Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie die Psychohistorie das Bewusstsein schärft. Das gilt für mich im Alltag und beim Lesen von Medienartikeln (wenn z.B. mal wieder von Feinden als „Krebsgeschwür“ die Rede ist, das man entfernen muss) und aktuell nach einem Beitrag, den ich auf ARTE TV gesehen habe. Dort wurde das Bild "Dame im Bad" von François Clouet (ca. 1571) besprochen. Das Bild zeigt im Vordergrund die adlige Diana von Poitiers:
In dem Bild finden sich gleich zwei wichtige Hinweise bzgl. der Kindererziehung vergangener Zeit.
1. Der Säugling wird von einer Amme gestillt
2. Der Säugling wurde sehr straff eingewickelt
Lloyd DeMause hat vielfach nachgewiesen, dass wohlhabende Frauen in der Geschichte routinemäßig ihre Kinder nicht gestillt haben, sondern zu Ammen gaben. Mehr noch, sie gaben sie wirklich weg. Nach den Ammen kümmerten sich Kindermädchen etc. um sie. Mutter und Kind (der Vater sowieso) wurden so systematisch voneinander entfremdet.
Das sehr straffe (monatelange) Einwickeln von Kindern ist ein Akt von Terror gegen den Säugling und dies kann nicht ohne Folgen bleiben.
DeMause (2005: Das emotionale Leben der Nationen, S. 144) hat darauf hingewiesen, dass die derart eingewickelten Säuglinge (er bezieht sich in dem Fall auf Deutschland) ergänzend oftmals in dunklen Räumen hingelegt wurden und für sich blieben.
Ich denke, man muss sich einmal vorstellen, wie sich dies für einen selbst (als Erwachsener) anfühlen würde. Man stelle sich vor, man würde derart verschnürt, wie auf dem Bild „Dame im Bad“ zu sehen ist. Nur zum Essen würde sich jemand zuwenden, danach würde man so verschnürt für sich bleiben, bis zu nächsten Mahlzeit, das ganze über Monate...
Vor einigen Jahren habe ich einen Bericht aus Afghanistan (leider keine genaue Quellenangabe, weil ich diese vergessen habe) gesehen, wo genau diese Praxis in einem Dorf weiterhin gängig war (inkl. dem Verbleiben des Säuglings alleine in einem dunklen Raum). Eine Entwicklungshelferin versuchte über die Dorfältesten die Praxis vor Ort zu beenden.
Aber schon ein allgemeiner Bericht über das „Wickeln“ auf Wikipedia zeigt, dass diese Praxis so oder so ähnlich auch heute noch nicht ausgestorben ist. Effekt für die Eltern: Die Säuglinge sind ruhiger und schlafen mehr. Über das Empfinden des Säuglings wird sich dabei hinweggesetzt. Die Reaktion des Säuglings wird auf Wikipedia so beschrieben. „Viele wehren sich zunächst gegen das Gewickelt-Werden, geben aber dann schnell auf und werden passiv.“ Was sollen sie auch anderes machen? Sie haben keine andere Wahl. Auch ein Erwachsener, der so eingewickelt würde, würde irgendwann aufgeben und sich psychisch ausschalten.
Wie schön, dass es heute viele Eltern gibt, die sich ganz natürlich darauf einstellen, dass nach der Geburt eines Kindes Unruhe und Schlaflosigkeit auf sie zukommen und die das einfach annehmen und sich kümmern. Ich las einmal eine Geburtsanzeige in einer Zeitung. Darin stand der Name des Kindes und der Eltern (inkl. Bild) und der Satz "Wir sind ab sofort auch nachts zu erreichen!"
Das weltweite, enorme Ausmaß vielfältiger Gewalt gegen Kinder und die An- oder auch Abwesenheit von Mitgefühl sind für mich zentrale Aspekte der Kriegsursachen-/Extremismusforschung, denen ich hier nachgehen möchte. Meine Grundfrage lautet: Wie politisch war und ist Kindheit?
Dienstag, 15. Dezember 2015
Freitag, 11. Dezember 2015
Die Menschheit wird immer friedlicher!
Kurz vor Ende des Jahres wird es Zeit für einen positiven Ausblick, trotz aller Abgründe, mit denen ich mich im Blog befasse.
Aktuell hat das Amnesty Journal seiner Ausgabe 01/2016 den schönen Titel "Alles wird gut" gegeben. In dem Heft findet sich auch ein Interview mit Steven Pinker und Statistiken (S. 35-37), die 5 positive Trends eindrücklich aufzeigen. Die Statistiken erfassen
- wie seit 1945 die Rate (pro Jahr) an weltweiten Kriegsopfern pro 100.000 Einwohner wellenartig sinkt und seit Ende der 1980er Jahre tendenziell gegen Null tendiert (mit einer leichten Aufwärtskurve ab 2010 in Richtung ca. 2 Opfern pro 100.000 Einwohner auf der Welt)
- wie die Rate an Opfern von Vergewaltigung und sexueller Gewalt, wie auch Gewalt in der Partnerschaft pro 100.000 Frauen seit 1994 deutlich sinkt
- wie die Hinrichtungsrate in den USA pro 100.000 Einwohner seit 1650 stark sinkt (von ca. 3 auf annähernd Null)
- wie die Mordrate seit dem Jahr 1300 in Europa bahnbrechend gesunken ist (von je nach Land ca. 25 bis über 60 pro 100.000 Einwohner auf annähernd null bis 2000)
- wie Homosexualität seit 1800 stetig entkriminalisiert wurde.
Das Buch "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit" von Steven Pinker hatte ich im Blog bereits besprochen.
Der Zusammenschluss WHO/UNODC/UNDP hat 2014 einen Bericht (Global status report on violence prevention 2014) vorgelegt, der ein weiteres Absinken der weltweiten Mordraten zwischen 2000 und 2012 feststellt. Weltweit ist die jährliche Mordrate (pro 100.000 Einwohner) in diesem Zeitraum um 16 % gefallen: von 8 auf 6,7. In den reichen Ländern fiel sie im selben Zeitraum überdurchschnittlich um 39 %, in Schwellenländern um 13 % und in den armen Ländern um 10 %. (S. 12) (Ergänzende Anmerkung: In Deutschland liegt die Mordrate derzeit bei ca. 0,8 Morden pro 100.000 Einwohnern) Das Besondere an diesem Bericht ist auch, dass ab Seite 85 unzählige Länderberichte aufgeführt sind. Diese gleichen statistisch bzw. per Datenblatt ab, in wie weit Gesetze und Gewaltpräventionsprogramme vorhanden sind, um die Menschen vor Ort zu schützen. Dabei geht es um mehr, als nur um Mord, es geht um alle Formen von Gewalt, um speziellen Kinder-/Jugendschutz wie auch den besonderen Schutz von Frauen vor Partnergewalt oder auch den besonderen Schutz von älteren Menschen. Die UN hat jüngst ja auch ihre "Agenda 2030" vorgestellt.
Es scheint wirklich so, als ob die Weltgemeinschaft es ernst meint. Sie sammelt vergleichbare Daten und Länder, die z.B. kaum etwas gegen Gewalt unternehmen, geraten unter Druck.
Aktuell hat das Amnesty Journal seiner Ausgabe 01/2016 den schönen Titel "Alles wird gut" gegeben. In dem Heft findet sich auch ein Interview mit Steven Pinker und Statistiken (S. 35-37), die 5 positive Trends eindrücklich aufzeigen. Die Statistiken erfassen
- wie seit 1945 die Rate (pro Jahr) an weltweiten Kriegsopfern pro 100.000 Einwohner wellenartig sinkt und seit Ende der 1980er Jahre tendenziell gegen Null tendiert (mit einer leichten Aufwärtskurve ab 2010 in Richtung ca. 2 Opfern pro 100.000 Einwohner auf der Welt)
- wie die Rate an Opfern von Vergewaltigung und sexueller Gewalt, wie auch Gewalt in der Partnerschaft pro 100.000 Frauen seit 1994 deutlich sinkt
- wie die Hinrichtungsrate in den USA pro 100.000 Einwohner seit 1650 stark sinkt (von ca. 3 auf annähernd Null)
- wie die Mordrate seit dem Jahr 1300 in Europa bahnbrechend gesunken ist (von je nach Land ca. 25 bis über 60 pro 100.000 Einwohner auf annähernd null bis 2000)
- wie Homosexualität seit 1800 stetig entkriminalisiert wurde.
Das Buch "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit" von Steven Pinker hatte ich im Blog bereits besprochen.
Der Zusammenschluss WHO/UNODC/UNDP hat 2014 einen Bericht (Global status report on violence prevention 2014) vorgelegt, der ein weiteres Absinken der weltweiten Mordraten zwischen 2000 und 2012 feststellt. Weltweit ist die jährliche Mordrate (pro 100.000 Einwohner) in diesem Zeitraum um 16 % gefallen: von 8 auf 6,7. In den reichen Ländern fiel sie im selben Zeitraum überdurchschnittlich um 39 %, in Schwellenländern um 13 % und in den armen Ländern um 10 %. (S. 12) (Ergänzende Anmerkung: In Deutschland liegt die Mordrate derzeit bei ca. 0,8 Morden pro 100.000 Einwohnern) Das Besondere an diesem Bericht ist auch, dass ab Seite 85 unzählige Länderberichte aufgeführt sind. Diese gleichen statistisch bzw. per Datenblatt ab, in wie weit Gesetze und Gewaltpräventionsprogramme vorhanden sind, um die Menschen vor Ort zu schützen. Dabei geht es um mehr, als nur um Mord, es geht um alle Formen von Gewalt, um speziellen Kinder-/Jugendschutz wie auch den besonderen Schutz von Frauen vor Partnergewalt oder auch den besonderen Schutz von älteren Menschen. Die UN hat jüngst ja auch ihre "Agenda 2030" vorgestellt.
Es scheint wirklich so, als ob die Weltgemeinschaft es ernst meint. Sie sammelt vergleichbare Daten und Länder, die z.B. kaum etwas gegen Gewalt unternehmen, geraten unter Druck.
Montag, 7. Dezember 2015
Terror, Aufstand der Gedemütigten und die Sehnsucht nach dem eigenen Tod
Momentan komme ich kaum dazu, alle Medienberichte zu verarbeiten, die für diesen Blog von Interesse sind. Ich fasse also hiermit einige Details zusammen.
Der Anschlag von San Bernardino (USA) wurde von einem Pärchen verübt, das danach auf der Flucht erschossen wurde. Über den Mann, Seyd F., ist bereits einiges bzgl. seiner Kindheit bekannt geworden.
"Etwas mehr wissen die Behörden über Seyd F. Der 28-Jährige hat ebenfalls pakistanische Eltern, wurde aber in den USA geboren. Er hatte eine schwierige Kindheit, sein Vater war Alkoholiker und quälte die Familie. In den Scheidungspapieren gab seine Mutter an, von ihrem Mann einmal vor ein Auto gestoßen worden zu sein." (Spiegel-Online, 05.12.2015, Anschlag von San Bernardino: Das mysteriöse Terrorpärchen - von Veit Medick)
In diesen kurzen Informationen stecken bereits die Erklärungen dafür, warum Menschen überhaupt zu Massenmördern werden können. Seyd erlebte offensichtlich schwere Gewalt und ergänzend alle Konflikte, die Kinder von Suchtkranken erleiden. Sein Vater ging so weit, dass er die Mutter umbringen oder schwer verletzen wollte, in dem er sie vor ein Auto stieß. Man mag sich entsprechend gar nicht vorstellen, was hinter den Worten „er quälte die Familie“ alles steckte.
Auf die Kindheit einer weiteren Person möchte ich an dieser Stelle eingehen. Hasna Ait Boulahcen kam nach den Terroranschlägen von Paris in ihrem Versteck um. Vorher hatte sie noch mit einer Kalaschnikow auf Spezialkräfte der französischen Polizei geschossen. Sie ist die Cousine von Abdelhamid Abaaoud, dem Drahtzieher der Pariser Terrorserie.
Als Sie noch ein Kleinkind war, trennten sich die Eltern und sie blieb bei der Mutter. „Aber die Mutter war überfordert, sie schlug die Kleine, vernachlässigte sie, wie französische Medien berichteten. Hasna war acht Jahre alt, als sie in eine Pflegefamilie kam.“ (faz.net, 20.11.2015, „Die Terroristin mit den vielen Gesichtern“ - von Michaela Wiegel)
Sie war ca. 14 Jahre alt und klatsche Beifall, als sie am 11. September 2001 vor dem Fernseher saß, erinnert sich ihre Pflegemutter. Das Verhältnis zwischen Pflegemutter und Hasna verschlechterte sich danach Zusehens. „Hasna haute immer häufiger aus der Pflegefamilie ab, verbrachte ihre Nächte woanders.“ (ebd.)
Ulrich Ladurner hat eine interessante Kolumne in der ZEIT geschrieben. Titel: „Die Internationale der Beleidigten“ (07.12.2015). Darin geht es kurz gesagt um das beobachtbare Phänomen, dass sich Staatschefs (von Putin über Holland bis Erdoğan) gedemütigt fühlen und kriegerisch reagieren. Er schreibt zugespitzt: „Unter den selbst ernannten Gedemütigten dieser Welt sind die Terroristen des "Islamischen Staates" jene, die sich am schlimmsten von allen behandelt fühlen. Ihr pubertäres Ego ist so groß, dass ihnen die bestehende Welt wie eine Zwangsweste erscheint. Daraus leiten Sie das Recht zur besonderen Grausamkeit ab.“
Seine Analyse finde ich treffend. Leider hat er nicht die Verknüpfung zu Kindheitserlebnissen gemacht. Dies würde die Analyse rund machen. Die IS-Terroristen fühlen sich in der Tat (pathologisch) schwer gedemütigt. Dies spricht sehr dafür, dass sie auch extreme und häufige Demütigungen in der Kindheit erlebt haben.
Ergänzend erschien ebenfalls in der ZEIT ein interessanter Artikel unter dem Titel „Aus Sicht der Täter“ (03.12.2015). Zwei ehemalige IS-Kämpfer kamen in dem Artikel direkt zu Wort. Einer sagt wörtlich: „Der IS ist ein gottloser Geheimdienststaat unter dem Deckmantel der Religion. Die Ideologen haben uns unseren Krieg gestohlen. Sie sind radikal. Sie kommen, um zu sterben. Sie wollen nicht siegen, sie wollen zu Gott.“
Dieser Satz sollte uns allen zu denken geben! Denn die Aktionen des IS wirken insgesamt betrachtet wie ein einziger angekündigter, kollektiver Suizid, vor dem man noch einmal so viel Gräueltaten anrichten möchte, wie nur irgend möglich. Auch diese Beobachtung macht klar, dass die Ursachen für dieses Verhalten unter Zuhilfenahme der Psychotraumatologie betrachtet werden müssen.
Der Anschlag von San Bernardino (USA) wurde von einem Pärchen verübt, das danach auf der Flucht erschossen wurde. Über den Mann, Seyd F., ist bereits einiges bzgl. seiner Kindheit bekannt geworden.
"Etwas mehr wissen die Behörden über Seyd F. Der 28-Jährige hat ebenfalls pakistanische Eltern, wurde aber in den USA geboren. Er hatte eine schwierige Kindheit, sein Vater war Alkoholiker und quälte die Familie. In den Scheidungspapieren gab seine Mutter an, von ihrem Mann einmal vor ein Auto gestoßen worden zu sein." (Spiegel-Online, 05.12.2015, Anschlag von San Bernardino: Das mysteriöse Terrorpärchen - von Veit Medick)
In diesen kurzen Informationen stecken bereits die Erklärungen dafür, warum Menschen überhaupt zu Massenmördern werden können. Seyd erlebte offensichtlich schwere Gewalt und ergänzend alle Konflikte, die Kinder von Suchtkranken erleiden. Sein Vater ging so weit, dass er die Mutter umbringen oder schwer verletzen wollte, in dem er sie vor ein Auto stieß. Man mag sich entsprechend gar nicht vorstellen, was hinter den Worten „er quälte die Familie“ alles steckte.
Auf die Kindheit einer weiteren Person möchte ich an dieser Stelle eingehen. Hasna Ait Boulahcen kam nach den Terroranschlägen von Paris in ihrem Versteck um. Vorher hatte sie noch mit einer Kalaschnikow auf Spezialkräfte der französischen Polizei geschossen. Sie ist die Cousine von Abdelhamid Abaaoud, dem Drahtzieher der Pariser Terrorserie.
Als Sie noch ein Kleinkind war, trennten sich die Eltern und sie blieb bei der Mutter. „Aber die Mutter war überfordert, sie schlug die Kleine, vernachlässigte sie, wie französische Medien berichteten. Hasna war acht Jahre alt, als sie in eine Pflegefamilie kam.“ (faz.net, 20.11.2015, „Die Terroristin mit den vielen Gesichtern“ - von Michaela Wiegel)
Sie war ca. 14 Jahre alt und klatsche Beifall, als sie am 11. September 2001 vor dem Fernseher saß, erinnert sich ihre Pflegemutter. Das Verhältnis zwischen Pflegemutter und Hasna verschlechterte sich danach Zusehens. „Hasna haute immer häufiger aus der Pflegefamilie ab, verbrachte ihre Nächte woanders.“ (ebd.)
Ulrich Ladurner hat eine interessante Kolumne in der ZEIT geschrieben. Titel: „Die Internationale der Beleidigten“ (07.12.2015). Darin geht es kurz gesagt um das beobachtbare Phänomen, dass sich Staatschefs (von Putin über Holland bis Erdoğan) gedemütigt fühlen und kriegerisch reagieren. Er schreibt zugespitzt: „Unter den selbst ernannten Gedemütigten dieser Welt sind die Terroristen des "Islamischen Staates" jene, die sich am schlimmsten von allen behandelt fühlen. Ihr pubertäres Ego ist so groß, dass ihnen die bestehende Welt wie eine Zwangsweste erscheint. Daraus leiten Sie das Recht zur besonderen Grausamkeit ab.“
Seine Analyse finde ich treffend. Leider hat er nicht die Verknüpfung zu Kindheitserlebnissen gemacht. Dies würde die Analyse rund machen. Die IS-Terroristen fühlen sich in der Tat (pathologisch) schwer gedemütigt. Dies spricht sehr dafür, dass sie auch extreme und häufige Demütigungen in der Kindheit erlebt haben.
Ergänzend erschien ebenfalls in der ZEIT ein interessanter Artikel unter dem Titel „Aus Sicht der Täter“ (03.12.2015). Zwei ehemalige IS-Kämpfer kamen in dem Artikel direkt zu Wort. Einer sagt wörtlich: „Der IS ist ein gottloser Geheimdienststaat unter dem Deckmantel der Religion. Die Ideologen haben uns unseren Krieg gestohlen. Sie sind radikal. Sie kommen, um zu sterben. Sie wollen nicht siegen, sie wollen zu Gott.“
Dieser Satz sollte uns allen zu denken geben! Denn die Aktionen des IS wirken insgesamt betrachtet wie ein einziger angekündigter, kollektiver Suizid, vor dem man noch einmal so viel Gräueltaten anrichten möchte, wie nur irgend möglich. Auch diese Beobachtung macht klar, dass die Ursachen für dieses Verhalten unter Zuhilfenahme der Psychotraumatologie betrachtet werden müssen.
Freitag, 4. Dezember 2015
Wie Extremismus entsteht - "Ich fühle mich wie ein Stück Dreck" versus "diese dreckigen Ungläubigen"
In der ZDF Sendung „Mona Lisa“ vom 28.11.2015 (Die Radikalisierung verhindern „Ich wollte zum IS“) zeigte sich fast in modellhafter Reinform, warum junge Menschen aus Europa in den Bann von Islamisten gezogen werden. Die Prozesse und Kindheitshintergründe gleichen denen, die in Sekten vorherrschen. Labilen jungen Menschen wird Halt, Anerkennung, Gemeinschaft, ja sogar Zugehörigkeit zu einer Elite versprochen. Gleichzeitig werden Feindbilder und Hassobjekte angeboten. Besonders empfänglich für diese Botschaften sind Menschen, die als Kind Demütigungs- und Gewalterfahrungen ausgesetzt waren und die – so würde es Arno Gruen beschreiben – keine eigene Identität aufbauen konnten.
„ Cool, endlich tut mal jemand etwas gegen diese dreckigen Ungläubigen“, so hätte sich „Katrin“ (17 Jahre alt) nach eigenen Angaben noch bis vor Kurzem über die Anschläge in Paris gefreut, ist in dem Mona Lisa Beitrag zu hören.
Über ihre persönliche Biografie sagt sie: „Ich wurde sehr schlecht von meiner Familie behandelt. Regelmäßig wurde ich auch geschlagen. Von meinem Stiefvater so richtig mit blauen Augen, Nase angebrochen und Gehirnerschütterung. Und von meiner Mutter so Watschn ins Gesicht. Ich habe mich sehr erniedrigt gefühlt. Ich habe mich einfach wie ein Stück Dreck gefühlt.“
Erstaunlich. Im selben Beitrag zeigt sich, wie „das Stück Dreck“ (so fühlte sie sich) jetzt die Ungläubigen sind (siehe Zitat oben). Der ganze Hass und Selbsthass wurde von Katrin auf „die Anderen“ projiziert.
Als sie 13 Jahre alt war, wurde sie zudem von der Mutter rausgeworfen. Sie geriet als Jugendliche in eine schwere Krise, fühlte sich allein und fragte nach Sinn. Dann habe sie sich immer mehr mit dem Koran befasst. Ab 2014 habe sie dann übers Internet viele radikale Islamisten kennengelernt, die ihr Gemeinschaft, Anerkennung und eine Familie anboten. Und in der Tat habe sie über den Austausch ein Gefühl von Gemeinschaft verspürt. Eine ihrer besten Freundinnen ging schließlich zum IS nach Syrien, sie Katrin wollte dies Anfang 2015 auch. Dann traf sie aber auf einen Imam, der sie vom Gegenteil überzeugen konnte, sie blieb in Deutschland und brach mit den Radikalen.
Der Islamismus-Experten Ahmad Mansour hat kürzlich der Süddeutschen Zeitung ein Interview unter dem Titel „Radikalisierung ist ein Prozess, der glücklich macht“ (17.11.2015) gegeben. Er selbst hatte sich als junger Mensch radikalisiert und engagiert sich heute gegen Extremismus. Als er sich früher radikalisierte, habe ihn das glücklich gemacht, ihm ein Hochgefühl gegeben.
„Ich war ein Mensch, der endlich Freunde gefunden hatte, der endlich eine Aufgabe hatte. Und eine Möglichkeit, sich von seinem Elternhaus abzugrenzen. Ich gehörte auf einmal zu einer Elite.“
Wovor er sich bzgl. seiner Eltern abgrenzen wollte, bleibt Spekulation. Aber die Gefühle, die er beschreibt, sind enorm wichtig, um Extremismus und entsprechende Rekrutierungsprozesse zu verstehen. „Sie haben zunächst das Gefühl, angekommen zu sein, sich befreit zu haben, neu geboren zu sein.“, sagt Mansour. Auch dies ist ein wichtiger Satz. Das alte Ich wird ausgelöscht, wie neu geboren erhebt sich der Extremist, der nun einer Elite angehört, der endlich eine Identität besitzt.
„Diejenigen, die uns monokausale Erklärungen liefern, haben das Problem nicht verstanden.“, sagt er im Verlauf des Interviews, als er nach wiederkehrenden Motiven für die Radikalisierung gefragt wird. Ich selbst vertrete in der Tat eine monokausale Erklärung, aber andersherum gedacht. Ich glaube, dass als Kind durch Elternfiguren geliebte Menschen, die geborgen und gewaltfrei aufwachsen durften, eine reife und menschliche Identität entwickeln, inkl. einer reichhaltige Gefühlswelt. Diese Menschen spüren kein „Loch in ihrer Seele“, keine Zerrissenheit, keine Sinnlosigkeit, keinen Selbsthass, sie suchen keinen Halt, sondern stehen mit beiden Beinen und geradem Rücken im Leben. Sie kommen auch in sozial schwierigen Zeiten oder starken gesellschaftlichen Veränderungsprozessen nicht bedenklich ins Straucheln. Diese Menschen sind gänzlich unempfänglich für Rekrutierungsversuche oder Anwerbungsversuche durch Sekten oder Ideologen.
Die meisten als Kind gedemütigten Menschen werden ebenfalls nicht zu Extremisten (außer in kollektiven Ausnahmesituationen wie z.B. während der NS-Zeit). Es bedarf weiterer Einflussfaktoren, Zufällen und Bewegungen, Zeitgeist, politischen/sozialen Entwicklungen, persönlichen Ressourcen/Charaktereigenschaften etc. damit sie sich radikalisieren. Insofern glaube auch ich nicht an einen monokausalen Faktor (wie Misshandlungserfahrungen), der alleine zum Extremismus führt. Ich glaube aber an einen Faktor , der die Wahrscheinlichkeit zum Extremisten zu werden gegen Null senkt: Eine glückliche Kindheit. Dies bedeutet wiederum, dass alle Extremisten auf einem Fundament stehen, dass sich als „unglückliche Kindheit“ vereinfacht bezeichnen lässt. Ohne dieses Fundament wären grausame Taten und offener Hass nicht möglich.
„ Cool, endlich tut mal jemand etwas gegen diese dreckigen Ungläubigen“, so hätte sich „Katrin“ (17 Jahre alt) nach eigenen Angaben noch bis vor Kurzem über die Anschläge in Paris gefreut, ist in dem Mona Lisa Beitrag zu hören.
Über ihre persönliche Biografie sagt sie: „Ich wurde sehr schlecht von meiner Familie behandelt. Regelmäßig wurde ich auch geschlagen. Von meinem Stiefvater so richtig mit blauen Augen, Nase angebrochen und Gehirnerschütterung. Und von meiner Mutter so Watschn ins Gesicht. Ich habe mich sehr erniedrigt gefühlt. Ich habe mich einfach wie ein Stück Dreck gefühlt.“
Erstaunlich. Im selben Beitrag zeigt sich, wie „das Stück Dreck“ (so fühlte sie sich) jetzt die Ungläubigen sind (siehe Zitat oben). Der ganze Hass und Selbsthass wurde von Katrin auf „die Anderen“ projiziert.
Als sie 13 Jahre alt war, wurde sie zudem von der Mutter rausgeworfen. Sie geriet als Jugendliche in eine schwere Krise, fühlte sich allein und fragte nach Sinn. Dann habe sie sich immer mehr mit dem Koran befasst. Ab 2014 habe sie dann übers Internet viele radikale Islamisten kennengelernt, die ihr Gemeinschaft, Anerkennung und eine Familie anboten. Und in der Tat habe sie über den Austausch ein Gefühl von Gemeinschaft verspürt. Eine ihrer besten Freundinnen ging schließlich zum IS nach Syrien, sie Katrin wollte dies Anfang 2015 auch. Dann traf sie aber auf einen Imam, der sie vom Gegenteil überzeugen konnte, sie blieb in Deutschland und brach mit den Radikalen.
Der Islamismus-Experten Ahmad Mansour hat kürzlich der Süddeutschen Zeitung ein Interview unter dem Titel „Radikalisierung ist ein Prozess, der glücklich macht“ (17.11.2015) gegeben. Er selbst hatte sich als junger Mensch radikalisiert und engagiert sich heute gegen Extremismus. Als er sich früher radikalisierte, habe ihn das glücklich gemacht, ihm ein Hochgefühl gegeben.
„Ich war ein Mensch, der endlich Freunde gefunden hatte, der endlich eine Aufgabe hatte. Und eine Möglichkeit, sich von seinem Elternhaus abzugrenzen. Ich gehörte auf einmal zu einer Elite.“
Wovor er sich bzgl. seiner Eltern abgrenzen wollte, bleibt Spekulation. Aber die Gefühle, die er beschreibt, sind enorm wichtig, um Extremismus und entsprechende Rekrutierungsprozesse zu verstehen. „Sie haben zunächst das Gefühl, angekommen zu sein, sich befreit zu haben, neu geboren zu sein.“, sagt Mansour. Auch dies ist ein wichtiger Satz. Das alte Ich wird ausgelöscht, wie neu geboren erhebt sich der Extremist, der nun einer Elite angehört, der endlich eine Identität besitzt.
„Diejenigen, die uns monokausale Erklärungen liefern, haben das Problem nicht verstanden.“, sagt er im Verlauf des Interviews, als er nach wiederkehrenden Motiven für die Radikalisierung gefragt wird. Ich selbst vertrete in der Tat eine monokausale Erklärung, aber andersherum gedacht. Ich glaube, dass als Kind durch Elternfiguren geliebte Menschen, die geborgen und gewaltfrei aufwachsen durften, eine reife und menschliche Identität entwickeln, inkl. einer reichhaltige Gefühlswelt. Diese Menschen spüren kein „Loch in ihrer Seele“, keine Zerrissenheit, keine Sinnlosigkeit, keinen Selbsthass, sie suchen keinen Halt, sondern stehen mit beiden Beinen und geradem Rücken im Leben. Sie kommen auch in sozial schwierigen Zeiten oder starken gesellschaftlichen Veränderungsprozessen nicht bedenklich ins Straucheln. Diese Menschen sind gänzlich unempfänglich für Rekrutierungsversuche oder Anwerbungsversuche durch Sekten oder Ideologen.
Die meisten als Kind gedemütigten Menschen werden ebenfalls nicht zu Extremisten (außer in kollektiven Ausnahmesituationen wie z.B. während der NS-Zeit). Es bedarf weiterer Einflussfaktoren, Zufällen und Bewegungen, Zeitgeist, politischen/sozialen Entwicklungen, persönlichen Ressourcen/Charaktereigenschaften etc. damit sie sich radikalisieren. Insofern glaube auch ich nicht an einen monokausalen Faktor (wie Misshandlungserfahrungen), der alleine zum Extremismus führt. Ich glaube aber an einen Faktor , der die Wahrscheinlichkeit zum Extremisten zu werden gegen Null senkt: Eine glückliche Kindheit. Dies bedeutet wiederum, dass alle Extremisten auf einem Fundament stehen, dass sich als „unglückliche Kindheit“ vereinfacht bezeichnen lässt. Ohne dieses Fundament wären grausame Taten und offener Hass nicht möglich.
Freitag, 27. November 2015
Wie Fachmann an Kränkungen in der Kindheit vorbeisehen kann
Der Gerichtspsychiater Reinhard Haller hat Welt-Online (26.11.2015, "Die zerstörerische Macht der Kränkung") ein Interview gegeben. Anlass war sein neues Buch „Die Macht der Kränkung“. Haller hat bereits viel über „das Böse“, Serientäter und Verbrechen veröffentlicht.
Ich schreibe nicht oft etwas über JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und andere Fachmenschen, die die Kindheitseinflüsse bei der Analyse von Gewalt außen vor lassen, denn dann würde ich kaum noch dazu kommen, anderes zu schreiben. Bzgl. Haller möchte ich jetzt aber einiges anmerken.
In dem Interview geht er auf Massenmörder wie Anders Breivik ein, aber auch auf Adolf Hitler und einzelne Attentäter. Kränkungen sieht er als wesentliches Motiv für deren Taten. Allerdings geht er nicht auf Kränkungen, Demütigungen und Gewalterfahrungen in der Familie ein. In dem Interview sagt Reinhard Haller einen für mich unglaublichen Satz: „Adolf Hitler war schwer gekränkt, weil er als Straßenmaler verspottet wurde und im Arbeiterwohnheim leben musste. Aus dieser Jämmerlichkeit sprießt dann das Überkompensatorische wie das Tausendjährige Reich, der Übermensch et cetera.“ Danach geht er noch ergänzend auf die Kränkung durch den „Versailler Vertrag“ ein. Es ist unglaublich, dass ein Psychiater ernsthaft annimmt, solche Erlebnisse würden ausreichen, um zum Massenmörder zu werden! Zudem: Jeder, der einmal bei googel „Kindheit von Adolf Hitler“ eingibt, sollte innerhalb von 10 Minuten etwas über die täglichen Misshandlungen und ständigen Demütigungen seitens des Vaters in Hitlers Kindheit erfahren. Auch über Anders Breivik gibt es eindeutige Nachweise für eine unglaublich traumatische Kindheit. Dazu kam aber kein Wort vom Fachmann.
Für mich ist auf eine Art ein wenig verständlich, dass mit psychiatrischen Themen unerfahrene Fachmenschen wie PolitologInnen oder HistorikerInnen das Thema Kindheit außen vor lassen. Besonders erstaunt mich immer wieder, dass auch psychiatrische Fachleute oder PsycholgInnen an dem Thema vorbeischauen, Haller ist da nur einer von vielen.
