastrophe durchzustehen. Sie erleben andererseits den Verlust des Schutzes der elterlich Fürsorge. Ihre Eltern können ihnen Sicherheit und Geborgenheit nicht mehr geben, weil sie selbst mit Existenzbedrohung und Angst kämpfen. In ihrer Not, sich das Unverstehbare begreifbar zu machen, entwickeln Kinder Vorstellungen eigener Schuld an diesem Geschehen. Sie bauen Rachephantasien auf, stumpfen seelisch ab, entwickeln eine Vielzahl von Symptomen (Albträume, sich aufdrängende Schreckensbilder, Angstzustände, Wutanfälle, körperliche Krankheiten, ...), verlieren den Lebensmut und die Grundüberzeugung, dass das Leben verstehbar abläuft.“ (Öffentliche Erklärung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Lindauer Psychotherapiewochen 2003, http://www.kriegskinder.de/lindauer_erklaerung.htm)
Zusätzliche Belastungen prägen die Lebenssituation von Kindern in der Nachkriegszeit. Viele Kinder sorgten beispielsweise nach Ende des 2. Weltkrieges in Deutschland für ihre durch Ausbombung, Verlust des Mannes oder Vergewaltigung „emotional erstarrten Mütter“ (Parentifizierung) und schafften es dadurch nicht, eigene Entwicklungsaufgaben wahrzunehmen. Kehrte der abwesende, häufig idealisierte Vater zerrüttet aus der Gefangenschaft zurück, war er meist nicht in der Lage, Vaterfunktionen wahrzunehmen. Durch die starke Bindung an die hilfsbedürftigen Eltern konnten die Kriegskinder ihre affektiven (seelischen) Fähigkeiten nicht gut ausbilden. Die kognitiven Fähigkeiten dagegen waren bei dieser Generation meist sehr gut ausgeprägt. Viele sitzen heute an Schaltstellen in Politik und Wirtschaft. (vgl. Ärzteblatt, 2005)
Schönfeldt (2006) weist schon auf frühe Belastungen von Säuglingen hin: „(...) in der Realität des Krieges werden viele Säuglinge in den Augen ihrer Mütter auch das Entsetzen gesehen haben, wenn die Mutter die Nachricht vom Umgebracht-Werden oder „Gefallen-Sein“ des Vaters bekommt, oder die Entwürdigung nach Vergewaltigungen oder die unendliche Angst bei Bombenangriffen oder vielleicht auch die mehr oder weniger bewusste Scham, wenn sie die Misshandlung der Juden sah. Ich denke, dass – solange den Kindern noch nicht gänzlich der ihnen angeborene Instinkt zerstört worden ist – sie auch das verdrängte Entsetzen der Mütter bzw. Eltern haben spüren können – die unbewusste Wechselseitigkeit. Viele meiner Klientinnen der nächsten Generation litten unter Schuldgefühlen oder Scham, aber waren sich nicht bewusst, warum und woher.“ (Schönfeldt, 2006, S.239) Schönfeldt behandelt in ihrem Text ausführlich weitere Folgen für die Kriegskindergeneration, deren Kinder und Kindeskinder, die hier nicht in Gänze dargestellt werden können, aber auf die ich hiermit verweise.
Das Thema „Kriegskinder“ scheint ein weitgehend unbearbeitetes, verdrängtes Thema deutscher Nachkriegsgeschichte zu sein (siehe o.g. Homepage). Erst Ende der 90er Jahre schien die Zeit dafür reif zu sein, dass allmählich der Blick auf die Opfer gerichtet wird, die während des Krieges Kind waren. (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004b, S.161)
Die Folgen dürften allerdings erheblich gewesen sein. Einzelne Zahlenbeispiele verdeutlichen die Dimensionen: Rund 300.000 Kinder (meist Kleinkinder) wurden in den Kriegswirren von ihren Familien getrennt, vor allem auf den Flüchtlingstrecks aus dem Osten. (vgl. ARD Bericht zum Film „Suchkind 312“, http://www.daserste.de/suchkind312/allround_dyn~uid,sue0zitsvjrynrz1~cm.asp)Was allein diese (kurz- bis auch langfristige) Trennung von den Eltern bei diesen Kindern an Ängsten etc. bewirkt hat, lässt sich nur erahnen.
Der Zweite Weltkrieg hinterließ auch 1,8 Millionen Witwen und 2,5 Millionen Halbwaisen in Deutschland. Circa 20 bis 25 Prozent der damaligen Kinder/Jugendlichen (geboren zwischen 1929 und 1945) wuchsen Schätzungen zufolge unter dauerhaft beschädigten familiären, sozialen und materiellen Bedingungen auf, weitere 25 bis 30 Prozent unter lange anhaltenden vergleichbaren Bedingungen. (vgl. Ärzteblatt, 2004) Etwa ein Drittel der Kinder dieser o.g. Altersgruppe galt als traumatisiert, ein weiteres Drittel machte belastende Erfahrungen, für ein weiteres Drittel galt all dies nicht. (vgl. SPIEGEL-Online, 14.01.2008) Die damaligen Kriegskinder haben natürlich unterschiedliche Erfahrungen gemacht bzw. diese unterschiedlich verarbeitet.
Abschließend möchte ich noch kurz auf das besondere Schicksal von „Kindersoldaten“ hinweisen. Zu jeder Zeit sind mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren - sowohl Mädchen wie Jungen - in den Streitkräften und bewaffneten Oppositionsgruppen von mehr als 30 Ländern als Soldaten im Kampfeinsatz. Weltweit erhalten Millionen Kinder militärisches Training und werden in Jugendbewegungen und Schulen indoktriniert. (vgl. Globaler Bericht über Kindersoldaten, 2001) Ihre Erfahrungen mit Hass, Gewalt und Zerstörung hinterlassen tiefe Spuren in den kindlichen Seelen. Das Leid dieser „Kriegskinder“ möchte ich durch ein Zitat verdeutlichen:
„Ich habe sehr viel Blut gesehen und das hat mir sehr weh getan. Mein Problem ist, dass ich nichts Rotes mehr sehen kann. Dann werde ich sofort nervös und bin wütend und ängstlich zugleich. Ich kann kein Blut mehr sehen, ich hasse die Farbe Rot.“ (Sandra, eine ehemalige kolumbianische Kindersoldatin zitiert nach Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S.26)
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Sonntag, 26. Oktober 2008
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2 Kommentare:
Www.kriegsenkel.de zeigt viele dieser von Ihnen so gut skizzierten Folgen für die nächste Generation auf. Es zeigt auch, dass psychische Gewalt, Isolation und insbesondere fehlende Gefühle / Empathie bzw.unterdrückte Gefühle die Erziehung unserer Generation, der heute 40-50jährigen prägte.
Sehr guter Blog, Kompliment!!
Susanne
hallo Susanne,
den Link kannte ich schon, trotzdem ist dies ein wichiger Infohinweis für dieses Kapitel, isofern danke dafür und danke auch für die nette kritik :-)
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