(Idealtypische) Historische Kindererziehungspraktiken und Persönlichkeiten nach Lloyd deMause, 2005, S. 278ff + S. 183ff
gekürzte Beschreibung:
1a. Früher Infantizidmodus (Schizoide Psychoklasse); Zeit: Tribalismus, Banden und Stämme:
Primitive Elternschaft; sehr wenig Empathie für das Kind; Vater ist grundsätzlich in den ersten Jahren emotional abwesend; offener Inzest; Kindesvergewaltigungen; sehr häufig Kindestötungen; Körperverstümmelungen; Folterungen; emotionale Verstoßung; die Folgen sind zersplitterte Persönlichkeiten, vollkommen unfähig, sich selbst zu lieben; Schizoide können keine engen Beziehungen aushalten und sind folglich nicht in der Lage, höhere Stufen sozialer Organisation, die auf Vertrauen basieren, zu bilden.
1b. Später Infantizidmodus (Narzisstische Psychoklasse); Zeit: Altertum/Antike; von Königtümern bis zu frühen Staaten:
Kindestötungen immer noch häufig, ebenso sind Kindervergewaltigungen weiter Routine; allerdings wird das junge Kind nicht mehr so offen von der Mutter zurückgewiesen und der Vater fängt an, sich mehr mit Anleitungen des älteren Kindes zu beschäftigen; einengende Methoden wie das straffe Einwickeln vom Kleinkind finden Verbreitung, ebenso die Institutionalisierung von Fürsorge in Form von z.B. Ammen, In-Pflege-Geben, Verwendung von Kindern anderer als Sklaven und Diener usw.; das Verprügeln von Kindern ist weniger impulsiv und wird mehr als Disziplinierung verwendet.
2. Verstoßender Modus (Masochistische Psychoklasse); Zeit: Christentum, ab dem 1.Jahrhundert
Ausgehend vom Christentum bringen mehr Eltern ihre Kinder nicht um, sondern verstoßen sie, sowohl emotional als auch durch Weggeben zu Ammen, in Klöster usw.; vom Kind dachte man, es sei voll von Bösen auf die Welt gekommen und so wurde früher und härter geschlagen; vorherrschend war weiterhin eine missbrauchende Kinderfürsorge; jedoch konnten die frühen Christen zum ersten mal in der Geschichte hoffen, von ihren Müttern ein Stück weit geliebt zu werden, wenn sie diesen ihre (masochistischen) Leiden zeigten und deren Mitgefühl erregten.
3. Ambivalenter Modus (Borderline Psychoklasse); Zeit: Mittelalter, ab 12. Jh.:
Die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von Ambivalenz - Liebe und Hass - gegenüber Kindern ist ein großer Fortschritt in diesem Modus (die ersten Schritte in Richtung Unabhängigkeitsrechte für Kinder); weniger Kinder wurden verstoßen, Gesetze gegen Kindervergewaltigung in Erwägung gezogen, die ersten Kinderschutzgesetze erlassen und die Schulbildung und Kindermedizin erweitert; die meisten Mütter weisen ihre Kinder aber immer noch zurück; das Kind wurde als weniger von Geburt an sündig und böse gesehen; die Verbesserung der Kindererziehung in diesem Modus erlaubte die Entdeckung des Individuums, nach deMause kam der technische und gesellschaftliche Forschschritt dieser Zeit wesentlich durch diese Verbesserungen in Gang.
4. Aufdringlicher Modus (Depressive Psychoklasse); Zeit: Renaissance, ab 16. Jh.: Das straffe Wickeln von Kleinkindern ging zurück, ebenso das Verprügeln und Vergewaltigen; die Wohlhabenden fingen an, ihre Kinder selbst aufzuziehen und erlaubten sich emotionale Bindungen an das Kind; speziell in England (zugleich am fortschrittlichsten entwickelte sich auch die Kindererziehung in Frankreich) wurde versucht, das Wachstum von Kindern nicht mehr zu unterbinden, sondern dieses zu kontrollieren und das Kind gehorsam zu machen; es gab eine aufdringliche Überkontrolle; die Eltern kamen ihren Kindern aber näher und schenkten ihnen mehr Aufmerksamkeit; es gab getrennte Kinderbetten und Lebensweisen; Empathie setzte mit diesem Modus ein, das daraus folgende "Heilen von Dissoziation" und die Zunahme von Individuation brachte nach deMause die religiösen, wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Revolutionen der Zeit hervor; da die Mehrheit der Bevölkerung in Europa allerdings weiterhin aus früheren Psychoklassen bestand, antworteten diese mit Gewalt auf den großen gesellschaftlichen Fortschritt. "Historiker waren lange verwundert darüber, dass in den fortschrittlichsten Jahrhunderten eine Epidemie der Hexerei ausbrach, wenn man aber die Manie als Reaktion auf Wachstumspanik betrachtet, wird dies nachvollziehbar." (deMause, 2005, S. 299)
5. Sozialisierender Modus (Neurotische Psychoklasse); Zeit: Moderne, ab 18.Jh.:
Die Kinderzahl sank bei den meisten Eltern auf auf drei oder vier, weil die Eltern mehr in der Lage sein wollten, ihren Kindern mehr Pflege zuteil werden zu lassen; die elterliche Absicht war weiterhin, den Kindern ihre eigenen Ziele aufzudrücken, insbesondere geschah dies durch psychologische Manipulation und weiterhin auch durch körperliche Gewalt gegen kleine Kinder; das sozialisierte Kind besaß wesentlich mehr Freiheit und Respekt als das in jedem vorausgegangenen Modus; Mütter fingen an, die Fürsorge für die Kinder zu genießen und selbst die Väter begannen, mit den Kindern zu spielen und brachten ihnen Dinge bei; "Der sozialisierende Modus hat die moderne industrialisierte Welt geschaffen und ihre neuen Werte des Nationalismus und der Demokratie repräsentieren die sozialen Modelle der meisten Menschen heute, weil das Ende des Kinderprügelns der sozialisierten Persönlichkeit erlaubt, ihrem Bedarf, sich an einen autoritären Führer zu klammern, zu reduzieren." (deMause, 2005, S. 187)
6. Helfender Modus (Individualisierte Psychoklasse); Zeit: Postmoderne, ab 20. Jh.: Die hauptsächliche Rolle der Eltern besteht in der Hilfestellung für das Kind in jeder Altersstufe, was viel Aufwand, Zeit und Energie bedeutet; das erste mal sind Kinder für die Eltern keine schwierige Aufgabe mehr, sondern eine Freude; sowohl Mutter als auch Vater sind vom Säuglingsalter an gleichwertig mit dem Kind befasst und helfen diesem, eine autonome, selbstbestimmte Person zu werden; die Kinder werden bedingungslos geliebt und werden nicht geschlagen; wenn Eltern unter Stress Fehler begehen und ihre Kinder z.B. anbrüllen, entschuldigen sie sich danach bei ihnen; diese so behandelten Kinder sind wesentlich empathischer gegenüber anderen Menschen in der Gesellschaft als frühere Generationen; "Es ist keine Frage, dass, würde die Welt Kinder nach dem helfenden Modus großziehen, Kriege und alle anderen selbstdestruktiven sozialen Bedingungen, unter denen wir im 21.Jahrhundert immer noch leiden, getilgt sein würden, weil die Welt einfach mit individualisierten Persönlichkeiten gefüllt sein würde, die empathisch gegenüber anderen und nicht selbstdestruktiv wären." (ebd., S. 305)
Diese vorgestellten Kindererziehungsmodi sind laut deMause durch fünf historische Studien und über 100 wissenschaftliche Artikel im Journal of Psychohistory bestätigt worden. (Wie ich in einem Text hier herausgestellt habe, könnte zur Unterstützung dieser Thesen auch die bedeutende Studie von Philippe Aries herangezogen werden, die leider oftmals als gegensätzlich zu deMause dargestellt wird) Heute existieren auch in modernen Nationen Eltern aus allen sechs Kindererziehungsmodi nebeneinander, was gewaltige Konflikte ergeben kann. Die meisten destruktiven Konflikte auf der Welt sind demnach im Grunde "Psychoklassenkonflikte".
Eine Tabelle unter wikipedia.org zeigt die Verteilung der "Psychoklassen" (Tabelle entnommen aus http://en.wikipedia.org/wiki/Psychohistory, ursprüngliche Quelle: DeMause, L. 1982: Foundations of Psychohistory. Creative Roots Publishing. S. 61 + 132–146. (Persönlicher Hinweis: Da diese Tabelle Anfang der 80er Jahre von deMause erstellt wurde, dürfte sich die Verteilung im letzten Abschnitt mittlerweile etwas verändert haben. Schließlich hat sich innerhalb der letzten 30 Jahre enorm viel zu Gunsten von Kindern entwickelt.)
Die Evolution von Psyche und Gesellschaft - folgend dem o.g. idealtypischen Muster - ging laut der psychogenen Theorie in der Geschichte hauptsächlich von sich veränderten Kindererziehungspraktiken aus. Die Vaterrolle ist dabei historisch betrachtet eine sehr späte Erfindung (der Moderne). Frauen (Großmütter, Tanten, Ammen, Dienerinnen usw.) bzw. Mütter waren hauptsächlich für die Kindererziehung verantwortlich. Demnach postuliert nur diese Theorie, dass für den größten Teil der Geschichte Frauen die wesentliche Ursache historischer Veränderungen und von sozialem Forschritt sind. (ebd. S. 177, S. 218) "Was wie ein Wunder scheint, (...) ist, dass Mütter über die gesamte Geschichte hindurch langsam und erfolgreich, ohne große Hilfe von anderen, gegen ihre Angst und ihren Hass ankämpften und es ihnen gelungen ist, die liebende und empathische Kindererziehung zu entwickeln, welche wir heute bei vielen Familien rund um die Welt finden können." (ebd., S. 218)
deMause, L.2005: Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec.
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AntwortenLöschenEigentlich ein Wunder, dass sich Menschen in früheren Zeiten unter diesen Bedingungen überhaupt weiter vermehren konnten, also so be- / misshandelte Kinder überhaupt so alt wurden, dass sie selbst wieder Kinder bekommen haben.
AntwortenLöschenHallo Anonym,
AntwortenLöschenes gibt, denke ich, keine Säugetiere, die überleben würden, wenn ihre Eltern sie so behandeln würden, außer uns Menschen. Der Mensch, vor allem auch das Kind, haben einen unglaublichen Überlebenswillen. Der Preis ist die Abspaltung lebendiger Emotionen, mit allen destruktiven Folgen.