Natürlich haben Kränkungen von Jugendlichen und Erwachsenen eine kumulative Wirkung oder auch tatauslösenden Charakter. Hallers Arbeit scheint also mehr zu beschreiben, dass als Kind durch Elternfiguren Gedemütigte später besonders reizbar sind (ohne dass er sich dessen bewusst zu sein scheint). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Ergebnis aus der Hirnforschung. „Wer aufgrund früherer, meist in den Kinderjahren erlittener Verletzungen keine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen fühlen kann, hat als Erwachsener bei schwierigen Alltagssituationen schneller als andere das Gefühl, abgelehnt oder verachtet zu werden. Er (oder sie) wird häufiger als andere Menschen eine »gefühlte Zurückweisung« erleben. Entsprechend schneller ist bei solchen Personen die Schmerzgrenze erreicht, und entsprechend steigt das Risiko einer aggressiven Reaktion.“ (siehe meine Buchbesprechung von Joachim Bauer, „Schmerzgrenze“)
Ich schreibe nicht oft etwas über JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und andere Fachmenschen, die die Kindheitseinflüsse bei der Analyse von Gewalt außen vor lassen, denn dann würde ich kaum noch dazu kommen, anderes zu schreiben. Bzgl. Haller möchte ich jetzt aber einiges anmerken.
In dem Interview geht er auf Massenmörder wie Anders Breivik ein, aber auch auf Adolf Hitler und einzelne Attentäter. Kränkungen sieht er als wesentliches Motiv für deren Taten. Allerdings geht er nicht auf Kränkungen, Demütigungen und Gewalterfahrungen in der Familie ein. In dem Interview sagt Reinhard Haller einen für mich unglaublichen Satz: „Adolf Hitler war schwer gekränkt, weil er als Straßenmaler verspottet wurde und im Arbeiterwohnheim leben musste. Aus dieser Jämmerlichkeit sprießt dann das Überkompensatorische wie das Tausendjährige Reich, der Übermensch et cetera.“ Danach geht er noch ergänzend auf die Kränkung durch den „Versailler Vertrag“ ein. Es ist unglaublich, dass ein Psychiater ernsthaft annimmt, solche Erlebnisse würden ausreichen, um zum Massenmörder zu werden! Zudem: Jeder, der einmal bei googel „Kindheit von Adolf Hitler“ eingibt, sollte innerhalb von 10 Minuten etwas über die täglichen Misshandlungen und ständigen Demütigungen seitens des Vaters in Hitlers Kindheit erfahren. Auch über Anders Breivik gibt es eindeutige Nachweise für eine unglaublich traumatische Kindheit. Dazu kam aber kein Wort vom Fachmann.
Für mich ist auf eine Art ein wenig verständlich, dass mit psychiatrischen Themen unerfahrene Fachmenschen wie PolitologInnen oder HistorikerInnen das Thema Kindheit außen vor lassen. Besonders erstaunt mich immer wieder, dass auch psychiatrische Fachleute oder PsycholgInnen an dem Thema vorbeischauen, Haller ist da nur einer von vielen.
Natürlich haben Kränkungen von Jugendlichen und Erwachsenen eine kumulative Wirkung oder auch tatauslösenden Charakter. Hallers Arbeit scheint also mehr zu beschreiben, dass als Kind durch Elternfiguren Gedemütigte später besonders reizbar sind (ohne dass er sich dessen bewusst zu sein scheint). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Ergebnis aus der Hirnforschung. „Wer aufgrund früherer, meist in den Kinderjahren erlittener Verletzungen keine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen fühlen kann, hat als Erwachsener bei schwierigen Alltagssituationen schneller als andere das Gefühl, abgelehnt oder verachtet zu werden. Er (oder sie) wird häufiger als andere Menschen eine »gefühlte Zurückweisung« erleben. Entsprechend schneller ist bei solchen Personen die Schmerzgrenze erreicht, und entsprechend steigt das Risiko einer aggressiven Reaktion.“ (siehe meine Buchbesprechung von Joachim Bauer, „Schmerzgrenze“)
Freitag, 20. November 2015
Attentat auf Henriette Reker. Die Kindheit des Täters.
In letzter Zeit habe ich mich in meinem Blog viel mit Rechtsextremismus befasst. Heute erfuhr ich etwas über die Kindheit von Frank S., der einen lebensgefährlichen Messerangriff auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker ausgeführt und auch weitere Menschen verletzt hat. Die Tat wurde als rechtsextrem eingestuft.
Frank S. ist als Kind von seinen Eltern schwer misshandelt und vernachlässigt worden, berichtet seine frühere Pflegemutter. Seine Hand war verbrannt, so die Frau, weil seine Eltern ein Bügeleisen auf ihn gepresst hatten. Er kam dann in ein Heim, später zu einer Pflegefamilie. "Auch seine Pflegefamilie hatte es den Schilderungen zufolge anfangs nicht leicht mit ihm. Laut der Pflegemutter soll er anfangs in ihrem Wagen randaliert und in der Familie jeden angespuckt haben." (Focus.de, 26.10.2015, "Freunde hatte er nie": So war die Kindheit von Reker-Attentäter Frank S.)
Die Kindheitshintergründe entschuldigen nichts (!), sie erklären aber den Hass und den Wahn des Täters. Solche Menschen fühlen sich durch Stimmungen in der Großgruppe berufen, etwas zu unternehmen. Wenn eine Gesellschaft zu einem beträchtlichem Teil aus Menschen besteht, die als Kind schwere Gewalt durch Elternfiguren erlebt haben (wie in Nah Ost oder in Afrika), dann kann unter bestimmten Umständen daraus mehr entstehen. Wenn sich Feindbilder finden, die emotional die meisten einst Gedemütigten ansprechend und sie sich emotional auf eine Art verbinden, steigt die Gefahr hin zu Krieg und Terror. Zu den Feindbildern müssen dann meist auch emotionale Bilder vom Opfer dazukommen. Ein Gefühl, "Opfer" der Feinde zu sein und sich wehren zu müssen. Aber auch ein "Opferkult", also das "Versprechen", dass man selbst auch umkommen könnte, für ein höheres Ziel und als ein Akt der Erlösung. Auch Frank S. war selbstmordgefährdet, ist in den Medien zu lesen. Selbsthass und Hass auf Andere sind zwei Seiten der selben Medaille. Ohne Selbsthass gibt es keinen Hass auf andere Menschen.
(Übrigens: Laut Medienberichten soll Frank S. gerufen haben "Ich tue es für Eure Kinder!". Vor den o.g. Hintergründen macht dieser Satz nochmal besonders nachdenklich.)
Frank S. ist als Kind von seinen Eltern schwer misshandelt und vernachlässigt worden, berichtet seine frühere Pflegemutter. Seine Hand war verbrannt, so die Frau, weil seine Eltern ein Bügeleisen auf ihn gepresst hatten. Er kam dann in ein Heim, später zu einer Pflegefamilie. "Auch seine Pflegefamilie hatte es den Schilderungen zufolge anfangs nicht leicht mit ihm. Laut der Pflegemutter soll er anfangs in ihrem Wagen randaliert und in der Familie jeden angespuckt haben." (Focus.de, 26.10.2015, "Freunde hatte er nie": So war die Kindheit von Reker-Attentäter Frank S.)
Die Kindheitshintergründe entschuldigen nichts (!), sie erklären aber den Hass und den Wahn des Täters. Solche Menschen fühlen sich durch Stimmungen in der Großgruppe berufen, etwas zu unternehmen. Wenn eine Gesellschaft zu einem beträchtlichem Teil aus Menschen besteht, die als Kind schwere Gewalt durch Elternfiguren erlebt haben (wie in Nah Ost oder in Afrika), dann kann unter bestimmten Umständen daraus mehr entstehen. Wenn sich Feindbilder finden, die emotional die meisten einst Gedemütigten ansprechend und sie sich emotional auf eine Art verbinden, steigt die Gefahr hin zu Krieg und Terror. Zu den Feindbildern müssen dann meist auch emotionale Bilder vom Opfer dazukommen. Ein Gefühl, "Opfer" der Feinde zu sein und sich wehren zu müssen. Aber auch ein "Opferkult", also das "Versprechen", dass man selbst auch umkommen könnte, für ein höheres Ziel und als ein Akt der Erlösung. Auch Frank S. war selbstmordgefährdet, ist in den Medien zu lesen. Selbsthass und Hass auf Andere sind zwei Seiten der selben Medaille. Ohne Selbsthass gibt es keinen Hass auf andere Menschen.
(Übrigens: Laut Medienberichten soll Frank S. gerufen haben "Ich tue es für Eure Kinder!". Vor den o.g. Hintergründen macht dieser Satz nochmal besonders nachdenklich.)
Montag, 16. November 2015
Ein Kommentar zu den Terroranschlägen in Paris
Mein Kommentar zum aktuellen Terroranschlag in Paris nimmt Bezug auf zwei Artikel in der Onlineausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Der Politologe und Terrorismusforscher Asiem El Difraoui sagte aktuell in einem Interview mit der faz über die europäischen Dschihadisten:
„Man weiß nicht viel über sie, außer, dass ihre Radikalisierung wohl weniger mit Ideologie und Religion zu tun hat als mit psychologischen, familiären Traumata und mit ganz allgemeiner Sinnsuche, mit dem Finden einer neuen Gemeinde. Wobei das Erstaunliche ist, dass die spirituellen Elemente dabei nicht so wichtig scheinen: Es geht gar nicht darum, Muslim zu werden und in der Spiritualität des Islams auf Sinnsuche zu gehen. Sondern man wird gleich Dschihadist.“
(faz.net, 16.11.2015, „Warum gerade Frankreich angegriffen wurde“)
El Difraoui beschreibt hier ganz selbstverständlich, dass „familiäre Traumata“, wie er es nennt, eine psychische Grundlage oder Antriebskraft für islamische Extremisten sind. Erstaunlich ist es entsprechend eigentlich nicht, dass Religion oder „spirituelle Elemente“ kaum oder keine Rolle spielen. Es sind Menschen, die bereits voller (Selbst)Hass sind, die von Hass-Gruppen angezogen werden.
Einen Tag vor diesem Interview las ich ebenfalls in der faz einen Kommentar unter dem Titel "Im Weltkrieg" des faz-Herausgebers Berthold Kohler. Der Kommentar hat mich sehr aufgeschreckt. Er ist durchzogen von einem Bild, dass deMause regelmäßig in Zusammenhang mit Kriegen psychohistorisch analysiert hat: Einem Ungeheuer mit Tentakeln, gepaart mit einer Fantasie von der Geburt dieses Wesens. Diese Bilder drücken – nach deMause – ein Aufflammen traumatischer Kindheitserlebnisse (auch des Fötus) aus und legen den Grund, für kriegerische Aktionen (siehe dazu etwas ausführlicher hier). Sie zeigen vor allem auch auf, dass der verortete Feind ein legitimes Ziel ist, den man bedingungslos bekämpfen kann. Gut und Böse ist klar definiert, wenn man den Feind als „Ungeheuer“ ähnlich der Medusa oder einer Meeresbestie sieht. Der Autor schreibt:
„In der muslimischen Welt ist ein Ungeheuer herangewachsen, das seine Tentakel um die ganze Welt schlingen möchte. Man kann kontrovers darüber diskutieren, aus welchem Schoß es kroch, wer es gezeugt hat und wer es immer noch füttert. Doch sollte man nicht glauben, es zöge sich friedlich zurück in seine Höhle, wenn man es nur nicht mehr reizte – es also nicht mehr mit Waffengewalt daran zu hindern suchte, ganze Volksgruppen zu massakrieren, Städte zu zerstören und Kulturen auszulöschen. Das Ungeheuer hat viele Köpfe und Arme, die immerfort nachzuwachsen scheinen, wenn man sie abschlägt. Es trägt wechselnde Namen.“ (faz.net, 15.11.2015, "Im Weltkrieg")
Im weiteren Textverlauf fällt dann auch noch nachfolgender Satz (der ursprünglich übrigens im Untertitel bzw. der dickgedruckten Kopfzeile des Artikels stand, die nachträglich verändert wurde) „Ohne Opfer wird dieser epochale Kampf nicht zu bestehen sein.“
Glücklicherweise sind die Berichte in den Medien nach den Anschlägen extrem vielschichtig (auch wenn hier und da von Krieg die Rede ist). Europa ist emotional nicht mehr das Europa, dass es Anfang des 20. Jahrhunderts war. Traumatische Kindheitserfahrungen nahmen stetig ab. Insofern bin ich zuversichtlich, dass Europa sich emotional nicht den Bildern anpasst, die im benannten Artikel heraufbeschworen wurden. Denn das wäre fatal, man würde kaum noch rational agieren, sondern in große Gefahr geraten, selbst zum Täter zu werden.
Der Politologe und Terrorismusforscher Asiem El Difraoui sagte aktuell in einem Interview mit der faz über die europäischen Dschihadisten:
„Man weiß nicht viel über sie, außer, dass ihre Radikalisierung wohl weniger mit Ideologie und Religion zu tun hat als mit psychologischen, familiären Traumata und mit ganz allgemeiner Sinnsuche, mit dem Finden einer neuen Gemeinde. Wobei das Erstaunliche ist, dass die spirituellen Elemente dabei nicht so wichtig scheinen: Es geht gar nicht darum, Muslim zu werden und in der Spiritualität des Islams auf Sinnsuche zu gehen. Sondern man wird gleich Dschihadist.“
(faz.net, 16.11.2015, „Warum gerade Frankreich angegriffen wurde“)
El Difraoui beschreibt hier ganz selbstverständlich, dass „familiäre Traumata“, wie er es nennt, eine psychische Grundlage oder Antriebskraft für islamische Extremisten sind. Erstaunlich ist es entsprechend eigentlich nicht, dass Religion oder „spirituelle Elemente“ kaum oder keine Rolle spielen. Es sind Menschen, die bereits voller (Selbst)Hass sind, die von Hass-Gruppen angezogen werden.
Einen Tag vor diesem Interview las ich ebenfalls in der faz einen Kommentar unter dem Titel "Im Weltkrieg" des faz-Herausgebers Berthold Kohler. Der Kommentar hat mich sehr aufgeschreckt. Er ist durchzogen von einem Bild, dass deMause regelmäßig in Zusammenhang mit Kriegen psychohistorisch analysiert hat: Einem Ungeheuer mit Tentakeln, gepaart mit einer Fantasie von der Geburt dieses Wesens. Diese Bilder drücken – nach deMause – ein Aufflammen traumatischer Kindheitserlebnisse (auch des Fötus) aus und legen den Grund, für kriegerische Aktionen (siehe dazu etwas ausführlicher hier). Sie zeigen vor allem auch auf, dass der verortete Feind ein legitimes Ziel ist, den man bedingungslos bekämpfen kann. Gut und Böse ist klar definiert, wenn man den Feind als „Ungeheuer“ ähnlich der Medusa oder einer Meeresbestie sieht. Der Autor schreibt:
„In der muslimischen Welt ist ein Ungeheuer herangewachsen, das seine Tentakel um die ganze Welt schlingen möchte. Man kann kontrovers darüber diskutieren, aus welchem Schoß es kroch, wer es gezeugt hat und wer es immer noch füttert. Doch sollte man nicht glauben, es zöge sich friedlich zurück in seine Höhle, wenn man es nur nicht mehr reizte – es also nicht mehr mit Waffengewalt daran zu hindern suchte, ganze Volksgruppen zu massakrieren, Städte zu zerstören und Kulturen auszulöschen. Das Ungeheuer hat viele Köpfe und Arme, die immerfort nachzuwachsen scheinen, wenn man sie abschlägt. Es trägt wechselnde Namen.“ (faz.net, 15.11.2015, "Im Weltkrieg")
Im weiteren Textverlauf fällt dann auch noch nachfolgender Satz (der ursprünglich übrigens im Untertitel bzw. der dickgedruckten Kopfzeile des Artikels stand, die nachträglich verändert wurde) „Ohne Opfer wird dieser epochale Kampf nicht zu bestehen sein.“
Glücklicherweise sind die Berichte in den Medien nach den Anschlägen extrem vielschichtig (auch wenn hier und da von Krieg die Rede ist). Europa ist emotional nicht mehr das Europa, dass es Anfang des 20. Jahrhunderts war. Traumatische Kindheitserfahrungen nahmen stetig ab. Insofern bin ich zuversichtlich, dass Europa sich emotional nicht den Bildern anpasst, die im benannten Artikel heraufbeschworen wurden. Denn das wäre fatal, man würde kaum noch rational agieren, sondern in große Gefahr geraten, selbst zum Täter zu werden.
Donnerstag, 12. November 2015
Sendung: Wenn Eltern ihre Kinder schlagen
Ich habe kürzlich folgenden Beitrag gesehen:
WDR, 05.11.2015 (Sendereihe „Menschen hautnah“), „Nur ein Klaps auf den Po? - Wenn Eltern ihre Kinder schlagen“ (ein Film von Erika Fehse)
Eindrücklich wie auch erschreckend ist ein Ausschnitt, in dem SchülerInnen (viele mit Migrationshintergrund) verschiedener Altersgruppen aus einer Gesamtschule in Gelsenkirchen zusammen mit der zuständigen Sozialpädagogin das Thema Gewalt gegen Kinder besprechen. Alle anwesenden Kinder haben schon mal „einen Klaps“ von ihren Eltern bekommen. Die Mehrheit bewertet dies aber nicht als Gewalt. Als Gewalt wird von den SchülerInnen eher das bezeichnet, was man allgemein unter dem Begriff „Misshandlung“ (also schwere körperliche Gewalt) kennt. Einige SchülerInnen betonen, dass elterliche Gewalt etwas sei, was Folgen wie Prellungen, Blutungen u.ä. bewirken würde. Alles andere wäre keine Gewalt.
Eine Schülerin sagt wörtlich: „Ich habe ziemlich oft einen Klaps bekommen, aber das ist auch gerechtfertigt gewesen von meinen Eltern, weil ich wirklich meine Grenzen überschritten habe.“
Ein Schüler sagt: „Ich finde das o.k. Es ist unsere Schuld, wenn wir einen Klaps bekommen“ und eine neben ihm sitzende Schülerin stimmt zu. Ein Junge sagt: „Die Eltern wollen ja auch den Kindern nicht schaden, wollen das ja nur machen, damit die aufhören und später gut sind.“
Diese Kinder haben ihre Lektion gelernt. Man sieht fast ihre Eltern hinter ihnen stehen wie sie den Kindern eintrichtern: „Du bist schuld!“ „Das ist notwendig!“ „Das ist keine Gewalt, sondern meine Pflicht als Vater/Mutter, weil wir Dich ja lieben““ „Wir wollen nur Dein Bestes““. Die Kinder wiederholen quasi automatisiert diese klassische elterliche Lektion, die in Wahrheit eine Verdrehung der Wirklichkeit ist. Denn in Wahrheit ist ein „Klaps“ natürlich Gewalt und ein „häufiger Klaps“ ist „häufige Gewalt“. Dass diese Formen von Gewalt, die unterhalb der Misshandlung liegen, nicht folgenlos bleiben, zeigen die Aussagen der Kinder. Ist die Wirklichkeit eines Kindes erst einmal verdreht worden, ist sie vernebelt, dann wirkt dies auch später in anderen Kontexten. Beim Partner, Arbeitgeber oder auch „politischen Führer“, an dem man festhält, obwohl er einen schlecht behandelt, weil „der meint das doch nicht so, der ist nicht schlecht“. Dafür gibt es auch einen Fachbegriff „Identifikation mit dem Aggressor“. Natürlich ist auch die Gefahr groß, dass diese Kinder später, wenn sie selbst Eltern werden, Gewalt gegen ihre eigenen Kinder anwenden, weil dies ja – so haben sie leider gelernt – keine Gewalt sei, sondern eine erzieherische Notwendigkeit zum angeblichen Wohle des Kindes. Um so wichtiger finde ich es, dass diese Schule solche Kurse mit Kindern macht und versucht, die Vernebelung etwas aufzulösen.
Besonders eindrucksvoll fand ich einen Bericht im hinteren Teil des Films. In einem Kinderschutzteam wurde der Fall eines neun Jahre alten Jungen besprochen. Dieser sei bereits im Alter von drei Jahren von seinem Vater schwer misshandelt worden, bis hin zu Knochenbrüchen. Eine Fachfrau trägt vor, dass sie bei der Diagnostik diesem Jungen die Frage gestellt habe, was er machen würde, wenn er König von Deutschland wäre. Der Junge habe aufgeschrieben:
„Wenn ich König von Deutschland wäre, würde ich mir alle Pistolen der Welt kaufen, dann könnten Soldaten ausgebildet werden und dann könnten die mich beschützen vor denen, die mich angreifen.“
Diese Aussage ist erschütternd... Sie zeigt allerdings, warum es auch aus politischen Gesichtspunkten heraus wichtig ist, Kinder vor Gewalt zu schützen. Menschen, die als Kind sicher und geborgen aufwachsen durften, brauchen keine Waffen und Soldaten, um sich sicher zu fühlen.
Dagegen: Erwachsene, die einst verängstigte Kinder waren, „vergessen“ dies meist auf die eine oder andere Weise. Trotzdem wirkt – solange nicht therapeutisch aufgearbeitet – die alte Angst weiter und begünstigt destruktive oder gar schlimmstenfalls paranoid anmutende Entscheidungen oder Verhaltensweisen.
WDR, 05.11.2015 (Sendereihe „Menschen hautnah“), „Nur ein Klaps auf den Po? - Wenn Eltern ihre Kinder schlagen“ (ein Film von Erika Fehse)
Eindrücklich wie auch erschreckend ist ein Ausschnitt, in dem SchülerInnen (viele mit Migrationshintergrund) verschiedener Altersgruppen aus einer Gesamtschule in Gelsenkirchen zusammen mit der zuständigen Sozialpädagogin das Thema Gewalt gegen Kinder besprechen. Alle anwesenden Kinder haben schon mal „einen Klaps“ von ihren Eltern bekommen. Die Mehrheit bewertet dies aber nicht als Gewalt. Als Gewalt wird von den SchülerInnen eher das bezeichnet, was man allgemein unter dem Begriff „Misshandlung“ (also schwere körperliche Gewalt) kennt. Einige SchülerInnen betonen, dass elterliche Gewalt etwas sei, was Folgen wie Prellungen, Blutungen u.ä. bewirken würde. Alles andere wäre keine Gewalt.
Eine Schülerin sagt wörtlich: „Ich habe ziemlich oft einen Klaps bekommen, aber das ist auch gerechtfertigt gewesen von meinen Eltern, weil ich wirklich meine Grenzen überschritten habe.“
Ein Schüler sagt: „Ich finde das o.k. Es ist unsere Schuld, wenn wir einen Klaps bekommen“ und eine neben ihm sitzende Schülerin stimmt zu. Ein Junge sagt: „Die Eltern wollen ja auch den Kindern nicht schaden, wollen das ja nur machen, damit die aufhören und später gut sind.“
Diese Kinder haben ihre Lektion gelernt. Man sieht fast ihre Eltern hinter ihnen stehen wie sie den Kindern eintrichtern: „Du bist schuld!“ „Das ist notwendig!“ „Das ist keine Gewalt, sondern meine Pflicht als Vater/Mutter, weil wir Dich ja lieben““ „Wir wollen nur Dein Bestes““. Die Kinder wiederholen quasi automatisiert diese klassische elterliche Lektion, die in Wahrheit eine Verdrehung der Wirklichkeit ist. Denn in Wahrheit ist ein „Klaps“ natürlich Gewalt und ein „häufiger Klaps“ ist „häufige Gewalt“. Dass diese Formen von Gewalt, die unterhalb der Misshandlung liegen, nicht folgenlos bleiben, zeigen die Aussagen der Kinder. Ist die Wirklichkeit eines Kindes erst einmal verdreht worden, ist sie vernebelt, dann wirkt dies auch später in anderen Kontexten. Beim Partner, Arbeitgeber oder auch „politischen Führer“, an dem man festhält, obwohl er einen schlecht behandelt, weil „der meint das doch nicht so, der ist nicht schlecht“. Dafür gibt es auch einen Fachbegriff „Identifikation mit dem Aggressor“. Natürlich ist auch die Gefahr groß, dass diese Kinder später, wenn sie selbst Eltern werden, Gewalt gegen ihre eigenen Kinder anwenden, weil dies ja – so haben sie leider gelernt – keine Gewalt sei, sondern eine erzieherische Notwendigkeit zum angeblichen Wohle des Kindes. Um so wichtiger finde ich es, dass diese Schule solche Kurse mit Kindern macht und versucht, die Vernebelung etwas aufzulösen.
Besonders eindrucksvoll fand ich einen Bericht im hinteren Teil des Films. In einem Kinderschutzteam wurde der Fall eines neun Jahre alten Jungen besprochen. Dieser sei bereits im Alter von drei Jahren von seinem Vater schwer misshandelt worden, bis hin zu Knochenbrüchen. Eine Fachfrau trägt vor, dass sie bei der Diagnostik diesem Jungen die Frage gestellt habe, was er machen würde, wenn er König von Deutschland wäre. Der Junge habe aufgeschrieben:
„Wenn ich König von Deutschland wäre, würde ich mir alle Pistolen der Welt kaufen, dann könnten Soldaten ausgebildet werden und dann könnten die mich beschützen vor denen, die mich angreifen.“
Diese Aussage ist erschütternd... Sie zeigt allerdings, warum es auch aus politischen Gesichtspunkten heraus wichtig ist, Kinder vor Gewalt zu schützen. Menschen, die als Kind sicher und geborgen aufwachsen durften, brauchen keine Waffen und Soldaten, um sich sicher zu fühlen.
Dagegen: Erwachsene, die einst verängstigte Kinder waren, „vergessen“ dies meist auf die eine oder andere Weise. Trotzdem wirkt – solange nicht therapeutisch aufgearbeitet – die alte Angst weiter und begünstigt destruktive oder gar schlimmstenfalls paranoid anmutende Entscheidungen oder Verhaltensweisen.
Freitag, 6. November 2015
Neue KFN-Studie. Ein Plädoyer für gewaltfreie Erziehung, um Gesellschaften voranzubringen
Diese Studie muss man lesen! Das ist das Erste, was mir dazu einfällt.
Dass Christian Pfeiffer dieses Jahr in die USA gereist ist, um sich für eine gewaltfreie Erziehung einzusetzen und um die destruktiven Folgen von gewaltvoller Erziehung wissenschaftlich aufzuzeigen, hatte ich ja bereits berichtet. Jetzt hat er – auf englisch – einen entsprechenden Forschungsbericht verfasst. Und der hat es in sich.
Pfeiffer, C. (2015): The Abolition of the Parental Right to Corporal Punishment in Sweden, Germany and other European Countries. A Model for the United States and other Democracies? Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachen e.V.
Ich fasse nur kurz zusammen:
In dem Forschungsbericht wird u.a. aufgezeigt, wie stark (körperliche und sexuelle) Gewalt gegen Kinder in Deutschland rückläufig ist und wie elterliche Zuwendung ansteigt. Entsprechende Studien hatte ich hier im Blog bereits besprochen.
Ich möchte vor allem auf die Tabelle 1 auf Seite 17 hinweisen. Dort zeigt sich eindrucksvoll, wie sich die Wahrscheinlichkeit für diverse menschliche, destruktive Phänomene wie Gewaltverhalten, Drogen/Alkoholkonsum, Suizidgedanken oder auch den Wunsch, eine Waffe zu tragen durch schwere körperliche Gewalt und einer geringen elterlichen Zuwendung erhöht. Und umgekehrt zeigt sich, dass Gewaltfreiheit (wobei nur körperliche Gewalt gemessen wurde!) und elterliche Zuwendung ein positives Lebensgefühl/Vertrauen und Toleranz deutlich erhöht, während elterliche Gewalt diese Faktoren deutlich absenkt.
Das ganz Neue an diesem Forschungsbericht ist das, was die Grafiken ab Seite 28 zeigen. Die Grafiken und gezeigten Zusammenhänge lassen den Schluss zu, dass die körperliche Bestrafung von Kindern eine Auswirkung auf das Strafbedürfnis einer Gesellschaft hat. Die Zahlen von Strafgefangenen pro 100.000 Einwohnern und Exekutionen nehmen entsprechend den körperlichen Strafen an US-Schulen bzw. der entsprechenden Legalität von schulischen Körperstrafen zu. (Wobei die schulischen Körperstrafen bzw. die Rechtslage vermutlich auch Rückschlüsse auf das Strafverhalten zu Hause zulassen.) Ich will dies nicht weiter kommentieren, mensch lese bitte selbst in der Studie nach.
Die Studie versteht sich – so lese ich es deutlich heraus – als ein direkter Aufruf an die USA, ihre Erziehungspraxis grundlegend zu verändern, um positive Effekte auf die Gesellschaft zu bewirken.
Dass Christian Pfeiffer dieses Jahr in die USA gereist ist, um sich für eine gewaltfreie Erziehung einzusetzen und um die destruktiven Folgen von gewaltvoller Erziehung wissenschaftlich aufzuzeigen, hatte ich ja bereits berichtet. Jetzt hat er – auf englisch – einen entsprechenden Forschungsbericht verfasst. Und der hat es in sich.
Pfeiffer, C. (2015): The Abolition of the Parental Right to Corporal Punishment in Sweden, Germany and other European Countries. A Model for the United States and other Democracies? Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachen e.V.
Ich fasse nur kurz zusammen:
In dem Forschungsbericht wird u.a. aufgezeigt, wie stark (körperliche und sexuelle) Gewalt gegen Kinder in Deutschland rückläufig ist und wie elterliche Zuwendung ansteigt. Entsprechende Studien hatte ich hier im Blog bereits besprochen.
Ich möchte vor allem auf die Tabelle 1 auf Seite 17 hinweisen. Dort zeigt sich eindrucksvoll, wie sich die Wahrscheinlichkeit für diverse menschliche, destruktive Phänomene wie Gewaltverhalten, Drogen/Alkoholkonsum, Suizidgedanken oder auch den Wunsch, eine Waffe zu tragen durch schwere körperliche Gewalt und einer geringen elterlichen Zuwendung erhöht. Und umgekehrt zeigt sich, dass Gewaltfreiheit (wobei nur körperliche Gewalt gemessen wurde!) und elterliche Zuwendung ein positives Lebensgefühl/Vertrauen und Toleranz deutlich erhöht, während elterliche Gewalt diese Faktoren deutlich absenkt.
Das ganz Neue an diesem Forschungsbericht ist das, was die Grafiken ab Seite 28 zeigen. Die Grafiken und gezeigten Zusammenhänge lassen den Schluss zu, dass die körperliche Bestrafung von Kindern eine Auswirkung auf das Strafbedürfnis einer Gesellschaft hat. Die Zahlen von Strafgefangenen pro 100.000 Einwohnern und Exekutionen nehmen entsprechend den körperlichen Strafen an US-Schulen bzw. der entsprechenden Legalität von schulischen Körperstrafen zu. (Wobei die schulischen Körperstrafen bzw. die Rechtslage vermutlich auch Rückschlüsse auf das Strafverhalten zu Hause zulassen.) Ich will dies nicht weiter kommentieren, mensch lese bitte selbst in der Studie nach.
Die Studie versteht sich – so lese ich es deutlich heraus – als ein direkter Aufruf an die USA, ihre Erziehungspraxis grundlegend zu verändern, um positive Effekte auf die Gesellschaft zu bewirken.
Freitag, 30. Oktober 2015
Ursachen von Rechtsextremismus nach Hajo Funke
Sehr aufschlussreich bzgl. der Ursachen von Rechtsextremismus fand ich die Arbeit von Prof. Dr. Hajo Funke (2001): Rechtsextremismus 2001. Eine Zwischenbilanz. Verwahrlosung und rassistisch aufgeladene Gewalt – Zur Bedeutung von Familie, Schule und sozialer Integration. In: Eckert, Roland et al.: Demokratie lernen und leben – Eine Initiative gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Band 1. Weinheim: Freudenberg Stiftung.
Funke selbst hat gewalttätige Rechtsextremisten befragt, bezieht in seinem Beitrag aber auch andere Studien (vor allem aus Ostdeutschland) mit ein. Er stellt fest, dass problematische Erfahrungen in der Kindheit (mangelnde Zuwendung und Beachtung, restriktive Erziehung, wie auch elterliche Gewalt) etwas zur rechtsextremen Orientierung beitragen.
Als Einstieg beschreibt Funke die Biografien von drei rechtsextremen jungen Männern, die 2000/2001 befragt wurden. Ich ziehe dabei besonders die Informationen bzgl. Kindheit und elterlicher Erziehung heraus.
