Der Historiker Simon Sebag Montefiore hat kürzlich dem SPIEGEL (52/2023) im Rahmen des Titelthemas „Für immer Sohn. Wie Mütter das Leben von Männern prägen“ ein ausführliches Interview gegeben (Historiker über Mütter mächtiger Männer. „Die Macht von Frauen lag in der Kontrolle ihres Sohnes“)
In dem Interview geht er u.a. auf die Mütter von Stalin, Hitler und Donald Trump ein. Wobei die Mutterbeziehung Hitlers ihn mit am meisten beeindruckt hätte, wie er auf Nachfrage sagt.
Alle drei Mutterbeziehung kommentiert er nicht bzgl. ihrer destruktiven Wirkungen. Im Gegenteil, die Mütter von Hitler und Stalin werden sogar recht wohlwollend und zugewandt dargestellt. Auf SPIEGEL Frage "Von der Mutter des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump heißt es, dass sie ihren Sohn für dumm gehalten habe" hin kommentiert er nur, dass Trumps Mutter eine „energische, direkte Frau“ gewesen sei. Auf die folgende Nachfrage, warum Trump Frauen gegenüber immer wieder wenig Respekt gegenüber zeige, vermutet Montefiore als Ursache altes Klischeedenken von „Heiliger und Hure“.
In allen drei Fällen wurde somit die grausame Realität der Mutter-Sohn-Beziehungen in meinen Augen ausgeblendet und insofern wurde eine Chance verpasst, die Wirkung von destruktiven Elternfiguren auf politische Führer (und deren Verhalten) in einem großen Leitmedium zu besprechen.
Leider kommentiert der Historiker sogar noch an einer Stelle:
Hitlers Mutter „war sehr nachsichtig. Man hat den Charakter von Diktatoren ja lange Zeit damit erklärt, dass ihre Eltern sie grausam behandelt hätten. Aber das stimmt nicht. Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal – der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen. Hitlers Mutter hat ihren Sohn vergöttert.“
Dieser Satz blendet alle Erkenntnisse aus, die es mittlerweile über die Kindheiten von Diktatoren (und auch Gewalttätern an sich) gibt. Die Gemeinsamkeit von Diktatoren ist gerade ihre massiv traumatische Kindheit (siehe auch mein Buch „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“). Diesen Satz dann auch noch mit „Hitler“ einzurahmen, entbehrt jeder Logik, da gerade Hitler eine unfassbar traumatische Kindheit erlebt hat.
Dass Hitler von seinem Vater häufig und schwer misshandelt und gedemütigt wurde, ist längst bekannt (und wird auch dem Historiker Montefiore bekannt sein). Der Historiker Roman Sandgruber hat 2021 beispielsweise sehr deutlich geradezu einen Schlussstrich über die Erkenntnislage bzgl. Hitlers von Gewalt geprägter Kindheit gezogen, da dies einfach überdeutlich belegt ist: „Hitler: Ein einst misshandeltes Kind. Deutliche Worte in einem neuen Buch".
Hitlers Mutter stand hilflos und ohnmächtig daneben, ohne ihrem Sohn helfen/schützen zu können oder zu wollen. Was dies mit einer Mutter-Sohn-Beziehung macht, ist u.a. unter Kindertherapeuten bekannt. Das Gleiche gilt für einer mütterliche "Vergötterung" ihres Sohnes, was wenig mit Liebe zu tun hat und viel Destruktivität im Leben des Sohnes zur Folge haben kann.
Neben der Gewalt war Hitlers Kindheit von weiteren schweren Belastungen geprägt, darunter z.B. Tod von mehreren Kernfamilienmitgliedern.
Die massiv destruktiven Eltern-Kind-Beziehungen bei den Trumps sind ebenfalls belegt (wenn auch öffentlich weniger bekannt/besprochen), auch der Einfluss der destruktiven und vor allem abwesenden Mutter (bei Interesse zwei lange Blogbeiträge dazu hier und hier)
Was mich am meisten fassungslos zurückließ sind die Kommentare des Historikers bzgl. Stalins Mutter, die er als "eine interessante Figur", die ihren Sohn gefördert und angetrieben habe, beschreibt. Stalin habe seiner Mutter viel zu verdanken.