Der Fall „Walter“
Walter ist nach schweren Konflikten mit seiner Stiefmutter und seinem Vater aus der elterlichen Wohnung rausgeworfen worden. Als Walter ca. 12 Jahre alt war, starb seine Mutter nach vorherigem jahrelangem schweren (krankheitsbedingtem) Leiden. Auch mit seiner Mutter scheint er einen konfliktreichen Kontakt gehabt zu haben. Sein Vater habe ihn systematisch gekränkt, er tauge nichts, nur sein Bruder sei etwas wert, was der Vater „hundertfach wiederholt habe“. (S. 62)
Walters „Berichte über das soziale Leben sind voll von Angst vor sanktionierenden Instanzen, sei es Gefängnis, Heim oder auch dem Kindergarten. (….) Walter wirkt labil. Es fehlt in seiner Lebensgeschichte offenkundig eine emotional reichhaltige Beziehung mit einer erwachsenen Bezugsperson; dominierend erscheinen dagegen anhaltende Abweisungserfahrungen.“ (S. 62)
Der Fall „Christoph“
Christoph erinnert sich „wie er mit etwa 4 Jahren einem schlagenden, tobenden Stiefvater gegenüber steht und hilflos mit ansehen muss, wie er seine Mutter, die geschlagen wird, nicht schützen kann und die auch ihn nicht schützen kann. Nach quälenden vier Jahren wiederholter schwerer Misshandlungserfahrungen verlässt der Stiefvater endlich seine Mutter. (…) In der Kindheit schwer und wiederholt misshandelt, schlägt er zu, ehe er geschlagen wird.“ (S. 63)
Nach weiteren Konflikten zieht er schließlich zu Hause aus und kommt bei seiner Großmutter unter.
Erst durch die rechtsextreme Clique erfährt Christoph den Eindruck einer „zweiten Familie“, schreibt Funke. (S. 63) Bereits im Alter von 14 Jahren trägt Christoph das Wort „Hass“ eintätowiert auf seinen Fingern.
Der Fall „Adolph“
Adolph ist von seiner Mutter geschlagen worden und musste sich um seine kleinen Brüder kümmern, weil die Mutter faul war, wie er sagte (bzw. ihm diese Aufgabe vermutlich aufbürdete). Adolph selbst war früh gewalttätig und kam schließlich auf eine „Hilfsschule“, von seiner Mutter wurde ihm mitgeteilt, er sei eine Null. Seine Mutter wertet ihn systematisch ab, was – so kommentiert Funke – offenkundig vom Vater nicht kompensiert wurde. (S. 65) Mit 18 Jahren wurde er von der Mutter sofort vor die Tür gesetzt. Anerkennung suchte er in der rechtsextremen Szene Ostberlins.
In allen drei Fällen gab es auch im sozialen Umfeld keine oder kaum kompensatorische Angebote oder „aufwertende Nachsozialisation (…), „stattdessen gerieten alle drei in eine Spirale wachsender Verwahrlosung.“ (S. 66)
Der Risikofaktor „destruktive Kindheit“ führt natürlich nicht zwangsläufig oder monokausal zum Rechtsextremismus. Funke schreibt: „Die Gewalt- und Abwesenheitserfahrungen in der Kindheit dürften für Ausländerfeindlichkeit dann von Bedeutung sein, wenn andere Bedingungen hinzutreten.“ (S. 99) Deutlicher: „Reale gesellschaftliche Angst vor sozialem Ausschluss und traumatische Angsterfahrungen fusionieren in der Gruppe zum mobilisierten Gefühl der Paranoia, aus der heraus man schlägt. Es ist also weder die Realangst vor sozialem Ausschluss noch allein die traumatischen Erfahrungen im Elternhaus, die zur gefährlichen Gewaltkarriere in der Jugendclique beitragen, sondern beides zusammen. Die rechten Kader (Parteien) und Netzwerke haben damit Chancen zur Instrumentalisierung dieser Jugendlichen, wenn Angst vor sozialem Ausschluss und Gewalterfahrungen in den Herkunftsfamilien zusammenkommen. Diese geschädigten Kinder sind ideale Kandidaten für den Terror (…) und die braune Identität (…).“ (S. 103)
Funke spricht von „kumulativen Effekten der Demoralisierung“ (S. 105). Also beispielsweise das Zusammenkommen von strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland, Transformationskrise nach dem Zusammenbruch der DDR, gesellschaftliche Missachtungserfahrungen und belastete Sozialisation im Elternhaus.
Funke schreibt an einer Stelle aber auch: „Ohne innere Entwicklung der Persönlichkeit entsteht ein um sich schlagender Sozialneid, der selbst dann wirkt, wäre er befriedigt. Das Motiv, mehr und alles haben zu wollen, ist selbst dann endlos, wenn es erfüllt wäre, da es die destruktive Sehnsucht repräsentiert, anerkannt zu sein und sich über Traditionen einer Untertanenkultur als autoritäre Aggression gegen Schwächere Luft macht.“ (S. 83)
Interessant finde ich auch, dass Funke die Reinheits- und Schmutzvorstellungen von Rechtsextremisten beschreibt. „Zum Abwerten gehört offenbar neben der Ohnmacht, die man am Opfer bekämpft, auch die Assoziation von Dreck, Schmutz, Gift und Unreinem.“ (S. 81) In der rechtsextremen Clique sei eine besondere Wut „gegen den Schmutz und den Dreck der Anderen“ auffällig ebenso wie die Vorstellung von einem „Bild von Reinheit und Homogenität des ethisch-gesäuberten und national befreiten eigenen `Volkskörpers`, des eigenen deutschen Territoriums, des national befreiten, ausländerfreien Reviers (...)“ (S. 81)
Dies passt zusammen mit den psychohistorischen Arbeiten von Lloyd deMause, der starke Ängste vor Vergiftung und Verschmutzung im Vorfeld von Kriegen wahrgenommen hat und dies als Gruppenfantasie deutet, die auf traumatischen Kindheitserfahrungen wie auch Verletzungen des Fötus (fötales Drama“) beruhen.
In Funkes Arbeit werden weitere Studienergebnisse besprochen, die ich hier nicht wiedergeben kann. Eindeutig bewertet er den Einfluss von destruktiven Kindheitserfahrung bei der Genese zum rechtsextremen Gewalttäter als hoch, verweist aber auch – sinnvoller Weise – auf die Notwendigkeit des Zusammentreffens mit anderen sozialen Einflüssen, wie oben bereits kurz beschrieben.
Funke selbst hat gewalttätige Rechtsextremisten befragt, bezieht in seinem Beitrag aber auch andere Studien (vor allem aus Ostdeutschland) mit ein. Er stellt fest, dass problematische Erfahrungen in der Kindheit (mangelnde Zuwendung und Beachtung, restriktive Erziehung, wie auch elterliche Gewalt) etwas zur rechtsextremen Orientierung beitragen.
Als Einstieg beschreibt Funke die Biografien von drei rechtsextremen jungen Männern, die 2000/2001 befragt wurden. Ich ziehe dabei besonders die Informationen bzgl. Kindheit und elterlicher Erziehung heraus.
Der Fall „Walter“
Walter ist nach schweren Konflikten mit seiner Stiefmutter und seinem Vater aus der elterlichen Wohnung rausgeworfen worden. Als Walter ca. 12 Jahre alt war, starb seine Mutter nach vorherigem jahrelangem schweren (krankheitsbedingtem) Leiden. Auch mit seiner Mutter scheint er einen konfliktreichen Kontakt gehabt zu haben. Sein Vater habe ihn systematisch gekränkt, er tauge nichts, nur sein Bruder sei etwas wert, was der Vater „hundertfach wiederholt habe“. (S. 62)
Walters „Berichte über das soziale Leben sind voll von Angst vor sanktionierenden Instanzen, sei es Gefängnis, Heim oder auch dem Kindergarten. (….) Walter wirkt labil. Es fehlt in seiner Lebensgeschichte offenkundig eine emotional reichhaltige Beziehung mit einer erwachsenen Bezugsperson; dominierend erscheinen dagegen anhaltende Abweisungserfahrungen.“ (S. 62)
Der Fall „Christoph“
Christoph erinnert sich „wie er mit etwa 4 Jahren einem schlagenden, tobenden Stiefvater gegenüber steht und hilflos mit ansehen muss, wie er seine Mutter, die geschlagen wird, nicht schützen kann und die auch ihn nicht schützen kann. Nach quälenden vier Jahren wiederholter schwerer Misshandlungserfahrungen verlässt der Stiefvater endlich seine Mutter. (…) In der Kindheit schwer und wiederholt misshandelt, schlägt er zu, ehe er geschlagen wird.“ (S. 63)
Nach weiteren Konflikten zieht er schließlich zu Hause aus und kommt bei seiner Großmutter unter.
Erst durch die rechtsextreme Clique erfährt Christoph den Eindruck einer „zweiten Familie“, schreibt Funke. (S. 63) Bereits im Alter von 14 Jahren trägt Christoph das Wort „Hass“ eintätowiert auf seinen Fingern.
Der Fall „Adolph“
Adolph ist von seiner Mutter geschlagen worden und musste sich um seine kleinen Brüder kümmern, weil die Mutter faul war, wie er sagte (bzw. ihm diese Aufgabe vermutlich aufbürdete). Adolph selbst war früh gewalttätig und kam schließlich auf eine „Hilfsschule“, von seiner Mutter wurde ihm mitgeteilt, er sei eine Null. Seine Mutter wertet ihn systematisch ab, was – so kommentiert Funke – offenkundig vom Vater nicht kompensiert wurde. (S. 65) Mit 18 Jahren wurde er von der Mutter sofort vor die Tür gesetzt. Anerkennung suchte er in der rechtsextremen Szene Ostberlins.
In allen drei Fällen gab es auch im sozialen Umfeld keine oder kaum kompensatorische Angebote oder „aufwertende Nachsozialisation (…), „stattdessen gerieten alle drei in eine Spirale wachsender Verwahrlosung.“ (S. 66)
Der Risikofaktor „destruktive Kindheit“ führt natürlich nicht zwangsläufig oder monokausal zum Rechtsextremismus. Funke schreibt: „Die Gewalt- und Abwesenheitserfahrungen in der Kindheit dürften für Ausländerfeindlichkeit dann von Bedeutung sein, wenn andere Bedingungen hinzutreten.“ (S. 99) Deutlicher: „Reale gesellschaftliche Angst vor sozialem Ausschluss und traumatische Angsterfahrungen fusionieren in der Gruppe zum mobilisierten Gefühl der Paranoia, aus der heraus man schlägt. Es ist also weder die Realangst vor sozialem Ausschluss noch allein die traumatischen Erfahrungen im Elternhaus, die zur gefährlichen Gewaltkarriere in der Jugendclique beitragen, sondern beides zusammen. Die rechten Kader (Parteien) und Netzwerke haben damit Chancen zur Instrumentalisierung dieser Jugendlichen, wenn Angst vor sozialem Ausschluss und Gewalterfahrungen in den Herkunftsfamilien zusammenkommen. Diese geschädigten Kinder sind ideale Kandidaten für den Terror (…) und die braune Identität (…).“ (S. 103)
Funke spricht von „kumulativen Effekten der Demoralisierung“ (S. 105). Also beispielsweise das Zusammenkommen von strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland, Transformationskrise nach dem Zusammenbruch der DDR, gesellschaftliche Missachtungserfahrungen und belastete Sozialisation im Elternhaus.
Funke schreibt an einer Stelle aber auch: „Ohne innere Entwicklung der Persönlichkeit entsteht ein um sich schlagender Sozialneid, der selbst dann wirkt, wäre er befriedigt. Das Motiv, mehr und alles haben zu wollen, ist selbst dann endlos, wenn es erfüllt wäre, da es die destruktive Sehnsucht repräsentiert, anerkannt zu sein und sich über Traditionen einer Untertanenkultur als autoritäre Aggression gegen Schwächere Luft macht.“ (S. 83)
Interessant finde ich auch, dass Funke die Reinheits- und Schmutzvorstellungen von Rechtsextremisten beschreibt. „Zum Abwerten gehört offenbar neben der Ohnmacht, die man am Opfer bekämpft, auch die Assoziation von Dreck, Schmutz, Gift und Unreinem.“ (S. 81) In der rechtsextremen Clique sei eine besondere Wut „gegen den Schmutz und den Dreck der Anderen“ auffällig ebenso wie die Vorstellung von einem „Bild von Reinheit und Homogenität des ethisch-gesäuberten und national befreiten eigenen `Volkskörpers`, des eigenen deutschen Territoriums, des national befreiten, ausländerfreien Reviers (...)“ (S. 81)
Dies passt zusammen mit den psychohistorischen Arbeiten von Lloyd deMause, der starke Ängste vor Vergiftung und Verschmutzung im Vorfeld von Kriegen wahrgenommen hat und dies als Gruppenfantasie deutet, die auf traumatischen Kindheitserfahrungen wie auch Verletzungen des Fötus (fötales Drama“) beruhen.
In Funkes Arbeit werden weitere Studienergebnisse besprochen, die ich hier nicht wiedergeben kann. Eindeutig bewertet er den Einfluss von destruktiven Kindheitserfahrung bei der Genese zum rechtsextremen Gewalttäter als hoch, verweist aber auch – sinnvoller Weise – auf die Notwendigkeit des Zusammentreffens mit anderen sozialen Einflüssen, wie oben bereits kurz beschrieben.
Freitag, 23. Oktober 2015
Arno Gruen ist gestorben
Wie ich leider heute lesen musste, ist Arno Gruen diese Woche im Alter von 92 Jahren gestorben.
Noch im August diesen Jahres hatte ich erstmals Kontakt zu ihm aufgenommen. Ich wollte ihm unbedingt ein Erlebnis mitteilen, dass ich an der Uni Hamburg hatte. Ich habe dies Erlebnis im Nachwort zu meinem "Grundlagentext" festgehalten. Es hatte mit seinem Buch "Der Fremde in uns" zu tun. Ich bekam auch Antwort von ihm und er legte mir auch eines seiner Bücher darin bei, was mich sehr erstaunte und auch freute. Daraufhin schrieb ich ihm noch mal ausführlich und legte meinerseits eine Kopie meines Arbeitspapiers "Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an" bei. Ich wollte ihm gegenüber (der er in meinen Augen Kulturpessimist war) auch etwas Optimismus ausdrücken und verwies in meinem Schreiben an ihn u.a. auf die Studie "Die Modernisierung der Seele", die Entwicklung von Kindheit und Jugend in Deutschland sehr positiv sieht. Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass die Welt auf Grund der enorm verbesserten Kindererziehung - gerade auch in Deutschland - eine bessere Welt werden wird und so etwas wie die NS-Zeit hierzulande nicht mehr möglich sein wird, weil ebenso wie Gewalt gegen Kinder auf der anderen Seite auch Gewaltfreiheit, Fürsorge und Liebe gegenüber Kindern gesellschaftlich nicht ohne Folgen bleibt.
Ich muss gestehen, dass ich auf eine Antwort von ihm gewartet habe, die nicht mehr kam. Meinen Text wird er sicherlich erhalten haben. Vielleicht konnte ich ihm so kurz vor seinem Tod noch etwas von dem Optimismus mitgeben, wie er sich zwangsläufig aus den vorliegenden Daten zur Kindheit hierzulande ergibt. Ich weiß es nicht.
Wie schon nach dem Tod von Alice Miller bin ich gespannt, wie die Medien diese Nachricht jetzt verarbeiten? Werden sie dem Anliegen und Denken von Arno Gruen ausführlich nachgehen? Wird dies nachhaltig sein? Wir werden sehen.
Noch im August diesen Jahres hatte ich erstmals Kontakt zu ihm aufgenommen. Ich wollte ihm unbedingt ein Erlebnis mitteilen, dass ich an der Uni Hamburg hatte. Ich habe dies Erlebnis im Nachwort zu meinem "Grundlagentext" festgehalten. Es hatte mit seinem Buch "Der Fremde in uns" zu tun. Ich bekam auch Antwort von ihm und er legte mir auch eines seiner Bücher darin bei, was mich sehr erstaunte und auch freute. Daraufhin schrieb ich ihm noch mal ausführlich und legte meinerseits eine Kopie meines Arbeitspapiers "Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an" bei. Ich wollte ihm gegenüber (der er in meinen Augen Kulturpessimist war) auch etwas Optimismus ausdrücken und verwies in meinem Schreiben an ihn u.a. auf die Studie "Die Modernisierung der Seele", die Entwicklung von Kindheit und Jugend in Deutschland sehr positiv sieht. Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass die Welt auf Grund der enorm verbesserten Kindererziehung - gerade auch in Deutschland - eine bessere Welt werden wird und so etwas wie die NS-Zeit hierzulande nicht mehr möglich sein wird, weil ebenso wie Gewalt gegen Kinder auf der anderen Seite auch Gewaltfreiheit, Fürsorge und Liebe gegenüber Kindern gesellschaftlich nicht ohne Folgen bleibt.
Ich muss gestehen, dass ich auf eine Antwort von ihm gewartet habe, die nicht mehr kam. Meinen Text wird er sicherlich erhalten haben. Vielleicht konnte ich ihm so kurz vor seinem Tod noch etwas von dem Optimismus mitgeben, wie er sich zwangsläufig aus den vorliegenden Daten zur Kindheit hierzulande ergibt. Ich weiß es nicht.
Wie schon nach dem Tod von Alice Miller bin ich gespannt, wie die Medien diese Nachricht jetzt verarbeiten? Werden sie dem Anliegen und Denken von Arno Gruen ausführlich nachgehen? Wird dies nachhaltig sein? Wir werden sehen.
Donnerstag, 22. Oktober 2015
Studie: Die Psychologie des Nationalsozialismus
Ich möchte die sehr eindrucksvolle Studie "Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus" von Stephan Marks (3. Aufl. 2014, erschienen im Patmos Verlag, Ostfildern) besprechen, die sehr viele Gemeinsamkeiten mit psychohistorischen Ansätzen hat.
Für das Forschungsprojekt (das Forschungsteam bestand aus 10 Personen der ersten Nachkriegsgeneration und unterschiedlicher meist aber psychologisch-pädagogischer Berufsfelder, ergänzend wurden auch durch 11 junge Studierende Interviews mit NS-Anhängern geführt, um zu vergleichen, wie sich der Generationsabstand auf die Interviews auswirkt) wurden 19 Frauen und 24 Männer (Geburtsjahrgänge zwischen 1906 und 1926), die NS-Anhänger waren, ausführlich im Rahmen von Interviews im Zeitraum zwischen 19998 und 2001 befragt. Ergänzend wurden zu Vergleichszwecken 11 Gruppengespräche, an denen jeweils 25 Personen aus verschiedenen Generationen teilnahmen, durchgeführt. Das Projekt wurde durch ständige Supervision begleitet.
Es wurde also viel Aufwand betrieben, um den tieferen Ursachen der NS-Zeit auf den Grund zu gehen.
Sehr beeindruckt haben mich die Schilderungen über die Ergebnisse der Supervision. Ich möchte diese hier gleich zu Beginn der Besprechung etwas ausführlicher wiedergeben:
„Eine eindrückliche Erfahrung bestand darin, dass viele der Interview-Transkripte zunächst wenig informativ zu sein schienen – verglichen mit den emotionalen Botschaften zwischen den Zeilen und den Gefühlen, die wir während und nach den Interviews erlebten. Diese Reaktionen, die wir in dieser Wucht nicht erwartet hatten, werden in der Psychoanalyse als Gegenübertragungen bezeichnet. Oft fühlten wir, die Interviewer, uns im Laufe eines Gespräches wie totgeredet, überrollt oder mundtot gemacht. Verwirrt, müde, passiv, dumm, unklar, wie hypnotisiert oder ´besoffen geredet`. Oder wir spürten nach einem Interview ein merkwürdiges, starkes Verlangen nach Zucker. Oft konnten wir mit `dem Thema` nicht aufhören. Oder wir empfanden Scham, etwa darüber, von dem jeweiligen Interviewten manipuliert, `über den Tisch gezogen`, `eingewickelt`, benutzt, überrannt, plattgemacht oder emotional missbraucht worden zu sein (und die Scham darüber, dies zugelassen zu haben). Auch Scham darüber, es nicht geschafft zu haben, dem Interviewten gegenüber authentisch, `männlich`, `stark`, `standhaft`, geblieben zu sein; oder zu leichtgläubig, naiv, unaufmerksam, `feige`, unterlegen, `minderwertig`, `zu intellektuell`, ungenügend `gewappnet`´ oder `zu schwach` gewesen zu sein. Wir fühlten uns häufig, wie wenn etwas Fremdes, Bösartiges in uns hineingestopft worden wäre, etwas, das mit unserem Anliegen als Interviewer nichts zu tun hatte. In der Nacht nach den Interviews tauchten nicht selten Alpträume auf, z.B. dass jemand in die eigene Wohnung eindringt und sie mit Blut besudelt. Ich träumte einmal nach einem Interview, dass ich Massengräber zu öffnen und die halbverwesten Leichen umzubetten hatte.“ (Marks 2014, S. 182)
Dieser Auszug zeigt schon einmal deutlich, in welche Richtung das Buch geht: Es geht um die emotionale Welt und entsprechend um emotionale Erklärungsansätze bzgl. der NS-Zeit. In dem Buch werden sechs Kernthesen durchgearbeitet und durch die qualitativen Interviews empirisch nachgewiesen. Die Befunde (Marks 2014, S. 20+21,52+53, 167+168):
1. Das nationalsozialistische Bewusstsein war regressiv und magisch, das heißt als ein Zustand, der entwicklungspsychologisch einer frühen Phase entspricht. Entsprechend ergaben sich Vorstellungen von einem gottähnlichem Führer, vom heiligen Reich, Zauberkräften usw.
2. Der nationalsozialistische Bewusstseinszustand lässt sich als hypnotische Trance verstehen. Demzufolge war der Fokus der Aufmerksamkeit eingeengt und gefesselt von einer Person (Adolf Hitler) bzw. einer Sache (Dritte Reich), unter Ausblendung großer Teile der Wirklichkeit. Dieser Zustand ist auch mit Regression (siehe Punkt 1.) verbunden.
3. Der Nationalsozialismus bezog seine psychosoziale Dynamik u.a. aus Schamgefühlen, deren Abwehr er anbot und legitimierte.
4. Der Nationalsozialismus speiste sich auch aus den narzisstischen Defiziten seiner Anhänger, die er auszufüllen versprach.
5. Der Nationalsozialismus erwuchs aus der Abwehr der Traumata des Ersten Weltkrieges; die Abwehrmechanismen Derealisierung, Gefühlskälte, Heroismus und Idealisierung wurden zum politischen Programm gemacht.
6. Der Nationalsozialismus nutzte die Suchtdynamik der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Die Beziehung zwischen dem Nationalsozialismus und seinen Anhängern hatte den Charakter von Suchmittelabhängigkeit, wobei Adolf Hitler und das `Dritte Reich` das stoffgebundene Suchtmittel waren. Diese Abhängigkeit bedeutete ein unabweichbares Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebens und Bewusstseinszustandes, den das NS-Programm beschaffte. Gemäß der Suchtdynamik wurde die sogenannte „Stunde Null“ wie ein Entzug erlebt.
Den gemeinsamen Nenner dieser sechs Befunde beschreibt Stephan Marks wie folgt:
„Der Nationalsozialismus zielte nicht darauf, die Menschen kognitiv zu überzeugen, sondern sie emotional einzubinden: Er lebte von der narzisstischen Bedürftigkeit und Abhängigkeit seiner Anhänger, von ihren Schamgefühlen, Kriegstraumata und frühkindlichen Erlösungsphantasien.“ (Marks 2014, S. 168) An anderer Stelle des Buches formuliert er ebenso zusammenfassend:
„Meine These ist, dass das intellektuelle Niveau des NSDAP-Programms und der nationalsozialistischen Schriften, Reden, Filme usw. völlig unerheblich ist – wenn es darum geht, ihren Erfolg bei ihren Anhängern zu erklären. Denn die Nazi-Propaganda zielte von vornherein gar nicht darauf ab, die Menschen kognitiv zu überzeugen, sondern darauf, sie in ganz anderen psychischen Schichten anzusprechen. Sie suchte nicht primär das (entwicklungspsychologisch betrachtet) reife, erwachsene, verantwortungsbewusste und rationale Ich-Bewusstsein des modernen, mentalen Menschen anzusprechen, sondern frühe Erfahrungen und Schichten in der Psyche der Menschen.“ (Marks 2014, S. 42+43)
Ich muss an dieser Stelle gleich erwähnen, dass mich die Arbeit von Stephan Marks stark an das Buch „Schmerzgrenze“ von Joachim Bauer und meine entsprechende Kritik erinnert. Marks hat wie Bauer sehr konkret leidvolle Kindheitserfahrungen als Ursache für Gewalt und Extremismus erkannt und benannt (darauf gehe ich gleich ein). Er hat dieses Themenfeld aber nicht ins Rampenlicht geholt, hat es nicht entsprechend gewichtet. Das Thema Kindheit geht im Verlauf des Buches entsprechend unter. Dies verwundert.
Das Buch von Stephan Marks ist ganz dicht an der Psychohistorie dran (so dicht wie kaum ein anderes Buch außerhalb der Psychohistorie), obwohl er sich offensichtlich nicht mit psychohistorischen Arbeiten befasst hat. Das ist für mich insofern verständlich, weil die Psychohistorie einen sehr wahrten Kern erforscht und beschrieben hat, der menschliche Destruktivität von Grund auf erklärt. Das andere Forschende auf den selben Kern stoßen, ist nur logisch.
Ich werde nachfolgend versuchen, die Überschneidungen von Marks und der Psychohistorie nach Lloyd deMause (2005: "Das emotionale Leben der Nationen") darzustellen, ebenso werde ich zentrale Textstellen bzgl. der Kindheit in dem Buch von Stephan Marks zitieren.
DeMause stellt fest, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen traumatischer Kindheit und der Fähigkeit, in soziale Trance zu verfallen gibt. (deMause 2005, S. 85-86) Wenn Menschen an der „Traumwelt der Gruppentrance“ teilnehmen, befinden sie sich in einem Zustand der Dissoziation bzw. wechseln in ihr „soziales Alter Ego“, so deMause (2005, S. 86) Alter Egos (abgespaltene Persönlichkeitsteile) entstehen vor allem auf Grund traumatischer Kindheitserlebnisse. DeMause beschreibt in seinem Buch, wie politische Führer durch ihre Reden und Gesten Gruppen in „soziale Trance“ versetzten können. Marks spricht von „ hypnotischer Trance“, von „Regression“ (in frühkindliche Stufen) und Eintauchen in „magische Welten“, was bei seinen Gesprächspartnern auch Jahrzehnte nach der NS-Zeit noch spürbar war, wenn sie über diese Zeit sprachen.
Die deutlichsten Überschneidungen mit der Psychohistorie finden sich bei Marks in seinen Ausführungen über Schamgefühle. (Hinweis: Der Gefängnispsychiater James Gilligan - siehe hier - hat Schamgefühle von Mördern in den Mittelpunkt seiner Analyse gestellt. Diese wurden durch massive Gewalterfahrungen in der Kindheit der Mörder ausgelöst.) Er schreibt. „Traumatische oder pathologische Scham (…) taucht besonders in solchen Familienbeziehungen auf, deren Mitglieder verstrickt sind in gegenseitige Entwertungen, Verheimlichungen oder ein Überwältigen des anderen, das heißt, wenn die persönliche Grenze oder Integrität des Einzelnen nicht respektiert wird.“ (Marks 2014, S. 76)
Die Grundlage für traumatische Scham wird nach Marks gelegt wenn Eltern zudringlich sind und die Grenzen des Kindes nicht achten, wenn Eltern unberechenbar, depressiv oder suchtkrank sind, wenn Blickkontakt kultur- oder persönlichkeitsbedingt zwischen Mutter und Säugling verhindert wird (er erwähnt dabei den Erziehungsratgeber der damaligen Zeit „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, in dem empfohlen wurde, dass Mutter und Säugling weitgehend zu trennen sind), wenn Eltern selbst traumatisiert sind und dieses Trauma an ihre Kinder weitergeben oder wenn eine Kultur an sich sehr schamerfüllt ist und Kinder dies in sich aufnehmen. Er schreibt bzgl. dieses Themas zusammenfassend:
„Pathologische Scham entsteht also dann, wenn die Eltern die Suche des Kindes nach Liebe und Anerkennung, nach dem antwortenden Glanz im Auge der Mutter (…) nicht befriedigen. Das kleine Kind empfindet dies als existenzielle Bedrohung, es fühlt sich liebensunwert, wirkungslos, nichtig. (…) Traumatische Scham bedeutet z.B., dass das eigene Verhalten erlebt wird als: ´Ich bin ein Fehler`, statt: ´Ich habe einen Fehler gemacht.` (…) Scham bedeutet Angst vor totaler Verlassenheit (...) vor psychischer Vernichtung“ (Marks 2014, S. 77+78)
Traumatische Schamgefühle wären, so Marks, schmerzhaft und kaum zu ertragen, sie müssen entsprechend abgewehrt werden. „Weil Scham eine so peinigende, kaum auszuhaltende Emotion ist, `schrie´ sie geradezu nach Abwehr, die durch den Nationalsozialismus geboten und legitimiert wurde: (…) durch Idealisierung Hitlers und der Deutschen (…), durch größenphantastische Ansprüche auf Weltherrschaft; durch Versprechungen, die Ehre Deutschlands wiederherzustellen; durch ein heroisierendes und zynisches Weltbild der Härte und damit die Abwehr weicher (´schwächlicher`) Gefühle und humanistischer Werte; durch Verachtung und Vernichtung von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, aber auch von Non-Konformisten (…).“ (S. 84)
Diesem letzt zitierten Abschnitt geht ein Hinweis bzgl. der Niederlage im Ersten Weltkrieg und entsprechender Schamgefühle voraus. Marks verliert hier den Faden zur Kindheit, den er auch auf den nachfolgenden Seiten über die Scham nicht wieder aufnimmt. Allerdings findet er ihn im darauffolgenden Kapitel 4 „Narzissmus und narzisstische Kollusion“ insofern etwas wieder, weil er noch einmal explizit auf Kindheitserfahrungen eingeht.
Der Autor zitiert die Arbeit des Psychoanalytikers Neville Symington, der pathologischen Narzissmus als Abwehrstrategie sieht, „mit der sich Menschen vor unerträglichen psychischen Schmerzen schützen, die auf traumatische Erfahrungen im Zusammenhang mit verweigerter Anerkennung zurückgehen (z.B. auf das Trauma, als Kind missachtet worden zu sein). Wenn diese Traumata nicht durchgearbeitet werden konnten, schlagen sie laut Symington häufig um in Hass gegen die Grundtatsache der menschlichen Existenz: dass nämlich das Selbst des Menschen immer in Beziehung zu anderen Menschen steht.“ (Marks 2014, S. 105)
Auf der nachfolgenden zwei Seiten geht Marks auf den „narzisstischen Missbrauch“ von Kindern durch Elternfiguren ein. Seine Schlussfolgerung ist, dass der Nationalsozialismus „wie eine kollektive narzisstische Kollusion funktionierte. Aus der Perspektive der Anhänger des Nationalsozialismus: Durch ihre Beteiligung am `Dritten Reich` wurde das Loch in ihrem Selbstwertgefühl wie mit einer Plombe gestopft. Aus der Perspektive des Nationalsozialismus: Durch sein Propagandaprogramm vermochte er, die narzisstische Bedürftigkeit seiner Anhänger für seine Zwecke zu instrumentalisieren. (….) Die Wirkung von Bewunderung auf narzisstisch bedürftige Menschen stelle ich mir vor wie einen Tropfen Wasser, der von einem trockenen Löschblatt sofort `gierig` aufgesaugt wird. Die emotionalen Beziehungen innerhalb der NS-Gesellschaft waren demnach ein vielfältiges Geflecht von Bewundern und Bewundert-Werden.“ (Marks 2014, S. 108) Marks zitiert in diesem Kapitel einen Befragten, der bzgl. seiner Zeit bei der SS berichtet: „Ich war stolz, etwas zu sein. (….) Die Minderwertigkeitskomplexe, die ich immer gehabt habe, die waren dann plötzlich verschwunden. Plötzlich war ich wer.“ (Marks 2014, S. 107+108)
Was Marks an dieser Stelle wie auch in vielen anderen Zitaten bzgl. seiner Interviewpartner verpasst hat (oder evtl. keine konkreten Antworten bekam) ist die gezielte Frage nach der Kindheit. Wie war die Kindheit dieses ehemaligen SS-Mannes, wie die der anderen ehemaligen Nazis, die für diese Studie befragt wurden? Der Studie hätte es gut getan, wenn z.B. am Ende der Interviews ein schriftlicher Fragebogen mit konkreten Fragen wie sie bzgl. Gewaltstudien beim Thema Kindesmisshandlung standardisiert üblich sind von den Befragten ausgefüllt worden wäre. So bleibt es bei leichten Andeutungen wie z.B. bzgl. des Befragten Herrn Plessner (Marks 2014, S. 110), der als Kind oft alleine gelassen wurde und nur eine schriftliche Arbeitsanweisung auf dem Tisch zu Hause vorfand. Seine Ausführungen machen deutlich, wie er sich nach einem anerkennenden Blick sehnte, den er bei den Nazis fand. An anderer Stelle im Buch wird ein Interviewauszug mit Frau Groeder beschrieben, die harte selbst erlebte Erziehungsmethoden und ihre Abschiebung in ein Internat komplett unkritisch und idealisierend gegenüberstand. Es habe ihr nicht geschadet. Marks kommentiert das Prinzip, dem die Befragten folgt so: „Verachte deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Marks 2014, S. 127) Entsprechend ginge diese Verachtung einher mit Bewunderung von strenger Erziehung und Idealen des Nationalsozialismus (bei gleichzeitiger Verachtung der „heutigen Jugend“). Dies sind – zumindest nach meiner Durchsicht – die beiden einzigen Textstellen im Buch, wo ansatzweise deutliche Hinweise auf die Kindheit der Befragten zu finden sind.
Die beiden letzten Kapitel möchte ich nicht zu ausführlich besprechen. Marks geht im Kapitel 5 ausführlich auf die transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen im Ersten Weltkrieg ein. Er weist darauf hin, das 11 Millionen Veteranen nach Hause zurückkehrten und psychische Wunden mitbrachten. (Marks 2014, S. 133) „Die transgenrationale Weitergabe geschieht nicht nur durch das, was die traumatisierten Väter bzw. Eltern ihren Kindern sagen, sondern vor allem durch das, was sie sind. Wie sie ihre Töchter und Söhne anschauen, behandeln oder bewerten, wie sie sich auf sie beziehen. Die Veteranen selbst, mit all ihren psychischen Deformierungen, sind die Botschaft: Ihre Derealisierung, Gefühls- und Empathielosigkeit, Idealisierung und Heroisierung wird an die Kinder weitergereicht.“ (Marks 2014, S. 137+138)
Im letzten Kapitel (Nr. 6) vergleicht er das NS-System mit Sucht/Abhängigkeit. Er geht auf das rauschhafte Erleben ein, von dem die Befragten berichten, auf ihre Abhängigkeit und dem Loch in das Viele mit Ende des Krieges („Stunde Null“) vielen.
Im Schlussteil des Buches streift Stephan Marks nur noch in einem Absatz das Thema Kindheit, in dem er auf eine Studie hinweist, die nachwies, das Rechtsextremisten systematische Kränkungen und Misshandlungen im Elternhaus erlebten. Auf den letzten Seiten gibt es eher allgemein präventive Hinweise, einige Schlussgedanken und ein Plädoyer für wertschätzende, freundliche Formen des Umgangs miteinander.
Zusammenfassende Kritik
Außerhalb der Psychohistorie ist das hier besprochene Buch eines der erkenntnisreichsten, das ich bzgl. der Ursachen und der Dynamik der NS-Zeit gelesen habe. Es ist sehr nah dran an meinem Ursachen-Verständnis von gesellschaftlicher Destruktivität wie sie sich z.B. in der NS-Zeit zeigte. Die große und wahre Botschaft des Buches lautet, dass es keinen Sinn macht, den Nationalsozialismus irgendwie rational oder geschichtswissenschaftlich nachvollziehen oder erklären zu wollen. Es geht um die emotionale Welt. Es geht darum, wie die Emotionen der Menschen angesprochen wurden, wie sie gefühlsmäßig an und in das System eingebunden wurden und sich dadurch letztlich einfach gut oder "gesehen" fühlten. Das besonders Wertvolle an der Studie ist, dass mit ehemaligen Nazis direkt ausführlich gesprochen wurde und der emotionale Gehalt der Gespräche analysiert wurde. Eine ähnliche Arbeit ist mir bisher nicht bekannt, obwohl eine solche Herangehensweise doch eigentlich nahe liegt.
Meine Hauptkritik an dem Buch habe ich oben bereits angedeutet. Obwohl der Autor den wichtigen Einfluss von destruktiven Kindheitserfahrungen gesehen und beschrieben hat, hat er diesem Einfluss kein entsprechendes Gewicht im Buch verliehen. Er geht im Grunde nicht auf die allgemein übliche extrem destruktive Erziehungspraxis um 1900 ein (die z.B. deMause beschrieben hat), was seine Thesen vom pathologischem Schamgefühl und narzisstischer Bedürftigkeit der Menschen in der damaligen Zeit untermauert hätte. Man findet entsprechend auch im Schlussteil keine Forderung für verbesserten Kinderschutz und Elternschulungen. Im Schlussteil bleibt der Autor auch ein bisschen pessimistisch. Im Klapptext des Buches wird es vom Verlag noch deutlicher formuliert: Das Beunruhigende an den Erkenntnissen im Buch sei, „all dies kann auch heute noch instrumentalisiert werden.“ Ich sehe dies nur bezogen auf einzelne Personen und kleiner Milieus/Subkulturen so. Die Kindheit und Fürsorge in Deutschland hat sich enorm entwickelt und elterliche Gewalt gegen Kinder ist stark rückläufig. Entsprechend müssen pathologische Schamgefühle und narzisstische Bedürftigkeit deutlich zurückgegangen sein. Die Menschen werden demnach auch im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte immer selbstbewusster, immer weniger anfällig für „falsche Götter“ (wie der Psychoanalytiker Arno Gruen eines seiner Bücher betitelt hat) oder schlicht weg einfach immer empathischer.
Auf der anderen Seite sehen wir weiterhin, dass in den Regionen auf der Welt, die keine Demokratie hinbekommen, wo Krisen, Krieg und/oder Terror herrscht, die weltweit verglichen gewaltvollsten Kindheiten zu finden sind. Die Lehren, die wir Deutschen aus unserer Nazi-Geschichte ziehen sollten, sind: Wir müssen den Kindern in der Welt helfen, wir müssen Kinderschutzbemühungen weltweit vorantreiben, wir müssen verhindern, dass Menschen mit einem „emotionalen Loch“ heranwachsen. Aber vor dem müssen wir erst einmal die eigentlichen Ursachen von destruktiven gesellschaftlichen Entwicklungen gesamtgesellschaftlich besprechen und natürlich auch anerkennen. Das Buch von Stephan Marks ist 2014 in der 3. Auflage erschienen. Das an sich spricht für ein größeres Interesse an emotionalen Ursachen der NS-Zeit. Online habe ich allerdings nicht viele Buchbesprechungen gefunden, vor allem auch nicht in den großen Medien. Dies zeigt wiederum, dass es leider noch etwas Zeit brauchen wird, bis die Botschaft des Buches und erst Recht die Botschaften der Psychohistorie breitflächig ankommen.
Für das Forschungsprojekt (das Forschungsteam bestand aus 10 Personen der ersten Nachkriegsgeneration und unterschiedlicher meist aber psychologisch-pädagogischer Berufsfelder, ergänzend wurden auch durch 11 junge Studierende Interviews mit NS-Anhängern geführt, um zu vergleichen, wie sich der Generationsabstand auf die Interviews auswirkt) wurden 19 Frauen und 24 Männer (Geburtsjahrgänge zwischen 1906 und 1926), die NS-Anhänger waren, ausführlich im Rahmen von Interviews im Zeitraum zwischen 19998 und 2001 befragt. Ergänzend wurden zu Vergleichszwecken 11 Gruppengespräche, an denen jeweils 25 Personen aus verschiedenen Generationen teilnahmen, durchgeführt. Das Projekt wurde durch ständige Supervision begleitet.
Es wurde also viel Aufwand betrieben, um den tieferen Ursachen der NS-Zeit auf den Grund zu gehen.
Sehr beeindruckt haben mich die Schilderungen über die Ergebnisse der Supervision. Ich möchte diese hier gleich zu Beginn der Besprechung etwas ausführlicher wiedergeben:
„Eine eindrückliche Erfahrung bestand darin, dass viele der Interview-Transkripte zunächst wenig informativ zu sein schienen – verglichen mit den emotionalen Botschaften zwischen den Zeilen und den Gefühlen, die wir während und nach den Interviews erlebten. Diese Reaktionen, die wir in dieser Wucht nicht erwartet hatten, werden in der Psychoanalyse als Gegenübertragungen bezeichnet. Oft fühlten wir, die Interviewer, uns im Laufe eines Gespräches wie totgeredet, überrollt oder mundtot gemacht. Verwirrt, müde, passiv, dumm, unklar, wie hypnotisiert oder ´besoffen geredet`. Oder wir spürten nach einem Interview ein merkwürdiges, starkes Verlangen nach Zucker. Oft konnten wir mit `dem Thema` nicht aufhören. Oder wir empfanden Scham, etwa darüber, von dem jeweiligen Interviewten manipuliert, `über den Tisch gezogen`, `eingewickelt`, benutzt, überrannt, plattgemacht oder emotional missbraucht worden zu sein (und die Scham darüber, dies zugelassen zu haben). Auch Scham darüber, es nicht geschafft zu haben, dem Interviewten gegenüber authentisch, `männlich`, `stark`, `standhaft`, geblieben zu sein; oder zu leichtgläubig, naiv, unaufmerksam, `feige`, unterlegen, `minderwertig`, `zu intellektuell`, ungenügend `gewappnet`´ oder `zu schwach` gewesen zu sein. Wir fühlten uns häufig, wie wenn etwas Fremdes, Bösartiges in uns hineingestopft worden wäre, etwas, das mit unserem Anliegen als Interviewer nichts zu tun hatte. In der Nacht nach den Interviews tauchten nicht selten Alpträume auf, z.B. dass jemand in die eigene Wohnung eindringt und sie mit Blut besudelt. Ich träumte einmal nach einem Interview, dass ich Massengräber zu öffnen und die halbverwesten Leichen umzubetten hatte.“ (Marks 2014, S. 182)
Dieser Auszug zeigt schon einmal deutlich, in welche Richtung das Buch geht: Es geht um die emotionale Welt und entsprechend um emotionale Erklärungsansätze bzgl. der NS-Zeit. In dem Buch werden sechs Kernthesen durchgearbeitet und durch die qualitativen Interviews empirisch nachgewiesen. Die Befunde (Marks 2014, S. 20+21,52+53, 167+168):
1. Das nationalsozialistische Bewusstsein war regressiv und magisch, das heißt als ein Zustand, der entwicklungspsychologisch einer frühen Phase entspricht. Entsprechend ergaben sich Vorstellungen von einem gottähnlichem Führer, vom heiligen Reich, Zauberkräften usw.
2. Der nationalsozialistische Bewusstseinszustand lässt sich als hypnotische Trance verstehen. Demzufolge war der Fokus der Aufmerksamkeit eingeengt und gefesselt von einer Person (Adolf Hitler) bzw. einer Sache (Dritte Reich), unter Ausblendung großer Teile der Wirklichkeit. Dieser Zustand ist auch mit Regression (siehe Punkt 1.) verbunden.
3. Der Nationalsozialismus bezog seine psychosoziale Dynamik u.a. aus Schamgefühlen, deren Abwehr er anbot und legitimierte.
4. Der Nationalsozialismus speiste sich auch aus den narzisstischen Defiziten seiner Anhänger, die er auszufüllen versprach.
5. Der Nationalsozialismus erwuchs aus der Abwehr der Traumata des Ersten Weltkrieges; die Abwehrmechanismen Derealisierung, Gefühlskälte, Heroismus und Idealisierung wurden zum politischen Programm gemacht.
6. Der Nationalsozialismus nutzte die Suchtdynamik der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Die Beziehung zwischen dem Nationalsozialismus und seinen Anhängern hatte den Charakter von Suchmittelabhängigkeit, wobei Adolf Hitler und das `Dritte Reich` das stoffgebundene Suchtmittel waren. Diese Abhängigkeit bedeutete ein unabweichbares Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebens und Bewusstseinszustandes, den das NS-Programm beschaffte. Gemäß der Suchtdynamik wurde die sogenannte „Stunde Null“ wie ein Entzug erlebt.
Den gemeinsamen Nenner dieser sechs Befunde beschreibt Stephan Marks wie folgt:
„Der Nationalsozialismus zielte nicht darauf, die Menschen kognitiv zu überzeugen, sondern sie emotional einzubinden: Er lebte von der narzisstischen Bedürftigkeit und Abhängigkeit seiner Anhänger, von ihren Schamgefühlen, Kriegstraumata und frühkindlichen Erlösungsphantasien.“ (Marks 2014, S. 168) An anderer Stelle des Buches formuliert er ebenso zusammenfassend:
„Meine These ist, dass das intellektuelle Niveau des NSDAP-Programms und der nationalsozialistischen Schriften, Reden, Filme usw. völlig unerheblich ist – wenn es darum geht, ihren Erfolg bei ihren Anhängern zu erklären. Denn die Nazi-Propaganda zielte von vornherein gar nicht darauf ab, die Menschen kognitiv zu überzeugen, sondern darauf, sie in ganz anderen psychischen Schichten anzusprechen. Sie suchte nicht primär das (entwicklungspsychologisch betrachtet) reife, erwachsene, verantwortungsbewusste und rationale Ich-Bewusstsein des modernen, mentalen Menschen anzusprechen, sondern frühe Erfahrungen und Schichten in der Psyche der Menschen.“ (Marks 2014, S. 42+43)
Ich muss an dieser Stelle gleich erwähnen, dass mich die Arbeit von Stephan Marks stark an das Buch „Schmerzgrenze“ von Joachim Bauer und meine entsprechende Kritik erinnert. Marks hat wie Bauer sehr konkret leidvolle Kindheitserfahrungen als Ursache für Gewalt und Extremismus erkannt und benannt (darauf gehe ich gleich ein). Er hat dieses Themenfeld aber nicht ins Rampenlicht geholt, hat es nicht entsprechend gewichtet. Das Thema Kindheit geht im Verlauf des Buches entsprechend unter. Dies verwundert.
Das Buch von Stephan Marks ist ganz dicht an der Psychohistorie dran (so dicht wie kaum ein anderes Buch außerhalb der Psychohistorie), obwohl er sich offensichtlich nicht mit psychohistorischen Arbeiten befasst hat. Das ist für mich insofern verständlich, weil die Psychohistorie einen sehr wahrten Kern erforscht und beschrieben hat, der menschliche Destruktivität von Grund auf erklärt. Das andere Forschende auf den selben Kern stoßen, ist nur logisch.
Ich werde nachfolgend versuchen, die Überschneidungen von Marks und der Psychohistorie nach Lloyd deMause (2005: "Das emotionale Leben der Nationen") darzustellen, ebenso werde ich zentrale Textstellen bzgl. der Kindheit in dem Buch von Stephan Marks zitieren.
DeMause stellt fest, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen traumatischer Kindheit und der Fähigkeit, in soziale Trance zu verfallen gibt. (deMause 2005, S. 85-86) Wenn Menschen an der „Traumwelt der Gruppentrance“ teilnehmen, befinden sie sich in einem Zustand der Dissoziation bzw. wechseln in ihr „soziales Alter Ego“, so deMause (2005, S. 86) Alter Egos (abgespaltene Persönlichkeitsteile) entstehen vor allem auf Grund traumatischer Kindheitserlebnisse. DeMause beschreibt in seinem Buch, wie politische Führer durch ihre Reden und Gesten Gruppen in „soziale Trance“ versetzten können. Marks spricht von „ hypnotischer Trance“, von „Regression“ (in frühkindliche Stufen) und Eintauchen in „magische Welten“, was bei seinen Gesprächspartnern auch Jahrzehnte nach der NS-Zeit noch spürbar war, wenn sie über diese Zeit sprachen.
Die deutlichsten Überschneidungen mit der Psychohistorie finden sich bei Marks in seinen Ausführungen über Schamgefühle. (Hinweis: Der Gefängnispsychiater James Gilligan - siehe hier - hat Schamgefühle von Mördern in den Mittelpunkt seiner Analyse gestellt. Diese wurden durch massive Gewalterfahrungen in der Kindheit der Mörder ausgelöst.) Er schreibt. „Traumatische oder pathologische Scham (…) taucht besonders in solchen Familienbeziehungen auf, deren Mitglieder verstrickt sind in gegenseitige Entwertungen, Verheimlichungen oder ein Überwältigen des anderen, das heißt, wenn die persönliche Grenze oder Integrität des Einzelnen nicht respektiert wird.“ (Marks 2014, S. 76)
Die Grundlage für traumatische Scham wird nach Marks gelegt wenn Eltern zudringlich sind und die Grenzen des Kindes nicht achten, wenn Eltern unberechenbar, depressiv oder suchtkrank sind, wenn Blickkontakt kultur- oder persönlichkeitsbedingt zwischen Mutter und Säugling verhindert wird (er erwähnt dabei den Erziehungsratgeber der damaligen Zeit „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, in dem empfohlen wurde, dass Mutter und Säugling weitgehend zu trennen sind), wenn Eltern selbst traumatisiert sind und dieses Trauma an ihre Kinder weitergeben oder wenn eine Kultur an sich sehr schamerfüllt ist und Kinder dies in sich aufnehmen. Er schreibt bzgl. dieses Themas zusammenfassend:
„Pathologische Scham entsteht also dann, wenn die Eltern die Suche des Kindes nach Liebe und Anerkennung, nach dem antwortenden Glanz im Auge der Mutter (…) nicht befriedigen. Das kleine Kind empfindet dies als existenzielle Bedrohung, es fühlt sich liebensunwert, wirkungslos, nichtig. (…) Traumatische Scham bedeutet z.B., dass das eigene Verhalten erlebt wird als: ´Ich bin ein Fehler`, statt: ´Ich habe einen Fehler gemacht.` (…) Scham bedeutet Angst vor totaler Verlassenheit (...) vor psychischer Vernichtung“ (Marks 2014, S. 77+78)
Traumatische Schamgefühle wären, so Marks, schmerzhaft und kaum zu ertragen, sie müssen entsprechend abgewehrt werden. „Weil Scham eine so peinigende, kaum auszuhaltende Emotion ist, `schrie´ sie geradezu nach Abwehr, die durch den Nationalsozialismus geboten und legitimiert wurde: (…) durch Idealisierung Hitlers und der Deutschen (…), durch größenphantastische Ansprüche auf Weltherrschaft; durch Versprechungen, die Ehre Deutschlands wiederherzustellen; durch ein heroisierendes und zynisches Weltbild der Härte und damit die Abwehr weicher (´schwächlicher`) Gefühle und humanistischer Werte; durch Verachtung und Vernichtung von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, aber auch von Non-Konformisten (…).“ (S. 84)
Diesem letzt zitierten Abschnitt geht ein Hinweis bzgl. der Niederlage im Ersten Weltkrieg und entsprechender Schamgefühle voraus. Marks verliert hier den Faden zur Kindheit, den er auch auf den nachfolgenden Seiten über die Scham nicht wieder aufnimmt. Allerdings findet er ihn im darauffolgenden Kapitel 4 „Narzissmus und narzisstische Kollusion“ insofern etwas wieder, weil er noch einmal explizit auf Kindheitserfahrungen eingeht.
Der Autor zitiert die Arbeit des Psychoanalytikers Neville Symington, der pathologischen Narzissmus als Abwehrstrategie sieht, „mit der sich Menschen vor unerträglichen psychischen Schmerzen schützen, die auf traumatische Erfahrungen im Zusammenhang mit verweigerter Anerkennung zurückgehen (z.B. auf das Trauma, als Kind missachtet worden zu sein). Wenn diese Traumata nicht durchgearbeitet werden konnten, schlagen sie laut Symington häufig um in Hass gegen die Grundtatsache der menschlichen Existenz: dass nämlich das Selbst des Menschen immer in Beziehung zu anderen Menschen steht.“ (Marks 2014, S. 105)
Auf der nachfolgenden zwei Seiten geht Marks auf den „narzisstischen Missbrauch“ von Kindern durch Elternfiguren ein. Seine Schlussfolgerung ist, dass der Nationalsozialismus „wie eine kollektive narzisstische Kollusion funktionierte. Aus der Perspektive der Anhänger des Nationalsozialismus: Durch ihre Beteiligung am `Dritten Reich` wurde das Loch in ihrem Selbstwertgefühl wie mit einer Plombe gestopft. Aus der Perspektive des Nationalsozialismus: Durch sein Propagandaprogramm vermochte er, die narzisstische Bedürftigkeit seiner Anhänger für seine Zwecke zu instrumentalisieren. (….) Die Wirkung von Bewunderung auf narzisstisch bedürftige Menschen stelle ich mir vor wie einen Tropfen Wasser, der von einem trockenen Löschblatt sofort `gierig` aufgesaugt wird. Die emotionalen Beziehungen innerhalb der NS-Gesellschaft waren demnach ein vielfältiges Geflecht von Bewundern und Bewundert-Werden.“ (Marks 2014, S. 108) Marks zitiert in diesem Kapitel einen Befragten, der bzgl. seiner Zeit bei der SS berichtet: „Ich war stolz, etwas zu sein. (….) Die Minderwertigkeitskomplexe, die ich immer gehabt habe, die waren dann plötzlich verschwunden. Plötzlich war ich wer.“ (Marks 2014, S. 107+108)
Was Marks an dieser Stelle wie auch in vielen anderen Zitaten bzgl. seiner Interviewpartner verpasst hat (oder evtl. keine konkreten Antworten bekam) ist die gezielte Frage nach der Kindheit. Wie war die Kindheit dieses ehemaligen SS-Mannes, wie die der anderen ehemaligen Nazis, die für diese Studie befragt wurden? Der Studie hätte es gut getan, wenn z.B. am Ende der Interviews ein schriftlicher Fragebogen mit konkreten Fragen wie sie bzgl. Gewaltstudien beim Thema Kindesmisshandlung standardisiert üblich sind von den Befragten ausgefüllt worden wäre. So bleibt es bei leichten Andeutungen wie z.B. bzgl. des Befragten Herrn Plessner (Marks 2014, S. 110), der als Kind oft alleine gelassen wurde und nur eine schriftliche Arbeitsanweisung auf dem Tisch zu Hause vorfand. Seine Ausführungen machen deutlich, wie er sich nach einem anerkennenden Blick sehnte, den er bei den Nazis fand. An anderer Stelle im Buch wird ein Interviewauszug mit Frau Groeder beschrieben, die harte selbst erlebte Erziehungsmethoden und ihre Abschiebung in ein Internat komplett unkritisch und idealisierend gegenüberstand. Es habe ihr nicht geschadet. Marks kommentiert das Prinzip, dem die Befragten folgt so: „Verachte deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Marks 2014, S. 127) Entsprechend ginge diese Verachtung einher mit Bewunderung von strenger Erziehung und Idealen des Nationalsozialismus (bei gleichzeitiger Verachtung der „heutigen Jugend“). Dies sind – zumindest nach meiner Durchsicht – die beiden einzigen Textstellen im Buch, wo ansatzweise deutliche Hinweise auf die Kindheit der Befragten zu finden sind.
Die beiden letzten Kapitel möchte ich nicht zu ausführlich besprechen. Marks geht im Kapitel 5 ausführlich auf die transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen im Ersten Weltkrieg ein. Er weist darauf hin, das 11 Millionen Veteranen nach Hause zurückkehrten und psychische Wunden mitbrachten. (Marks 2014, S. 133) „Die transgenrationale Weitergabe geschieht nicht nur durch das, was die traumatisierten Väter bzw. Eltern ihren Kindern sagen, sondern vor allem durch das, was sie sind. Wie sie ihre Töchter und Söhne anschauen, behandeln oder bewerten, wie sie sich auf sie beziehen. Die Veteranen selbst, mit all ihren psychischen Deformierungen, sind die Botschaft: Ihre Derealisierung, Gefühls- und Empathielosigkeit, Idealisierung und Heroisierung wird an die Kinder weitergereicht.“ (Marks 2014, S. 137+138)
Im letzten Kapitel (Nr. 6) vergleicht er das NS-System mit Sucht/Abhängigkeit. Er geht auf das rauschhafte Erleben ein, von dem die Befragten berichten, auf ihre Abhängigkeit und dem Loch in das Viele mit Ende des Krieges („Stunde Null“) vielen.
Im Schlussteil des Buches streift Stephan Marks nur noch in einem Absatz das Thema Kindheit, in dem er auf eine Studie hinweist, die nachwies, das Rechtsextremisten systematische Kränkungen und Misshandlungen im Elternhaus erlebten. Auf den letzten Seiten gibt es eher allgemein präventive Hinweise, einige Schlussgedanken und ein Plädoyer für wertschätzende, freundliche Formen des Umgangs miteinander.
Zusammenfassende Kritik
Außerhalb der Psychohistorie ist das hier besprochene Buch eines der erkenntnisreichsten, das ich bzgl. der Ursachen und der Dynamik der NS-Zeit gelesen habe. Es ist sehr nah dran an meinem Ursachen-Verständnis von gesellschaftlicher Destruktivität wie sie sich z.B. in der NS-Zeit zeigte. Die große und wahre Botschaft des Buches lautet, dass es keinen Sinn macht, den Nationalsozialismus irgendwie rational oder geschichtswissenschaftlich nachvollziehen oder erklären zu wollen. Es geht um die emotionale Welt. Es geht darum, wie die Emotionen der Menschen angesprochen wurden, wie sie gefühlsmäßig an und in das System eingebunden wurden und sich dadurch letztlich einfach gut oder "gesehen" fühlten. Das besonders Wertvolle an der Studie ist, dass mit ehemaligen Nazis direkt ausführlich gesprochen wurde und der emotionale Gehalt der Gespräche analysiert wurde. Eine ähnliche Arbeit ist mir bisher nicht bekannt, obwohl eine solche Herangehensweise doch eigentlich nahe liegt.
Meine Hauptkritik an dem Buch habe ich oben bereits angedeutet. Obwohl der Autor den wichtigen Einfluss von destruktiven Kindheitserfahrungen gesehen und beschrieben hat, hat er diesem Einfluss kein entsprechendes Gewicht im Buch verliehen. Er geht im Grunde nicht auf die allgemein übliche extrem destruktive Erziehungspraxis um 1900 ein (die z.B. deMause beschrieben hat), was seine Thesen vom pathologischem Schamgefühl und narzisstischer Bedürftigkeit der Menschen in der damaligen Zeit untermauert hätte. Man findet entsprechend auch im Schlussteil keine Forderung für verbesserten Kinderschutz und Elternschulungen. Im Schlussteil bleibt der Autor auch ein bisschen pessimistisch. Im Klapptext des Buches wird es vom Verlag noch deutlicher formuliert: Das Beunruhigende an den Erkenntnissen im Buch sei, „all dies kann auch heute noch instrumentalisiert werden.“ Ich sehe dies nur bezogen auf einzelne Personen und kleiner Milieus/Subkulturen so. Die Kindheit und Fürsorge in Deutschland hat sich enorm entwickelt und elterliche Gewalt gegen Kinder ist stark rückläufig. Entsprechend müssen pathologische Schamgefühle und narzisstische Bedürftigkeit deutlich zurückgegangen sein. Die Menschen werden demnach auch im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte immer selbstbewusster, immer weniger anfällig für „falsche Götter“ (wie der Psychoanalytiker Arno Gruen eines seiner Bücher betitelt hat) oder schlicht weg einfach immer empathischer.
Auf der anderen Seite sehen wir weiterhin, dass in den Regionen auf der Welt, die keine Demokratie hinbekommen, wo Krisen, Krieg und/oder Terror herrscht, die weltweit verglichen gewaltvollsten Kindheiten zu finden sind. Die Lehren, die wir Deutschen aus unserer Nazi-Geschichte ziehen sollten, sind: Wir müssen den Kindern in der Welt helfen, wir müssen Kinderschutzbemühungen weltweit vorantreiben, wir müssen verhindern, dass Menschen mit einem „emotionalen Loch“ heranwachsen. Aber vor dem müssen wir erst einmal die eigentlichen Ursachen von destruktiven gesellschaftlichen Entwicklungen gesamtgesellschaftlich besprechen und natürlich auch anerkennen. Das Buch von Stephan Marks ist 2014 in der 3. Auflage erschienen. Das an sich spricht für ein größeres Interesse an emotionalen Ursachen der NS-Zeit. Online habe ich allerdings nicht viele Buchbesprechungen gefunden, vor allem auch nicht in den großen Medien. Dies zeigt wiederum, dass es leider noch etwas Zeit brauchen wird, bis die Botschaft des Buches und erst Recht die Botschaften der Psychohistorie breitflächig ankommen.
Montag, 19. Oktober 2015
Studie: Familie und Rechtsextremismus
Nachfolgend stelle ich kurz die Studie „Hopf, Christel; Rieker, Peter; Sanden-Marcus, Martina und Schmidt, Christian (1995): Familie und Rechtsextremismus. Familiale Sozialisation und rechtsextreme Orientierung junger Männer. Weinheim und München: Juventa Verlag.“ vor.
Sehr ausführlich befragt wurden 25 junge Männer (17 bis 25 Jahre alt) in der Zeit um das Jahr 1992. Die Männer arbeiteten als Facharbeiter, Handwerker oder waren in Ausbildung (schwerpunktmäßig aus der Metallindustrie). Gezielt wollten die Forschenden keine arbeitslosen Männer interviewen, ebenso keine Männer, die bereits straffällig geworden waren oder in Heimen aufgewachsen sind.
An Hand der Interviews wurden die 25 Befragten bzgl. rechtsextremer Orientierung wie folgt eingeteilt (S. 52):
rechtsextrem = 6
eher rechtsextrem = 8
eher nicht rechtsextrem = 4
nicht rechtsextrem = 6
unklar = 1
Die Studie ist schwer umfassend zu besprechen, da sie sehr ausführlich auf die Aussagen der Personen eingeht. Grundsätzlich fand die Studie einen Zusammenhang zwischen Erfahrungen in der Familie, deren individuelle Verarbeitung und rechtsextremer Orientierung, was folgender Auszug deutlich macht:
„In unserer Untersuchung haben wir einen engen Zusammenhang zwischen unsicher/nicht-autonomen Typen der Bindungsrepräsentation und rechtsextremen sowie autoritären Orientierungen gefunden. Bei der Klassifizierung von Repräsentationsmustern haben wir in Anlehnung an die Attachment-Forschung nicht einfach Kindheitserfahrungen, sondern vor allem deren subjektive Verarbeitung zu erfassen versucht. (…) Es sind nicht einfach negative, familiale Erfahrungen in der Kindheit, die bei der Herausbildung rechtsextremer und autoritärer Orientierungen bedeutsam sind, sondern die subjektiven Umgangsweisen mit den Beziehungserfahrungen.“ (S. 153)
Der Einfachheit halber habe ich nachfolgend einzelne Ergebnisse nur für die deutlich rechtsextremen und die deutlich nicht rechtsextremen Befragten zusammengefasst und die Zwischenformen weggelassen . Diese Ergebnisse sprechen für sich und stützen meine Grundthese, dass eine gewaltfreie Erziehung grundsätzlich bei „Tätertypen“ wie Rechtsextremisten nicht zu finden ist. Ebenfalls zeigte kein einziger Rechtsextremist sichere Bindungsmuster. Mensch lese selbst:
Ausgesuchte Ergebnisse (S. 194-199)
Bei allen Befragten wurden starke Merkmale der „autoritären Persönlichkeit“ festgestellt.
autoritär/aggressiv = 3
autoritär/klassisch = 3
Körperliche Gewalt
5 Befragte berichteten von mittel bis starken körperliche Bestrafungen in der Familie
1 Befragter konnte nicht eingeordnet werden
Bindung/Einstellungen zu familiären Bindungserfahrungen
kein einziger Befragter aus dieser Gruppe zeigte sichere Bindungsmuster (Kategorie „sicher-autonom“). Sie waren entweder „abwehrend-bagatellisierend“ oder „verstrickt“.
Empathie
Die Fähigkeit/Bereitschaft zu Empathie war bei 4 Befragten „deutlich nicht gegeben“, bei einem „eher gegeben“ und bei einem anderen „nicht einzuordnen“.
Längerfristige Beziehungen zu Freundin
5 Befragte = nicht vorhanden
1 Befragter vorhanden
Erfahrung von liebevoller Zuwendung seitens der Mutter
wenig = 2 Befragte
mittel = 2 Befragten
viel = 1 Befragter
nicht einzuordnen = 1 Befragter
Persönliche Anmerkung: Interessant ist, dass der Befragte ("Hans"), der hier als einziger in der Kategorie "viel liebevolle Zuwendung" kam auch der einzige Rechtsextremist ist, der bzgl. Empathie auch als einziger in die Kategorie "eher gegeben" eingestuft wurde. Hans erlebte aber auch mittel bis starke elterliche Gewalt, was nichts mit liebevoller Erziehung zu tun hat. Vielleicht deuten seine Angabe aber darauf hin, dass seine Mutter ambivalent war und eine situative Zuneigung u.a. auch Auswirkungen auf die Entwicklung von leichter Empathie hatte. Dies ist natürlich nur eine Vermutung. .