Simon Sebag Montefiore selbst hat in seinem Buch „Der junge Stalin“ auf die massive Gewalt des Vaters UND der Mutter von Stalin hingewiesen. Ja, die Mutter von Stalin hat ihren Sohn körperlich misshandelt (nach meinen Recherchen zusätzlich auch emotional, aber das würde hier zu viel Raum einnehmen). Im SPIEGEL-Interview, das eine Titelstory über den Einfluss von Müttern auf ihre Söhne angelehnt ist, wird dieser extrem wichtige Faktor der mütterlichen Misshandlung einfach nicht erwähnt.
Anbei zwei Zitate aus dem Montefiore Buch „Der junge Stalin“ im Kapitel „Der verrückte Besso“:
„Streitsüchtig und aggressiv, war er so schwer unter Kontrolle zu halten, dass sogar seine Mutter, die ihn anbetete, zu Züchtigungen griff, um ihren widerspenstigen Schatz zum Gehorsam zu zwingen.“
"»Sie verdrosch ihn häufig«, erzählt Stalins Tochter Swetlana. Als Stalin seine Mutter in den Zwanzigerjahren zum letzten Mal besuchte, fragte er sie, warum sie ihn so oft geschlagen habe. »Es hat dir nicht geschadet«, erwiderte sie. Aber das ist umstritten. Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor.“
Was ich auch sehe – und da hat Montefiore einen Punkt – ist, dass Diktatoren in ihrer Kindheit auffällig häufig eine Mutter hatten, die sie antrieb und übermäßig erhöhte (neben den gleichzeitigen Demütigungen und Erniedrigungen innerhalb der Familie). Die besonderen Größenfantasien der Diktatoren haben hier wahrscheinlich mit ihren Ursprung. Insofern ist diese Art von mütterlichem Einfluss ein bedeutsamer Faktor.
Aber ohne die viele Gewalt und die vielen Ohnmachtserfahrungen in der Kindheit dieser Akteure, wären sie nicht zu den gefühlskalten politischen Führern geworden, die sie wurden. Und genau darüber müssen wir sprechen und aufklären.
"Der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen", sagte der Historiker ja (siehe oben). Das ist genau das Paradoxe im öffentlichen Bewusstsein. Dass destruktive Kindheiten Folgen haben, wird zwar öffentlich besprochen und ist irgendwie auch bewusst. Wenn es aber um Politik und politische Führer geht, wird dies sehr oft ausgeblendet und gering geredet. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich von Seiten eines Historikers solche Zeilen hier lese: "Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal".
Der Historiker Volker Ullrich hat z.B. in der Biografie "Adolf Hitler. Biographie Band 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889 – 1939" sehr deutlich die Gewalt von Hitlers Vater beschrieben. Dann fügt er an:
„Doch sollten sich Biographen hüten, zu weitreichende Schlüsse aus frühen Kindheitserlebnissen zu ziehen. Körperliche Züchtigung war damals als Erziehungsmittel durchaus noch an der Tagesordnung. (…) Nach allem, was wir wissen, scheint Hitler eine ziemlich normale Kindheit verbracht zu haben, jedenfalls gibt es keine gesicherten Hinweise auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung, aus der sich die späteren Verbrechen ableiten ließen" (Kapitel: „1 Der junge Hitler“).
Was grausame Realität der Mehrheit der Kinder war, hat dann also keine negativen Folgen und übt keinen Einfluss auf Verhalten aus, wenn aus diesen Kindern später mal einflussreiche politische Akteure werden?
Eigentlich weiß es Montefiore ja auch besser, denn er schrieb ja selbst: "Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor" (siehe oben).
Dieses Hin und Her, diese Widersprüchlichkeiten der Aussagen zeigen mir, dass der Historiker sich selbst noch nicht bewusst gemacht hat, dass Kindheit politisch ist! Damit ist er nicht alleine, sondern bildet die gedanklichen und emotionalen Mehrheitsverhältnisse der Gesellschaft ab.
Dies Stück für Stück zu verändern, wird auch mein Ziel im neuen Jahr 2024 bleiben.
In diesem Sinne: Einen guten Rutsch ins neue Jahr wünsche ich!
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