Erfahrung von liebevoller Zuwendung seitens des Vaters
wenig = 2 Befragten
mittel = 3 Befragte
viel= 0
nicht einzuordnen = 1
Bei allen Befragten wurden keine deutlichen Merkmale der „autoritären Persönlichkeit“ festgestellt, sondern entweder gar keine oder eine Zwischenvariante oder in einem Fall nicht einzuordnen
Körperliche Gewalt
1 Befragter berichteten von mittel bis starken körperliche Bestrafungen in der Familie
5 Befragter erlebten keine oder sehr leichte Strafen
Bindung/Einstellungen zu familiären Bindungserfahrungen
3 Befragte wurden als „sicher-autonom“ einkategorisiert.
1 Befragter „abwehrend-bagatellisierend“
2 Befragte konnten nicht eingeordnet werden
Empathie
1 deutlich gegeben
3 eher gegeben
1 teils teils
1 deutlich nicht gegeben
Längerfristige Beziehungen zu Freundin
2 Befragte = nicht vorhanden
4 Befragte = vorhanden
Erfahrung von liebevoller Zuwendung seitens der Mutter
wenig = 2 Befragte
mittel = 2 Befragten
viel = 2 Befragter
Erfahrung von liebevoller Zuwendung seitens des Vaters
wenig = 2 Befragten
mittel = 4 Befragte
viel= 0
"Thomas" (als deutlich rechtsextrem eingeordnet)
Seine Eltern unterstützten ihn wenig, hatten wenig Zeit für ihn, waren wenig einfühlsam und aggressiv/gewalttätig gegenüber ihrem Sohn. (S. 101+114) Die Mutter schlug ihn mit einem Kochlöffel oder dem Teppichklopfer, der Vater mit der Hand. Thomas erzählt im Interview von einer Begebenheit im Kindergarten. Ein Kind hatte ihm mit einer Schaufel das Nasenbein gebrochen. Er kam ins Krankenhaus und bekam einen Gipsverband. Als die Mutter ihn dort besuchte, habe sie sich "halbtot gelacht", er sähe ja "so witzig aus". (S. 101) Thomas selbst bestreitet, dass das Verhalten seiner Eltern Einfluss auf sein späteres Leben gehabt hätte. (S. 115)
"Xaver" (als deutlich rechtsextrem eingeordnet)
Xaver beschreibt viele Konflikte mit seinem Vater und auch seine Wut/Hass gegen ihn. Der Vater zwang ihn jeden Tag (auch Sonntags oder im Urlaub) für die Schule zu üben. Xaver betont, mit seinem Vater nichts mehr zu tun haben zu wollen. Als der Vater einmal sein Zimmer durchsuchte, weil er vermutete, der Sohn habe ihm ein Buch gestohlen (was nicht stimmte), wurde er von Xaver mit einem Baseballschläger bedroht und aus dem Zimmer getrieben. Seit dem habe er nie wieder mit seinem Vater gesprochen. (S. 120+121) An einer Stelle beschreibt er seine Beziehung zu seinen Eltern. "So wie ich derzeit mit meinen Eltern auskomme und so, will ich mal ganz grundsätzlich sagen, würd`s mir wohl nichts ausmachen, wenn se sterben. (...) mir wär`s eigentlich egal, ich meine, weil dann habe ich mein eigenes Leben und dann bin ich frei und dann kann ich alle machen, was ich will und so (...)" (S. 123)
Xaver erlebte - wie die anderen rechtsextremen Befragten - auch mittel bis starke körperliche Gewalt in der Familie. (S. 199) Bzgl. erfahrener liebevoller Zuwendung seitens Mutter und Vater wurde er in die Kategorie "mittel" eingestuft, was vor diesen vorgenannten Aussagen verwundert. Vermutlich hat er rückblickend die Beziehung zu den Eltern teils beschönigt, was nicht ungewöhnlich für einst gedemütigte Kinder ist.
Xaver betont, sein Hass gegen "Kanaken" oder "Linke" sei "maximal, der geht schon nicht mehr höher" (...) also das ist dieser Hass gegen diese Leute und so. Ich glaube, man muss mich (...) eher umbringen, bevor ich das irgendwie raus habe aus meinem Hirn oder so. Das kann man mir auch nicht rausschlagen (...)." (S. 149) Von den Forschenden wird dieser Hass und Tötungsfantasien im Zusammenhang mit dem verstrickten familialen Repräsentationsmuster gesehen.
Sehr ausführlich befragt wurden 25 junge Männer (17 bis 25 Jahre alt) in der Zeit um das Jahr 1992. Die Männer arbeiteten als Facharbeiter, Handwerker oder waren in Ausbildung (schwerpunktmäßig aus der Metallindustrie). Gezielt wollten die Forschenden keine arbeitslosen Männer interviewen, ebenso keine Männer, die bereits straffällig geworden waren oder in Heimen aufgewachsen sind.
An Hand der Interviews wurden die 25 Befragten bzgl. rechtsextremer Orientierung wie folgt eingeteilt (S. 52):
rechtsextrem = 6
eher rechtsextrem = 8
eher nicht rechtsextrem = 4
nicht rechtsextrem = 6
unklar = 1
Die Studie ist schwer umfassend zu besprechen, da sie sehr ausführlich auf die Aussagen der Personen eingeht. Grundsätzlich fand die Studie einen Zusammenhang zwischen Erfahrungen in der Familie, deren individuelle Verarbeitung und rechtsextremer Orientierung, was folgender Auszug deutlich macht:
„In unserer Untersuchung haben wir einen engen Zusammenhang zwischen unsicher/nicht-autonomen Typen der Bindungsrepräsentation und rechtsextremen sowie autoritären Orientierungen gefunden. Bei der Klassifizierung von Repräsentationsmustern haben wir in Anlehnung an die Attachment-Forschung nicht einfach Kindheitserfahrungen, sondern vor allem deren subjektive Verarbeitung zu erfassen versucht. (…) Es sind nicht einfach negative, familiale Erfahrungen in der Kindheit, die bei der Herausbildung rechtsextremer und autoritärer Orientierungen bedeutsam sind, sondern die subjektiven Umgangsweisen mit den Beziehungserfahrungen.“ (S. 153)
Der Einfachheit halber habe ich nachfolgend einzelne Ergebnisse nur für die deutlich rechtsextremen und die deutlich nicht rechtsextremen Befragten zusammengefasst und die Zwischenformen weggelassen . Diese Ergebnisse sprechen für sich und stützen meine Grundthese, dass eine gewaltfreie Erziehung grundsätzlich bei „Tätertypen“ wie Rechtsextremisten nicht zu finden ist. Ebenfalls zeigte kein einziger Rechtsextremist sichere Bindungsmuster. Mensch lese selbst:
Ausgesuchte Ergebnisse (S. 194-199)
Als deutlich rechtsextrem eingestufte Befragte (6 Männer):
Autoritarismusindex bzw. autoritäre PersönlichkeitBei allen Befragten wurden starke Merkmale der „autoritären Persönlichkeit“ festgestellt.
autoritär/aggressiv = 3
autoritär/klassisch = 3
Körperliche Gewalt
5 Befragte berichteten von mittel bis starken körperliche Bestrafungen in der Familie
1 Befragter konnte nicht eingeordnet werden
Bindung/Einstellungen zu familiären Bindungserfahrungen
kein einziger Befragter aus dieser Gruppe zeigte sichere Bindungsmuster (Kategorie „sicher-autonom“). Sie waren entweder „abwehrend-bagatellisierend“ oder „verstrickt“.
Empathie
Die Fähigkeit/Bereitschaft zu Empathie war bei 4 Befragten „deutlich nicht gegeben“, bei einem „eher gegeben“ und bei einem anderen „nicht einzuordnen“.
Längerfristige Beziehungen zu Freundin
5 Befragte = nicht vorhanden
1 Befragter vorhanden
Erfahrung von liebevoller Zuwendung seitens der Mutter
wenig = 2 Befragte
mittel = 2 Befragten
viel = 1 Befragter
nicht einzuordnen = 1 Befragter
Persönliche Anmerkung: Interessant ist, dass der Befragte ("Hans"), der hier als einziger in der Kategorie "viel liebevolle Zuwendung" kam auch der einzige Rechtsextremist ist, der bzgl. Empathie auch als einziger in die Kategorie "eher gegeben" eingestuft wurde. Hans erlebte aber auch mittel bis starke elterliche Gewalt, was nichts mit liebevoller Erziehung zu tun hat. Vielleicht deuten seine Angabe aber darauf hin, dass seine Mutter ambivalent war und eine situative Zuneigung u.a. auch Auswirkungen auf die Entwicklung von leichter Empathie hatte. Dies ist natürlich nur eine Vermutung. .
Erfahrung von liebevoller Zuwendung seitens des Vaters
wenig = 2 Befragten
mittel = 3 Befragte
viel= 0
nicht einzuordnen = 1
deutlich keine rechtsexreme Orientierung (6 Männer).
Autoritarismusindex bzw. autoritäre PersönlichkeitBei allen Befragten wurden keine deutlichen Merkmale der „autoritären Persönlichkeit“ festgestellt, sondern entweder gar keine oder eine Zwischenvariante oder in einem Fall nicht einzuordnen
Körperliche Gewalt
1 Befragter berichteten von mittel bis starken körperliche Bestrafungen in der Familie
5 Befragter erlebten keine oder sehr leichte Strafen
Bindung/Einstellungen zu familiären Bindungserfahrungen
3 Befragte wurden als „sicher-autonom“ einkategorisiert.
1 Befragter „abwehrend-bagatellisierend“
2 Befragte konnten nicht eingeordnet werden
Empathie
1 deutlich gegeben
3 eher gegeben
1 teils teils
1 deutlich nicht gegeben
Längerfristige Beziehungen zu Freundin
2 Befragte = nicht vorhanden
4 Befragte = vorhanden
Erfahrung von liebevoller Zuwendung seitens der Mutter
wenig = 2 Befragte
mittel = 2 Befragten
viel = 2 Befragter
Erfahrung von liebevoller Zuwendung seitens des Vaters
wenig = 2 Befragten
mittel = 4 Befragte
viel= 0
Zwei Fallbeispiele: "Thomas" und "Xaver"
"Thomas" (als deutlich rechtsextrem eingeordnet)
Seine Eltern unterstützten ihn wenig, hatten wenig Zeit für ihn, waren wenig einfühlsam und aggressiv/gewalttätig gegenüber ihrem Sohn. (S. 101+114) Die Mutter schlug ihn mit einem Kochlöffel oder dem Teppichklopfer, der Vater mit der Hand. Thomas erzählt im Interview von einer Begebenheit im Kindergarten. Ein Kind hatte ihm mit einer Schaufel das Nasenbein gebrochen. Er kam ins Krankenhaus und bekam einen Gipsverband. Als die Mutter ihn dort besuchte, habe sie sich "halbtot gelacht", er sähe ja "so witzig aus". (S. 101) Thomas selbst bestreitet, dass das Verhalten seiner Eltern Einfluss auf sein späteres Leben gehabt hätte. (S. 115)
"Xaver" (als deutlich rechtsextrem eingeordnet)
Xaver beschreibt viele Konflikte mit seinem Vater und auch seine Wut/Hass gegen ihn. Der Vater zwang ihn jeden Tag (auch Sonntags oder im Urlaub) für die Schule zu üben. Xaver betont, mit seinem Vater nichts mehr zu tun haben zu wollen. Als der Vater einmal sein Zimmer durchsuchte, weil er vermutete, der Sohn habe ihm ein Buch gestohlen (was nicht stimmte), wurde er von Xaver mit einem Baseballschläger bedroht und aus dem Zimmer getrieben. Seit dem habe er nie wieder mit seinem Vater gesprochen. (S. 120+121) An einer Stelle beschreibt er seine Beziehung zu seinen Eltern. "So wie ich derzeit mit meinen Eltern auskomme und so, will ich mal ganz grundsätzlich sagen, würd`s mir wohl nichts ausmachen, wenn se sterben. (...) mir wär`s eigentlich egal, ich meine, weil dann habe ich mein eigenes Leben und dann bin ich frei und dann kann ich alle machen, was ich will und so (...)" (S. 123)
Xaver erlebte - wie die anderen rechtsextremen Befragten - auch mittel bis starke körperliche Gewalt in der Familie. (S. 199) Bzgl. erfahrener liebevoller Zuwendung seitens Mutter und Vater wurde er in die Kategorie "mittel" eingestuft, was vor diesen vorgenannten Aussagen verwundert. Vermutlich hat er rückblickend die Beziehung zu den Eltern teils beschönigt, was nicht ungewöhnlich für einst gedemütigte Kinder ist.
Xaver betont, sein Hass gegen "Kanaken" oder "Linke" sei "maximal, der geht schon nicht mehr höher" (...) also das ist dieser Hass gegen diese Leute und so. Ich glaube, man muss mich (...) eher umbringen, bevor ich das irgendwie raus habe aus meinem Hirn oder so. Das kann man mir auch nicht rausschlagen (...)." (S. 149) Von den Forschenden wird dieser Hass und Tötungsfantasien im Zusammenhang mit dem verstrickten familialen Repräsentationsmuster gesehen.
Montag, 5. Oktober 2015
Psychohistorie. Die Zeit der Entdeckungen liegt hinter uns!
Die Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie (GPPP) hat aktuell ihren Internetauftritt angepasst. Neu ist vor allem eine Übersicht über Arbeitsfelder und entsprechend Forschende, wie auch ein kurzer Rückblick auf die Entstehung von Psychohistorie.
In dem Text steht:
"Im Rückblick auf die 25 Jahre der Psychohistorie in Deutschland kann man feststellen, dass die wissenschaftliche Landschaft der Psychohistorie im wesentlichen ausgeschritten ist. Die Zeit der Entdeckungen liegt hinter uns. Es geht jetzt vor allem um weitere Differenzierung und Vertiefung – aber vielleicht noch wichtiger um Fragen der Systematisierung und ganz entscheidend um die Vermittlung des psychohistorischen Wissens an die Gesellschaft und auch die wissenschaftliche Welt.“ (Quelle: Janus, Jahrbuch für psychohistorische Forschung, Band 12)
Ich kann dem nur zustimmen. Diese Passage drückt exakt meine Sicht und auch Gefühlslage aus. Nachdem ich mich mittlerweile fast 13 Jahre mit dem Thema an sich und seit 2008 im Speziellen durch die Arbeit an diesem Blog letztlich mit psychohistorischen Ansätzen befasse, fühle ich mich etwas wie in einer Warteschleife. Es geht nur noch darum, wann die Gesellschaft bereit ist, die Dinge bewusst erkennen zu wollen.
Wie ich schon in meinem kürzlich Beitrag über die Weiterentwicklung der (deutschsprachigen) Psychohistorie erwähnt habe, gehe ich davon aus, dass die starke Abnahme von Gewalt gegen Kinder in Deutschland und die starke Zunahme von Fürsorge gegenüber Kindern letztlich die Abwehr aufbrechen wird. Auch in dieser Hinsicht befinde ich mich im Rahmen psychohistorischer Theorie: Die stetige Verbesserung der Kindererziehungspraxis wird gesellschaftlich nicht ohne Folgen bleiben!
In dem Text steht:
"Im Rückblick auf die 25 Jahre der Psychohistorie in Deutschland kann man feststellen, dass die wissenschaftliche Landschaft der Psychohistorie im wesentlichen ausgeschritten ist. Die Zeit der Entdeckungen liegt hinter uns. Es geht jetzt vor allem um weitere Differenzierung und Vertiefung – aber vielleicht noch wichtiger um Fragen der Systematisierung und ganz entscheidend um die Vermittlung des psychohistorischen Wissens an die Gesellschaft und auch die wissenschaftliche Welt.“ (Quelle: Janus, Jahrbuch für psychohistorische Forschung, Band 12)
Ich kann dem nur zustimmen. Diese Passage drückt exakt meine Sicht und auch Gefühlslage aus. Nachdem ich mich mittlerweile fast 13 Jahre mit dem Thema an sich und seit 2008 im Speziellen durch die Arbeit an diesem Blog letztlich mit psychohistorischen Ansätzen befasse, fühle ich mich etwas wie in einer Warteschleife. Es geht nur noch darum, wann die Gesellschaft bereit ist, die Dinge bewusst erkennen zu wollen.
Wie ich schon in meinem kürzlich Beitrag über die Weiterentwicklung der (deutschsprachigen) Psychohistorie erwähnt habe, gehe ich davon aus, dass die starke Abnahme von Gewalt gegen Kinder in Deutschland und die starke Zunahme von Fürsorge gegenüber Kindern letztlich die Abwehr aufbrechen wird. Auch in dieser Hinsicht befinde ich mich im Rahmen psychohistorischer Theorie: Die stetige Verbesserung der Kindererziehungspraxis wird gesellschaftlich nicht ohne Folgen bleiben!
Mittwoch, 30. September 2015
Offener Brief an UNICEF-Deutschland
Sehr geehrte Damen und Herren des Vorstandes,
sehr geehrte Frau Dietz,
ich bin etwas unsicher, an wen ich mein Anliegen adressieren soll. Am liebsten würde ich es an alle Entscheidungsträger bei UNICEF senden. Ich richte diese Anfrage also an den Vorstand von UNICEF-Deutschland wie auch gesondert an die in Deutschland für Kinderrechte zuständige Mitarbeiterin Lena Dietz.
Vor etwas über einem Jahr wurde die Studie „Hidden in Plain Sight“ von UNICEF veröffentlicht.
Mir ist aufgefallen, dass in der entsprechenden deutschen Pressemitteilung (http://www.unicef.de/presse/2014/report-gewalt-gegen-kinder/56138), der deutschsprachigen Zusammenfassung der Studie (http://www.unicef.de/blob/56142/c4a3b7a18083ccea986417b86169d03f/zusammenfassung-unicef-report-hidden-in-plain-sight-data.pdf) wie auch in der englischsprachigen Originalstudie zwar auf die Folgen der (meist elterlichen) Gewalt gegen Kinder eingegangen wird, die politischen Folgen aber ausgeklammert wurden. Gesellschaftliche Folgen wurden durch UNICEF in der Studie maximal thematisch in Hinsicht auf die sozialen und ökonomischen Kosten wie auch bzgl. z.B. Kriminalität erfasst.
Bzgl. der möglichen individuellen Folgen oder Folgeschäden wurde in der Studie ein weites Feld eröffnet. Auch in dieser Hinsicht fehlte mir eine deutliche Übertragung, die auch bei der Leserschaft wie auch der Presse ankommt. Das Ausmaß der Gewalt ist in vielen Regionen extrem groß. Entsprechend weit verbreitet müssen auch die Folgeschäden in den entsprechenden Gesellschaften als Ganzes sein. Viele Probleme und soziale Schieflagen in der Welt stehen insofern in einem ursächlichen Zusammenhang mit leidvollen Kindheiten. Darauf wurde leider nicht mit deutlichen Worten hingewiesen.
„Gewalt zieht Gewalt nach sich. Wir wissen, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass misshandelte Kinder Gewalt als normal ansehen oder sogar akzeptieren und diese auch in der Zukunft gegen die eigenen Kinder anwenden.” wird der UNICEF-Exekutivdirektor Anthony Lake in der deutschsprachigen Zusammenfassung zitiert. Was ich nicht verstehe ist, warum diese Erkenntnis nicht ins Politische übertragen wurde? Auch Politiker waren einst Kinder, ebenso Soldaten, wie auch Beamte, Medienleute und all die anderen wichtigen Entscheidungsträger, die in einer Gesellschaft Wege bestimmen, öffnen oder auch versperren.
In der o.g. Studie wurden 23 Länder gesondert erwähnt und herausgestellt, weil dort mehr als 1 von 5 Kindern (bis in die Spitze sogar fast jedes zweite Kind wie z.B. im Jemen) besonders schwere elterliche Gewalt erlebt. Und das gilt, der Studie folgend, ja auch nur für das Gewalterleben innerhalb von vier Wochen, die Gewaltraten für die gesamte Kindheit wird entsprechend höher liegen. Ich habe der bewusstmachenden Übersicht halber nachfolgend einmal die Daten für diese 23 Länder aufgeführt:
Jemen
körperliche und/oder psychische Gewalt: 95 %
körperliche Gewalt: 86 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 43 %
psychische Gewalt: 92 %
Ägypten
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 82 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 42 %
psychische Gewalt: 83 %
Chad
körperliche und/oder psychische Gewalt: 84 %
körperliche Gewalt: 77 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 41 %
psychische Gewalt: 71 %
Afghanistan
körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %
körperliche Gewalt: 69 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 38 %
psychische Gewalt: 62 %
Demokratische Republik Kongo
körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %
körperliche Gewalt: 80 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 37 %
psychische Gewalt: 82 %
Zentralafrika
körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %
körperliche Gewalt: 81 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 36 %
psychische Gewalt: 84 %
Vanuatu
körperliche und/oder psychische Gewalt: 84 %
körperliche Gewalt: 72 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 35 %
psychische Gewalt: 77 %
Nigeria
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 79 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 34 %
psychische Gewalt: 81 %
Tunesien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt: 74 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 32 %
psychische Gewalt: 90 %
Niger
körperliche und/oder psychische Gewalt: 82 %
körperliche Gewalt: 66 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 31 %
psychische Gewalt: 77 %
Guinea-Bissau
körperliche und/oder psychische Gewalt: 82 %
körperliche Gewalt: 74 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 29 %
psychische Gewalt: 68 %
Liberia
körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %
körperliche Gewalt: 69 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 62 %
Mauretanien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 87 %
körperliche Gewalt: 78 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 82 %
Kamerun
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt: 78 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 87 %
Irak
körperliche und/oder psychische Gewalt: 79 %
körperliche Gewalt: 63 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 75 %
Kongo
körperliche und/oder psychische Gewalt: 87 %
körperliche Gewalt: 69 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 80 %
Staat Palästina
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt: 76 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 90 %
Algerien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 88 %
körperliche Gewalt: 75 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 25 %
psychische Gewalt: 84 %
Marokko
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 67 %
besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %
psychische Gewalt: 89 %
Syrien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 89 %
körperliche Gewalt: 78 %
besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %
psychische Gewalt: 84 %
Elfenbeinküste
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 73 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 23 %
psychische Gewalt: 88 %
Dschibuti
körperliche und/oder psychische Gewalt: 72 %
körperliche Gewalt: 67 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 22 %
psychische Gewalt: 57 %
Jordanien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 90 %
körperliche Gewalt: 67 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 22 %
psychische Gewalt: 88 %
Ist denn niemanden aufgefallen, dass gerade diese 23 Länder weitgehend die aktuellen politischen „Sorgenkinder“ umfassen? Wo Krieg herrscht oder herrschte, Terroristen rekrutiert werden, Demokratie ein ferner Traum ist und/oder sozial enorm instabile Verhältnisse bestehen usw.?
In der medialen Besprechung der Studie war Caroline Fetscher vom Tagesspiegel die Einzige, die deutliche Worte gefunden und auch die politischen Dimensionen erfasst hat, die das gewaltige Ausmaß der Gewalt gegen Kinder bedeuten. Am Schluss ihres Textes schreibt sie:
„Waren Kinder es gewohnt, die Blitzableiter der Eltern zu sein, machen sie auch ihre Kinder zu Blitzableitern, und ganze Gruppen suchen sich für solche Funktionen „die Juden“, „die Zigeuner“, „die Ungläubigen“. Wo Gewalt gegen Kinder am meisten toleriert wird, gibt es Krisen und Kriege. Schon deshalb müsste die Präventionsrendite Politiker brennend interessieren.“ (http://www.tagesspiegel.de/politik/unicef-studie-ueber-gewalt-gegen-kinder-blitzableiter-der-eigenen-eltern/10665534.html) Ich möchte ergänzen, dass Kriege und Krisen zunächst einmal natürlich gewaltbereite Menschen brauchen, dazu kommt aber auch, dass es Massen an Menschen braucht, die ohnmächtig verharren und das schon im Vorfeld der Eskalation. Auch hier wird eine weite Verbreitung von Kindesmisshandlung ihre Wirkung entfalten.
Der bekannte Psychoanalytiker Arno Gruen hat 2001 für sein Buch “Der Fremde in uns” den Geschwister-Scholl-Preis erhalten. In dem Buch wird eindrücklich dargestellt, wie elterliche Gewalt und Gehorsamsforderungen das Fundament für Kriege darstellen. Gruen zieht dabei in seinem Buch auch schwerpunktmäßig einen Zusammenhang zwischen Kindheit und NS-Zeit. Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat dies thematisch noch deutlicher formuliert und die Kindheit in Deutschland um 1900 nachgezeichnet - siehe online z.B. hier http://psychohistory.com/articles/the-childhood-origins-of-the-holocaust/ oder in seinem Buch “Das emotionale Leben der Nationen”. (Die deutschsprachige Psychohistorie ist unter www.psychohistorie.de erreichbar).
Merkwürdiger Weise gehören diese Erkenntnisse immer noch nicht zum Allgemeinwissen. Ich selbst habe meine Gedanken zu dem Thema in einem wissenschaftlichen Arbeitspapier unter dem Titel “Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an” für die UNI Köln (http://www.jaeger.uni-koeln.de/fileadmin/templates/publikationen/aipa/AIPA_2012_4.pdf) zusammengefasst.
Die gedankliche Verknüpfung von Kindheit und Politik wird nur von wenigen Menschen schwerpunktmäßig erforscht und besprochen. Spätestens seit Veröffentlichung der o.g. sehr wichtigen und aufrüttelnden UNICEF-Studie muss sich dies ändern. Ich möchte dringend anregen, dass sich UNICEF dieser Thematik annimmt. UNICEF ist nicht nur zuständig, sondern hätte auch die notwendigen Ressourcen und die entsprechende Öffentlichkeit dafür.
Nach meinem Eindruck sind die Ergebnisse der o.g. UNICEF-Studie in Deutschland medial weitgehend verpufft, nachdem alle großen Zeitungen kurz darüber geschrieben haben. Ich denke, dass eine Verknüpfung der Studienergebnisse mit politischen Prozessen evtl. mehr mediale Aufmerksamkeit gebracht hätte. Wenn sich führende UNICEF-Botschafter oder Verantwortliche vor die Presse stellen und deutlich anmerken, dass Kriege und Terror offensichtlich etwas mit Kindesmisshandlung zu tun haben, dann wäre das Medienecho sicher größer gewesen. Ich gehe sogar noch weiter: Wenn diese Botschaft bei politischen Entscheidungsträgern deutlich ankommen würde, wäre evtl. die politische Motivation höher, deutlich mehr in den Kinderschutz zu investieren, nicht nur aus humanitären, sondern ergänzend auch gezielt aus präventiven Gründen heraus. Den Zielen von UNICEF wäre somit sehr gedient.
Mich würde interessieren, wie UNICEF-Deutschland dazu steht?
Dieses Schreiben veröffentliche ich zeitnah auch in meinem Blog - www.kriegsursachen.blogspot.de - als Offen Brief, um meine LeserInnen darüber zu informieren. Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen. Sofern Sie ihr Einverständnis bzw. keine Ablehnung dazu signalisieren, werde ich diese dann auch im Kommentarbereich online veröffentlichen.
Viele Grüße und danke für Ihre wichtige Arbeit!
Sven Fuchs
sehr geehrte Frau Dietz,
ich bin etwas unsicher, an wen ich mein Anliegen adressieren soll. Am liebsten würde ich es an alle Entscheidungsträger bei UNICEF senden. Ich richte diese Anfrage also an den Vorstand von UNICEF-Deutschland wie auch gesondert an die in Deutschland für Kinderrechte zuständige Mitarbeiterin Lena Dietz.
Vor etwas über einem Jahr wurde die Studie „Hidden in Plain Sight“ von UNICEF veröffentlicht.
Mir ist aufgefallen, dass in der entsprechenden deutschen Pressemitteilung (http://www.unicef.de/presse/2014/report-gewalt-gegen-kinder/56138), der deutschsprachigen Zusammenfassung der Studie (http://www.unicef.de/blob/56142/c4a3b7a18083ccea986417b86169d03f/zusammenfassung-unicef-report-hidden-in-plain-sight-data.pdf) wie auch in der englischsprachigen Originalstudie zwar auf die Folgen der (meist elterlichen) Gewalt gegen Kinder eingegangen wird, die politischen Folgen aber ausgeklammert wurden. Gesellschaftliche Folgen wurden durch UNICEF in der Studie maximal thematisch in Hinsicht auf die sozialen und ökonomischen Kosten wie auch bzgl. z.B. Kriminalität erfasst.
Bzgl. der möglichen individuellen Folgen oder Folgeschäden wurde in der Studie ein weites Feld eröffnet. Auch in dieser Hinsicht fehlte mir eine deutliche Übertragung, die auch bei der Leserschaft wie auch der Presse ankommt. Das Ausmaß der Gewalt ist in vielen Regionen extrem groß. Entsprechend weit verbreitet müssen auch die Folgeschäden in den entsprechenden Gesellschaften als Ganzes sein. Viele Probleme und soziale Schieflagen in der Welt stehen insofern in einem ursächlichen Zusammenhang mit leidvollen Kindheiten. Darauf wurde leider nicht mit deutlichen Worten hingewiesen.
„Gewalt zieht Gewalt nach sich. Wir wissen, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass misshandelte Kinder Gewalt als normal ansehen oder sogar akzeptieren und diese auch in der Zukunft gegen die eigenen Kinder anwenden.” wird der UNICEF-Exekutivdirektor Anthony Lake in der deutschsprachigen Zusammenfassung zitiert. Was ich nicht verstehe ist, warum diese Erkenntnis nicht ins Politische übertragen wurde? Auch Politiker waren einst Kinder, ebenso Soldaten, wie auch Beamte, Medienleute und all die anderen wichtigen Entscheidungsträger, die in einer Gesellschaft Wege bestimmen, öffnen oder auch versperren.
In der o.g. Studie wurden 23 Länder gesondert erwähnt und herausgestellt, weil dort mehr als 1 von 5 Kindern (bis in die Spitze sogar fast jedes zweite Kind wie z.B. im Jemen) besonders schwere elterliche Gewalt erlebt. Und das gilt, der Studie folgend, ja auch nur für das Gewalterleben innerhalb von vier Wochen, die Gewaltraten für die gesamte Kindheit wird entsprechend höher liegen. Ich habe der bewusstmachenden Übersicht halber nachfolgend einmal die Daten für diese 23 Länder aufgeführt:
Jemen
körperliche und/oder psychische Gewalt: 95 %
körperliche Gewalt: 86 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 43 %
psychische Gewalt: 92 %
Ägypten
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 82 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 42 %
psychische Gewalt: 83 %
Chad
körperliche und/oder psychische Gewalt: 84 %
körperliche Gewalt: 77 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 41 %
psychische Gewalt: 71 %
Afghanistan
körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %
körperliche Gewalt: 69 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 38 %
psychische Gewalt: 62 %
Demokratische Republik Kongo
körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %
körperliche Gewalt: 80 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 37 %
psychische Gewalt: 82 %
Zentralafrika
körperliche und/oder psychische Gewalt: 92 %
körperliche Gewalt: 81 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 36 %
psychische Gewalt: 84 %
Vanuatu
körperliche und/oder psychische Gewalt: 84 %
körperliche Gewalt: 72 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 35 %
psychische Gewalt: 77 %
Nigeria
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 79 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 34 %
psychische Gewalt: 81 %
Tunesien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt: 74 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 32 %
psychische Gewalt: 90 %
Niger
körperliche und/oder psychische Gewalt: 82 %
körperliche Gewalt: 66 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 31 %
psychische Gewalt: 77 %
Guinea-Bissau
körperliche und/oder psychische Gewalt: 82 %
körperliche Gewalt: 74 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 29 %
psychische Gewalt: 68 %
Liberia
körperliche und/oder psychische Gewalt: 74 %
körperliche Gewalt: 69 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 62 %
Mauretanien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 87 %
körperliche Gewalt: 78 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 82 %
Kamerun
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt: 78 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 28 %
psychische Gewalt: 87 %
Irak
körperliche und/oder psychische Gewalt: 79 %
körperliche Gewalt: 63 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 75 %
Kongo
körperliche und/oder psychische Gewalt: 87 %
körperliche Gewalt: 69 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 80 %
Staat Palästina
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt: 76 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 90 %
Algerien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 88 %
körperliche Gewalt: 75 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 25 %
psychische Gewalt: 84 %
Marokko
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 67 %
besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %
psychische Gewalt: 89 %
Syrien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 89 %
körperliche Gewalt: 78 %
besonders schwere körperliche Gewalt: Ca. 24 %
psychische Gewalt: 84 %
Elfenbeinküste
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt: 73 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 23 %
psychische Gewalt: 88 %
Dschibuti
körperliche und/oder psychische Gewalt: 72 %
körperliche Gewalt: 67 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 22 %
psychische Gewalt: 57 %
Jordanien
körperliche und/oder psychische Gewalt: 90 %
körperliche Gewalt: 67 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 22 %
psychische Gewalt: 88 %
Ist denn niemanden aufgefallen, dass gerade diese 23 Länder weitgehend die aktuellen politischen „Sorgenkinder“ umfassen? Wo Krieg herrscht oder herrschte, Terroristen rekrutiert werden, Demokratie ein ferner Traum ist und/oder sozial enorm instabile Verhältnisse bestehen usw.?
In der medialen Besprechung der Studie war Caroline Fetscher vom Tagesspiegel die Einzige, die deutliche Worte gefunden und auch die politischen Dimensionen erfasst hat, die das gewaltige Ausmaß der Gewalt gegen Kinder bedeuten. Am Schluss ihres Textes schreibt sie:
„Waren Kinder es gewohnt, die Blitzableiter der Eltern zu sein, machen sie auch ihre Kinder zu Blitzableitern, und ganze Gruppen suchen sich für solche Funktionen „die Juden“, „die Zigeuner“, „die Ungläubigen“. Wo Gewalt gegen Kinder am meisten toleriert wird, gibt es Krisen und Kriege. Schon deshalb müsste die Präventionsrendite Politiker brennend interessieren.“ (http://www.tagesspiegel.de/politik/unicef-studie-ueber-gewalt-gegen-kinder-blitzableiter-der-eigenen-eltern/10665534.html) Ich möchte ergänzen, dass Kriege und Krisen zunächst einmal natürlich gewaltbereite Menschen brauchen, dazu kommt aber auch, dass es Massen an Menschen braucht, die ohnmächtig verharren und das schon im Vorfeld der Eskalation. Auch hier wird eine weite Verbreitung von Kindesmisshandlung ihre Wirkung entfalten.
Der bekannte Psychoanalytiker Arno Gruen hat 2001 für sein Buch “Der Fremde in uns” den Geschwister-Scholl-Preis erhalten. In dem Buch wird eindrücklich dargestellt, wie elterliche Gewalt und Gehorsamsforderungen das Fundament für Kriege darstellen. Gruen zieht dabei in seinem Buch auch schwerpunktmäßig einen Zusammenhang zwischen Kindheit und NS-Zeit. Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat dies thematisch noch deutlicher formuliert und die Kindheit in Deutschland um 1900 nachgezeichnet - siehe online z.B. hier http://psychohistory.com/articles/the-childhood-origins-of-the-holocaust/ oder in seinem Buch “Das emotionale Leben der Nationen”. (Die deutschsprachige Psychohistorie ist unter www.psychohistorie.de erreichbar).
Merkwürdiger Weise gehören diese Erkenntnisse immer noch nicht zum Allgemeinwissen. Ich selbst habe meine Gedanken zu dem Thema in einem wissenschaftlichen Arbeitspapier unter dem Titel “Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an” für die UNI Köln (http://www.jaeger.uni-koeln.de/fileadmin/templates/publikationen/aipa/AIPA_2012_4.pdf) zusammengefasst.
Die gedankliche Verknüpfung von Kindheit und Politik wird nur von wenigen Menschen schwerpunktmäßig erforscht und besprochen. Spätestens seit Veröffentlichung der o.g. sehr wichtigen und aufrüttelnden UNICEF-Studie muss sich dies ändern. Ich möchte dringend anregen, dass sich UNICEF dieser Thematik annimmt. UNICEF ist nicht nur zuständig, sondern hätte auch die notwendigen Ressourcen und die entsprechende Öffentlichkeit dafür.
Nach meinem Eindruck sind die Ergebnisse der o.g. UNICEF-Studie in Deutschland medial weitgehend verpufft, nachdem alle großen Zeitungen kurz darüber geschrieben haben. Ich denke, dass eine Verknüpfung der Studienergebnisse mit politischen Prozessen evtl. mehr mediale Aufmerksamkeit gebracht hätte. Wenn sich führende UNICEF-Botschafter oder Verantwortliche vor die Presse stellen und deutlich anmerken, dass Kriege und Terror offensichtlich etwas mit Kindesmisshandlung zu tun haben, dann wäre das Medienecho sicher größer gewesen. Ich gehe sogar noch weiter: Wenn diese Botschaft bei politischen Entscheidungsträgern deutlich ankommen würde, wäre evtl. die politische Motivation höher, deutlich mehr in den Kinderschutz zu investieren, nicht nur aus humanitären, sondern ergänzend auch gezielt aus präventiven Gründen heraus. Den Zielen von UNICEF wäre somit sehr gedient.
Mich würde interessieren, wie UNICEF-Deutschland dazu steht?
Dieses Schreiben veröffentliche ich zeitnah auch in meinem Blog - www.kriegsursachen.blogspot.de - als Offen Brief, um meine LeserInnen darüber zu informieren. Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen. Sofern Sie ihr Einverständnis bzw. keine Ablehnung dazu signalisieren, werde ich diese dann auch im Kommentarbereich online veröffentlichen.
Viele Grüße und danke für Ihre wichtige Arbeit!
Sven Fuchs
Samstag, 12. September 2015
Ursachen von Rechtsextremismus auf Platz 1 der deutschen Charts!
Innerhalb von nur einer Woche ist es der "Aktion Arschloch" gelungen, durch Ihren Internet-Aufruf das 22 Jahre alte Anti-Nazi-Lied "Schrei nach Liebe" von der Band "Die Ärzte" auf Platz 1 der deutschen Charts zu bringen (alle großen deutschen Medien berichten derzeit über die Aktion, z.B. SPIEGEL-Online hier). Dies ist ein deutliches Zeichen gegen rechte Gewalt. (Irgendwie häufen sich aktuell die für mich überraschenden Ereignisse - siehe Blogverlauf)
Der beispiellose Erfolg dieser Aktion ist für mich aber auch eine besondere Überraschung, weil das Lied letztlich deutlich die Ursachen von Rechtsextremismus benennt: Eine traurige Kindheit; Selbsthass, der auf andere projiziert wird; keine Hilfe und keine Hoffnung. Dazu weist das Lied darauf hin, dass hinter dem Gewalttäter im Grunde ein trauriger, bedürftiger Mensch steht. Und dann kommt immer wieder im Refrain "Oh oh oh Arschloch". Im entsprechenden Musikvideo der Band wischen am Ende zwei fröhliche Kinder dem rechten Gewalttäter seine Maske vom Gesicht, er erscheint wieder als Mensch. Genial!
Im vorherigen Blogbeitrag habe ich die Kindheit von dem Serienmörder Michael Tenneson besprochen. Um ihn aus der TV-Doku wortgenau zitieren zu können, musste ich mir seine Schilderungen mehrmals anschauen und mitschreiben: Wie sein Vater ihm eine Waffe an den Kopf hielt, als Michael drei Jahre alt war und das Kind nicht verstand, was da in seiner Welt passierte... Dabei musste ich weinen, weil ich bei dem Kind war in dieser Szene. Und dann sah ich gleichzeitig diesen kalten erwachsenen Menschen Michael Tenneson, wusste um seine Taten, sah, wie er selbst bei seinen Schilderungen über seine Kindheit nichts fühlte. Und ein "Oh oh oh Arschloch" ist da fast noch zu wenig, der Mann ist weiterhin brandgefährlich. Seine Kindheit ist vorbei, er hat seinen Weg genommen, so wir er es tat.
Der Song "Schrei nach Liebe" nimmt die Täter nicht aus ihrer Verantwortung. Im Jahr 2015 sollte aber auch die Botschaft ernst genommen werden, die der Text weitergedacht enthält: Prävention von Rechtsextremismus muss in der Kindheit ansetzen.
Der beispiellose Erfolg dieser Aktion ist für mich aber auch eine besondere Überraschung, weil das Lied letztlich deutlich die Ursachen von Rechtsextremismus benennt: Eine traurige Kindheit; Selbsthass, der auf andere projiziert wird; keine Hilfe und keine Hoffnung. Dazu weist das Lied darauf hin, dass hinter dem Gewalttäter im Grunde ein trauriger, bedürftiger Mensch steht. Und dann kommt immer wieder im Refrain "Oh oh oh Arschloch". Im entsprechenden Musikvideo der Band wischen am Ende zwei fröhliche Kinder dem rechten Gewalttäter seine Maske vom Gesicht, er erscheint wieder als Mensch. Genial!
Im vorherigen Blogbeitrag habe ich die Kindheit von dem Serienmörder Michael Tenneson besprochen. Um ihn aus der TV-Doku wortgenau zitieren zu können, musste ich mir seine Schilderungen mehrmals anschauen und mitschreiben: Wie sein Vater ihm eine Waffe an den Kopf hielt, als Michael drei Jahre alt war und das Kind nicht verstand, was da in seiner Welt passierte... Dabei musste ich weinen, weil ich bei dem Kind war in dieser Szene. Und dann sah ich gleichzeitig diesen kalten erwachsenen Menschen Michael Tenneson, wusste um seine Taten, sah, wie er selbst bei seinen Schilderungen über seine Kindheit nichts fühlte. Und ein "Oh oh oh Arschloch" ist da fast noch zu wenig, der Mann ist weiterhin brandgefährlich. Seine Kindheit ist vorbei, er hat seinen Weg genommen, so wir er es tat.
Der Song "Schrei nach Liebe" nimmt die Täter nicht aus ihrer Verantwortung. Im Jahr 2015 sollte aber auch die Botschaft ernst genommen werden, die der Text weitergedacht enthält: Prävention von Rechtsextremismus muss in der Kindheit ansetzen.
Montag, 7. September 2015
Die grausame Kindheit von grausamen Mördern
Immer wieder fallen mir hier und da biografische Hintergründe von Mördern auf, die für diesen Blog relevant sind. Mein Augenmerk liegt natürlich tendenziell eher auf politische Prozesse und „politische“ Mörder. Letztlich ist aber klar, dass man diese Bereiche (Hier Einzeltäter, dort mörderische Gruppenprozesse) nicht unbedingt voneinander trennen kann, weil die tieferen Ursachen bei Beidem die gleichen sind.
Bevor ich jetzt zukünftig ständig Einzelartikel über Mörder schreibe, möchte ich diesen Beitrag dazu nutzen, kurze Entdeckungen im unten aufgeführten Kommentarbereich zu posten. Sofern LeserInnen Artikel etc. entdecken, in denen die destruktive Kindheit von Mördern beschrieben wird, bitte ich gerne um Hinweise im Kommentarbereich. Die Kindheit von besonders relevanten Personen, z.B. Terroristen, politischen Führern etc. werde ich dagegen weiterhin gesondert besprechen.
Kürzlich sind mir drei Fallbeispiele aufgefallen, die ich hier wiedergebe. Sie dokumentieren zum einen besonders grausame Mörder, aber auch entsprechend besonders grausame Kindheitserfahrungen der Mörder - ohne helfende Zeugen oder sonstige Unterstützung:
Fallbeispiel Klaus S.
(ZDF-Dokumentation vom 19.08.2015, Serienkiller – Mörderische Triebe)
Schläge, Misshandlungen gegen das Kind waren an der Tagesordnung. Seine Kindheit sei kalt gewesen und die Eltern hatten kein Interesse an ihren Sohn, berichtet Klaus. Schon als Neunjähriger sei er von zu Hause ausgerissen, gesucht oder vermisst habe ihn zu Hause niemand. Als er sich einmal einen kleinen Hundewelpen mit nach Hause brachte, um etwas Wärme zu erleben, wurde der Hund vom Vater getötet und auf den Mist geschmissen. Zum Schluss habe Klaus S. selbst nichts mehr gefühlt, keinen Schmerz empfunden, Prügel teilnahmslos ausgehalten. Kindliche Traumatisierungen finden sich bei solchen extremen Gewalttätern wie Serienmördern fast immer, so wird der Psychotherapeut Dr. Christian Lüdke in der Doku zitiert, nachdem der vorgenannte Mörder vorgestellt worden ist.
Fallbeispiel Michael Tenneson
(ZDF-Dokumentation vom 21.02.2015: Bekenntnisse eines Serienkillers – Bei Gelegenheit Mord.)
„Ich war so zerrissen früher. Meine Welt war ein Chaos. Ich war kein Monster, sondern ein gestörtes, kleines Kind.“, sagt Tenneson in der Doku. Sein Vater war ein gewalttätiger Mann, der die Familie terrorisierte. Der Vater hatte zudem ein Alkoholproblem, verhielt sich wie ausgewechselt, wenn er getrunken hatte.
Eines Tages kam er nach Hause und vergewaltigte seine Frau vor den Augen seines kleinen Sohnes Michael (was auch die Mutter in der Doku bestätigt). Dabei drohte er, beide zu erschießen. Der Sohn lebte in ständiger Angst vor seinem Vater. „Einmal richtete er eine Pistole auf mich und drückte ab. Klick, Klick, Klick. (…) Ich begann zu weinen. Da schlug er mir ins Gesicht und schrie: Halt die Klappe! Dann kam Mami rein und fragte: Was ist passiert? Und er lachte: Nichts, wir spielen nur. Ich saß heulend da, er sah zuerst mich an, dann meine Mum. Es war verrückt. Ich war drei Jahre alt und verstand das nicht. Ich wusste nicht, was in meiner Welt geschah.“ Die Mutter reichte bald die Scheidung ein, seinen Vater sah er nie wieder. Kurz vor seinem vierten Geburtstag kam die Mutter in Haft. Sie hatte als 21jährige ein Verhältnis mit einem 17jährigen Jungen und wurde wegen Unzucht mit Minderjährigen verhaftet. (Anmerkung: Insofern muss sie an Hand dieser Altersangabe selbst noch ein Teenager gewesen sein, als ihr Sohn geboren wurde) Man brachte den Jungen für ein halbes Jahr zu einer Pflegefamilie. Seine Mutter berichtet, dass ihr Sohn von der Pflegefamilie an Stuhl und Tischbeine gefesselt wurde und sie ihm dann Pfeffer und ähnliche Sachen auf die Zunge streuten. Sie zogen ihm Windeln an, obwohl er schon alleine aufs Klo ging, um ihn zu demütigen. Als der Junge wieder bei seiner Mutter leben darf, ist er ein extrem gewalttätiges Kind. „Ich hatte gelernt, schlag zu, bevor jemand Dich schlägt. Verstehen Sie? Ich war verdreht. “ Ab dem Alter von 12 nimmt er Drogen und fällt erstmals kriminell auf. (Offen bleibt in der Doku, wie das Erziehungsverhalten der Mutter war. Ich vermute stark, dass auch sie viel Destruktivität in die Familie brachte.)
Fallbeispiel Henry Howard Holmes
(SPIEGEL-Online Einestages, 28.07.2015, „Das Mörderhotel des Henry Howard Holmes. Bett, WC, Gaskammer“ (von Marc von Lüpke)
Die Grausamkeit von Holmes ist unvorstellbar. Über seine Kindheit erfährt man laut dem SPIEGEL-Online Bericht nur einen kurzen Ausschnitt. „Bereits während seiner Kindheit auf einer Farm in New Hampshire hatte Holmes kleine Tiere gefangen und bei lebendigem Leib aufgeschnitten. Seine strenggläubigen Eltern erzogen den am 16. Mai 1860 als Herman Webster Mudgett geborenen Sohn vor allem mit dem Rohrstock. Wenn er nicht in einer Kammer auf dem Dachboden eingesperrt war, entwickelte Mudgett kleine Apparate.“
Hier sind zwei wesentliche Infos enthalten (die man in dem Artikel fast überliest, weil sie nur kurz erwähnt werden): 1. Ständige Prügel mit einem Gegenstand durch beide Elternteile 2. Ständiges Eingesperrtsein auf einem einsamen Dachboden.
Man kann sich vorstellen, dass der Alltag in dieser Kindheit von weiteren Grausamkeiten bestimmt war. Aber alleine diese kurzen genannten Infos reichen bereits aus, um festzuhalten, dass dieses Kind gefoltert wurde.
siehe ergänzend auch unbedingt:
- James Gilligan: Gewalt
- Jonathan H. Pincus: Was Menschen zu Mördern macht
- Stephen Harbort: Das Serien-Mörder-Prinzip
Bevor ich jetzt zukünftig ständig Einzelartikel über Mörder schreibe, möchte ich diesen Beitrag dazu nutzen, kurze Entdeckungen im unten aufgeführten Kommentarbereich zu posten. Sofern LeserInnen Artikel etc. entdecken, in denen die destruktive Kindheit von Mördern beschrieben wird, bitte ich gerne um Hinweise im Kommentarbereich. Die Kindheit von besonders relevanten Personen, z.B. Terroristen, politischen Führern etc. werde ich dagegen weiterhin gesondert besprechen.
Kürzlich sind mir drei Fallbeispiele aufgefallen, die ich hier wiedergebe. Sie dokumentieren zum einen besonders grausame Mörder, aber auch entsprechend besonders grausame Kindheitserfahrungen der Mörder - ohne helfende Zeugen oder sonstige Unterstützung:
Fallbeispiel Klaus S.
(ZDF-Dokumentation vom 19.08.2015, Serienkiller – Mörderische Triebe)
Schläge, Misshandlungen gegen das Kind waren an der Tagesordnung. Seine Kindheit sei kalt gewesen und die Eltern hatten kein Interesse an ihren Sohn, berichtet Klaus. Schon als Neunjähriger sei er von zu Hause ausgerissen, gesucht oder vermisst habe ihn zu Hause niemand. Als er sich einmal einen kleinen Hundewelpen mit nach Hause brachte, um etwas Wärme zu erleben, wurde der Hund vom Vater getötet und auf den Mist geschmissen. Zum Schluss habe Klaus S. selbst nichts mehr gefühlt, keinen Schmerz empfunden, Prügel teilnahmslos ausgehalten. Kindliche Traumatisierungen finden sich bei solchen extremen Gewalttätern wie Serienmördern fast immer, so wird der Psychotherapeut Dr. Christian Lüdke in der Doku zitiert, nachdem der vorgenannte Mörder vorgestellt worden ist.
Fallbeispiel Michael Tenneson
(ZDF-Dokumentation vom 21.02.2015: Bekenntnisse eines Serienkillers – Bei Gelegenheit Mord.)
„Ich war so zerrissen früher. Meine Welt war ein Chaos. Ich war kein Monster, sondern ein gestörtes, kleines Kind.“, sagt Tenneson in der Doku. Sein Vater war ein gewalttätiger Mann, der die Familie terrorisierte. Der Vater hatte zudem ein Alkoholproblem, verhielt sich wie ausgewechselt, wenn er getrunken hatte.
Eines Tages kam er nach Hause und vergewaltigte seine Frau vor den Augen seines kleinen Sohnes Michael (was auch die Mutter in der Doku bestätigt). Dabei drohte er, beide zu erschießen. Der Sohn lebte in ständiger Angst vor seinem Vater. „Einmal richtete er eine Pistole auf mich und drückte ab. Klick, Klick, Klick. (…) Ich begann zu weinen. Da schlug er mir ins Gesicht und schrie: Halt die Klappe! Dann kam Mami rein und fragte: Was ist passiert? Und er lachte: Nichts, wir spielen nur. Ich saß heulend da, er sah zuerst mich an, dann meine Mum. Es war verrückt. Ich war drei Jahre alt und verstand das nicht. Ich wusste nicht, was in meiner Welt geschah.“ Die Mutter reichte bald die Scheidung ein, seinen Vater sah er nie wieder. Kurz vor seinem vierten Geburtstag kam die Mutter in Haft. Sie hatte als 21jährige ein Verhältnis mit einem 17jährigen Jungen und wurde wegen Unzucht mit Minderjährigen verhaftet. (Anmerkung: Insofern muss sie an Hand dieser Altersangabe selbst noch ein Teenager gewesen sein, als ihr Sohn geboren wurde) Man brachte den Jungen für ein halbes Jahr zu einer Pflegefamilie. Seine Mutter berichtet, dass ihr Sohn von der Pflegefamilie an Stuhl und Tischbeine gefesselt wurde und sie ihm dann Pfeffer und ähnliche Sachen auf die Zunge streuten. Sie zogen ihm Windeln an, obwohl er schon alleine aufs Klo ging, um ihn zu demütigen. Als der Junge wieder bei seiner Mutter leben darf, ist er ein extrem gewalttätiges Kind. „Ich hatte gelernt, schlag zu, bevor jemand Dich schlägt. Verstehen Sie? Ich war verdreht. “ Ab dem Alter von 12 nimmt er Drogen und fällt erstmals kriminell auf. (Offen bleibt in der Doku, wie das Erziehungsverhalten der Mutter war. Ich vermute stark, dass auch sie viel Destruktivität in die Familie brachte.)
Fallbeispiel Henry Howard Holmes
(SPIEGEL-Online Einestages, 28.07.2015, „Das Mörderhotel des Henry Howard Holmes. Bett, WC, Gaskammer“ (von Marc von Lüpke)
Die Grausamkeit von Holmes ist unvorstellbar. Über seine Kindheit erfährt man laut dem SPIEGEL-Online Bericht nur einen kurzen Ausschnitt. „Bereits während seiner Kindheit auf einer Farm in New Hampshire hatte Holmes kleine Tiere gefangen und bei lebendigem Leib aufgeschnitten. Seine strenggläubigen Eltern erzogen den am 16. Mai 1860 als Herman Webster Mudgett geborenen Sohn vor allem mit dem Rohrstock. Wenn er nicht in einer Kammer auf dem Dachboden eingesperrt war, entwickelte Mudgett kleine Apparate.“
Hier sind zwei wesentliche Infos enthalten (die man in dem Artikel fast überliest, weil sie nur kurz erwähnt werden): 1. Ständige Prügel mit einem Gegenstand durch beide Elternteile 2. Ständiges Eingesperrtsein auf einem einsamen Dachboden.
Man kann sich vorstellen, dass der Alltag in dieser Kindheit von weiteren Grausamkeiten bestimmt war. Aber alleine diese kurzen genannten Infos reichen bereits aus, um festzuhalten, dass dieses Kind gefoltert wurde.
siehe ergänzend auch unbedingt:
- James Gilligan: Gewalt
- Jonathan H. Pincus: Was Menschen zu Mördern macht
- Stephen Harbort: Das Serien-Mörder-Prinzip
Freitag, 4. September 2015
Weiterentwicklung der (deutschsprachigen) Psychohistorie
(Dieser Text ist als gedankliche und konstruktive Anregung für die deutschsprachige Psychohistorie gedacht und wurde auch von mir an entsprechende Vertreter weitergeleitet.)
Ich fange gleich direkt mit einer Grundannahme an, die sich aus meinen persönlichen Erfahrungen und langjährigen Beobachtung ergibt: Was Psychohistorie ist, ist den meisten Menschen, den Medien und den WissenschaftlerInnen in Deutschland schlicht und einfach nicht bekannt.
Ein Beispiel sei an dieser Stelle angeführt. Gibt man bei Googel-Scholar (dem Suchmaschinenteil, der nur wissenschaftliche Online-Dokumente erfasst - unter https://scholar.google.de) "Das emotionale Leben der Nationen" und „deMause“(jeweils in Anführungszeichen, um die wortgenaue Suche zu ermöglichen) ein, erhält man ganze 26 Ergebnisse (Stand: 20.08.2015) , fast durchweg aus dem psychologischen oder dem deutschsprachigem psychohistorischen Bereich. Bei „Googel Books“ (https://books.google.de), das sämtliche durch Googel digital zugängliche Bücher durchsucht, erhält man ganze 73 Treffer (Stand:20.08.2015), die von Googel auf Grund von fehlender Relevanz noch auf 29 zusammengeschrumpft werden, wenn man sich durch die Trefferliste klickt. Die meisten vorhandenen Online-Dokumente (außerhalb des psychohistorischen Forschungsbereiches) streifen max. in ein zwei Sätzen das Thema und befassen sich kaum mit den Inhalten des psychohistorischen Grundlagenbuches von deMause. Eine Autorin, deren Buch in der Onlineliste auftaucht, führt gleich bevor sie deMause zitiert an, dass dieser die „meisten Konflikte monokausal auf die rigide und gewalttätige Erziehung“ (Szyszkowitz 2008, S. 108) zurückführe, womit das Thema Psychohistorie für sie offensichtlich erledigt ist, obwohl sie sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Trauma und Terror befasst. Gibt man ergänzend bei dem Onlinehändler amazon (www.amazon.de) „Das emotionale Leben der Nationen“ ein, erhält man 14 Bücher (Stand: 20.08.2015), die in ihrer Literaturangabe das genannte Buch aufführen. Die gefundenen Bücher kommen fast alle aus dem psychosozialen Bereich.
Auf der anderen Seite ist es paradox, dass Forschende wie Alice Miller und Arno Gruen Bestseller geschrieben haben, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Beide arbeiten/arbeiteten letztlich psychohistorisch, auch wenn Gruen Kulturkritiker ist und die bahnbrechenden Fortschritte der Kindererziehung in Europa meiner Ansicht nach leider nicht wirklich anerkennt (und somit im Prinzip auch der zentralen psychohistorischen These von der stetigen Evolution von Kindheit widerspricht) Zig tausendfach wurden ihre Bücher gelesen, Gruen bekam sogar den Geschwister-Scholl-Preis. In den Medien und in der Wissenschaft sind ihre wichtigen Ansätze aber immer noch nicht wirklich angekommen.
Ich selbst habe mich beginnend ca. im Jahr 2002 - als damaliger Student der Soziologie - intensiv mit unzähligen Facharbeiten und Büchern über das Thema Kindesmisshandlung und den entsprechenden Folgen befasst. Bald schon las ich auch Bücher von Arno Gruen und Alice Miller. Ich las auch das von lloyd deMause (1992) herausgegebene Buch „Hört ihr die Kinder weinen: Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit“. Letzteres damals aber vor allem mit Interesse an der Geschichte der Kindheit, die psychogene Theorie habe ich damals nicht als solche wahrgenommen. Dass es so etwas wie „Psychohistorie“ gibt, die sogar weltweit organisiert ist und sich auch als eigene Wissenschaft versteht, wurde mir erst ab ca. Ende 2007 bewusst, als ich „Das emotionale Leben der Nationen“ von deMause (2005) in die Hände bekam. Wie konnte das sein, dass selbst jemand, der sich so intensiv auf das Grundthema stürzt, im deutschsprachigen Raum nicht deutlich auf die Psychohistorie stößt?
Ich wiederhole meine einleitenden Worte: Die Psychohistorie wird schlicht und einfach ignoriert. Das gilt natürlich vor allem für die klassische Sozialwissenschaft, Geschichtswissenschaft, auch für große Teile der Psychologie, die Medien und letztlich für die Menschen des Alltags. Vereinzelt werden sich von anderen wissenschaftlichen Disziplinen „Filetstücke“ herausgepickt, z.B. wenn Arbeiten zur Geschichte der Kindheit zitiert werden oder einzelne Erkenntnisse von PsychohistorikerInnen. Das Ganze, die Theorie als solche , wird aber nicht besprochen und es wird nicht auf sie verwiesen.
Für dieses Ignorieren gibt es meiner Ansicht nach zwei wesentliche Gründe, einen unabhängigen und einen hausgemachten:
1. Das unabhängige Problem
Da in den meisten Ländern immer noch auf die eine oder andere Weise die Mehrheit der Menschen von Gewalt-, Vernachlässigungs- und Ohnmachtserfahrungen in der Kindheit betroffen sind, betrifft sie das Thema an sich in ihrem tiefsten Inneren. Es betrifft sie emotional; es konfrontiert sie mit möglichen eigenen Täteranteilen als Folge der Opfererfahrungen, mit destruktiven Folgen für das eigene Leben, mit Sprachlosigkeit gegenüber dem Erlebten; mit verdrängter Wut auf die TäterInnen usw. usf. Dazu kommt das gesellschaftliche Tabu, über Kindesmisshandlung öffentlich zu sprechen oder gar die eigenen Eltern anzuklagen (was in Europa allerdings meiner Auffassung nach deutlich am bröckeln ist). Unter diesen Bedingungen ist es schwer, rational über politische/gesellschaftliche Folgen von destruktiven Kindheitserfahrungen zu sprechen. Ich habe in unzähligen Diskussionsversuchen immer wieder erlebt, wie Menschen ausweichen, wütend werden, das Thema abwürgen, teils irrationale, absurde Argumente hervorbringen usw. oder auch einfach gar nicht reagieren, einfach schweigen.
Es gibt aber auch einen großen Lichtblick: Die Kinderziehungspraxis in Europa (vor allem auch im Norden und speziell auch in Deutschland) hat sich rasant entwickelt. Wie eine aktuelle große Studie des (KFN) Kriminologischen Instituts Niedersachen (Hellmann 2014), für die 11.428 Menschen repräsentativ befragt wurden, nachweisen konnte, erlebten z.B. 61,7 % der Geburtsjahrgänge ca. 1991 – 1995 in Deutschland nicht ein einziges Mal körperliche Elterngewalt. (Hellmann 2014, S. 82+83) Und die, die Gewalt erlebten, erlitten dies mehrheitlich selten/manchmal und in leichteren Formen. Ebenso ist der sexuelle Missbrauch (mit Körperkontakt) der Studie folgend stark rückläufig . Die Betroffenenrate beläuft sich für die vorgenannten Geburtsjahrgänge auf 3 % für Frauen und 0,9 % für Männer ( Hellmann 2014, S. 104); der meines Wissens nach niedrigste je in deutschen Dunkelfeldstudien gemessene Wert. 1.586 Befragte lebten mit Kindern (eigenes, Pflegekinder etc.) unter 18 Jahren in einem Haushalt und beantworteten ergänzend Fragen zu eigenem Gewaltverhalten gegen die Kinder. Sie waren im Schnitt bei der Befragung ca. 33 Jahre alt (Geburtsdatum im Schnitt ca. 1978) Ca. 78 % dieser Elterngeneration sind ihre Kinder bis zum Zeitpunkt der Befragung nicht ein einziges Mal körperlich angegangen (Hellmann 2014, S. 157); ein bahnbrechender Wert, demzufolge man postulieren kann, dass wir in Deutschland bzgl. körperlicher Elterngewalt auf eine gewaltfreie Gesellschaft zusteuern.
Dies ist nur ein Trend von vielen positiven bzgl. Kindheit in Deutschland. Martin Dornes (2012) hat in seinem Buch mit dem prägnanten Titel „Die Modernisierung der Seele“ etliche Daten und Studien zu allen erdenklichen Themenfeldern rund um Kindheit besprochen. Es steht demnach sehr gut um die Kinder in Deutschland, so gut wie nie zuvor in unserer Geschichte. U.a. hätten sich die Eltern-Kind-Beziehungen, so Dornes, stark demokratisiert (gekennzeichnet durch stabile Verbundenheit, elterliche Wärme, zugewandtes, aber auch grenzensetzendes Erziehungserhalten – Dornes 2012, S. 315), was wiederum eine neue Psychostruktur - er spricht von „postheroischer Persönlichkeit“ - hervorgebracht hätte (Dornes 2012, S. 320), die sehr autonom und bestens gerüstet sei für eine sich ständig wandelnde und entwickelnde Gesellschaft.
Diese junge Generation (bezogen auf die Geburtsjahrgänge ca. 1991 – 1995 aus der KFN Studie) stürmt derzeit die Universitäten oder gestaltet ihr Berufsleben. In ca. 10 Jahren werden sie höherer Positionen erreichen, Politik machen, Medien und Wirtschaft gestalten usw. Aber auch meine Generation (die Ende der 1970er Jahre geborenen) wurde bereits deutlich moderner und friedlicher erzogen. Ich bin daher fest davon überzeugt, dass die Widerstände bzgl. psychohistorischer Thesen aktuell und erst recht langfristig gesehen bröckeln, einfach weil die Menschen hierzulande viel weniger emotional involviert sind und weniger abwehren müssen. Die offene mediale, großflächige Diskussion über das Thema sexueller Missbrauch und auch Heimkinder in jüngster Zeit deutet dies bereits an. PsychohistorikerInnen sollten demnach verstärkt Versuche unternehmen, öffentlich Gehör zu finden, Fachbeiträge außerhalb ihrer Kreise unterzubringen, Medien und Fachleute anzuschreiben, Online in Medien zu kommentieren, Diskussionen anzustoßen. Die Chancen waren – aus o.g. Gründen heraus - noch nie so gut wie heute, dass sie hier und da (vor allem bei den jüngeren Jahrgängen und weniger bei der Nachkriegsgeneration) ernst genommen werden.
Und noch ein Gedanke: Das großflächige psychotherapeutische Angebot in Deutschland tut meiner Auffassung nach sein weiteres zum Abbau von Scheuklappen. Ich habe in der Vergangenheit oft erlebt, dass Menschen, die einst gedemütigte Kinder waren, offen für psychohistorische Thesen sein können. Diese Menschen hatten meist erfolgreich jahrelange Therapien hinter sich und konnten nun auch offen auf die politischen Folgen von Kindesmisshandlung schauen, weil sie die Folgen, die das Kindheitsleid in ihrem eigenen Leben hinterlassen hatte, emotional aufgearbeitet hatten.
Abschließend an dieser Stelle möchte ich – das ist im Grunde ein eigene wichtige Anregung - behaupten, dass sich die Psychohistorie speziell in Deutschland zukünftig auch mit einer ganz neuen Fragestellung befassen muss: Welche Folgen hat die Demokratisierung der Kindererziehung, die nicht mehr nur eine Minderheit betrifft, sondern Mehrheiten zu erfassen scheint? Was bedeutet die „Modernisierung der Seele“ für unsere Zukunft?
2. Das „hausgemachte“ Problem.
Die deutschsprachige Psychohistorie ist nach meinem Eindruck stark auf die emotionale Entwicklung des Fötus und dem Geburtserleben („Fötales Drama“) fixiert. So wichtig solche Arbeit auch sein mag, sie wird in dieser Form keine breitere Zuhörerschaft finden. Das Thema ist innerhalb eines eh schon speziellen, sensiblen Themenfeldes wiederum noch einmal zu besonders, zu wenig greifbar und zudem schwieriger empirisch zu belegen (außer z.B. durch erhobene Daten zum Rauchen und Alkoholkonsum oder Gewalterfahrungen während der Schwangerschaft u.ä.). Ebenso problematisch finde ich es, wenn bildliche und emotionale Darstellungen in den Medien zu sehr im Fokus stehen. Die Besprechung von Cartoons/Karikaturen und ähnlichem (vor allem auch eine zu große Gewichtung auf dieses Thema) lädt geradezu dazu ein, wieder ausgeladen zu werden, Türen zu schließen. Ich bin gegen Denkverbote und finde beide vorgenannten Bereiche wertvoll, weil sie mir vieles verdeutlicht haben. Es ist nur einfach die Frage, ob man weiter am Rand stehen will oder den Kern der Psychohistorie (und der bedeutet für mich die Aufklärung über die möglichen politischen, sozialen und ökonomischen Folgen von destruktiven Kindheiten, das Verstehen von historischen Entwicklungen der Menschheit und das Werben für demokratische, liebevolle und gewaltfreie Kindheiten) weiter verbreiten und auch weiterentwickeln möchte.
Ich finde es beispielsweise ungeschickt, dass in dem Flaggschiff-Text von Winfried Kurth mit dem Titel „Die psychogene Theorie von Lloyd deMause - Plädoyer für eine konstruktive Weiterentwicklung“ auf der Homepage der GPPP (www.psychohistorie.de), der als Diskussionsgrundlage über die Psychohistorie benannt wird, u.a. der Schul-Amoklauf von Winnenden (aber auch andere Ereignisse) unter Bezugnahme auf einzelne Karikaturen in den Medien, die kurz vor der Tat veröffentlicht wurden, sehr ausführlich analysiert wird.
„Die theoretische Erklärung für diese Koinzidenzen könnte sein“, schreibt Kurth, „dass die unterschwellig rezipierten, aggressiven Medienbotschaften Ausdruck einer destruktiven Gruppenfantasie sind, die (manchmal) dann von labilen Einzelpersonen in Form einer kriminellen Gewalttat ausagiert wird.“ (Kurth 2009, S. 187)
Ich stelle mir vor, dass ein forschender Politologe oder ein Journalist erstmalig zum Thema Psychohistorie im deutschsprachigen Raum recherchiert und dann auf diesen Text trifft. Ohne Vorwissen, ohne das Kennen der Arbeit von deMause usw. wird eine solche Darstellung und eingehende Besprechung von Cartoons mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass dieser Interessierte das Thema wieder in die Schublade versenkt. Ein „Flaggschiff-Text“ auf den Online-Seiten der deutschen Vertretung der Psychohistorie sollte eine Werbung dafür sein, sich dem Thema zu nähern. Er sollte keine zentralen psychohistorischen Thesen verleugnen, aber die Darstellung müsste an ein allgemeines Publikum gerichtet sein.
Ich bin sehr sozialwissenschaftlich geprägt. Insofern fällt mir auch auf, dass empirische Studien (vor allem klare Zahlen und Daten) in psychohistorischen Arbeiten oft vernachlässigt werden. Die Psychohistorie steht nämlich im Grunde auf einem ganz dicken empirischen Fundament, denn das enorm hohe Ausmaß vielfältiger Gewalt gegen Kinder ist – vermehrt auch in den letzten Jahren – durch unzählige Studien (u.a. UNICEF 2014, Akmatov 2011 oder siehe auch ausführliche auf Studien basierende Daten für diverse Länder online auf den Seiten der „Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children“ unter http://www.endcorporalpunishment.org/research/prevalence-research) belegt, ebenso die destruktiven Folgen der Gewalt. Wenn in einer Gesellschaft eine große Mehrheit als Kind nachweisbar Gewalt, oft auch schwere Gewalt erleidet und dies erwiesener Maßen negative Folgen hat, dann muss man diese beiden Bereiche nur ausführlich zusammenbringen und erhält im Ergebnis Erklärungen auch zu politischen und sozialen Schieflagen. Wenn man dies streng wissenschaftlich angeht, Daten ausführlich aneinanderhängt, dann findet man eher Gehör, als (ich überspitze jetzt etwas) wenn man sich auf den Fötus und Cartoons fokussiert oder in einem zu psychoanalytischen Stil schreibt.
Selbst für die anschauliche Darstellung bzgl. historischer Kindererziehungspraktiken und Persönlichkeiten und die Einteilung in 6 verschiedene Modi (deMause, 2005, S. 278ff + S. 183ff) - das idealtypische Grundmodell, auf das sich fast alle PsychohistorikerInnen beziehen - hat deMause zum Beleg rein auf fünf psychohistorische Studien und auf über 100 Artikel im Journal of Psychohistory verwiesen. Er bewegte sich damit bzgl. der Quellen nicht aus seinem psychohistorischen Kreis heraus (an anderen Stellen tut er dies sehr wohl, aber bei einem solch zentralen Modell aus mir unbegreiflichen Gründen nicht). Dabei haben Fachleute aus dem Kinderschutz, Psychiatrie und der Traumatologie längst wissenschaftlich festgehalten, dass die Schwere der Folgen von Kindesmisshandlung maßgeblich vom Schweregrad, der Häufigkeit, der Nähe zum Täter und dem Gewaltmix (zusammenkommen diverser Gewaltformen) abhängen. Wenn von deMause historisch festgestellt wird: „ Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto mehr sinkt das Niveau der Kindererziehung“ (deMause 2005, S. 269), dann macht auf Grund des anerkannten Forschungsstandes (außerhalb der Psychohistorie) das Modell von deMause Sinn, weil es letztlich einfach festhält: Je schlimmer die Kindheiten in der Geschichte, desto schwerwiegender die Folgen (logischer Weise auch für Gesellschaften). DeMause hätte zur Untermauerung seines Modells deutlich aus den allgemein anerkannten Erkenntnissen über die Folgen von Kindesmisshandlung zitieren müssen.
Auch eine Alice Miller hat meines Wissens nach nie wirklich Studien zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in ihren Büchern oder auf Ihrer Homepage Raum gegeben. Arno Gruen kommt in vielen seiner Arbeiten (u.a. Gruen 2002, S. 123–125, 158) immer wieder auf eine in den 1940er-Jahren durchgeführte Studie von Henry Dicks zu sprechen, für die über 1.000 kriegsgefangene deutsche Soldaten befragt hatte. Gruen nimmt diese Studie zur Grundlage für eine Dreiteilung der Gesellschaft in extrem destruktiv Erzogene, in der Mitte stehende ambivalent Erzogene und eher liebevoll Erzogene. Die erste Gruppe zeigte in Dicks Studie auch die größte Identifikation mit den „Werten“ der Nazis. Arno Gruen ist in seinen Arbeiten – meines Wissen nach – nie über diese weit zurückliegende Studie hinausgekommen, aktuellere Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder und bzgl. destruktiver Erziehung findet man bei ihm im Grunde nicht. (Trotzdem waren die Arbeiten von Miller und Gruen für mich bahnbrechend und ohne diese würde ich heute wohl kaum in diesem Bereich forschen.)
Diese vorgenannten Beispiele zeigen sehr gut, worum es mir geht. Die Psychohistorie sollte sich mehr denn je bemühen, wissenschaftlich anerkannte Quellen außerhalb ihres Kreises zu zitieren und zu verwenden. Die Psychohistorie sollte viel mehr ernst nehmen, dass sie kaum ernst genommen wird, dies breit diskutieren und darauf reagieren. Oder anders ausgedrückt: Die Psychohistorie sollte mögliche Abwehrmechanismen, die sachlich begründet oder auch emotional bedingt oder auch beides sein können, voraussehen und sich entsprechend darauf einstellen. Dies vielleicht nicht unbedingt in ihren „internen Veröffentlichungen“, die rein von einem psychohistorisch aufgeklärten Publikum gelesen werden, sondern bezogen auf Arbeiten, die auch gezielt von anderen Kreisen gelesen werden oder vielleicht sogar Resonanz in den Medien finden sollen.
DeMause beginnt seine Kritik gegenüber den Sozialwissenschaften – die er in einem eigenen Abschnitt behandelt - mit dem Satz: „Sozialwissenschaftler waren selten an Psychologie interessiert.“ (DeMause 2005, S. 69) SozialwissenschaftlerInnen arbeiten und denken anders als z.B. PsychoanalytikerInnen. Statt die Sozialwissenschaft einfach nur zu kritisieren, sollten PsychohistorikerInnen viel mehr Überlegungen anstellen, wie man die Sprache und Inhalte von Texten (die man verbreitet sehen will) anpassen kann, damit sie auch in anderen Disziplinen verstanden werden und vor allem auch dort zitierfähig werden. Ein Schlüssel dazu ist u.a. meiner Ansicht nach das Arbeiten mit sozialwissenschaftlichen Studien über Kindesmisshandlung. Ich selbst habe dies in meinem Arbeitspapier „Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an“ (Fuchs 2012) versucht und trotz Platzmangel sehr ausführlich Studien zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder besprochen. Das Papier ist am Lehrstuhl Internationale Politik der Universität Köln erschienen. Ich möchte meinen Text nicht zum Maß der Dinge erklären (er ist darüber hinaus auch der einzige in Wissenschaftskreisen von mir veröffentlichte, da ich ansonsten rein in meinem Blog www.kriegsursachen.blogspot.de „hobbymäßig“ schreibe). Ich selbst habe von Psychoanalyse (ich habe z.B. bis heute nicht einen Text von Freud gelesen und habe es auch nicht vor) und Psychiatrie so wenig Ahnung, dass ich gar nicht erst in die Verlegenheit kommen würde, mich textlich zu sehr in das Thema zu vertiefen. Mein Arbeitspapier ist aber ein gutes Beispiel dafür, wie man es schaffen kann, in einem Institut für Politikwissenschaften Gehör zu finden und anzuregen, über psychohistorische Thesen und entsprechende Verknüpfungsmöglichkeiten nachzudenken.
Kein einigermaßen empathischer Mensch kommt heute mehr darum herum, erschüttert und betroffen zu sein im Angesicht der vorliegenden aktuellen Daten zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der Welt. Dieses Ausmaß zu besprechen und das Bewusstsein dafür muss das vorderste Ziel sein! Erst danach werden die Menschen auch offen sein, auf die Geschichte der Kindheit zu blicken und diese einzuordnen. Es reicht dabei nicht aus in einem oder zwei Sätzen Prozentangaben zu machen und auf ein bis zwei Studien zu verweisen. Denn man muss im Hinterkopf haben, dass die Menschen aus emotionalen Gründen heraus abwehren wollen (wie oben im Text beschrieben). Diese Abwehr kann in der Wissenschaft und Öffentlichkeit nur durchbrochen werden, wenn man das aktuelle Ausmaß der Gewalt und des Leids lange UND besonders gewichtet UND beständig bespricht, als Grundlage für alle weiteren und vertiefenden Diskussionen.
DeMause hat z.B. in dem Kapitel „Der Golfkrieg als emotionale Störung“ (deMause 2005, S. 19-38) zwar für mich nachvollziehbar die emotionale Situation der USA, die Kindheiten von US-Präsidenten und den Weg in den Krieg analysiert, er hätte aber mindestens eine komplette Seite darauf verwenden sollen, empirisch und in Zahlenangaben nachzuweisen, wie belastet die Kindheiten in den USA sind (es gibt dazu so einige Studien). Seine Analyse wäre dadurch weiter untermauert worden. Mehr noch: Wenn das aktuelle, sehr hohe Ausmaß von Gewalt gegen Kinder bewusst wahrgenommen wird, dann wird jedem klar sein, dass die schockierenden Schilderungen von deMause über die historischen Kindheiten nicht irgendwelchen Fokussierungen oder eindimensionalem Denken geschuldet sind, sondern dass sie real sind. Es macht keinen Sinn anzuzweifeln, dass z.B. im Mittelalter Kindheit durchweg traumatisch war, wenn nachweisbar auch heute noch in vielen Regionen der Welt die Mehrheit der Kinder geschlagen und gedemütigt werden und das trotz aller Fortschritte in staatlichem Aufbau, Gesetzgebung und Kinderschutz.
Manchmal habe ich auch einfach das Gefühl, dass die psychohistorisch Forschenden sehr viel Grundwissen voraussetzen und sich somit weitere Erklärungen oder Quellenangaben aussparen. Das macht sicher Sinn, wenn das Zielpublikum in der Tat schon über Vorwissen verfügt. Aber so besteht halt weiter die Gefahr, dass die wichtigen psychohistorischen Gedanken und Thesen kein breiteres Publikum finden.
Ich komme zu einem weiteren Punkt, der mir immer wieder auffällt. Im Grunde gibt/gab es viel mehr (Fach-)Menschen, die quasi psychohistorisch denken, als man glaubt. Sofern man mit psychohistorisch etwas aufgeweicht meint, dass die Folgen von destruktiven oder auch besonders positiven Kindheiten eine besondere Gewichtung erfahren, auch mir Blick auf politische Prozesse.
Bereits Astrid Lindgrens Rede „Niemals Gewalt!“ (Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1978) – die online weiterhin zu lesen ist - anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1978 war im Grunde psychohistorisch und in meinen Augen bereits bahnbrechend für die damalige Zeit. Lindgren hat alleine auf Grund von Empathie für das Kind die Dinge erfasst und auf den Punkt gebracht.
Der Wissenschaftsjournalist Jörg Zittlau (2010) hat das Buch „Sie meinten's herzlich gut: Berühmte Leute und ihre schrecklichen Eltern.“ veröffentlicht, das quasi psychohistorisch ist. Er beschreibt darin die Kindheiten von diversen Persönlichkeiten aus Politik, Sport, Kultur, Kunst und Wissenschaft und macht auch den Versuch, das jeweilige Verhalten der Erwachsenen ursächlich mit den entsprechenden Kindheiten zu verknüpfen .
Der verstorbene ehemalige Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf Prof. Dr. med. Peter Riedesser hielt bei der Verleihung des Kinderschutzpreises am 29. Oktober 2001 in Hamburg eine aufweckende Grundsatzrede (Riedesser 2001), die quasi psychohistorisch ist und auf die Dringlichkeit von Kinderschutz hinweist, um Kriminalität, Militarismus und Terrorismus präventiv zu begegnen und auch den friedlichen ökonomischen und kulturellen Austausch zu gewährleisten, wie er sagte.
Der Soziologe Dr. Jürgen Haberleithner (2004) hat in einem Arbeitspapier (Haberleithner 2004) anlässlich der politikwissenschaftlichen Untersuchung „Sozialpsychologische Ansätze in den Internationalen Beziehungen“ an der Universität Wien ausführlich die Thesen von Arno Gruen besprochen und deutlich angeregt, diese in makro-politische bzw. soziologische Gedankenmodelle mit einzubeziehen, vor allem auch wenn es um die Analyse von Kriegen und staatlichen Krisen (er bezieht sich z.B. auf die Konflikte in Israel und Palästina) geht. Er ist zwar der einzige mir bisher bekannte Soziologe, der dies öffentlich so deutlich formuliert hat, aber solche Arbeiten machen Hoffnung, dass sich SozialwissenschaftlerInnen dem hier besprochenen Themenfeld weiter öffnen.
Der in Deutschland sehr bekannte Kriminologe und Wissenschaftler Christian Pfeiffer hat kürzlich in der Süddeutschen Zeitung einen Gastbeitrag unter dem Titel „Was Strafjustiz mit Kindererziehung zu tun hat“ (Pfeiffer 2015) veröffentlicht. Er befasst sich in dem Artikel mit dem hohen Ausmaß von körperlicher Gewalt gegen Kinder in den USA und den gesellschaftlichen Folgen daraus. Er plädiert konsequenter Weise für die Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechtes in den USA und befindet sich derzeit für ein entsprechendes Projekt in New York. Der Text ist im Grunde psychohistorisch in Reinform!
Der eingangs erwähnte Soziologe und Analytiker Martin Dornes (2012) hat in seiner Arbeit im Grunde sehr nützliche Grundlagen für die Psychohistorie geschaffen und beschreibt auf seine Art sogar die Entstehung einer neuen Psychoklasse auf Grund verbesserter Kindererziehungspraxis. Interessant ist, dass Dornes nur ein einziges psychohistorisches Buch verwendet hat, das bereits oben von mir erwähnte Buch von deMause (1992) „Hört ihr die Kinder weinen?“, aus dem er auch nur ganz kurz zitiert. Dornes scheint - wie ich damals - trotz all seiner Recherchen nicht auf den Forschungsbereich Psychohistorie gestoßen zu sein. Dabei würde er glänzend in den Bereich passen. Falls er den Forschungsbereich doch als Ganzes wahrgenommen haben sollte wäre die Frage, warum er sich nicht auf die Psychohistorie bezieht?
Hoffnungsvoll stimmt mich auch, dass der 2009 erschienene Spielfilm „Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte“ für mehr als 70 Filmpreise nominiert wurde, von denen Michael Hanekes Regiearbeit über 40 gewinnen konnte. Dazu zählen u. a. die Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele von Cannes. In dem Film wird exemplarisch dargestellt, wie Kindheit im dörflichen norddeutschen Raum in Deutschland kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges aussah. Auf Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Das_wei%C3%9Fe_Band_%E2%80%93_Eine_deutsche_Kindergeschichte – Stand: 27.08.2015) steht in der Beschreibung folgender Satz, der den Inhalt auf den Punkt bringt:
„Der Film verdeutlicht das bedrückende, insbesondere für die Heranwachsenden traumatisierende soziale und zwischenmenschliche Klima der damaligen Zeit, das selbst im engen Familienkreis von Unterdrückung und Verachtung, Misshandlung und Missbrauch sowie Frustration und emotionaler Distanz geprägt ist.“
Der Film verknüpft in genialer Weise diese Kindheitsdarstellung und das entsprechend kalte Klima mit der Entstehung von bzw. der Unterordnung unter einer Ideologie und auch Kriegsbegeisterung.
Diese Beispiele verdeutlichen mir, dass es Möglichkeiten gibt, auf Verständnis zu stoßen, wenn es um destruktive gesellschaftliche Folgen auf Grund destruktiver Kindheiten geht. Irgendwie muss einfach nur der Knoten gelöst werden!
Die Psychohistorie steht vor einem weiteren Problem: Es scheinen entsprechende Ressourcen zu fehlen. Im deutschsprachigen Raum gibt es nach meinem Kenntnisstand keinen psychohistorischen Lehrstuhl. Viele PsychohistorikerInnen veröffentlichen „nebenbei“ ihre Arbeiten, neben ihren beruflichen Tätigkeiten als Therapeuten, Volkswirtschaftler, Lehrer, Pastor usw., die sie bereits stark im Alltag fordern. Ich selbst bezeichne mich als „Hobbygewaltforscher“, was auch bedeutet, dass mir laufend die Zeit fehlt, meine Gedanken zu Papier zu bringen und großflächig zu recherchieren. Um so wichtiger ist es, mehr Fach-Menschen mit ins Boot zu holen, breiter zu diskutieren, wie oben im Text angeregt.
Auf Grundlage dieser Gedanken stellt sich mir auch die Frage, ob der Begriff „Psychohistorie“ nicht vordergründig im Interesse für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit in Projektform weggelassen oder anders beschrieben werden sollte? Nicht jeder Fachmensch möchte vielleicht als Psychohistoriker gesehen werden, obwohl er/sie wesentliche und erkenntnisreiche Beiträge abliefern könnte. Die Grundfrage, für die es im Grunde noch kein Lehr- oder Handbuch gibt, lautetet doch: Wie politisch ist Kindheit? Es ist Zeit für ein Lehr- oder auch Handbuch, dass das vorhandene Wissen zusammenfasst. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Wissen und wie viel Studien es doch im Grunde gibt. Diese müssten nur einmal zusammengetragen werden. Ich fände es dabei wichtig, dass ein solches Buch auch ein Stück weit politisch ist. Denn der Auftrag muss sein, dass weltweiter Kinderschutz stark vorangetrieben wird, weil so nicht nur Leid sondern auch politische/soziale destruktive Entwicklungen präventiv verhindert werden können.
Lloyd DeMause hat Ende der 1970er Jahre PsychohistorikerInnen zusammengebracht und das oben bereits erwähnte berühmt gewordene Grundlagenwerk zur Geschichte der Kindheit (deMause 1992) verfasst. Ich stelle mir ein ähnliches Grundlagenwerk vor, in dem verschiedene Fachrichtungen zusammentragen, was sie bzgl. der gesellschaftlichen Folgen der Gewalt gegen Kinder herausgefunden haben. Über individuelle Folgen von Kindesmisshandlung gibt es bereits diverse Fachbücher, in Deutschland ist das aktuellste ein Handbuch von Spitzer & Grabe (2013); das Grundlagenwissen liegt also vor und müsste nur auf die Makroeben übertragen werden. Dabei müsste auch das Ziel sein, eine einfache Sprache zu finden, die Dinge verständlich auf den Punkt zu bringen und gleichzeitig den LeserInnen einen emotionalen Zugang zu verschaffen. Es müsste gelingen, einen Mittelweg zu finden zwischen der emotionalen Herangehensweise (die auch empathisches Verstehen seitens der Leserschaft ermöglicht), die z.B. viele psychoanalytische Veröffentlichungen auszeichnet und der distanziert sachlichen Sprache der Sozialwissenschaft.
Die simple Kern-Botschaft lautet: Eine hohes Ausmaß von kindlichem Leid bedeutet ein hohes Ausmaß an individuellen psychischen Folgeschäden und emotionalen Schieflagen. Was wiederum bedeutet, dass Gesellschaften und deren Schieflagen und Probleme (inkl. Krieg und Terror) immer auch vor diesem Kindheits-Hintergrund zu analysieren sind. Verstärkte Kinderschutzbemühungen und eine verbesserte Kinderfürsorge und Erziehung müssen demnach deutlich Schieflagen reduzieren und Gesellschaften voranbringen. Sehr simpel und doch so schwer zu vermitteln. Letztlich ist es in meinen Augen im Jahr 2015 und vor dem Hintergrund des ganzen Wissens, das wir heute haben, schlicht und einfach nicht mehr länger hinnehmbar, dass die gesellschaftlichen Folgen der weit verbreiteten Gewalt gegen Kinder ignoriert werden!
Abschließend möchte ich noch anmerken, dass ich mich sehr schwer mit diesem Text getan habe. Ich hoffe, dass ich klar machen konnte, worum es mir geht. Bisherige Arbeiten von PsychohistorikerInnen möchte ich nicht geringschätzen, denn sie sind es ja, die mich auch in meinem Denken stark beeinflusst haben. Es gibt im deutschen psychohistorischen Raum auch wahre "Goldstücke", für mich z.B. das Jahrbuch für psychohistorische Forschung aus dem Jahr 2000 (Janus & Kurth 2000) und darin besonders die Arbeiten von Alenka Puhar bzgl. des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, die leider fast gar nicht öffentlich in Deutschland besprochen worden sind.
Für mich hat dieser Text allerdings bereits eine Wirkung gezeigt. Ich werde den Versuch unternehmen, die über 300 Beiträge in meinem Blog und die wesentlichen Kernsaussagen daraus in einen einzigen Text zusammenzuführen. Ein Projekt, das seine Zeit brauchen wird.
Literatur/Quellen
Akmatov, MK (2011): Child abuse in 28 developing and transitional countries—results from the Multiple Indicator Cluster Surveys. International Journal of Epidemiology 40(1): 219-227. http://ije.oxfordjournals.org/content/40/1/219.long#T2. Zugegriffen: 20.08.2015
Börsenverein des Deutschen Buchhandels (1978): „Niemals Gewalt!“ Dankesrede von Astrid Lindgren zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. http://www.boersenverein.de/sixcms/media.php/806/1978_lindgren.pdf. Zugegriffen: 20.08.2015
deMause, Lloyd (1992): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit . Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
deMause, Lloyd (2005): Das emotionale Leben der Nationen. Klagenfurt, Celovec: Drava Verlag.
Dornes, M. (2012): Die Modernisierung der Seele. Kind – Familie – Gesellschaft. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.
Fuchs, S. (2012): Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an: Plädoyer für einen offenen Blick auf die Kindheitsursprünge von Kriegen. Arbeitspapiere zur Internationalen Politik und Außenpolitik, 4/2012. Köln: Universität zu Köln. http://www.jaeger.uni-koeln.de/fileadmin/templates/publikationen/aipa/AIPA_4_2012_FINAL_01.pdf. Zugegriffen: 20.08.2015
Gruen, A. (2002): Der Fremde in uns. München: Deutscher Taschenbuchverlag.
Haberleithner, J. (2004): Erkenntnisse und Forschungen zu Gewalt und Konflikt in der Gesellschaft nach Arno Gruen. (Online nicht mehr verfügbar, aber auf Anfrage beim Autor erhältlich)
Hellmann, D. F. (2014): Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. (Forschungsbericht Nr. 122). Hannover: KFN, http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fob122.pdf. Zugegriffen: 20.08.2015
Janus, L. & Kurth, W. (Hrsg.) (2000): Psychohistorie, Gruppenphantasien und Krieg. Heidelberg: Mattes Verlag.
Kurth, W. (2009): Die psychogene Theorie von Lloyd deMause -Plädoyer für eine konstruktive Weiterentwicklung. In: Nielsen, B., Kurth, W., und Reiß, H.J. (Hrsg.): Psychologie der Finanzkrise. Jahrbuch für psychohistorische Forschung. Band 10. Heidelberg: Mattes Verlag. http://www.psychohistorie.de/diskussion/kurth.pdf. Zugegrriffen: 27.08.2015
Pfeiffer, C. (2015, 11. August): Was Strafjustiz mit Kindererziehung zu tun hat. Sueddeutsche.de, http://www.sueddeutsche.de/panorama/aussenansicht-welche-strafe-muss-sein-1.2602181. Zugegriffen: 26.08.2015
Riedesser, P. (2001). Vortrag bei der Verleihung des Kinderschutzpreises. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. http://www.uke.de/kliniken/kinderpsychiatrie/index_4899.php. Zugegriffen: 20.08.2015
Spitzer, C. und Grabe, H. J. (Hrsg.) (2013): Kindesmisshandlung. Psychische und körperliche Folgen im Erwachsenenalter. Stuttgart: Kohlhammer.
Szyszkowitz, Tesse (2008): Trauma und Terror: zum palästinensischen und tschetschenischen Nationalismus. Wien – Köln – Weimar: Böhlau Verlag.
UNICEF - United Nations Children’s Fund (2014): Hidden in PlainSight: A statistical analysis of violence against children. New York. http://www.unicef.org/publications/index_74865.html. Zugegriffen: 20.08.2015.
Zittlau, J. ( 2010): „Sie meinten's herzlich gut: Berühmte Leute und ihre schrecklichen Eltern.“ Berlin: List.
Ich fange gleich direkt mit einer Grundannahme an, die sich aus meinen persönlichen Erfahrungen und langjährigen Beobachtung ergibt: Was Psychohistorie ist, ist den meisten Menschen, den Medien und den WissenschaftlerInnen in Deutschland schlicht und einfach nicht bekannt.
Ein Beispiel sei an dieser Stelle angeführt. Gibt man bei Googel-Scholar (dem Suchmaschinenteil, der nur wissenschaftliche Online-Dokumente erfasst - unter https://scholar.google.de) "Das emotionale Leben der Nationen" und „deMause“(jeweils in Anführungszeichen, um die wortgenaue Suche zu ermöglichen) ein, erhält man ganze 26 Ergebnisse (Stand: 20.08.2015) , fast durchweg aus dem psychologischen oder dem deutschsprachigem psychohistorischen Bereich. Bei „Googel Books“ (https://books.google.de), das sämtliche durch Googel digital zugängliche Bücher durchsucht, erhält man ganze 73 Treffer (Stand:20.08.2015), die von Googel auf Grund von fehlender Relevanz noch auf 29 zusammengeschrumpft werden, wenn man sich durch die Trefferliste klickt. Die meisten vorhandenen Online-Dokumente (außerhalb des psychohistorischen Forschungsbereiches) streifen max. in ein zwei Sätzen das Thema und befassen sich kaum mit den Inhalten des psychohistorischen Grundlagenbuches von deMause. Eine Autorin, deren Buch in der Onlineliste auftaucht, führt gleich bevor sie deMause zitiert an, dass dieser die „meisten Konflikte monokausal auf die rigide und gewalttätige Erziehung“ (Szyszkowitz 2008, S. 108) zurückführe, womit das Thema Psychohistorie für sie offensichtlich erledigt ist, obwohl sie sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Trauma und Terror befasst. Gibt man ergänzend bei dem Onlinehändler amazon (www.amazon.de) „Das emotionale Leben der Nationen“ ein, erhält man 14 Bücher (Stand: 20.08.2015), die in ihrer Literaturangabe das genannte Buch aufführen. Die gefundenen Bücher kommen fast alle aus dem psychosozialen Bereich.
Auf der anderen Seite ist es paradox, dass Forschende wie Alice Miller und Arno Gruen Bestseller geschrieben haben, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Beide arbeiten/arbeiteten letztlich psychohistorisch, auch wenn Gruen Kulturkritiker ist und die bahnbrechenden Fortschritte der Kindererziehung in Europa meiner Ansicht nach leider nicht wirklich anerkennt (und somit im Prinzip auch der zentralen psychohistorischen These von der stetigen Evolution von Kindheit widerspricht) Zig tausendfach wurden ihre Bücher gelesen, Gruen bekam sogar den Geschwister-Scholl-Preis. In den Medien und in der Wissenschaft sind ihre wichtigen Ansätze aber immer noch nicht wirklich angekommen.
Ich selbst habe mich beginnend ca. im Jahr 2002 - als damaliger Student der Soziologie - intensiv mit unzähligen Facharbeiten und Büchern über das Thema Kindesmisshandlung und den entsprechenden Folgen befasst. Bald schon las ich auch Bücher von Arno Gruen und Alice Miller. Ich las auch das von lloyd deMause (1992) herausgegebene Buch „Hört ihr die Kinder weinen: Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit“. Letzteres damals aber vor allem mit Interesse an der Geschichte der Kindheit, die psychogene Theorie habe ich damals nicht als solche wahrgenommen. Dass es so etwas wie „Psychohistorie“ gibt, die sogar weltweit organisiert ist und sich auch als eigene Wissenschaft versteht, wurde mir erst ab ca. Ende 2007 bewusst, als ich „Das emotionale Leben der Nationen“ von deMause (2005) in die Hände bekam. Wie konnte das sein, dass selbst jemand, der sich so intensiv auf das Grundthema stürzt, im deutschsprachigen Raum nicht deutlich auf die Psychohistorie stößt?
Ich wiederhole meine einleitenden Worte: Die Psychohistorie wird schlicht und einfach ignoriert. Das gilt natürlich vor allem für die klassische Sozialwissenschaft, Geschichtswissenschaft, auch für große Teile der Psychologie, die Medien und letztlich für die Menschen des Alltags. Vereinzelt werden sich von anderen wissenschaftlichen Disziplinen „Filetstücke“ herausgepickt, z.B. wenn Arbeiten zur Geschichte der Kindheit zitiert werden oder einzelne Erkenntnisse von PsychohistorikerInnen. Das Ganze, die Theorie als solche , wird aber nicht besprochen und es wird nicht auf sie verwiesen.
Für dieses Ignorieren gibt es meiner Ansicht nach zwei wesentliche Gründe, einen unabhängigen und einen hausgemachten:
1. Das unabhängige Problem
Da in den meisten Ländern immer noch auf die eine oder andere Weise die Mehrheit der Menschen von Gewalt-, Vernachlässigungs- und Ohnmachtserfahrungen in der Kindheit betroffen sind, betrifft sie das Thema an sich in ihrem tiefsten Inneren. Es betrifft sie emotional; es konfrontiert sie mit möglichen eigenen Täteranteilen als Folge der Opfererfahrungen, mit destruktiven Folgen für das eigene Leben, mit Sprachlosigkeit gegenüber dem Erlebten; mit verdrängter Wut auf die TäterInnen usw. usf. Dazu kommt das gesellschaftliche Tabu, über Kindesmisshandlung öffentlich zu sprechen oder gar die eigenen Eltern anzuklagen (was in Europa allerdings meiner Auffassung nach deutlich am bröckeln ist). Unter diesen Bedingungen ist es schwer, rational über politische/gesellschaftliche Folgen von destruktiven Kindheitserfahrungen zu sprechen. Ich habe in unzähligen Diskussionsversuchen immer wieder erlebt, wie Menschen ausweichen, wütend werden, das Thema abwürgen, teils irrationale, absurde Argumente hervorbringen usw. oder auch einfach gar nicht reagieren, einfach schweigen.
Es gibt aber auch einen großen Lichtblick: Die Kinderziehungspraxis in Europa (vor allem auch im Norden und speziell auch in Deutschland) hat sich rasant entwickelt. Wie eine aktuelle große Studie des (KFN) Kriminologischen Instituts Niedersachen (Hellmann 2014), für die 11.428 Menschen repräsentativ befragt wurden, nachweisen konnte, erlebten z.B. 61,7 % der Geburtsjahrgänge ca. 1991 – 1995 in Deutschland nicht ein einziges Mal körperliche Elterngewalt. (Hellmann 2014, S. 82+83) Und die, die Gewalt erlebten, erlitten dies mehrheitlich selten/manchmal und in leichteren Formen. Ebenso ist der sexuelle Missbrauch (mit Körperkontakt) der Studie folgend stark rückläufig . Die Betroffenenrate beläuft sich für die vorgenannten Geburtsjahrgänge auf 3 % für Frauen und 0,9 % für Männer ( Hellmann 2014, S. 104); der meines Wissens nach niedrigste je in deutschen Dunkelfeldstudien gemessene Wert. 1.586 Befragte lebten mit Kindern (eigenes, Pflegekinder etc.) unter 18 Jahren in einem Haushalt und beantworteten ergänzend Fragen zu eigenem Gewaltverhalten gegen die Kinder. Sie waren im Schnitt bei der Befragung ca. 33 Jahre alt (Geburtsdatum im Schnitt ca. 1978) Ca. 78 % dieser Elterngeneration sind ihre Kinder bis zum Zeitpunkt der Befragung nicht ein einziges Mal körperlich angegangen (Hellmann 2014, S. 157); ein bahnbrechender Wert, demzufolge man postulieren kann, dass wir in Deutschland bzgl. körperlicher Elterngewalt auf eine gewaltfreie Gesellschaft zusteuern.
Dies ist nur ein Trend von vielen positiven bzgl. Kindheit in Deutschland. Martin Dornes (2012) hat in seinem Buch mit dem prägnanten Titel „Die Modernisierung der Seele“ etliche Daten und Studien zu allen erdenklichen Themenfeldern rund um Kindheit besprochen. Es steht demnach sehr gut um die Kinder in Deutschland, so gut wie nie zuvor in unserer Geschichte. U.a. hätten sich die Eltern-Kind-Beziehungen, so Dornes, stark demokratisiert (gekennzeichnet durch stabile Verbundenheit, elterliche Wärme, zugewandtes, aber auch grenzensetzendes Erziehungserhalten – Dornes 2012, S. 315), was wiederum eine neue Psychostruktur - er spricht von „postheroischer Persönlichkeit“ - hervorgebracht hätte (Dornes 2012, S. 320), die sehr autonom und bestens gerüstet sei für eine sich ständig wandelnde und entwickelnde Gesellschaft.
Diese junge Generation (bezogen auf die Geburtsjahrgänge ca. 1991 – 1995 aus der KFN Studie) stürmt derzeit die Universitäten oder gestaltet ihr Berufsleben. In ca. 10 Jahren werden sie höherer Positionen erreichen, Politik machen, Medien und Wirtschaft gestalten usw. Aber auch meine Generation (die Ende der 1970er Jahre geborenen) wurde bereits deutlich moderner und friedlicher erzogen. Ich bin daher fest davon überzeugt, dass die Widerstände bzgl. psychohistorischer Thesen aktuell und erst recht langfristig gesehen bröckeln, einfach weil die Menschen hierzulande viel weniger emotional involviert sind und weniger abwehren müssen. Die offene mediale, großflächige Diskussion über das Thema sexueller Missbrauch und auch Heimkinder in jüngster Zeit deutet dies bereits an. PsychohistorikerInnen sollten demnach verstärkt Versuche unternehmen, öffentlich Gehör zu finden, Fachbeiträge außerhalb ihrer Kreise unterzubringen, Medien und Fachleute anzuschreiben, Online in Medien zu kommentieren, Diskussionen anzustoßen. Die Chancen waren – aus o.g. Gründen heraus - noch nie so gut wie heute, dass sie hier und da (vor allem bei den jüngeren Jahrgängen und weniger bei der Nachkriegsgeneration) ernst genommen werden.
Und noch ein Gedanke: Das großflächige psychotherapeutische Angebot in Deutschland tut meiner Auffassung nach sein weiteres zum Abbau von Scheuklappen. Ich habe in der Vergangenheit oft erlebt, dass Menschen, die einst gedemütigte Kinder waren, offen für psychohistorische Thesen sein können. Diese Menschen hatten meist erfolgreich jahrelange Therapien hinter sich und konnten nun auch offen auf die politischen Folgen von Kindesmisshandlung schauen, weil sie die Folgen, die das Kindheitsleid in ihrem eigenen Leben hinterlassen hatte, emotional aufgearbeitet hatten.
Abschließend an dieser Stelle möchte ich – das ist im Grunde ein eigene wichtige Anregung - behaupten, dass sich die Psychohistorie speziell in Deutschland zukünftig auch mit einer ganz neuen Fragestellung befassen muss: Welche Folgen hat die Demokratisierung der Kindererziehung, die nicht mehr nur eine Minderheit betrifft, sondern Mehrheiten zu erfassen scheint? Was bedeutet die „Modernisierung der Seele“ für unsere Zukunft?
2. Das „hausgemachte“ Problem.
Die deutschsprachige Psychohistorie ist nach meinem Eindruck stark auf die emotionale Entwicklung des Fötus und dem Geburtserleben („Fötales Drama“) fixiert. So wichtig solche Arbeit auch sein mag, sie wird in dieser Form keine breitere Zuhörerschaft finden. Das Thema ist innerhalb eines eh schon speziellen, sensiblen Themenfeldes wiederum noch einmal zu besonders, zu wenig greifbar und zudem schwieriger empirisch zu belegen (außer z.B. durch erhobene Daten zum Rauchen und Alkoholkonsum oder Gewalterfahrungen während der Schwangerschaft u.ä.). Ebenso problematisch finde ich es, wenn bildliche und emotionale Darstellungen in den Medien zu sehr im Fokus stehen. Die Besprechung von Cartoons/Karikaturen und ähnlichem (vor allem auch eine zu große Gewichtung auf dieses Thema) lädt geradezu dazu ein, wieder ausgeladen zu werden, Türen zu schließen. Ich bin gegen Denkverbote und finde beide vorgenannten Bereiche wertvoll, weil sie mir vieles verdeutlicht haben. Es ist nur einfach die Frage, ob man weiter am Rand stehen will oder den Kern der Psychohistorie (und der bedeutet für mich die Aufklärung über die möglichen politischen, sozialen und ökonomischen Folgen von destruktiven Kindheiten, das Verstehen von historischen Entwicklungen der Menschheit und das Werben für demokratische, liebevolle und gewaltfreie Kindheiten) weiter verbreiten und auch weiterentwickeln möchte.
Ich finde es beispielsweise ungeschickt, dass in dem Flaggschiff-Text von Winfried Kurth mit dem Titel „Die psychogene Theorie von Lloyd deMause - Plädoyer für eine konstruktive Weiterentwicklung“ auf der Homepage der GPPP (www.psychohistorie.de), der als Diskussionsgrundlage über die Psychohistorie benannt wird, u.a. der Schul-Amoklauf von Winnenden (aber auch andere Ereignisse) unter Bezugnahme auf einzelne Karikaturen in den Medien, die kurz vor der Tat veröffentlicht wurden, sehr ausführlich analysiert wird.
„Die theoretische Erklärung für diese Koinzidenzen könnte sein“, schreibt Kurth, „dass die unterschwellig rezipierten, aggressiven Medienbotschaften Ausdruck einer destruktiven Gruppenfantasie sind, die (manchmal) dann von labilen Einzelpersonen in Form einer kriminellen Gewalttat ausagiert wird.“ (Kurth 2009, S. 187)
Ich stelle mir vor, dass ein forschender Politologe oder ein Journalist erstmalig zum Thema Psychohistorie im deutschsprachigen Raum recherchiert und dann auf diesen Text trifft. Ohne Vorwissen, ohne das Kennen der Arbeit von deMause usw. wird eine solche Darstellung und eingehende Besprechung von Cartoons mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass dieser Interessierte das Thema wieder in die Schublade versenkt. Ein „Flaggschiff-Text“ auf den Online-Seiten der deutschen Vertretung der Psychohistorie sollte eine Werbung dafür sein, sich dem Thema zu nähern. Er sollte keine zentralen psychohistorischen Thesen verleugnen, aber die Darstellung müsste an ein allgemeines Publikum gerichtet sein.
Ich bin sehr sozialwissenschaftlich geprägt. Insofern fällt mir auch auf, dass empirische Studien (vor allem klare Zahlen und Daten) in psychohistorischen Arbeiten oft vernachlässigt werden. Die Psychohistorie steht nämlich im Grunde auf einem ganz dicken empirischen Fundament, denn das enorm hohe Ausmaß vielfältiger Gewalt gegen Kinder ist – vermehrt auch in den letzten Jahren – durch unzählige Studien (u.a. UNICEF 2014, Akmatov 2011 oder siehe auch ausführliche auf Studien basierende Daten für diverse Länder online auf den Seiten der „Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children“ unter http://www.endcorporalpunishment.org/research/prevalence-research) belegt, ebenso die destruktiven Folgen der Gewalt. Wenn in einer Gesellschaft eine große Mehrheit als Kind nachweisbar Gewalt, oft auch schwere Gewalt erleidet und dies erwiesener Maßen negative Folgen hat, dann muss man diese beiden Bereiche nur ausführlich zusammenbringen und erhält im Ergebnis Erklärungen auch zu politischen und sozialen Schieflagen. Wenn man dies streng wissenschaftlich angeht, Daten ausführlich aneinanderhängt, dann findet man eher Gehör, als (ich überspitze jetzt etwas) wenn man sich auf den Fötus und Cartoons fokussiert oder in einem zu psychoanalytischen Stil schreibt.
Selbst für die anschauliche Darstellung bzgl. historischer Kindererziehungspraktiken und Persönlichkeiten und die Einteilung in 6 verschiedene Modi (deMause, 2005, S. 278ff + S. 183ff) - das idealtypische Grundmodell, auf das sich fast alle PsychohistorikerInnen beziehen - hat deMause zum Beleg rein auf fünf psychohistorische Studien und auf über 100 Artikel im Journal of Psychohistory verwiesen. Er bewegte sich damit bzgl. der Quellen nicht aus seinem psychohistorischen Kreis heraus (an anderen Stellen tut er dies sehr wohl, aber bei einem solch zentralen Modell aus mir unbegreiflichen Gründen nicht). Dabei haben Fachleute aus dem Kinderschutz, Psychiatrie und der Traumatologie längst wissenschaftlich festgehalten, dass die Schwere der Folgen von Kindesmisshandlung maßgeblich vom Schweregrad, der Häufigkeit, der Nähe zum Täter und dem Gewaltmix (zusammenkommen diverser Gewaltformen) abhängen. Wenn von deMause historisch festgestellt wird: „ Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto mehr sinkt das Niveau der Kindererziehung“ (deMause 2005, S. 269), dann macht auf Grund des anerkannten Forschungsstandes (außerhalb der Psychohistorie) das Modell von deMause Sinn, weil es letztlich einfach festhält: Je schlimmer die Kindheiten in der Geschichte, desto schwerwiegender die Folgen (logischer Weise auch für Gesellschaften). DeMause hätte zur Untermauerung seines Modells deutlich aus den allgemein anerkannten Erkenntnissen über die Folgen von Kindesmisshandlung zitieren müssen.
Auch eine Alice Miller hat meines Wissens nach nie wirklich Studien zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in ihren Büchern oder auf Ihrer Homepage Raum gegeben. Arno Gruen kommt in vielen seiner Arbeiten (u.a. Gruen 2002, S. 123–125, 158) immer wieder auf eine in den 1940er-Jahren durchgeführte Studie von Henry Dicks zu sprechen, für die über 1.000 kriegsgefangene deutsche Soldaten befragt hatte. Gruen nimmt diese Studie zur Grundlage für eine Dreiteilung der Gesellschaft in extrem destruktiv Erzogene, in der Mitte stehende ambivalent Erzogene und eher liebevoll Erzogene. Die erste Gruppe zeigte in Dicks Studie auch die größte Identifikation mit den „Werten“ der Nazis. Arno Gruen ist in seinen Arbeiten – meines Wissen nach – nie über diese weit zurückliegende Studie hinausgekommen, aktuellere Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder und bzgl. destruktiver Erziehung findet man bei ihm im Grunde nicht. (Trotzdem waren die Arbeiten von Miller und Gruen für mich bahnbrechend und ohne diese würde ich heute wohl kaum in diesem Bereich forschen.)
Diese vorgenannten Beispiele zeigen sehr gut, worum es mir geht. Die Psychohistorie sollte sich mehr denn je bemühen, wissenschaftlich anerkannte Quellen außerhalb ihres Kreises zu zitieren und zu verwenden. Die Psychohistorie sollte viel mehr ernst nehmen, dass sie kaum ernst genommen wird, dies breit diskutieren und darauf reagieren. Oder anders ausgedrückt: Die Psychohistorie sollte mögliche Abwehrmechanismen, die sachlich begründet oder auch emotional bedingt oder auch beides sein können, voraussehen und sich entsprechend darauf einstellen. Dies vielleicht nicht unbedingt in ihren „internen Veröffentlichungen“, die rein von einem psychohistorisch aufgeklärten Publikum gelesen werden, sondern bezogen auf Arbeiten, die auch gezielt von anderen Kreisen gelesen werden oder vielleicht sogar Resonanz in den Medien finden sollen.
DeMause beginnt seine Kritik gegenüber den Sozialwissenschaften – die er in einem eigenen Abschnitt behandelt - mit dem Satz: „Sozialwissenschaftler waren selten an Psychologie interessiert.“ (DeMause 2005, S. 69) SozialwissenschaftlerInnen arbeiten und denken anders als z.B. PsychoanalytikerInnen. Statt die Sozialwissenschaft einfach nur zu kritisieren, sollten PsychohistorikerInnen viel mehr Überlegungen anstellen, wie man die Sprache und Inhalte von Texten (die man verbreitet sehen will) anpassen kann, damit sie auch in anderen Disziplinen verstanden werden und vor allem auch dort zitierfähig werden. Ein Schlüssel dazu ist u.a. meiner Ansicht nach das Arbeiten mit sozialwissenschaftlichen Studien über Kindesmisshandlung. Ich selbst habe dies in meinem Arbeitspapier „Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an“ (Fuchs 2012) versucht und trotz Platzmangel sehr ausführlich Studien zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder besprochen. Das Papier ist am Lehrstuhl Internationale Politik der Universität Köln erschienen. Ich möchte meinen Text nicht zum Maß der Dinge erklären (er ist darüber hinaus auch der einzige in Wissenschaftskreisen von mir veröffentlichte, da ich ansonsten rein in meinem Blog www.kriegsursachen.blogspot.de „hobbymäßig“ schreibe). Ich selbst habe von Psychoanalyse (ich habe z.B. bis heute nicht einen Text von Freud gelesen und habe es auch nicht vor) und Psychiatrie so wenig Ahnung, dass ich gar nicht erst in die Verlegenheit kommen würde, mich textlich zu sehr in das Thema zu vertiefen. Mein Arbeitspapier ist aber ein gutes Beispiel dafür, wie man es schaffen kann, in einem Institut für Politikwissenschaften Gehör zu finden und anzuregen, über psychohistorische Thesen und entsprechende Verknüpfungsmöglichkeiten nachzudenken.
Kein einigermaßen empathischer Mensch kommt heute mehr darum herum, erschüttert und betroffen zu sein im Angesicht der vorliegenden aktuellen Daten zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der Welt. Dieses Ausmaß zu besprechen und das Bewusstsein dafür muss das vorderste Ziel sein! Erst danach werden die Menschen auch offen sein, auf die Geschichte der Kindheit zu blicken und diese einzuordnen. Es reicht dabei nicht aus in einem oder zwei Sätzen Prozentangaben zu machen und auf ein bis zwei Studien zu verweisen. Denn man muss im Hinterkopf haben, dass die Menschen aus emotionalen Gründen heraus abwehren wollen (wie oben im Text beschrieben). Diese Abwehr kann in der Wissenschaft und Öffentlichkeit nur durchbrochen werden, wenn man das aktuelle Ausmaß der Gewalt und des Leids lange UND besonders gewichtet UND beständig bespricht, als Grundlage für alle weiteren und vertiefenden Diskussionen.
DeMause hat z.B. in dem Kapitel „Der Golfkrieg als emotionale Störung“ (deMause 2005, S. 19-38) zwar für mich nachvollziehbar die emotionale Situation der USA, die Kindheiten von US-Präsidenten und den Weg in den Krieg analysiert, er hätte aber mindestens eine komplette Seite darauf verwenden sollen, empirisch und in Zahlenangaben nachzuweisen, wie belastet die Kindheiten in den USA sind (es gibt dazu so einige Studien). Seine Analyse wäre dadurch weiter untermauert worden. Mehr noch: Wenn das aktuelle, sehr hohe Ausmaß von Gewalt gegen Kinder bewusst wahrgenommen wird, dann wird jedem klar sein, dass die schockierenden Schilderungen von deMause über die historischen Kindheiten nicht irgendwelchen Fokussierungen oder eindimensionalem Denken geschuldet sind, sondern dass sie real sind. Es macht keinen Sinn anzuzweifeln, dass z.B. im Mittelalter Kindheit durchweg traumatisch war, wenn nachweisbar auch heute noch in vielen Regionen der Welt die Mehrheit der Kinder geschlagen und gedemütigt werden und das trotz aller Fortschritte in staatlichem Aufbau, Gesetzgebung und Kinderschutz.
Manchmal habe ich auch einfach das Gefühl, dass die psychohistorisch Forschenden sehr viel Grundwissen voraussetzen und sich somit weitere Erklärungen oder Quellenangaben aussparen. Das macht sicher Sinn, wenn das Zielpublikum in der Tat schon über Vorwissen verfügt. Aber so besteht halt weiter die Gefahr, dass die wichtigen psychohistorischen Gedanken und Thesen kein breiteres Publikum finden.
Ich komme zu einem weiteren Punkt, der mir immer wieder auffällt. Im Grunde gibt/gab es viel mehr (Fach-)Menschen, die quasi psychohistorisch denken, als man glaubt. Sofern man mit psychohistorisch etwas aufgeweicht meint, dass die Folgen von destruktiven oder auch besonders positiven Kindheiten eine besondere Gewichtung erfahren, auch mir Blick auf politische Prozesse.
Bereits Astrid Lindgrens Rede „Niemals Gewalt!“ (Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1978) – die online weiterhin zu lesen ist - anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1978 war im Grunde psychohistorisch und in meinen Augen bereits bahnbrechend für die damalige Zeit. Lindgren hat alleine auf Grund von Empathie für das Kind die Dinge erfasst und auf den Punkt gebracht.
Der Wissenschaftsjournalist Jörg Zittlau (2010) hat das Buch „Sie meinten's herzlich gut: Berühmte Leute und ihre schrecklichen Eltern.“ veröffentlicht, das quasi psychohistorisch ist. Er beschreibt darin die Kindheiten von diversen Persönlichkeiten aus Politik, Sport, Kultur, Kunst und Wissenschaft und macht auch den Versuch, das jeweilige Verhalten der Erwachsenen ursächlich mit den entsprechenden Kindheiten zu verknüpfen .
Der verstorbene ehemalige Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf Prof. Dr. med. Peter Riedesser hielt bei der Verleihung des Kinderschutzpreises am 29. Oktober 2001 in Hamburg eine aufweckende Grundsatzrede (Riedesser 2001), die quasi psychohistorisch ist und auf die Dringlichkeit von Kinderschutz hinweist, um Kriminalität, Militarismus und Terrorismus präventiv zu begegnen und auch den friedlichen ökonomischen und kulturellen Austausch zu gewährleisten, wie er sagte.
Der Soziologe Dr. Jürgen Haberleithner (2004) hat in einem Arbeitspapier (Haberleithner 2004) anlässlich der politikwissenschaftlichen Untersuchung „Sozialpsychologische Ansätze in den Internationalen Beziehungen“ an der Universität Wien ausführlich die Thesen von Arno Gruen besprochen und deutlich angeregt, diese in makro-politische bzw. soziologische Gedankenmodelle mit einzubeziehen, vor allem auch wenn es um die Analyse von Kriegen und staatlichen Krisen (er bezieht sich z.B. auf die Konflikte in Israel und Palästina) geht. Er ist zwar der einzige mir bisher bekannte Soziologe, der dies öffentlich so deutlich formuliert hat, aber solche Arbeiten machen Hoffnung, dass sich SozialwissenschaftlerInnen dem hier besprochenen Themenfeld weiter öffnen.
Der in Deutschland sehr bekannte Kriminologe und Wissenschaftler Christian Pfeiffer hat kürzlich in der Süddeutschen Zeitung einen Gastbeitrag unter dem Titel „Was Strafjustiz mit Kindererziehung zu tun hat“ (Pfeiffer 2015) veröffentlicht. Er befasst sich in dem Artikel mit dem hohen Ausmaß von körperlicher Gewalt gegen Kinder in den USA und den gesellschaftlichen Folgen daraus. Er plädiert konsequenter Weise für die Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechtes in den USA und befindet sich derzeit für ein entsprechendes Projekt in New York. Der Text ist im Grunde psychohistorisch in Reinform!
Der eingangs erwähnte Soziologe und Analytiker Martin Dornes (2012) hat in seiner Arbeit im Grunde sehr nützliche Grundlagen für die Psychohistorie geschaffen und beschreibt auf seine Art sogar die Entstehung einer neuen Psychoklasse auf Grund verbesserter Kindererziehungspraxis. Interessant ist, dass Dornes nur ein einziges psychohistorisches Buch verwendet hat, das bereits oben von mir erwähnte Buch von deMause (1992) „Hört ihr die Kinder weinen?“, aus dem er auch nur ganz kurz zitiert. Dornes scheint - wie ich damals - trotz all seiner Recherchen nicht auf den Forschungsbereich Psychohistorie gestoßen zu sein. Dabei würde er glänzend in den Bereich passen. Falls er den Forschungsbereich doch als Ganzes wahrgenommen haben sollte wäre die Frage, warum er sich nicht auf die Psychohistorie bezieht?
Hoffnungsvoll stimmt mich auch, dass der 2009 erschienene Spielfilm „Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte“ für mehr als 70 Filmpreise nominiert wurde, von denen Michael Hanekes Regiearbeit über 40 gewinnen konnte. Dazu zählen u. a. die Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele von Cannes. In dem Film wird exemplarisch dargestellt, wie Kindheit im dörflichen norddeutschen Raum in Deutschland kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges aussah. Auf Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Das_wei%C3%9Fe_Band_%E2%80%93_Eine_deutsche_Kindergeschichte – Stand: 27.08.2015) steht in der Beschreibung folgender Satz, der den Inhalt auf den Punkt bringt:
„Der Film verdeutlicht das bedrückende, insbesondere für die Heranwachsenden traumatisierende soziale und zwischenmenschliche Klima der damaligen Zeit, das selbst im engen Familienkreis von Unterdrückung und Verachtung, Misshandlung und Missbrauch sowie Frustration und emotionaler Distanz geprägt ist.“
Der Film verknüpft in genialer Weise diese Kindheitsdarstellung und das entsprechend kalte Klima mit der Entstehung von bzw. der Unterordnung unter einer Ideologie und auch Kriegsbegeisterung.
Diese Beispiele verdeutlichen mir, dass es Möglichkeiten gibt, auf Verständnis zu stoßen, wenn es um destruktive gesellschaftliche Folgen auf Grund destruktiver Kindheiten geht. Irgendwie muss einfach nur der Knoten gelöst werden!
Die Psychohistorie steht vor einem weiteren Problem: Es scheinen entsprechende Ressourcen zu fehlen. Im deutschsprachigen Raum gibt es nach meinem Kenntnisstand keinen psychohistorischen Lehrstuhl. Viele PsychohistorikerInnen veröffentlichen „nebenbei“ ihre Arbeiten, neben ihren beruflichen Tätigkeiten als Therapeuten, Volkswirtschaftler, Lehrer, Pastor usw., die sie bereits stark im Alltag fordern. Ich selbst bezeichne mich als „Hobbygewaltforscher“, was auch bedeutet, dass mir laufend die Zeit fehlt, meine Gedanken zu Papier zu bringen und großflächig zu recherchieren. Um so wichtiger ist es, mehr Fach-Menschen mit ins Boot zu holen, breiter zu diskutieren, wie oben im Text angeregt.
Auf Grundlage dieser Gedanken stellt sich mir auch die Frage, ob der Begriff „Psychohistorie“ nicht vordergründig im Interesse für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit in Projektform weggelassen oder anders beschrieben werden sollte? Nicht jeder Fachmensch möchte vielleicht als Psychohistoriker gesehen werden, obwohl er/sie wesentliche und erkenntnisreiche Beiträge abliefern könnte. Die Grundfrage, für die es im Grunde noch kein Lehr- oder Handbuch gibt, lautetet doch: Wie politisch ist Kindheit? Es ist Zeit für ein Lehr- oder auch Handbuch, dass das vorhandene Wissen zusammenfasst. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Wissen und wie viel Studien es doch im Grunde gibt. Diese müssten nur einmal zusammengetragen werden. Ich fände es dabei wichtig, dass ein solches Buch auch ein Stück weit politisch ist. Denn der Auftrag muss sein, dass weltweiter Kinderschutz stark vorangetrieben wird, weil so nicht nur Leid sondern auch politische/soziale destruktive Entwicklungen präventiv verhindert werden können.
Lloyd DeMause hat Ende der 1970er Jahre PsychohistorikerInnen zusammengebracht und das oben bereits erwähnte berühmt gewordene Grundlagenwerk zur Geschichte der Kindheit (deMause 1992) verfasst. Ich stelle mir ein ähnliches Grundlagenwerk vor, in dem verschiedene Fachrichtungen zusammentragen, was sie bzgl. der gesellschaftlichen Folgen der Gewalt gegen Kinder herausgefunden haben. Über individuelle Folgen von Kindesmisshandlung gibt es bereits diverse Fachbücher, in Deutschland ist das aktuellste ein Handbuch von Spitzer & Grabe (2013); das Grundlagenwissen liegt also vor und müsste nur auf die Makroeben übertragen werden. Dabei müsste auch das Ziel sein, eine einfache Sprache zu finden, die Dinge verständlich auf den Punkt zu bringen und gleichzeitig den LeserInnen einen emotionalen Zugang zu verschaffen. Es müsste gelingen, einen Mittelweg zu finden zwischen der emotionalen Herangehensweise (die auch empathisches Verstehen seitens der Leserschaft ermöglicht), die z.B. viele psychoanalytische Veröffentlichungen auszeichnet und der distanziert sachlichen Sprache der Sozialwissenschaft.
Die simple Kern-Botschaft lautet: Eine hohes Ausmaß von kindlichem Leid bedeutet ein hohes Ausmaß an individuellen psychischen Folgeschäden und emotionalen Schieflagen. Was wiederum bedeutet, dass Gesellschaften und deren Schieflagen und Probleme (inkl. Krieg und Terror) immer auch vor diesem Kindheits-Hintergrund zu analysieren sind. Verstärkte Kinderschutzbemühungen und eine verbesserte Kinderfürsorge und Erziehung müssen demnach deutlich Schieflagen reduzieren und Gesellschaften voranbringen. Sehr simpel und doch so schwer zu vermitteln. Letztlich ist es in meinen Augen im Jahr 2015 und vor dem Hintergrund des ganzen Wissens, das wir heute haben, schlicht und einfach nicht mehr länger hinnehmbar, dass die gesellschaftlichen Folgen der weit verbreiteten Gewalt gegen Kinder ignoriert werden!
Abschließend möchte ich noch anmerken, dass ich mich sehr schwer mit diesem Text getan habe. Ich hoffe, dass ich klar machen konnte, worum es mir geht. Bisherige Arbeiten von PsychohistorikerInnen möchte ich nicht geringschätzen, denn sie sind es ja, die mich auch in meinem Denken stark beeinflusst haben. Es gibt im deutschen psychohistorischen Raum auch wahre "Goldstücke", für mich z.B. das Jahrbuch für psychohistorische Forschung aus dem Jahr 2000 (Janus & Kurth 2000) und darin besonders die Arbeiten von Alenka Puhar bzgl. des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, die leider fast gar nicht öffentlich in Deutschland besprochen worden sind.
Für mich hat dieser Text allerdings bereits eine Wirkung gezeigt. Ich werde den Versuch unternehmen, die über 300 Beiträge in meinem Blog und die wesentlichen Kernsaussagen daraus in einen einzigen Text zusammenzuführen. Ein Projekt, das seine Zeit brauchen wird.
Literatur/Quellen
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Börsenverein des Deutschen Buchhandels (1978): „Niemals Gewalt!“ Dankesrede von Astrid Lindgren zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. http://www.boersenverein.de/sixcms/media.php/806/1978_lindgren.pdf. Zugegriffen: 20.08.2015
deMause, Lloyd (1992): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit . Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
deMause, Lloyd (2005): Das emotionale Leben der Nationen. Klagenfurt, Celovec: Drava Verlag.
Dornes, M. (2012): Die Modernisierung der Seele. Kind – Familie – Gesellschaft. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.
Fuchs, S. (2012): Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an: Plädoyer für einen offenen Blick auf die Kindheitsursprünge von Kriegen. Arbeitspapiere zur Internationalen Politik und Außenpolitik, 4/2012. Köln: Universität zu Köln. http://www.jaeger.uni-koeln.de/fileadmin/templates/publikationen/aipa/AIPA_4_2012_FINAL_01.pdf. Zugegriffen: 20.08.2015
Gruen, A. (2002): Der Fremde in uns. München: Deutscher Taschenbuchverlag.
Haberleithner, J. (2004): Erkenntnisse und Forschungen zu Gewalt und Konflikt in der Gesellschaft nach Arno Gruen. (Online nicht mehr verfügbar, aber auf Anfrage beim Autor erhältlich)
Hellmann, D. F. (2014): Repräsentativbefragung zu Viktimisierungserfahrungen in Deutschland. (Forschungsbericht Nr. 122). Hannover: KFN, http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fob122.pdf. Zugegriffen: 20.08.2015
Janus, L. & Kurth, W. (Hrsg.) (2000): Psychohistorie, Gruppenphantasien und Krieg. Heidelberg: Mattes Verlag.
Kurth, W. (2009): Die psychogene Theorie von Lloyd deMause -Plädoyer für eine konstruktive Weiterentwicklung. In: Nielsen, B., Kurth, W., und Reiß, H.J. (Hrsg.): Psychologie der Finanzkrise. Jahrbuch für psychohistorische Forschung. Band 10. Heidelberg: Mattes Verlag. http://www.psychohistorie.de/diskussion/kurth.pdf. Zugegrriffen: 27.08.2015
Pfeiffer, C. (2015, 11. August): Was Strafjustiz mit Kindererziehung zu tun hat. Sueddeutsche.de, http://www.sueddeutsche.de/panorama/aussenansicht-welche-strafe-muss-sein-1.2602181. Zugegriffen: 26.08.2015
Riedesser, P. (2001). Vortrag bei der Verleihung des Kinderschutzpreises. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. http://www.uke.de/kliniken/kinderpsychiatrie/index_4899.php. Zugegriffen: 20.08.2015
Spitzer, C. und Grabe, H. J. (Hrsg.) (2013): Kindesmisshandlung. Psychische und körperliche Folgen im Erwachsenenalter. Stuttgart: Kohlhammer.
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